Nr. 7/2012 Andre Williams - Wasser
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Nr. 7/2012 Andre Williams - Wasser
Magazin Wasser Prawda Nr. 7/2012 Andre Williams •Lonnie Johnson & Eddie Lang •Blues ladylike: Marion James Liz Mandeville - Cee Cee James •Two Man Gentlemen Band •Deutschlands bester Blues? •Texte von Trakl, London, Wallace, Münnich w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Die Redaktion Empfiehlt: Liz Mandeville - Claksdale (Blue Kitty) „Come Out Swinging“ ruft sie gemeinsam mit Willie „Big Eyes Smith“ und Bassist Darryl Wright. Das Motto stimmt. Marion James Northside Soul (EllerSoul) Hier braucht es allein diese Sängerin und ihre Geschichten. Sofort fühlt man sich um Jahrzehnte zurück versetzt in eine Zeit, wo Blues und Soul zusammengehörten, wo Rhythm & Blues noch die musikalische Alltagssprache war und nicht eine Musik für Spezialisten. Hier ist des Blues noch so lebendig wie 1966. Eben weil es die Sprache und die Seele von Marion James ist. Tobias Kirmayer presents: The Pinetop Perkins - Heaven (Blind Pig/Fenn) Die Aufnahmen von „Heaven“ gehen noch auf eine Zeit vor dem Solodebüt „After Hours“ zurück. Perkins - wenn auch mit 75 Jahren schon weit übers Rentenalter hinaus - spielt hier im Wesentlichen allein mit einem nur jugendlich zu nennenden Schwung Klassiker wie den „44 Blues“, „Sweet Home Chicago“ oder auch „Sitting On Top of the World“ neben seinem eigenen „Pinetop‘s Blues“. The Two Man Gentlemen Band - Two At A Time Analoger geht‘s wirklich nicht mehr. Auch witziger ist schwer möglich. The Two Man Gentlemen Band liefern das Partyalbum für Swingparties am Pool mt jeder Menge Cocktails. Editorial tin Mollnitz veröffentlichte die „Wasser-Prawda“ eine Polemik und vier Gedichte. Dass der Autor ein Pseudonym nutzte, war anfangs nicht bekannt, wurde aber in der Debatte für einige schnell zu einem entscheidenden Kritikpunkt. Darf man ein Pseudonym einfach offenlegen? Oder muss man den Wunsch des Autors, sich hinter einem angenommenen Namen zu verstecken, respektieren? Als in Greifswald Anfang der 90er Jahre die heute als „Moritz Magazin“ bekannte Studentenzeitung entstand, da suchten die Redakteure nach einer Möglichkeit, Kneipentests und ähnliche Aktionen zu machen, ohne sofort in der Szene bekannt zu sein. Das war die Geburt von Nathan Nörgel. Dieser Mensch mit dem sprechenden Namen war ein kollektives Pseudonym. Jeder Redakteur, der entsprechende Artikel schrieb, konnte ihn benutzen. In den Zeiten des Internet mit seinen vielfältigen Decknamen, Nicknamen etc. haben wir bei der ollnitz in der Priegnitz ist ein kleines Wasser-Prawda Nathan Nörgel wieder von den Gutsdorf. Seit 1946 ist es in Bresch Toten erweckt. Noch immer ist es ein Pseudoeingemeindet, was wiederum zur Ge- nym, auch wenn heutzutage eigentlich nur noch meinde Pirow gehört. Unter dem Namen Mar- eine Person unter dem Namen schreibt. Und zwar genau dann, wenn er seine Kritiken etwas M Inhalt Impressum Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt Greifswald. Das pdf-Magazin wird in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es wird kostenlos an die registrierten Leser des Online-Magazins www.wasser-prawda.de verschickt. Musik German Blues Award & Challenge 2012 Kommentar: Deutschlands bester Blues? Wasser-Prawda Nr. 5/2011 Redaktionsschluss: 1. Juli 2012 5 6 Redaktion: Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.) Leiter Feuilleton: Erik Münnich Marion James - Von der Ehrlichkeit des Bluessongs 8 Liz Mandeville - Von Chicago nach Clarksdale 10 Die Anfänge des Blues-Gitarren-Solos 12 Andre Williams zwischen Tag und Nacht 15 Album des Monats: The Two Man Gentlemen Band 17 Mitarbeiter dieser Ausgabe: Ole Schwabe, Kristin Gora, Lüder Kriete, Gary Burnett Adresse: Redaktion Wasser-Prawda c/o wirkstatt Gützkower Str. 83 17489 Greifswald Tel.: 03834/535664 www.wasser-prawda.de mail: [email protected] Rezensionen A-Z18 Literatur Erik Münnich: Flash Fiction Georg Trakl - Psalm (Karl Kraus zugeeignet) Edgar Wallace - A.S. Der Unsichtbare (1) Jack London - Auf der Rast heftiger gestalten will. Allerdings hat sich Nathan Nörgel inzwischen eine quasi eigene Existenz erworben. Selbst Post kommt inzwischen an ihn an. Und das liegt einfach daran, dass viele Künstler und Plattenfirmen nicht wissen, dass es ein Pseudonym ist. Aber auf Nachfrage stellen wir als Redaktion gerne klar. Nathan Nörgel hat nicht die Chance, unter dem Schutz seines Pseudonyms irgendwelche Verstöße gegen das Presserecht zu begehen. Dieses Pseudonym ist daher inzwischen so löcherig wie Schweizer Käse. Aber aus alter Gewohnheit wird Nörgel weiter hier schreiben. Einmal in meiner Karriere als Journalist bestand ich darauf, einen Artikel nur unter Pseudonym zu veröffentlichen. Denn ich hatte Angst davor, dass mein realer Name in Kreisen der rechten Szene noch bekannter werden könnte. Ich war bei den Recherchen einigen Leuten zu nahe gerückt. Also teilte ich das meiner Redaktion mit. Und damit war klar: der Artikel würde nicht sofort mit mir in Verbindung gebracht werden können. Aber ich stand weiter für die Korrektheit desselben der Redaktion gegenüber gerade. Martin Mollnitz ging leider einen anderen Weg und trat von Anfang an unter Pseudonym uns gegenüber auf. Als er es dann uns gegenüber Anzeigenabteilung: [email protected] Gerne schicken wir Ihnen unsere aktuelle Anzeigenpreisliste und die Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der Wasser-Prawda zu. Anzeigenschluss für das pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats. 27 28 29 32 Die nächste Ausgabe erscheint am 24. August 2012. Bücher: Anna Katharina Hahn - Am schwarzen Berg 31 Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand33 w w w. f r e i r a u m - ve r l a g. d e i n f o @ f r e i r a u m - ve r l a g e. d e G ü t z kowe r S t r a ß e 8 3 1 7 4 8 9 G r e i f s wa l d Te l . : 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 Fa x 0 3 8 3 4 3 / 3 5 0 6 8 8 4 3 © wasser-prawda Editorial lüftete, ging unsere Begeisterung schlagartig zurück. Aber wir hielten uns zurück und wahrten den Decknamen. Zwei Gründe führten zum Verschwinden der Begeisterung: Einerseits die Tatsache, dass der Autor seit Jahren nicht nur in der Jungen Freiheit sondern auch zeitweise in anderen im rechtskonservativen Spektrum angesiedelten Blättern schreibt. Dabe bediente er sich genau der Sprache, dort üblich ist. Aber dann ist da noch das andere, für mich als Redakteur noch wichtigere: Es fehlt den Beiträgen von Herrn Mollnitz (oder da die Lyrikzeitung inzwischen das Pseudonym offen gelegt hat, können wir auch sagen: Bosselmann) die wirkliche Tiefe. Immer wieder werden in den Beiträgen gar witzig zu lesende Zustandsbeschreibungen der Gegenwart geliefert. Aber niemals wird darin wirklich nach Ursachen gefragt. Niemals werden wirklich gangbare Veränderungen angeregt. Es ist in den Texten ein einziges Stammtischgerede auf sprachlich hohem Niveau. Aber es sind keine Polemiken etwa in der Tradition eines Karl Kraus, die er verfasst. Das war auch der Grund dafür, dass wir die „Neue Lyrik“ mit ein paar Gedichten ergänzten. Die vier von uns gewählten Beiträge wählten wir aus einer größeren Anzahl aus. Dabei kann man uns sicher Fehler vorwerfen. Doch unserer Meinung nach waren und sind das Gedichte, die ziemlich genau für den Stil und die inhaltlichen Schwerpunkte des Autors stehen. Jetzt ist das Pseudonym geplatzt und nun steht die Frage: Ist das richtig gewesen? Kann man einem Autoren, der unter seinem realen Namen so in eine bestimmte Ecke gehört, die Chance auf eine neue literarische Karriere verbauen? Eigentlich hätte ich ja gesagt: Das kann man nicht tun. Doch als dann klar wurde, dass Mollnitz selbst ob direkt oder über enge Freunde - die Leserbriefe zum Beitrag selbst verfasste, war ich echt - man verzeihe mir die Sprache - stinksauer. Es ist gegen jede journalistische oder sonstige Ethik! Wer so handelt, macht sich unglaubwürdig. Und so hält sich mein Ärger über den Bruch des Pseudonyms in engen Grenzen. Entspannter Reggae im Greifswalder Hafen Die „Fete de la musique“ gibt es in Greifswald jetzt seit fünf Jahren. 2012 bildete die kostenlose Open Air Veranstaltung gleichzeitig den musikalischen Abschluss des Greifswald International Students Festival. Und so war auch das Programm ein wesentlich bunteres und internationaleres als in den letzten Jahren. Besonders erfreulich, dass die Veranstalter es geschafft hatten, mit den Stimulators aus München eine der besten deutschen Live-Bands in die Stadt zu holen. Leider stand der Band um Gitarrist Peter Schneider nur eine knappe Stunde Zeit zur Verfügung. Diese nutzten die sieben Herren allerdings äußerst anregend mit einer sehr entspannten Reggae-Session mit Songs von den letzten beiden Alben. (Fotos: Raimund Nitzsche) 4 © wasser-prawda Musik Nominierungen für den German Blues Award und die German Blues Challenge 2012 Der Baltic Blues e.V. hat die Nominierungen für den German Blues Award bekannt gegeben. Jeweils zehn Kandidaten in den einzelnen Kategorien sind nach einer Befragung von Experten nominiert worden. Bis zum 31. Juli kann man über die Webseite http://bluesfest-eutin.de abstimmen. Auch über die Teilnehmer an der diesjährigen German Blues Challenge kann man bis 31. Juli dort voten. Die Verleihung der German Blues Awards 2012 findet am 29. September im Brauhaus Eutin statt. Hierbei treten auch die fünf höchstplatzierten Bands des Votings in der German Blues Challenge an. Der in Eutin ansässige Verein organisiert den nationalen Blueswettbewerb in Kooperation mit der Blues Foundation in Memphis, der European Blues Union und dem German Blues Network. Hier die Liste der Nominierten: Kategorie: Band (In alphabetischer Reihenfolge) • Abi Wallenstein & Blues Culture • B.B. & The Blues Shacks • Henrik Freischlader • Jan Hirte & Blue Ribbon • Jenny Boneja & The Ballroomshakers • Jessy Martens + Band • Johnny Rieger Band • Michael van Merwyk & Bluesoul • Richie Arndt & The Bluenatics • Timo Gross Band Kategorie: Solo/Duo • • • • • • • • • • Abi Wallenstein Bargel-Heuser Biber Herrmann „Crazy“ Chris Kramer Georg Schroeter & Marc Breitfelder Lausitz Blues Peter Crow C Playin For Tips Schorsch H. & Dr. Will Thomas Stelzer Kategorie: Gesang männlich • • • • • • • • • • Abi Wallenstein Dieter Kropp Dr. Will Georg Schroeter Michael Arlt Richard Bargel Richie Arndt Rudi Madsius Sepp Maciuszcyk Timo Gross Kategorie: Gesang weiblich • • • • • • • • Alegra Weng Astrid Barth Christiane Ufholz Inga Rumpf Jenny Boneja Jessy Martens Joy Flemming Nayeli • Nina T Davis • Tanja Telschow • Kategorie: Gitarre • • • • • • • • • • • Andreas Arlt Henrik Freischlader Jan Hirte Jan Mohr Jimmy Reiter Kai Strauss Peter Crow C Richie Arndt Timo Gross Todor „Toscho“ Todorovic Kategorie: Harp • • • • • • • • • • Adam Sikora Bernd Kleinow „Crazy“ Chris Kramer Dieter Kropp Geza Tenyi „Josa“ Holger Sauerbrey Klaus „Mojo“ Kilian Marc Breitfelder Marko Jovanovic Michael Arlt Kategorie: Instrument, sonstige • • • • • • • • • • Dirk Vollbrecht (Bass) Erkan Özdemir (Bass) Frowin Ickler (Bass) Jens Ulrich Handreka (Bass) Michael van Merwyk (Lap Steel) Moritz “Mo” Fuhrhop Hammond) Stefan Scholz (Saxophon) Thomas Feldmann (Saxophon) Thomas Schneller (Saxophon) Uli „Lohmann“ Drewes (Trompete) Kategorie: Tonträger (In alphabetischer Reihenfolge der Interpreten) • „All Time Favourites“ (Andreas Arlt) • “Crossing Borders” (Arndt/Gross/Conti) • “Men In Blues” (Bargel-Heuser) • “One More Turn” (Blues Blend) • “Live At BluesBaltica” (Georg Schroeter & 5 • • • Marc Breitfelder) “Through The Storm” (German Blues Project) “Singin´ The Blues“ (Jan Hirte & Blue Ribbon feat. Nayeli) “Brand New Ride” (Jessy Martens + Band) “New Road” (Michael van Merwyk & Bluesoul) „Heymkehr” (Schwarzbrenner) Kategorie: Festival • • • • • • • • • • B&W Rhythm´n´Blues Festival, Halle Blue Wave, Rügen Blues im Hof, Frei-Laubersheim Blues in Lehrte, Lehrte Blues Schmuus Apfelmus, Laubach Bluesfest Gaildorf, Gaildorf Grolsch Blues Festival, Schöppingen Lahnsteiner Bluesfestival, Lahnstein Rother Bluestage, Roth Schmölzer Bluestage, Küps/OT Schmölz Kategorie: Club • • • • • • • • • • Barnaby´s Blues Bar, Braunschweig Blue Note Club & Bar, Dresden Blues Garage, Isernhagen Café Hahn, Koblenz Der Hirsch, Nürnberg Harmonie, Bonn Heimathaus Twist, Twist Merlin, Stuttgart Musiktheater Piano, Dortmund Savoy, Bordesholm GERMAN BLUES CHALLENGE 2012 • • • • • • • • • • • Cologne Blues Club Jan Hirte‘s Blue Ribbon Jenny Boneja & The Ballroomshakers Jessy Martens + Band Johnny Rieger Band Lausitz Blues Lösekes Blues Gang Pass Over Blues Quartett Timo Gross Band Tommy Schneller Band Die fünf Erstplatzierten sind qualiiziert. © wasser-prawda Musik Deutschlands bester Blues? In den letzten Jahren waren die Reaktionen schon fast reflexartig: Die in Eutin ansässigen Vereine Baltic Blues e.V. und German Blues Network geben die Modalitäten für die German Blues Challenge und die Nominierungen für die German Blues Awards bekannt und beim Magazin „Bluesnews“ häufen sich die kritischen Kommentare und Aufrufe, solche Veranstaltungen zu meiden. Der Grund dafür sind die ziemlich undurchschaubaren Nominierungen und Fragen dazu, wer eigentlich für welchen internationalen Blueswettbewerb qualifiziert ist. Ein Vorwurf der letzten Jahre ist 2012 allerdings haltlos: Die Bevorzugung der norddeutschen Bluesszene. Das zeigen die Nominierungen für die diesjährigen German Blues Awards. In den Vereinigten Staaten sind die jährlichen Blues Awards inzwischen für die Szene wichtiger als die Grammies. Wer einen der Preise bekommt, kann damit seiner Karriere einen gehörigen Schub verpassen. Und selbst eine Nominierung ist schon pures Geld wert. Und als Nachwuchswettbewerb ist die International Blues Challenge in Memphis für die zahllosen Bluesgesellschaften einer der Höhepunkte des Jahres. Wer sich in den regionalen Wettbewerben durchgesetzt hat und das nötige Geld für die Fahrt nach Memphis zusammen bekommt, der hat so etwas wie die Qualifikation zu den Olympischen Spielen geschafft. In Deutschland existiert bislang keine nationale Vereinigung von Bluesmusikern, Veranstaltern, Fans und Journalisten. Zwei Vereine aus dem ganzen Land sind Mitglied bei der Blues Foundation in Memphis und dürfen daher Vorschläge zur International Blues Challenge einreichen. Beide sitzen in Eutin. Vor allem die Arbeit des Baltic Blues e.V. kann man gar nicht hoch genug loben. Nicht nur ist das Blues Baltica in der Kleinstadt eines der besten Festivals hierzulande. Auch bei Projekten wie „Blues @ School“ engagiert sich der Verein. Und daher war der Auftrag, dass der Verein für die Organisation eines deutschen Blueswettbewerbs zuständig sein solle, folgerichtig. Es gibt einfach niemanden anderes, den die European Blues Union fragen konnte. Doch wie kommt der Verein zu seinen Vorschlägen, wer zur German Blues Challenge antreten darf? Eine Vorauswahl werde von Fachleuten (Journalisten, Musikern, Veranstaltern,...) getroffen, heißt es auf der Homepage des Vereins. Irgendwann einmal wurde dann die öffentliche Abstimmung in Zusammenarbeit mit den „Bluesnews“ gemacht. Das war aber nur eine Episode. Seither gibt es ein öffentliches OnlineVoting über die Vereinsseite. 2012 sind zehn Bands auf der Liste. Die fünf mit den meisten Stimmen werden im September in Eutin um die deutsche Bluesmeisterschaft kämpfen. Der Sieger - soviel steht jetzt schon fest - wird Deutschland dann 2013 bei der European Blues Challenge vertreten. Ob er auch nach Memphis fahren darf, ist nicht so klar. Denn der Baltic Blues e.V. 6 hat schon 2011 angekündigt, dass Michael van Merwyk als Sieger der damaligen German Blues Challenge 2013 nach Memphis fahren solle. Schließlich war 2011 Big Daddy Wilson als Vorjahressieger gemeldet worden. An diesem Hin und Her hat sich ein großer Teil der Kritik entzündet. Von Vereinsmeierei ist in Kommentaren die Rede, von undurchschaubaren Regeln. Und das ist bei aller Sympathie nicht völlig von der Hand zu weisen. Wenn es auch juristisch korrekt ist: Vorschlagsberechtigt ist nun mal der Verein. Ähnliche Kritik gab es in den letzten Jahren © wasser-prawda Musik auch an den German Blues Awards. Diese hat der Baltic Blues e.V. gemeinsam mit dem German Blues Network ins Leben gerufen. Auch hier gab es die nämliche Kritik der Undurchschaubarkeit. Und des gab den Vorwurf, dass diese Awards niemals repräsentativ für den Deutschen Blues insgesamt sein würden, weil eigentlich bloß Musiker aus dem Norden nominiert worden seien. Dies ist 2012 so nicht mehr haltbar, wenn man sich die Liste der Vorgeschlagenen anschaut: Klar sind da auch wieder norddeutsche Musiker nominiert. Aber bei nüchterner Lektüre kann man die Liste durchaus als ziemlich repräsentativ für rien zu sehen, wo besonders angenehm auffällt, das sehen, was in diesem und im letzten Jahr im dass da auch die ostdeutschen Musiker wie Bernd Blues hierzulande bemerkenswert war. Das kann Kleinow oder Thomas Stelzer genannt werden. man etwa an der Liste für das Album des Jahres Nathan Nörgel sehen: Von Andreas Arlt über das Duo BargelHeuser und Jan Hirte‘s Blue Ribbon bis hin zu Schwarzbrenner geht diese. Das deutet darauf hin, dass die für die Vorauswahl gefragten Experten inzwischen nicht mehr nur aus dem direkten Umland von Eutin kommen... Fotos: Timo Gross, Bernd Kleinow, Jessy MarUnd es das ist auch bei den sonstigen Katego- tens, Henrik Freischlader, Thomas Stelzer 7 © wasser-prawda Musik Marion James - Northside Soul oder: Die Ehrlichkeit des Bluessongs In den 60er Jahren hatte Marion James mit ihrer Debütsingle „That‘s My Man“ einen Top-TenHit. Kurz vorher gehörten Jimi Hendrix und Billy Cox zu ihrer Band. Heute nennt sie sich „Blues Queen of Nashville“. Mit „Northside Soul“ veröffentlicht James jetzt ein Album zwischen Soulblues, New-Orleans-R&B und Jazz. Von Raimund Nitzsche. Aus europäischer Perspektive kann man die Lebendigkeit des Soulblues und Southern Soul über die Jahrzehnte in den Südstaaten der USA kaum verstehen. Abseits der Medienaufmerksamkeit und der Hitparaden-Zahlen wird der Blues der späten 50er Jahre von Musikern live dargeboten und findet noch immer ein begeistertes Publikum. Wobei - und hier kommt der Musikologe durch - dieser Blues auch als Soul bezeichnet werden könnte. Aber wenn man anfängt zu hören, dann ist das völlig gleichgültig. Es geht um Musik, die aus vollem Herzen dargeboten wird und auf dein Herz und deine Füße zielt. Eines der Zentren dieser Musik liegt spätestens seit den 50er Jahren im Umfeld der Jefferson Street der Country-Metropole Nashville. Heute ist das leider nur noch wenigen bekannt. Nashville ist für viele zum Synonym für Country-Musik geworden. Und selbst in den offiziellen Seiten der Stadt spielen Blues und Soul im Bereich der Kultur in der Stadt neben Country und christlicher Popmusik keine wirkliche Rolle. Doch in den 60ern war die Gegend in der Nähe der zwei schwarzen Universitäten Tennessee State und Fisk mit ihren vielen Clubs der Platz, wo Ray Printer‘s Alley ist seit den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts der Nachtclub-District von Nashville. Im Charles, James Brown, Little Richart, Otis Red- Norden der Stadt gab es in der Nähe der Jefferson Street ein ähnliches Viertel für Blues & Soul. ding und Etta James regelmäßig auftraten. Und 8 © wasser-prawda Musik als Jimi Hendrix von der Armee entlassen wurde, war genau hier der Ort, an dem er seine Karriere als Musiker starten wollte. Eine der vielen BandStationen seiner Karrierefrühzeit war bei Marion James, die zu den Pionieren des Rhythm & Blues in der Stadt gehörte mit Zeitgenossen wie Joe Tex, Earl Gaines oder Roscoe Shelton. - Wie lange Hendrix und Cox bei ihr blieben, weiß ich nicht. Sie selbst verweist nur knapp darauf, das Jimi wohl zu keinem der Auftritte pünktlich erschien. Und so wird das Kapitel Marion James/ Jimi Hendrix ähnlich kurz gewesen sein wie bei sämtlichen anderen seiner damaligen Engagements. Auf jeden Fall dürfte diese Episode vor dem großen Hitparaden-Erfolg von James gelegen haben. 1966 war es, als bei Excello ihre Debütsingle „That‘s My Man“ erschien und bis in die Top Ten bei Billboard kletterte. Spätere Hitparadenerfolge blieben für sie zwar aus. Doch als Blues- und Soulsängerin war sie seither (bis auf eine lange Pause in den 80ern) aktiv. Vor allem seit sie Anfang der 90er Jahre „Marion James & The Hypnotics“ veröffentlichte, ist sie eigentlich ständig auf Tournee nicht nur in den USA sondern auch im Rest der Welt. Allerdings kam erst 2011 mit „Essence“ ein Nachfolgealbum in die Läden. Weltweit wurde es von Ellersoul vertrieben und in der Szene bekannt gemacht. Und jetzt folgt beim gleichen Label mit „Northside Soul“ quasi die Fortsetzung dazu. Heute habe der Blues eine Menge von seinem ursprünglichen Feeling verloren, meint Marion James. In den 60er Jahren seien die Stücke „sweeter“ gewesen und tiefergehende Geschichten erzählt. Wenn man sich die Alben zahlreicher aktueller Bluesrocker heute anhört, dann kann man diese Meinung sofort unterschreiben. Jedenfalls dann, wenn man selbst auch Wert auf diese niemals wirklich mit Worten zu beschreibende Ehrlichkeit legt, die einen guten Blues ausmacht. Und das ist genau der Punkt, der der altgedienten Sängerin auch heute noch wichtig ist: Geschichten in Liedern zu erzählen, die man im Kern selbst erlebt hat, mit denen man seine Zuhörer innerlich und äußerlich bewegen will. Vielleicht ist es genau auch das, was die Faszination eines Albums wie „Northside Soul“ ausmacht, das Marion James mit Bassist/Produzent Tod Ellsworth auf der „Northside“ von Richmond eingespielt hat: Hier sind Lieder, die einen in ihrer Direktheit und Persönlichkeit sofort ergreifen. Hier braucht es keine ausgefeilten Produktionen, keine instrumentalen Höchstleistungen. Hier braucht es allein diese Sängerin und ihre Geschichten. Sofort fühlt man sich um Jahrzehnte zurück versetzt in eine Zeit, wo Blues und Soul zusammengehörten, wo Rhythm & Blues noch die musikalische Alltagssprache war und nicht eine Musik für Spezialisten und Fans. Da ist kein gewolltes „Retro“-Feeling produziert worden, um einen altertümlichen Sound neu zu erschaffen. Hier ist diese Musik noch so lebendig wie 1966. Eben weil es die Sprache und die Seele von Marion James ist. Ob sie predigt mit der Inbrunst der Südstaatenkirchen in „Corrupted World“ oder einfach davon erzählt, wie ihr schon wieder mal das Herz bricht („Crushing My Heart“): Es sind ihre Geschichten. Und sie sind nicht von gestern, sondern wenn sie sie singt, dann passieren sie genau hier und jetzt. Und auch wenn sie ein paar Klassiker zwischen „I Just Want To Make Love To You“ und „Next Time You See Me“ zwischen ihre eigenen Lieder schiebt, dann ist das mehr als Crowdpleasing. Denn auch diese Lieder macht sie sich mit der Ehrlichkeit ihres Gesanges ganz zu eigen. Da verschwindet der Macho-Ton von Muddy Waters und das Lied wird in einer Art interpretiert, die eher an Etta James erinnert. (Man kann gut verstehen, warum Marion Etta neben Ella Fitzgerald und Big Maybelle zu ihren größten Vorbildern zählt. Gerade von ihnen hätte sie gelernt, dieses „Blues-Feeling“ zu begreifen und mit der Stimme auszudrücken.) Hinzu kommt dann noch ein lässiger Funk-Groove und Zitate aus Songs von James Brown, den man bei diesem Song sonst eher nicht erwartet hätte. Wobei es solche Details sind, die Marion James und ihre Studioband auszeichnen und die „Northside Soul“ auch für Anhänger der aktuellen Classic-/Retro-Soul-Szene empfehlenswert machen. Je nach Lied wird ein ganz eigener musikalischer Kosmos erschaffen. Das kann der traditionelle Bluessound mit Gitarre und Bluesharp sein, eine New-Orleans-Jazz-Atmosphäre oder der Gospelsound in der Kirche um die Ecke. Begleitet wird Marion James auf „Northside Soul“ von einer Band, die (bis auf Bassist Ellsworth) aus der Region stammen. Und all die soll- 9 ten - so das Mantra des Produzenten - das Feeling des Blues transportieren und nicht eine technische Perfektion, die niemals wirklich in einer lebendigen Produktion zu erreichen ist. Wenn es ab und zu in der Begleitung ein paar kleinere Ecken und Kanten gibt - genau die machen klar, dass es nicht um ein weiteres stromlinienförmiges Produkt für den Massenmarkt geht sondern um ein Blues-Album im Sinne der Künstlerin. Ein Album mit jeder Menge Gefühl, mit Geschichten aus dem Leben. Und mit der Kraft, einen Hörer aus dem Stuhl zu reißen. © wasser-prawda Musik Zwischen Wisconsin, Chicago und Clarksdale Normaler Alltag eines Bluesjournalisten: Es kommt ein Album rein, das einen sofort packt. Man hört einmal, zweimal und dann fängt die Überlegung an: Reicht eine Rezension oder sollte man über den Musiker einen längeren Beitrag schreiben? Vor allem wenn die Künstlerin derartig vielseitig und faszinierend ist wie Sängerin/Gitarristin/Songwriterin/Journalistin/Malerin Liz Mandeville reicht eine Spalte nicht aus. Eine Annäherung von Nathan Nörgel. Wallfahrten sind nicht erst seit Hape Kerkeling wieder vollkommen en vogue. Für den Bluesfan sind die Fahrten „in den Süden“, nach Mississippi schon seit den ersten field-recording-Trips der Plattenfirmen in den 20er Jahren bekannt. Beliebt wurden sie dann so richtig in den 50er und 60er Jahren, als weiße Folkies sich auf die Suche nach den Musikern machten, die damals auf Platten aufgenommen wurden. Und auch wenn heute von denen niemand mehr am Leben ist - der Geist des Blues scheint im Delta stärker zu wehen als meinethalben in der Greifswalder Altstadt oder den Getreidefeldern in Kansas. Eigentlich hätte Liz Mandeville eine solche Reise zu den Bluesquellen kaum nötig. Schließlich ist sie doch schon seit Jahrzehnten konstant in Chicago in den Bluesclubs zu Hause, schreibt ihre Blueskollumnen für ein Online-Magazin und macht ihre Bluessendung im Radio. Für Bluessongs, die sich nicht sehnsuchtsvoll in eine imaginierte Vergangenheit richten, scheint mir das die richtige Umgebung zu sein. Aber klar doch: Claksdale, Mississippi, kann natürlich ein Ort sein, wo man von all den Einflüssen der Großstadt auch mal Abstand gewinnen kann und wieder den Blick auf das Wesentliche richtet. Und nachdem Songwriterin/Gitarristin Liz Mandeville 2009 durch eine Krankheit aus der Bahn geworfen wurde, reiste sie 2010 dorthin, um Inspiration zu suchen. Unterkunft fand sie im „Muddy Waters Room“ des Riverside Hotels. Und dort erstanden dann die Lieder für ihr 2012 veröffentlichtes Album „Claksdale“: Lieder die ganz klar vom ominösen Geist des Südens beein- 10 flusst sind aber ebenso auch davon zeugen, wie eine Musikerin ihr Leben neu in Musik abbildet. Die Anfänge liegen allerdings weder in Mississippi noch in Chicago sondern in Wisconsin, was für die gefallenen Engel im Film „Dogma“ fast so schlimm war wie die Hölle. Für Mandeville war es wohl ein besserer Platz zum Aufwachsen. Denn sie lebte in einer kunstbegeisterten Familie. Ihr Vater spielte Folksongs und besuchte Kunstkurse am Chicago Art Institute, die er sich von der Army nach seinem Dienst im Koreakrieg bezahlen ließ. Von ihm lernte sie schon früh das Singen und auch die Malerei. Ihre Mutter war Schauspielerin und unterrichtete andere darin. Sie nahm Liz mit in Konzerte, Musicals und natürlich ins Theater. Und sie bestand darauf, dass Liz auch Musikunterricht und Tanzkurse bekam. Hinzu kam noch die Musik aus der Stereoanlage, die eigentlich ständig lief. Dort konnte man in einem Moment Strawinsky hören und kurze Zeit später Mahailia Jackson, Leadbelly oder Hank Williams. Und wenn Künstler zu Besuch waren, wurde Liz ermutigt, mit ihren eigenen künstlerischen Arbeiten zur Unterhaltung beizutragen, ob das nun kleine Stücke oder eigene Songs waren. © wasser-prawda Musik Und auch der Süden spielte damals schon eine Rolle. Denn während seiner Grundausbildung für die Armee hatte sich der Vater in die Stadt New Orleans verliebt. Und so endeten die Urlaubsreisen der Familie mit schöner Regelmäßigkeit dort. Auf dem Wege dorthin lernte Liz gleich noch die ganze Bandbreite der amerikansichen Musik kennen, von den Folksongs in den Appalachen über Gospel und Jazz bis hin zum Rhythm & Blues von New Orleans. Und als Liz mit 16 Jahren ihre erste eigene Gitarre erhielt, war klar, dass sie bald darauf in der Lage war, professionell als Musikerin zu arbeiten. Wobei eine solch behütete und reizvolle Kindheit, wie sie Liz auf ihrer Homepage schildert, eigentlich nicht der Stoff ist, aus dem eine Bluesmusikerin geboren wird. Jedenfalls dann nicht, wenn man unbedingt die Klischees vom harten Leben, das den Blues hervorbringt, als Maßstab setzen will. Die Musik jedenfalls brachte Liz Mandeville dann nach Chicago, wo sie sich schnell einen Namen machte als Gitarristin und als Songwriterin. Ihr Spiel auf der Gitarre vergleichen sie mit Chet Atkins. Auf jeden Fall gehört sie nicht zu den harten Riff- und Tempofanatikern sondern hat einen Stil gefunden, der jazzig und swingend ist. Und als Songwriterin: Hier ist eine Frau, die einerseits persönliche ergreifende andererseits auch äußerst humorvolle Stücke schreibt. Ganz im Stile der 20er Jahre werden da die Freuden zu Hause gekochter Mahlzeiten mit sexuellen Unterönen aufgeladen. Oder das Gegenüber wird direkt aufgefordert: „Rub My Belly“. Und dann gibts es auch noch die Lieder als Kommentare zur Gegenwart, ob über das Leben armen Männern, die einfach um einen Job zu haben, in die Nationalgarde eintreten und sich plötzlich im Irakkrieg wiederfinden, oder das Hochwasser in Memphis. Vier Platten erscheinen im Laufe der Zeit. Und mit dem 2008 erschienenen „Red Top“ kommt sie bis auf Platz 3 der Radio Charts des Roots Music Report. Mehr als 20 Wochen bleibt das Album drin. Und „Scratch The Kitty“, einer der Songs der Scheibe ging bis auf den ersten Platz der Cashbox Charts und dürfte heute einer der am meisten (kostenpflichtig) heruntergeladenen Bluessongs überhaupt sein. Jetzt also „Clarksdale“, das Album zur Südreise. „Come Out Swinging“ ruft sie gemeinsam mit Willie „Big Eyes Smith“ und Bassist Darryl Wright. Das Motto stimmt. Von Anfang an packen die Songs. Es gibt die ganz persönlichen Lieder wie „Walking & Talking With You“ oder das a capella gesungene „No Fear/Everything“, bei dem auch dem letzten Ignoranten klar werden dürfte, wass hier für eine großartige Sängerin am Mikrophon ist. Es gibt natürlich das Lied zur Reise und die Geister der Bluesgeschichte - „Clarksdale/Riverside Hotel Blues“. Und Die Band harmoniert. Eigentlich hatte Liz das ganze Album mit Smith einspielen wollen. Doch leider starb er vor der angesetzten zweiten Session. Aber immerhin spielt er bei der Hälfte der Lieder das Schlagzeug und bei zweien auch nochmal die Bluesharp. Waren das die letzten Aufnahmen der Legende? Beim Rest des Albums wird die Besetzung variabler. Da ist die wundervolle SlideGitarre von Donna Herula (mit der Mandeville ein äußerst erfolgreiches Duo in Chicago hat), die die swingenden Saiten rockig aufrauht. Bei „Sweet Potatoe Pie“ (noch so eine zum Grinsen lustige Geschichte über Essen und Sex wie auch Liz Mandeville - That‘s Miss Brown To You (Acryl auf Leinwand) schon der Opener „Roadside Produce Stand“) spielt Eddie Shaw sein legendäres Saxophon. „Claksdale“ ist die erste Veröffentlichung auf Mandeville‘s eigenem Label Blue Kitty. Auf die Idee hatte sie Willie „Big Eyes Smith“ gebracht. Wenn Du wirklich was erreichen willst, dann mach dich von den Labels unabhängig, nimm die Sache selbst in die Hand. Man kann gespannt sein, was sie in den nächsten Jahren außer den eigenen Platten noch veröffentlichen wird. Denn nicht nur beim aktuellen Chicago-Blues hat sie den kompletten Durchblick. Auch was außerhalb der Stadt passiert, nimmt sie wahrscheinlich mehr als nur am Rande wahr. Schließlich muss ihre regelmäßige Rubrik „Inside The Blues“ beim „Chicago Blues Guide“ gefüllt werden. Ob sie dort über Konzerte in den Clubs der Stadt schreibt oder auch Platten von Kollegen rezensiert: Sie schreibt über den Blues, so wie sie ihn selbst auch singt und spielt: Voller Liebe und Offenheit und Begeisterung. Auch wenn sie nicht wirklich der große Fan von Hightspeed-Bluesrockgitarren ist - auch solche Musiker werden von ihr mit so viel Spaß besprochen, dass man wirklich eigentlich sofort in den Plattenladen rennen könnte. Hinzu kommt dann auch noch eine Radiosendung bei WNUR-FM mit ihr. Und wenn das noch nicht genug wäre - wahrscheinlich ist es das, was 11 Kollegen dazu bringt, sie als echte RenaissanceFrau zu bezeichnen - zwischendurch findet sie immer noch Zeit für die Malerei. Wobei gerade die Gemälde aus den Bluesclubs in ihrer farbigen Direktheit und nur scheinbaren Naivität ihre eigene Musik auf eine ganz eigene Weise ergänzen: Nichts ist nur „gewollt“. Überall ist da die Künstlerin in jeder Nuance zu spüren. Und das ist es, was den Blues heute und überhaupt so wichtig macht. © wasser-prawda Musik Lonnie Johnson mit seinem Trio im Jahre 1944. Lonnie Johnson, Eddie Lang und Die Anfänge des Blues-Gitarren-Solos Auf der Gitarre (und schon vor ihr auf dem Banjo und anderen Vorläufern) gibt es zwei Möglichkeiten des Spiels: Musiker wie Blind Lemon Jefferson oder Son House gehören mehr oder weniger zu den rhythmusbetonten Spielern, die den Gesang mit Akkordfolgen begleiten. Daneben gibt es die so genannten „single-note“-Spieler, die die Gitarre mehr als Melodieinstrument betrachten. Die ersten Gitarristen dieser Schule, die mit Blues und Jazz auf Platten aufgenommen wurden, waren Lonnie Johnson und Eddie Lang. Von Raimund Nitzsche und Gary Burnett. E in paar Worte vorweg: Einer der für mich spannendsten Blogs in der Blueswelt stammt von dem irischen Theologen Gary Burnett. In den letzten Monaten haben wir schon ein paar seiner Texte in deutscher Übersetzung hier veröffentlicht. Als er vor wenigen Wochen „The Beginning of the Blues Guitar Solo“ online stellte, wollte ich ihn eigentlich wieder komplett übernehmen. Doch dann entschied ich mich doch dafür, den Text um die Fakten zu erweitern, die ich in den letzten Jahren zu Lonnie Johnson gesammelt habe und auch die Biografie von Eddie Lang etwas ausführlicher zu schildern. Denn - und hier hat Burnett eindeutig recht: Die gemeinsamen Sessions von Lonnie Johnson, dem farbigen Bluesman aus New Orleans und Eddie Lang, dem italienischstämmigen Jazz-Gitarristen aus dem Norden haben nicht nur Musikgeschichte geschrieben sondern sind gleichzeitig ein frühes dokumentiertes Beispiel für die Überwindung des Rassismus in und durch die Musik. Was ich aus Platzgründen leider streichen musste, sind Burnetts theologische Schlussfolgerungen, die immer einen Reiz seiner Blogbeiträge ausmachen. Raimund Nitzsche onnie Johnson gilt als direktes Vorbild für solche Schlüsselgestalten der Blues-Historie wie Robert Johnson und B. B. King. Dabei ist er nicht einmal in der Tradition des Country Blues aufgewachsen, sondern hat diesen Stil nur über- L 12 nommen. Geboren wird er als Alonzo Johnson am 8. Februar 1889 (oder 1894 oder 1899 - die Angaben dazu differieren) in New Orleans als eines von 11 Kindern einer armen Familie (1915 starben außer ihm und einem älteren Bruder alle an der „Spanischen Grippe“). Ausgebildet an Gitarre und Violine arbeitet er während des 1. Weltkrieges in seiner Heimatstadt zusammen mit seinem Bruder als Musiker; der Jazzbassist Pops Foster nennt ihn den „einzigen Burschen in ganz New Orleans, der Jazzgitarre spielen konnte“. 1917 bis 1919 gehört er zum Ensemble eines Repertoiretheaters, das zur Truppenbetreuung in London musikalische Revuen aufführt. Wieder in den USA, wird er in St.Louis Mitglied der © wasser-prawda Musik Band „Jazz-O-Maniacs“ des Kornettisten Charlie Creath, mit der er auf dem Mississippidampfer „St. Paul“ zu hören ist; in dieser Zeit wird er ein guter Orchestermusiker. 1922 verlässt er Creath im Streit, geht nach Galesburg, Illinois, und arbeitet in einer Reifenfabrik. 1925 findet er in St. Louis einen Job in einer Stahlfabrik. Im Herbst 1925 gewinnt er einen Blues-Wettbewerb im Booker T. Washington Theatre und erhält so einen Schallplattenkontrakt bei der Firma Okeh, für die er bis 1932 zahlreiche Titel aufnimmt. Seine Platten haben Erfolg; als Sänger und Gitarrist wird er sehr begehrt. Auch Jazz Bands nehmen seine Dienste in Anspruch: Im Dezember 1927 nimmt er mit Louis Armstrongs „Hot Five“ 4 Titel auf, im Herbst 1928 kommt es zu Einspielungen mit dem Duke Ellington Orchestra und der Sängerin Baby Cox (die Platte erschien sogar unter dem Namen „Lonnie Johnson and his Harlem Feetwarmers“), und 1929 ist er bei Aufnahmen des Louis Armstrong Orchestra wieder dabei. Reisen, Tourneen und eigene Aufnahmen jagen einander. Sein 1926 aufgenommenes „To Do This You Gotta Know How“ veränderte den Blues für immer und ist noch heute ein außerordentliches Stück Gitarrenzauberei zwischen Blues und Jazz. Johnson führte eine völlig neue Art des Gitarrenspiels ein und war somit „unbestreitbar der Schöpfer eines Note für Note gespielten Gitarrensolos, welches der Standard in Jazz, Blues, Country und Rock wurde“, wie der Blueshistoriker Gérard Herzhaft schreibt. Johnson‘s Stil ist die Grundlage dessen, was wir heute als das moderne Spiel auf der elektrischen Blues-Gitarre kennen . 1929 geht Johnson als Begleiter von Bessie Smith auf Tournee, mit der er gut befreundet ist. Während der Weltwirtschaftskrise kann er zwischen 1932 und 1937 keine Platten mehr ganz oben: Lonnie Johnson nach seiner Wiederentdeckung 1960. oben: Eddie Lang mit dem aufnehmen. Johnson arbeitet in Kohleminen, Sänger Bing Cosby. nächste Seite: Autogrammkarte von Eddie Lang. 13 © wasser-prawda Musik bei der Eisenbahn und in der Stahlindustrie. 1945/46 wechselt Johnson von der akustischen zur elektrischen Gitarre; viele Kenner bedauern das, weil sie sagen, damit habe er seinen unverwechselbaren Ton verloren. Von dieser Zeit an bis 1952 arbeitet er für das Plattenlabel King. Konzerte 1952 in England bringen keinen nennenswerten Publikumserfolg. Johnson kann mal wieder keine Aufnahmen mehr machen und arbeitet in Philadelphia als Liftboy und Pförtner in einem Hotel. Dann verliert sich zeitweise seine Spur; 1958 soll er in Chicago als „ein kranker, schäbig gekleideter Mann“ gesehen worden sein. Aber ab 1960 ist er wieder im Studio, nachdem er von der Folkszene in New York „wiederentdeckt“ worden und zu Privatkonzerten eingeladen worden war. 1963 bereist er sogar noch als Mitglied des Programms „American Folk Blues Festival“ Europa und nimmt in Kopenhagen ein Album auf. Am 16. Juni 1970 stirbt Lonnie Johnson in Toronto (Kanada). Von Lonnie Johnson ist eigentlich jeder Bluesgitarrist seither beeinflusst. Es ist bekannt, dass etwa Robert Johnson ihn verehrt hat. Und seit T-Bone-Walker die E-Gitarre im Blues etabliert hat, sind die Möglichkeiten des Melodiespiels auf der Bluesgitarre schier unerschöpflich geworden. Ob nun die markanten Linien von B.B. Kings Lucille oder die Feedbackkaskaden von Jimy Hendrix oder Buddy Guy - letztlich beziehen sie sich alle auf Johnson. m 17. November 1928 ging Johnson in ein Aufnahmestudio in New York, um einige Blues-Instrumentalnummern mit einem anderen außergewöhnlichen jungen Gitarristen aufzunehmen, der unter dem Namen Eddie Lang bekannt war. Und diese erste Session veränderte wirklich die Geschichte des Blues bis heute. Was würde man nicht dafür geben, diese beiden außergewöhlichen Gitarristen dabei beobachten zu können, wie sie sich Licks und Riffs in A „Two Tone Stomp“ oder „How To Change Keys to Play These Blues“ zuspielten? Wie Denny Illet letztens schrieb, hat sich „die Entwicklung der Gitarre von dem Punkt an daran orientiert, was Johnson und Lang an diesem Tag und über den Zeitraum des nächsten Jahres gespielt haben“. Dabei ist schon der Fakt, dass Lonnie Johnson und Eddie Lang gemeinsam im Studio standen bedeutsam. Schwarze und Weiße taten das damals einfach noch nicht gemeinsam. In den 1920er Jahren befinden wir uns noch mitten drin in der schlimmsten Zeit der Rassentrennung, des Rassismus und der Diskriminierung gegenüber Amerikanern afrikanischer Abstammung. Als die Platten von ihnen veröffentlicht wurden, waren sie für den Markt der Farbigen bestimmt. Und so wurde Lang auf den Covern Blind Willie Dunn genannt, um vorzutäuschen, er wäre schwarz. Die beiden Musiker scheinen allerdings die gesellschaftlichen Sitten der Zeit völlig ignoriert zu haben und haben immer wieder gemeinsam gespielt. Und auch wenn sie das unter Decknamen machten - hier zeigte sich, dass Musik in der Lage ist, Grenzen zu überwinden und Vorurteile abzubauen. Zeitweise haben sie die Maskerade so weit getrieben, dass einige Aufnahmen im April und Mai 1929 gar als „Blind Willie Dunn and his Gin Bottle Four“ veröffentlicht wurden. hier waren neben Lang und Johnson auch noch Komponist/Orchesterleiter Hoagy Carmichael als Scatsänger und Percussionist, Pianist J.C. Johnson und der legendäre King Oliver mit seinem Kornett beteiligt. te er in New Yorks sesshaft werden und spielte hauptsächlich als Sideman. Lang gilt als Vater der Jazzgitarre und spielte etwa auf der ersten Aufnahme des Jazz- und Popstandards „Georgia On My Mind“, das Hoagy Carmichael mit seinem Orchester 1930 aufnahm. Schon 1924 hatte er in „Deep Second Street Blues“ eines der ersten je aufgenommenen Single-Note-Solos aufgenommen. Ja, manche bezeichnen ihn gar als den eigentlichen Erfinder der Jazz-Gitarre. Auf jeden Fall sorgte sein Spiel mit dem Orchester von Frankie Trumbauer bei „Singing‘ the Blues“ im Jahre 1927 dafür, dass in den nächsten Monaten sämtliche Banjospieler der New Yorker Szene die Gitarre zumindest als Zweitinstrument lernten oder gleich ganz umstiegen. Lang übernahm ein festes Engagement beim Sänger Bing Cosby, als dieser das Orchester von Paul Whiteman verließ. Leider starb Lang bereits 1933 an den Folgen einder Mandeloperation. Lang hatte eine chronisch heisere Stimme und man hoffte, dies durch die Operation verändern zu können. Denn Bing Cosby wollte, dass er in seinem nächsten Film eine Sprechrolle übernehmen sollte. Was genau bei dem Eingriff schief gelaufen ist, ist nicht völlig klar. Einige Chronisten sprechen von einer Blutung, die nicht gestoppt werden konnte. Andere gehen davon aus, dass Lang in Narkose eine Embolie erlitt und das Bewußtsein nicht wiedererlangte. Langs Gitarre blieb lange Zeit der Maßstab für u dem Zeitpunkt war Lang der begehrtes- die Jazzgitarre allgemein. Das änderte sich erst te Session-Gitarrist in New York und trat mit Musikern wie Django Reinhardt (der sich auch regelmäßig in Rundfunksendungen, The- in seinem Spiel ganz klar an Lang anlehnte) und atern und Konzerthallen auf. Angefangen hatte Charlie Christian, der seine Anregungen auf die er gemeinsam mit seinem Klassenkameraden Joe E-Gitarre übertrug und gleichzeitig den Weg Venuti in einer Band. Doch nach einem längeren vom Swing zum Bebop mit bahnte. Engagement, das bis nach London führte, woll- Z 14 © wasser-prawda Musik Andre Williams: You got to have cash in America Gleich zwei Alben wurden von der 1936 geborenen Blues- und Soullegende Andre Williams 2012 veröffentlicht. Doch ob nun mit den alternativen Country-Rockern The Sadies oder mit einer Truppe rund um Bassist Don Was: Der seit rund zwei Jahren nüchterne Sänger ist nicht nur Womanizer sondern auch Gesellschaftskritiker par excellence. Von Raimund Nitzsche Schlimmer als in Amerika ist‘s eigentlich nur, wenn man in Afrika lebt. Und auch wenn ihr singt: A Change Is Gonna Come - wenn Du kein Geld in Amerika hast, dann bist Du nicht mehr als Trash. Dann biste geliefert. Eine Stimme gebrochen vom Alter, grantelnd und grummelnd. Dazu Frauen im Hintergrund singend. Und eine Orgel wie grad aus der Kirche um die Ecke geborgt. Andere der oft skizzenhaft kurzen Lieder erzählen von Freunden aus dem Knast, vom Fehlen der Frau im Leben. Sie ist gegangen, weil sie es nicht mehr ertragen hat. Und jetzt ist da niemand mehr, der ihn küsst und seinen Hund. Und immer wieder von Amerika, dass einem „70jährigem Nigger“ keine Chace lässt. Vor allem Mississippi, davor kann er nur warnen. Schlimmer ist eigentlich nur Joliet, der Knast von Chicago - oder eigentlich die Schwester von Mississippi. (Und nicht der lustige Laden, den wir aus Bkues Brothers kennen.) Man weiß beim eben veröffentlichten Album „Night & Day“ von Andre Williams und The Sadies nicht, welche Lieder er unter Rum und Drogen und welche er nüchtern aufgenommen hat. Denn die ersten Nummern des Albums gehen auf Sessions im Jahre 2008 zurück, als der Sänger wegen der Drogen immer mal wieder im Knast landete. Als Williams dann so ab 2010 seine Sucht endlich im Griff hatte, da wurde die Arbeit mit der kanadischen Countryband wieder aufgenommen, mit der er 1999 schon „Red Dirt“ veröffentlicht hatte. „Night & Day“ ist als Titel also durchaus programmatisch gemeint; Hier ist einer endlich der Nacht entkommen und auf seine alten Tage wieder im Tageslicht angekommen. Aber viel mehr Hoffnung sieht er dadurch auch nicht. Nur die Dankbarkeit bleibt, dass er es doch noch geschafft hat. Denn nüchtern war er wohl seit den späten 60er Jahren nicht mehr. Irgendwann damals war er mit Ike Turner in Kalifornien für Monate in einer Dauerparty abgestürzt. Immer wieder liest man in dem Zusammenhang von einem LKW voll Koks, den er seither durch die Nase gezogen haben soll. Und von Unmengen Rum, der die Kehle hinunter floss. Hier muss man wohl doch mal erläutern, wer Andre Williams eigentlich ist. Denn trotz hunderter Lieder, die er für andere geschrieben hat, trotz zahlloser Platten, die er seit den späten fünfziger Jahren produziert hat - Andre Williams ist zumindest hierzulande immer ein Geheimtipp If you go fuck three girls in one week, you fuck all three of them good! You know what I mean? If you do a song, put you heart in it! Don‘t come up with no bullshit lyric! 15 © wasser-prawda Musik geblieben. Denn einer wirklichen Karriere stand nicht nur sein exzessives Leben sondern auch sein mehr als schwieriger Charakter immer wieder im Wege. Was eigentlich jeder kennt sind Lieder wie „Shake Yer Tailfeather“ (das er ursprünglich für The Five Dutones schrieb und produzierte und das durch Filme wie „Blues Brothers“ oder auch John Waters‘ Hairspray ewiges Leben erhielt.) Oder seinen Hit „Jail Bait“, weil Keith Richards ihn seit Jahrzehnten immer wieder als sein Lieblingslied bezeichnet, wenn er danach gefragt wird. Und man kennt all die Firmen und Bands, mit denen er arbeitete: erst etwa für Motown als Songschreiber und Produzent wirkte, aber auf Dauer mit Barry Gordy nicht auskam (oder besser: der nicht mit ihm). Später war er dann bei Chess in Chicago, wo er Hits aufnahm und als Entertainer (sein großes Vorbild war Cab Calloway) bekannt wurde. A lot of people had a lot of negative things to say about Phil and Leonard Chess but I have lots of respect for them. Them guys took care of their artists. Now these people that was recording for Leonard & Phil was accepting all the perks and then when came royalty time, it wasn‘t there. They thought they was cheated! Hell, no, they weren‘t. The men was gi- ven Cadillacs, the men was put on projects. Like the Browns, the Chess Brothers were two of the greatest Jew-boys that were ever born in the world. Die Shows müssen damals legendär gewesen sein - Williams immer in lavendelfarbigen Anzügen. Und immer bereit, zu spontanen Textexkursionen - nicht umsonst wird er „Großvater des Rap“ genannt. Produziert hat er so verschiedene Leute wie Parliament und die Red Hot Chili Peppers. Songs geschrieben hat er mit Stevie Wonder, als der bei Motown noch ein Kinderstar war. Und dann war irgendwann Schluss. Seinem Kumpel Ike Turner war er wohl nie wirklich böse wegen all der Drogen. Aber sein Leben hatte der paar Jahre eher wieder im Griff. Irgendwann war Williams obdachlos und bettelte auf den Brücken von Chicago.. Wegen aller möglichen Delikte kam er immer wieder ins Gefängnis. Etwa für den Verkauf raubkopierter CDs. Bis in den 90er Jahren Jon Spencer ihn wieder ins Studio schleppte und ihn quasi per Dekret zum PunkBlueser machte. Oder auch zum „Black Godfather“, wie er sich ab sofort nannte. Jon Spencer war für Williams ein Mann mit einem Herzen „so groß wie der Arsch einer deutschen Frau“. Endlich konnte Williams wieder Konzerte geben, auf Tour bis nach Europa gehen und dort eine neue Generation von Fans gewinnen, die seinen Geschichten lauschten. Und die damit seinen enormen Bedarf an Alkohol und Drogen finanzierten. Auch mit anderen eher dem Garagengenre zugehörigen Bands ging er seither ins Studio. Seine Lieder pendeln zwischen rockigem Soulblues, 16 Funkrock bis hin zum Country (mit den Sadies). Doch eigentlich war das alles nur eine Verlängerung des Absturzes. Und eigentlich auch nicht die Musik, die noch in ihm steckte. Das wurde erst mit Alben wie dem 2007 veröffentlichten Aphrodisiac klar: Funkblues etwa ganz im Stile der Blaxploitation-Filme der frühen 70er. Als 2010 dann Thats All I Need herauskam, war das nicht nur (nach Angaben der Plattenfirma) das erste Album, das er nüchtern aufgenommen hatte. Nein, es ist auch der Beginn großartiger persönlicher und politischer Lieder jenseits der sexuellen Protzereien früherer Jahre. Eine großartige Session ergab sich für ihn im Sommer 2010. Damals hatte ihn Produzentenlegende Don Was zum einem Konzert eingeladen, wo auch Mavis Staples und andere große Musiker auftraten. Williams muss den Laden derartig gerockt haben, dass etliche der Musiker (neben Was als Bassist noch der „Funk Brother“ Dennis Coffey an akustischen und elektrischen Gitarren, Drummer Jim White von den Dirty Three und einige mehr) in der entspannten Jamatmosphäre einige Lieder einspielten. Das Ergebnis erschien Anfang 2012 unter dem Titel „Hoods and Shades“ und ist eigentlich die noch entspanntere Fortsetzung von „That‘s All I Need“. Dagegen ist „Night & Day“ (veröffentlicht von Yep Roc) ein Rückblick in eine eigentlich schon überwundene Zeit, eine viel wütendere und trostlosere Zeit für Andre Williams. Aber gerade deswegen ist es wahrscheinlich das bessere Album. Denn diese Wut, mit der er über sich selbst und über die Gesellschaft herzieht, die trifft man in der populären Musik heute nicht mehr täglich. Für Williams bleibt aber zu wünschen, dass er die Ruhe und Ausgeglichenheit von „Hoods And Shades“ bewahren kann. Hier ist mehr Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu hören. Und die verdient er. © wasser-prawda Platte Des Monats Analog ist besser oder: Das Leben ist eine swingende Poolparty The Two Man Gentlemen Band verweigern sich musikalisch und technologisch der Neuzeit. Das einzige Mal, dass ihr aktuelles Album „Two At A Time“ mit der Digitaltechnik in Berührung kam, war bei der Überspielung auf CD. Selbst für das Pappcover wurden Bilder mit Offseund Texte mit Bleisatz hergestellt. Ihre Musik: Swing und Jazz im Geiste der 20er bis 40er Jahre. Ihre Texte: Sommerhits für die Party am Pool eines Zwei-Sterne-Motels. Klasse, Vater hatte grad eine Operation und Mutter leidet noch an den Folgen der letzten Schönheitsbehandlung. Es gibt jede Menge verschreibungsfähige Medikamente im Haus. Lasst uns eine Party feiern! - In einer gerechten Welt könnte „Prescription Drugs“ ein echter Sommerhit werden. Auch „Pork Chops“, wo der Sänger begeistert darüber singt, dass seine Freundin wie ein Schweinekotelett schmeckt treibt einem sofort das Lachen ins Gesicht und setzt die Füße in Bewegung. Andere Lieder warnen davor, zuviel Wasser in die Drinks zu mixen, die Kombination von Käse und Crackers oder preisen schäbige Motels. He - das hier ist feinster Western Swing gemixt mit der Hitze und dem teils bösen Humor des klassischen Jazzzeitalters. Und es ist ansteckend großartig. Diese Platte ist ein Hit! Diese Musik muss gehört werden. Dazu muss man tanzen! Aber Swing kommt hierzulande ja höchstens in Person von Max Raabe oder von seltsamen Grand Prix-Kandidaten ins Radio. Dabei sind die Lieder der Two Man Gentlemen Band derart witzig und eingängig, dass sie einen akustischen Glanz- punkt selbst im Mainstream-Dudelfunk setzen würden. An Deutschland ist ja ansonsten die Retroswing-Welle der 90er Jahre ziemlich vorbei gegangen. Und selbst Max Raabe verlegt sich mit seinen neuen Alben ja eher auf den Chansonbereich - wenn er nicht (eine seiner schlimmsten Entscheidungen überhaupt) zeitgenössische Hits halbwarm zu verswingen. 17 „Two At A Time“ ist bereits das siebente Album der ehemaligen Straßenmusiker. Doch bislang haben sich Gitarrist/Sänger Andy Bean und Bassist Fuller Condon eher den Ruf eines Geheimtipps erspielen können. Denn nachdem das Swingrevival der 90er abgeklungen ist, sind die Parties eher wieder beim Ska angelangt oder gleich beim Punk. Und das ist schade. Aber vielleicht kommen die entscheidenden Karriereanstöße für die Amerikaner ja aus Großbritannien, wo sich „Blitz-Parties“ mit historischen Kostümen und entsprechender Musik noch immer einen großen Besucheransturm verzeichnen können? Mit Bands wie Benoit Viellefon‘s Orchester, Top Shelf Jazz oder der Original Rabbit Foot Spasm Band würden sie die beiden sicherlich großartig verstehen. Letzlich hat mich „Two At A Time“ in der Kombination aus Musik und Text noch mehr überzeugt als etwa das letzte Album von Pokey LaFarge. Und das will was heißen. Ok, an Durchgeknalltheit ist C.W. Stoneking warscheinlich noch heftiger. Aber das ist eine andere Geschichte. Raimund Nitzsche © wasser-prawda Platten Aber solange sie nicht so lang sind, wie ein frischgezapftes Pils braucht, geht das schon in Ordnung. Nathan Nörgel 3 Dayz Whizkey - The Devil And The Deep Blue Sea Also die handschriftliche Notiz, die die Plattenfirma dem Album beigelegt hatte, war schon mal prima. Besonders das Kleingedruckte darunter. Da findet sich nämlich ein Zitat von Lemmy, dass ein Gitarrensolo nicht länger sein darf als das Geräusch beim Öffnen einer Bierflasche. An Motörhead fühlt man sich nämlich erinnert, wenn man das Albumcover von 3 Dayz Whizkey betrachtet. Allerdings sind die Songs der Band aus dem bayrischen Regensburg mit dem heftigen Rock & Roll von Lemmy und Co. weniger verwandt als mit ZZ Top, Led Zeppelin oder auch mit CCR. Damit sind allerdings nur grobe Koordinaten angegeben. Was das live inzwischen auf fünf Leute angewachsene Trio hier spielt sind also stampfende Bluesrocknummern der angenehmen Art mit hoher Partytauglichkeit. Klar, die Metal-Klischees werden in den Songs immer wieder zitiert. Was soll man auch von einer Truppe erwarten, die ihre Musik als „Blues from Hell“ anpreist? Da werden also die Folgen des Suffs ebenso thematisiert wie diverse düstere Geschichten über Auftragskiller. Lediglich zwei der Lieder sind Coverversionen. Dabei fällt das trocken runtergerockte „Superstition“ von Stevie Wonder besonders auf. Musikalisch wird das Genre insgesamt nicht neu erfunden. Dafür wird amtlich gerockt und die Lieder haben keinerlei Ballast von überlangen Gitarrenexkursionen oder ähnlichem Spielkram. So macht die Musik Spaß nicht nur beim abendlichen Bier in der Lieblingskneipe. Selbst beim Einsatz in einer frühmorgendlichen Radio-Show wurden keine Proteste laut. Was kann man sich mehr wünschen? Man darf gespannt sein, wie 3 Dayz Whizkey sich in den nächsten Jahren weiterentwickeln. „The Devil And The Deep Blue Sea“ erscheint am 17. August bei Timezone in Osnabrück, kann aber jetzt schon bei Amazon vorbestellt werden. Ich hatte durchaus viel Vergnügen dabei. Auch wenn ich nicht so lang brauche, eine Bierflasche zu öffnen wie die Jungs für ihre Solos. Brooke Miller - Familiar Auf Kanada und seine vortrefflichen MusikerInnen wurde in der WasserPrawda ja schon deutlich hingewiesen. Hier kommt ein weiteres Beispiel für die Klasse dieser Gattung von dort: Brooke Miller und ihr Album Familiar. Aufgenommen im Northeimer Stockfisch Studio gibt es hier auf‘s Wesentliche reduzierte Singer/ Songwriter-Musik in 1A-Qualität. Denn auf sechs der elf Titel ist Brooke solo, bei den übrigen wird sie nur von Don Ross am Bass und einmal Piano unterstützt. So kann sie ihre ganze Stärke entfalten und mit Gesang und Gitarren überzeugen. 48 Minuten braucht dieser Prozess der Annäherung, danach sollten alle eine kanadische Künstlerin mehr auf ihrer Liste haben. Gut möglich, dass Brooke Miller noch nicht dem breiten Publikum bekannt ist, aber mit diesem Album bestehen gute Chancen, dass sich das nachhaltig ändert. Brooke wuchs an der Ostküste Kanadas, auf Prince Edward Island, auf. Das oft rauhe Klima des Atlantik, aber auch die nordamerikanische Musik insgesamt haben sie geprägt. Im Alter von 12 Jahren sang sie in einer Punk-Band. Davon sind sicherlich die Erfahrungen geblieben, der Sound hat sich deutlich gewandelt. Geblieben ist der ozeanische Charme ihrer kanadischen Heimat, ein frischer Folkwind und auch ein würziger Schuss Country. Entwickelt hat sie diese Elemente zu einer ganz persönlichen Marke in der sie mit sanftem, aber energischem Vortrag, kraftvoller Stimme und einem Gitarrenspiel, das Einflüsse von Musikerkollegen wie Bruce Cockburn oder Joni Mitchell erkennen lässt, gestaltet hat. So sind im schön gestalteten Booklet die Gitarrenstimmungen zu den Titeln vermerkt und man erkennt, dass sich auch hierin ihre Individualität ausdrückt. Neben dem Titelsong Familiar, den es in einer Piano- und einer Gitarren-Version Boyd Rivers - You Can‘t Make Me Doubt Eine stoische E-Gitarre, eine vor Energie zeitweise überschnappende Stimme - Boyd Rivers war ein äußerst eindrücklicher Blues-GospelPrediger. Mit „You Can‘t Make Me Doubt“ erscheint jetzt erstmals ein komplettes Album des 1993 verstorbenen Sängers. Es gibt Musiker, die selbst in Zeiten des Internet kaum fassbare Legenden bleiben. Wenn man nach Informationen über Boyd Rivers sucht, dann finden sich zwar einige Videos von Auftritten bei youtube. Doch immer ist die Frage beigefügt: Wer ist dieser Typ eigentlich? Dann kommen Hinweise auf Samplerreihen wie „Living Country Blues Today“, wo im Teil 11 acht Lieder veröffentlicht wurden. Und wenn jemand wirklich gut informiert ist, verweist er noch auf das Buch „Woke Me Up This Morning: Black Gospel Singers And The Gospel Live“ von Alan Young, der den Musiker ausführlich vorstellt. Es ist eine heftige Welt des Glaubens, von der Rivers singt. Eine kompromisslose Härte pulst durch seine Lieder, ob er sie nun wie auf der ersten Seite der LP auf der E-Gitarre oder aber (die zweite Hälfte des Albums) auf der akustischen begleitet. Man fühlt sich an den Juke Joint Blues im North Mississippi County erinnert. Oder an einen äußerst schlecht gelaunten John Lee Hooker. Es gibt für ihn in Sachen Glauben keine Kompromisse. Es sind die einfachen Wahrheiten eines Menschen, der für sein Leben Halt im Glauben gefunden hat, nicht offene Diskussionsangebote. Rivers mag manchen als Fundamentalist erscheinen. Einer der selbst Frauen auf Grund seines Glaubens das Recht zu predigen verweigert. Daran kann man sich reiben, sich stoßen oder sie gar ablehnen. Musikalisch aber sind diese Lieder so eindrücklich wie großartig in aller ihrer Ungeschliffenheit. Wo Mississippi Records die zwölf Aufnahmen gefunden hat, die sie auf „You Can‘t Make Me Doubt“ gepresst haben, ist mir nicht ganz klar. Bis auf „That Fire Shed In My Bones“ waren sie sämtlich bislang unveröffentlicht. Erschienen ist das Album bislang lediglich auf Vinyl. (Mississippi) Raimund Nitzsche zu hören gibt (wunderbar zu vergleichen!) ist nur noch Quiet Night in Standard-Stimmung. Alle weiteren Song haben eine ganz persönliche Stimmung. Da kommt es auch ganz besonders zur Geltung, dass Brooke Miller eine handgearbeitete Greenfield Guitar spielt. Mit What You Know beginnt 18 Brooke ihre Runde mit einem einzigartig groovenden Song. Stimme, Gitarre und Arrangement sind authentisch, echt, straight! Dieses Niveau bleibt, auch wenn sie ganz ruhig und introvertiert wird wie beispielsweise in Quiet Night. (Stockfish/in-akustik) Lüder Kriete © wasser-prawda Platten Bullfrog - Second Wind Noch so‘ne deutsche Mugge aus der Krautrock-Ära. Bullfrog bringen uns den Second Wind. Das war damals für die gesamte (deutsche Musik-Kultur-) Entwicklung sicherlich sehr angesagt, heute in der Retrospektive mit ein wenig mehr Leben(serfahrung), auf‘m Buckel, verursacht es zuerst einmal ein Schmunzeln. Es war klar auch ein Bestandteil der Marke „Krautrock“, heute würde man diesen zweiten Wind wohl eher als den Anfängen des Glam-Rock zugehörig empfinden. Bullfrog taten damals das, was so manch andere Band dieser Epoche auch tat: sie lebten gemeinsam und machten ihre Musik. Und auch sie hatten ein großes Ziel: USA. Das haben sie dann auch einfach mal gewagt, mit leider nicht dem erhofften Erfolg. Second Wind erschien 1980 und gibt ziemlich gut wieder, dass diese Band live eine wirklich heiße Nummer war, auch wenn es sich beim vorliegenden Album um eine Studio-Produktion handelt. Als Erweiterung der damaligen LP hat das heutige Label Sireena Records noch fünf Bonus-Tracks dazu spendiert. Diese Titel waren lange verschollen und wurden damals nur aufgenommen, um spontane Ideen festzuhalten, die die Band dann in den USA ausarbeiten wollte. Der Kern dieses Werks ist einfach Rock. Ohne Schnickschnack, ohne spektakuläre Überraschungen. Die Texte sind aus heutiger Sicht witzig und originell, damals sicherlich viel mehr Ausdruck eines Lebensgefühls, einer neuen Stärke und Emanzipation von gesellschaftlichen Zwängen. Damals waren noch Begriffe wie „das Establishment“ oder „Kriegsdienstverweigerer“ angesagt. Die Haare waren nicht nur bei den Mädels lang und persönliche Freiheit hatte immer was mit „Bewußtseinserweiterung“ zu tun. Und eben auch mit Rockmusik. Wer Lust hat kann sich ein Stück aus dieser „guten alten Zeit“ mit diesem Album zurückholen. Eine knappe Stunde dauert die Rückbesinnung. Danach geht‘s dann aber wieder schnurstracks an die Arbeit, Leute! - Oder will hier etwa jemand unseren guten Ruf auf‘s Spiel setz- ker „Sitting on Top of the World“ Und Cee Cee James ist unvergleichoder Willie Dixons „Howlin“ voller lich als Sängerin. ten? (Sireena/Broken Silence) Lüder Kriete Spaß zeigen. Aber eigentlich wollen Nathan Nörgel sie eher losrocken und tun das bei einer sehr respektvollen Interpretation von Led Zeppelins „Rock And Roll“ auch aufs heftigste. Und damit ist auch klar, dass selbst der Rock bei Cameo Blues niemals ohne den Bluesbezug daherkommt. Und damit verdienen sie sich eindeutig eine Empfehlung. Nathan Nörgel Charlie Parr – Keep Your Hands On The Plow Cameo Blues - 10.000 Hours Die Cameo Blues Band gibt es in diversen Besetzungen schon seit Ende der 70er Jahre. Beheimatet und benannt nach der Cameo Lounge im Isabella Hotel von Toronto fanden sich in ihr nacheinander die bekanntesten Bluessänger Kanadas ein. Hinzu kamen auch noch andere Musiker, die sonst bei der legendären Downchild Blues Band aktiv waren. Doch erschien erst 2002 mit „All Play And No Work“ ein Studioalbum der Truppe um Keyboarder/ Pianist Ray Harrison heraus. Und bis zum nächsten Album 10000 Hours hat es gleich wieder zehn Jahre gedauert. Aber eigentlich waren die Mitglieder der Band in den letzten Jahren auch mit diversen eigenen Projekten beschäftigt und kamen erst Ende 2009 für ein Konzert zum 30jährigen Bestehen wieder zusammen. 10.000 Hours wurde von der gegenwärtigen Quintettbesetzung der Band (Ray Harrison - p, John Bride - g, John Dickie - voc, Mike Sloski - dr, Tommy Griffith - bg) eingespielt. „Ungewöhnlich“ war so ziemlich die erste Reaktion, die ich von Mithörern bekam, als ich 10.000 Hours auflegte. Ungewöhnlich - normalerweise ist man von mir im Büro ja eine recht strikte Diät in Sachen Blues & Soul gewohnt. Hier aber wechseln sich „klassische“ Bluesriffs und -rhythmen ab mit Rocksongs, die die Genre-Grenzen mehr als einmal ignorieren, dafür aber Themen haben, die wesentlich interessanter sind als die ewigen „Woke up this morning“-Varianten. Bei den elf Songs des Albums finden sich sieben, die Sänger John Dickie gemeinsam mit seinen Bandkollegen verfasst hat. Und die erzählen mit manchmal schneidender Ironie aus dem Leben von Karrieremusikern. Oder sie regen sich über Radioprogramme auf, die nur noch aus endlosen und banalen Talkshows bestehen, während man eigentlich auf der Suche nach der passenden musikalischen Unterhaltung ist. Klar doch, Cameo Blues kann und hat den Blues, wie sie beim Klassi- Cee Cee James - Blood Red Blues Mit ihrem dritten Studioalbum stellt Cee Cee James klar, warum man sie als „The Human Volcano“ bezeichnet: Kaum eine Sängerin in der heutigen Bluesrockszene singt mit einer derartigen Intensität. „Blood Red Blues“ bietet zwölf Songs zwischem rauhem Boogierock und Blues a la Janis Joplin zu ihren besten Zeiten. Was ist das nur für ein Album? Selbst beim dritten oder vierten Hördurchlauf schaffe ich es nicht, den trockenen analytischen Verstand einzuschalten sondern lasse mich einfach von den heftigen Grooves mitreißen und nicke beseligt vor dem Rechner. Die Energie, mit der sich die Sängerin Cee Cee James selbst im Studio in jeden Song hineinkniet, kommt direkt aus den Boxen wieder heraus. Und das kommt heutzutage nicht mehr so häufig vor. Wenn man James immer wieder mit der großen Joplin in Verbindung bringt, dann liegt das genau an dieser Hingabe und erst an zweiter Stelle auch an der Ähnlichkeit, mit der sie manche Phrasierungen in ihrem Gesang setzt. Doch wo Joplin die entrückte gequälte Seele, ist, die ihre Verzweiflung und ihre Unerfülltheit hinausschreit, da ist James eher die Frau, die einen direkt und persönlich von der Bühne aus ansingt und zu verführen sucht. Etwa in „Feel My Love Come Down“ mit seiner prägnanten Slidegitarre, einem absoluten Höhepunkt des Albums. Wenn sie wie in „Wounds“ dann doch ihr ganzes Herz voller Schmerzen offen zeigt, dann ist auch das wesentlich intimer als bei Joplin. „Blood Red Blues“ ist ein heißes und an keiner Stelle langweiliges oder langwieriges Bluesrockalbum. 19 Normalerweise kennt man die Alben von Charlie Parr als reine Soloscheiben im Stile des PiedmontBlues. Auf „Keep Your Hands On The Plow“ bezieht er neben akustischer Gitarre und Banjo auch Fiddle und E-Gitarre in den Sound mit ein und schafft so Sounds, die an eine Zeit erinnern, als Blues und „Hillbilly“ lediglich unterschiedliche Label für eine verwandte Musik waren, die aber an unterschiedliche Märkte verkauft wurden. Der Titelsong brachte mich für einige Minuten ins Stutzen: Ist hier Reverend Peyton‘s neues Album in die falsche Hülle geraten? Genau diese drängende Stimme und der erdige Sound war mir von dem BluesPunker mit seiner Big Damn Band vertraut. Doch bei den nächsten Liedern des Albums verzog sich diese Assoziation schnell wieder. Denn was Charlie Parr unterstützt von seiner Frau Emily und paar anderen Musikern auf Platte gebannt hat, ist eines der vielseitigsten Blues-Gospel-Alben, die ich seit langem gehört habe. Einerseits ist da natürlich der ragtimlastige Blues der Ostküste. Doch dann klingen Lieder auch wieder nach dem Folk aus den Appalachen oder gar nach zeitgenössischem Bluegrass etwa von den DuoAlben von Tim und Molly O‘Brien. Die Lieder des Albums stammen alle auch aus diesen Zeiten. Klar: Parr ist ein begnadeter Songwriter. Doch hier interpretiert er Lieder, die aus dem Repertoire etwa von Blind Willie Johnson stammen und später von Dylan, den Byrds oder den Flying Burrito Brothers in den Kanon des Folk Rock geholt wurden. Was die Faszination des Albums allerdings in keiner Weise schmälert. Raimund Nitzsche Delta Moon - Black Cat Oil Es sei eine gute Zeit für Blues, soll Walter Trout letztens gesagt haben. Auch Delta Moon blicken in den Songs auf ihrem siebten Album „Black Cat Oil“ genau auf die aktuellen Verhältnisse nicht nur im © wasser-prawda Platten Es sind halt drei ältere Herren, die noch was zu sagen haben. Und ich finde, man sollte ihnen dabei zuhören. cKi Süden der USA. Musikalisch bleibt bei dem Quartett alles beim Alten: Blues, Rootsrock und dazu zwei einzigartige Gitarren. Dexys - One Day I‘m Going To Soar „You ain‘t beat ‚til you say so“ singt Tom Gray im Opener „Down and Dirty“. Und das könnte als Thema über dem ganzen Album stehen. Denn die Protagonisten in den Liederrn von Delta Moon weigern sich einfach aufzugeben. Klar die Zeiten sind hart, der Job ist fort, aus der miesen Kleinstadt kann man nur abhauen und nicht zurückschauen hier wird man nie Liebe finden und damit auch Heimat. Aber es gibt die Straßen durch die Nacht, die Kneipen wo man sich ohne falsche Verstellung jeglichen Frust aus dem Leib tanzen kann. Und als Hoffnungszeichnen leuchtet ab und zu ein „Neon Jesus“ durch die Nacht und erinnert einen daran, dass man aus seinem Kinderglauben auch Kraft schöpfen könnte. Wenn man die Lieder auf der aktuellen Scheibe des Quartetts aus Atlanta mit irgendwas vergleichen soll, dann fallen mir zwei Orientierungspunkte ein: Musikalisch geht‘s hier wieder um eine Mixtur zwischen CCR und der Musik von Sonny Landreth. Und noch immer funktioniert die Magie zwischen den beiden so unterschiedlichen Gitarrenstilen der Bandgründer. Aber textlich sind sie mit „Black Cat Oil“ in einer Liga mit The Band und ähnlichen Gründervätern der amerikanischen Rockmusik angelangt. Zu keinem Zeitpunkt wirken die Stücke aufgesetzt oder gewollt. Und immer atmen sie eine derartige Liebe zu den Menschen jenseits der Glitzermeilen. Hier ist Bluesrock zu hören, der zwar so alt klingt wie seit Jahrzehnten gelagert, der aber in seinen Texten eine zeitlose Aktualität hat, wie man sie viel zu selten zu hören bekommt. Nach „Black Eye Galaxy“ von Anders Osborne der nächste große Höhepunkt für Menschen, denen Songs wichtiger sind als technische Finessen und musikalische Härte. Großartig! Raimund Nitzsche Die Ärzte - auch Für Musik zwischen Celtic Soul und persönlicher Rückschau auf Niederlagen und Drogensucht hat Kevin Rowland seine alte Band Dexys wieder für ein Album zusammengeholt. „One Day I‘m Going To Soar“ knüpft an das 1985 kommerziell gefloppte „Don‘t Stand Me Down“ an. Der Beginn führt gleich auf eine falsche Fährte. Wenn „Now“ mit Piano und Streichern losgeht, dann erwartet man eigentlich eine getragene Soulballade. Doch nach einer Minute kippt der Song in einen heftigen Rhythmus und zerstört jegliche Beschaulichkeit. Dafür ist er wieder da, dieser ganz typische Soulsound der Dexys. Thematisch schlägt das Album einen großen Bogen zwischen persönlichen Niederlagen und der irischen Geschichte. Und man kann sogar so weit gehen, das Album in seiner Abfolge als ein Konzeptwerk zu begreifen, was von der Entwurzelung und dem Zerplatzen sämtlicher Träume handelt. Immer wieder sind es die Brüche in den Songs und zwischen ihnen, die einen mitreißen: Es ist nicht einfach, seinen Ort in der Welt zu finden, die Liebe zu verstehen und mit seiner eigenen Persönlichkeit auszukommen. Spannend sind hier besonders die Duette mit Gesangspartnerin Madeleine Hyland, die eigentlich als ShakespeareDarstellerin bekannt wurde. Immer wieder kommt es so auch musikalisch zu Brüchen, kippen Lieder in völlig neue Stilrichtungen vom Soul a la Van Morrison oder Al Green hin zu folkigen Exkursionen zum 80er Jahre Sound der Band, die damals noch jugendlich als Dexys Midnight Runners firmierten. „One Day I‘m Gonna Soar“ ist ein ambitioniertes Stück SongwriterSoul. Es steht zu keinem Zeitpunkt in der Gefahr, die Hörer mit Liedern wie „Come On Eileen“ auf die Party-Schiene zu locken. Doch wer darauf verzichten kann, hat hier ein absolut faszinierendes Soulalbum mit keltischen Wurzeln. Raimund Nitzsche Die Ärtzte werden dreißig und Claudia sitzt immer noch mit der Freiwilligen Selbstkontrolle im Keller, und der Schwanz ist immer noch nicht ab. Nur was aus dem Schäferhund wurde, ist nicht überliefert. Sylt ist immer noch nicht im Meer versunken. Aber die Themen sind noch dieselben: der ewige Kampf der Geschlechter, der noch nicht entschieden ist. Nur vom Mädchen in der lila Latzhose werden wir ein bisschen verschont. Ist das noch Punkrock oder hat das den Coolnessfaktor eines Gartentraktors? Oder sind Gartentraktoren Kult? Oder gar beides? Gehören Götter ins Regal oder in den Wald? Ist das Modern Talking für Punkrockfans? Sicher, das ist ein Riesenspaß, aber eben nur ein Spaß. Die Ärzte werfen nach eigenen Angaben Wattebällchen auf die bestehen Verhältnisse. Jeden Tag, jede Stunde, langsam und effektiv lassen sie das, was ihnen wichtig ist, auf ihr Publikum einwirken. Hier wird mit Spaß und Ironie eine Botschaft transportiert: Hier darfst Du alles sein und werden außer Faschist oder jemand, der anderen schadet. Hier darf jeder nach seiner Fasson selig werden. Ja, Du darfst und musst deinen individuellen Weg gehen, egal was die Leute reden. Das ist das, was die Ärzte von den ganzen Betroffenheitslyrikern so angenehm unterscheidet, dass sie eine Meinung haben aber sie nicht wie eine Standarte vor sich hertragen sondern einfach dafür „sorgen ..., dass ihr alle auf und ab springt, und dabei auch genau das selbe Lied singt, ungefähr.“. Ob die die Ärzte am Ersten Mai ihre Tante besuchen oder dabei sind, wenn eine Wanne brennt, ließe sich wenn es wichtig wäre vielleicht im Internet klären. Sie saufen auch sicher nicht mehr mit jedem und sie sind Mainstream, eine der erfolgreichsten deutschen Bands, für den Punk erledigt. ... Und dann ist da noch dieses wundervolle Lied über einen „Waldspaziergang mit Folgen“. Auch wenn diese CD nicht ihre beste ist: Man muss die Ärzte jetzt nicht gleich vom Player löschen. 20 Eddie Martin - Looking Forward Looking Back In Großbritannien gehört Eddie Martin spätestens seit Mitte der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zu den wichtigsten Bluesmusikern. Ob als One-Man-Band oder auch mit einer Bläserbesetzten Big Band verknüpft der Gitarrist und Bluesharpspieler Respekt vor der Bluesgeschichte mit aktuellem Songwriting. Sein neues Album „Looking Forward Looking Back“ ist in dem Sinne eine Hommage an so verschiedene Gitarristen wie T-Bone Walker, Elmore James und Johnny „Guitar“ Watson. Bei Big Bands im Blues heute denkt man zuerst immer an Gruppen wie Roomful of Blues mit ihrem swingenden Rhythm & Blues. Aber eigentlich gehen die großen Bands mit fettem Bläsersatz ja schon zurück bis zu den frühen Tagen von T-Bone Walker und dann auch weiter bis in den Funk oder auch in bluesrockige Jazzgefilde bei CCS. Und genau diese Spannbreite deckt „Looking Forward Looking Back“ ab. Da ist der stark nach den frühen 50er Jahren klingende Opener „Frog In The Long Grass“ mit seinen röhrenden Saxophonen und einer Gitarrenschärfe, die nach einer Kreuzung zwischen Freddie King und T-Bone Walker klingt. Danach folgt eine an Elmore James erinnerne Electro-Slide-Orgie in „Sorry For The Rain“ und „Wannabe Me“, was an den Texas Blues von Stevie Ray Vaughan erinnert. Textlich ist einer der Höhepunkte des Albums „Supermodel“, wo sich Martin über seine bluesrockenden Kollegen aufregt, die außer Geschwindigkeit nichts mehr in ihren Songs zu bieten haben, die den Groove und das Feeling dieser grundsätzlich eher swingenden Musik völlig vergessen haben. „You Can‘t Play The Blues If You Don‘t Feel The Groove“ - besser kann man das nicht zufammenfassen. Und seine Bluesharp, die hier im Zentrum steht lässt Erinnerungen an die großen Solonummern © wasser-prawda Platten Strom & Wasser featuring The Refugees Musik & Intention, wie wir sie (noch) nicht alle Tage hören: Heinz Ratz mit seinem aktuellen Projekt Strom & Wasser featuring The Refugees. Nein, das ist kein spleeniger Band-Name; es geht um Musik von Flüchtlingen und das bedeutet ganz reale Schicksale von tatsächlich lebenden Menschen. Und die leben auch nicht irgendwo hinter den sieben Bergen, sondern gleich neben uns. Und das tun sie, weil sie fliehen mussten aus ihren Heimatländern, fliehen vor allen nur vorstellbaren Repressalien einschließlich dem eigenen Tod. Vieles haben diese Menschen verloren auf der Flucht, ihre Musik aber konnte ihnen niemand nehmen. Und die kennt keine Grenzen! Heinz Ratz hat für dies Projekt im Rahmen seiner 1000-Brücken-Tour viele Flüchtlingslager besucht. Die Situationen, in denen deutsche Behörden Menschen darin leben lassen ist durchweg katastrophal. Um so beeindruckender ist der Lebenswille der Menschen, die dort leben. Für die Produktion von The Refugees haben sich weit über 30 Musiker zusammen gefunden, um gemeinsam tolle Musik zu machen. Herausgekommen sind 16 Titel zeitgenössischer Weltmusik. Traditionelle und moderne Musiken der Völker werden mit alten und neuen Rhythmen verwoben, Folklore trifft Moderne. Über 70 Minuten sprüht es vor Lebensenergie, Zuversicht und Freude in der Musik. Da reagiert Rock mit Rap, Roma erklingt neben Arabia. In den Texten werden die erlittenen Erniedrigungen, der tiefe Schmerz und die ungeahnten Erfahrungen in der neuen Heimat thematisiert. Oft sind die Musiker in ihren Heimatländern schon Stars gewesen, bevor sie zu Flüchtlingen wurden. Oft war ihre Musik der Grund dafür. Es wäre schön, wenn diese Musik ganz tiefe Wurzeln treiben würde in unsere Gesellschaft. Die Möglichkeiten dadurch einen aktiven, kreativen Beitrag zu leisten diese, unsere Gemeinschaft, ein wenig lebenswerter zu gestalten, sind ganz greifbar. Lasst uns also tun, wovon wir alle träumen. Der Gewinn ist grenzenlos. (Traumton/Indigo) Lüder Kriete Wir wollen an dieser Stelle aber noch Heinz Ratz das Wort geben, um uns ein wenig über die Schwierigkeiten zu berichten, die in dieser Produktion stecken. Wir hatten mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen - nicht nur organisatorisch - viele Flüchtlinge sind nur begrenzt telefonisch erreichbar, Internetzugang gibt es in vielen Lagern nicht oder nur sehr eingeschränkt - und auch viele Behörden machten uns Schwierigkeiten. Für jede Reise mussten wir eine Sondergenehmigung beantragen, die den Flüchtlingen nur eine genau vorgeschriebene Reiseroute gestattet. Polizeikontrollen führten zu Verspätungen, manches bereits gekaufte Zugticket ging verloren, weil Reisegenehmigungen dann in letzter Sekunde doch nicht erteilt wurden. Fast alle Roma, die ich im Frühjahr in den Lagren kennengelernt hatte, waren mittlerweile abgeschoben worden. In einem konkreten Fall versuchte ich mit allen Mit- teln. die Familie zu schützen, mit dem Endergebnis, das mir zuletzt angeboten wurde, den betreffenden Musiker doch einzustellen, allerdings müsste ich ihm ein Jahresgehalt von mind. 60.000.- Euro garantieren! In anderen Fällen hatten wir mit Ängsten und Depressionen der Musiker zu tun, leider auch mit viel biografisch bedingtem Misstrauen - vor allem Flüchtlingsfrauen sagten ab, weil sie nicht alleine nach Hamburg reisen wollten oder dem ganzen Projekt nicht trauten. Und dann die finanziellen Probleme: die Flüchtlinge haben selbst nur 40 Euro Bargeld im Monat, keine Bahncard, keine Autos - Reisekosten, Verpflegung, Hotelübernachtungen - ich war mehrfach am Verzweifeln und bin umso dankbarer für die finanzielle Unterstützung die ich dann doch gefunden habe und für die ich danken möchte: in allererster Linie unseren tollen Strom & Wasser-Fans und den gespendeten Geldern bei Konzerten und via Banküberweisung! Dann aber auch Pro Asyl für die Übernahme vieler Fahrtkosten, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin für die Projektförderung, der Stiftung Interkultur für die Unterstützung bei Fahrtkosten und Unterbringung der Flüchtlinge, der Firma Ambrosius aus Potsdam für die großzügige Spende und dem Verein Armut und Gesundheit e.V. aus Mainz. Nun kann ich sagen, dieses einzigartige Projekt wird gelingen, die fast vergessene Musik aus deutschen Flüchtlingslagern wird gehört werden - auf dieser CD, im Radio, auf vielen Festivals und Clubkonzerten. Violá - Strom & Wasser feat. The Refugees - viel Spaß! 21 © wasser-prawda Platten von Little Walter auftauchen. Wenn dann nicht gleichzeitig noch eine Orgel und die langsam aber gewaltig groovenden Bläser den Song vorwärts treiben würden. Und so geht es munter weiter von Boogienummern über Rock & Roll bis hin zum Funkblues von „Funky One Too“, für das Pee Wee Ellis das Arrangement schrieb. Was einen Großteil der Energie des Albums ausmacht - und damit des Spaßes, den es beim Hören und Tanzen hervorruft - ist die Tatsache, dass die große Band die Stücke komplett live im Studio eingespielt hat. Hier sind wirkliche Könner am Werke gewesen und haben ein wundervolles Bluesalbum vorgelegt. Eine Empfehlung für Freunde klassischer Bluessounds und aktueller Songs. (Blueblood/rough trade) Nathan Nörgel Grace Potter & The Nocturnals - The Lion The Beast The Beat Die Vergleiche zur jungen Tina Turner braucht sich Grace Potter mit ihrem aktuellen Album nicht mehr anzuhören. Statt härteren Bluesoder Soulrocksongs zeigt „The Lion The Beast The Beat“ musikalisch in die 80er und hat den Drang zum massenkompatiblen Stadionrock. Und die Songs sind noch dazu langweilig. Dass die Zusammenarbeit mit Dan Auerbach von den Black Keys zu überzeugenden Alben führen kann, hat Dr. John deutlich gemacht. Und so war die Erwartung hoch, dass das vierte Studioalbum von Grace Potter & The Nocturnals auch den rauhen und ungeschliffenen Rocksound der Vorgänge bestenfalls noch weiter kultivieren würde. Welch ein Irrtum! Wer bombastische Rocksongs mit 80er Jahre Feeling (a la Heart) und 70er Glam mag, wird auf der Scheibe nette Entdeckungen machen können. Und auch die rocklastigeren Radiosender werden Grace Potter sicherlich freudig in ihre Programme aufnehmen. Denn sie ist nun mal eine klasse Sängerin. Und davon gibt es ja im Rock viel zu wenige, die man sofort wiedererkennen kann. Für mich aber ist „The Lion The Beast The Beat“ eine einzige Enttäuschung, eine langweilige noch dazu. Für mich hat hier eine Sängerin genau diese Besonderheiten ihrer Musik verraten, für die ich sie mag. Schade! Nathan Nörgel Greyhound George & The Blues Drivers - Driving The Back Roads Gibt es eine Straße, die vom Mississippi bis nach Bielefeld führt? Mit der aktuellen CD „Driving The Back Roads“ zeichnen Greyhound George & The Blues Drivers eine mögliche Reiseroute nach. Zwischen akustischem Blues und frühem Chicagoblues bewegt sich die Route, die aber auch vor Nebenstrecken Umwegen nicht zurückschreckt, bevor sie an den Sümpfen entlang der B 61 und den Baumwollfeldern des örtlichen H&M ankommt. „Baby What You Want Me To Do“, fragt Greyhound George programmatisch zu Beginn des Albums. Doch eigentlich lässt er einem kaum eine Wahl, als ihn auf seiner Tour durch die Bluesgeschichte aufmerksam zu begleiten. Von Jimmy Reed, Big Walter und Muddy Waters zurück zu Robert Johnson und Mississippi Fred McDowell geht die Tour, schwenkt kurz ab in die Gefilde von Amy Winehouse, um dann doch in Deutschland anzukommen. Und hier werden die Back Roads für mich am interessantesten. Greyhound George (Jürgen Schildmann) ist ein witziger und angenehmer Geschichtenerzähler. Seine Songs widmen sich den großen Bluesthemen wie dem Unterwegssein, der Liebe und dem Alkohol ebenso wie dem Leben in der Kleinstadt, dem Umgang mit dem Geld oder den Gang zum Psychologen. Und dass er die Baumwollpflücker letztlich bei den „Fashion Girls“ im H&M findet, ist einfach nur großartig ... George ist an Gitarren (akustisch aber auf diesem Album hauptsächlich elektrisch), und Mandoline und Bluesharp gleichermaßen versiert wie er als einschmeichelnder Sänger Eindruck hinterlässt. Und seine Driver (Heidi Schildmann - bg und Andy Grünert - mharm) liefern das Fundament für seine Geschichten. und setzen eigene Akzente (sehr schön, wie Grünert Big Walters fantastisches Instrumental „Easy“ zelebriert - da traut sich nun wirklich nicht jeder ran. Und das völlig zu Recht.) Für „Back Roads“ wurde das Trio zeitweise noch um den Hammondsound von Helmut Sprick und Schlagzeuger/Percussionist Wolfgang Mientus erweitert. Herausgekommen ist ein unaufdringliches und ruhiges aber faszinierendes Album. Die Verbindung zwischen dem Mississippi und Bielefeld haben sie gefunden. Sollte damit endgültig die Existenz von Bielefeld bewiesen worden sein? (Rockwerk Records) Raimund Nitzsche ben sich gegen Modern-Jazz-Bläser durchsetzt, (die ab und zu sogar an die impressionnistischen Klänge eines Debussy erinnern) und diese zum Tanzen bringt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt einmal so eine faszinierende und lebenssprühende „Erbeverwaltung“ gehört habe. Blues und Jazz, Tradition und Moderne und all das ohne akademische Zeigefinger und in jedem Takt tanzbarer als die Dance-Charts der letzten Monate zuammengenommen! Und nebenbei bekommt man einen Überblick über die ganze Bluesgeschichte von den Worksongs und Fieldhollers über Spirituals und Boogie Woogie bis in die bluesrockige Gegenwart. Hinter dem Heritage Blues Orchestra stehen vor allem die beiden Sänger und Gitarristen Junior Mack und Bill Sims Jr. und seine Tochter Chaney Sims. Die drei teilen sich die Gesangsparts in einem Orchesterklang, der vor allem durch die Bläserarrangements von John Williams seine einzigartige Jazzqualität erhält. Für die Rhythmen ist Kenny ‚Beedy Eyes‘ Smith zuständig. „And Still I Rise“ ist ein von vorn bis hinten gelungenes Experiment und für den Schulunterricht besser Heritage Blues Orchestra geeignet als langweilige Vorträge And Still I Rise über Musiktheorie und afrikanische Blues und Orchester? Eine wirkWurzeln des Blues und ihre Veränliche Erbeverwaltung in Sachen derungen im Laufe der Geschichte. Blues und Black Music? Was der Kaufen, anhören, weitersagen oder Bandname verspricht hält das Heriverschenken! tage Blues Orchestra auf seinem DeRaimund Nitzsche bütalbum „And Still I Rise“ locker. Denn das ist ohne Übertreibung eine der faszinierendsten und ungewöhnlichsten Veröffentlichungen des Jahres 2012. Wenn die Gitarre bei „Clarksdale Moan“ einsetzt, dann ist alles noch völlig normal. Dann kommt eine Bluesharp hinzu und das Schlagzeug setzt einen stoischen Groove. Doch dann - ein Bläsersatz sorgt dafür, dass der alte Song von Son House sich aus dem gewohnten Joe Jackson - The Duke Umfeld des Deltablues in ganz neue Eine Hommage an Duke Ellington Sphären bewegt: Jazz trifft Blues zu ohne Swing und Bläser? Joe Jackeiner Zeit, als beide noch ganz eng sons Album „The Duke“ scheitert beieinander wohnende Geschwister auf ganzer Linie. waren. Und doch ist das keine OlEs gibt gute Alben, schlechte Aldie-Schaffe. Denn das Bläserarran- ben und außerdem noch Platten, gement zeichnet auch die Zukunft die man nur als Frechheit oder Zuin den Klang mit ein, die über die mutung ansehen kann. „The Duke“ großen Kompositionen von Duke gehört für mich eindeutig zur dritEllington bis in die Gegenwart ten Kategorie. Aber fangen wir am reicht. Und „Still I Rise“ geht genau Anfang an: in dieser Richtung weiter: Ob nun Joe Jackson hatte mit Alben wie das von Nina Simone bekannte „C- „Night & Day“ oder „Jumpin Jive“ Line Woman“ vom Worksong hin schon früher seine Liebe zum Jazz zu einem afrikanischen Tromme- und Swing zelebriert. Und das sind lexkurs geführt wird oder Muddy Stücke, die noch immer faszinierend Waters‘ „Catfish Blues“ zum New sind, weil sie eben von der Liebe zur Orleans-R&B-Reißer mutiert, der Musik etwa von Cab Calloway, Cole von einem Tubarhythmus angetrie- Porter oder Louis Jordan zeugten. 22 © wasser-prawda Platten Für seine Hommage an den großartigen Duke Ellington soll er seinen Kollaborateuren als Anweisung gegeben haben, sich möglichst weit von den Originalen zu entfernen. Diese Anweisung wurde befolgt. Und hier beginnt das Ärgernis. Aus einer lyrischen Nummer wie „Isfahan“ zum Beginn von „The Duke“ wird dank synthetischer Streicher und Steve Vai an der Gitarre eine klebrige Soundtapete, die jeden Fahrstuhl in den Streik treiben dürfte. „Caravan“ wird mit Gesang auf Farsi zu einer New AgeSchmonzette. Und wer auf die Idee gekommen ist, ausgerechnet Iggy Pop „It Don‘t Mean a Thing“ singen zu lassen, sollte seine Geschmacksnerven überprüfen lassen. Das für mich Gemeinste an „The Duke“ ist „I Ain‘t Got Nothin‘ But The Blues/ Do Nothin‘ ‚Til You Hear From Me“. Denn als ich mich schon damit abgefunden hatte, keinen guten Faden zu finden, tauchte plötzlich die Stimme von Sharin Jones auf. Und sie schafft es, sich gegen das ganze gekünstelte Arrangement durchzusetzen und wirklich Blues mit jeder Menge Herz und Seele zu singen. Welch trauriges Umfeld für die großartige Sängerin. Als Fazit kann ich nur einen Kollegen vom Boston Globe zitieren: “The Duke” is an awful, awful record. It ain’t got any swing, and it don’t mean a thing.“ Bis jetz das schlechteste Album von 2012, gefolgt von den Beach Boys. Nathan Nörgel Johnny Neel - Evera Kinda‘ Blues ... but what you‘re used to Als Songwriter und Keyboarder kennt man Johnny Neel vor allem aus dem Umfeld der Allman Brothers und von Gov‘t Mule. Aber auch John Mayall und zahllose andere Musiker haben schon seine Dienste in Anspruch genommen. Mit seinem aktuellen Soloalbum kommt er noch bluesiger daher als bei den Southern Rockern. Irgendwann erinnerte mich diese Stimme an einen in den Stimmbruch geratenen Joe Cocker: Das gequälte Organ eines Mannes, dem das Leben gewaltig mitgespielt hat. Nur tiefer als beim Sänger aus Sheffield. Aber auf jeden Fall singt Neel mit einem gewaltigen Soulfeeling. Und das ist die angenehme Entdeckung bei einem Album, an das ich nicht so große Erwartungen hatte, weil ich einfach zu viele bemerkenswerte bis gute Neuveröffentlichungen nacheinander gehört hatte. Also stellte ich die Aufnahmebereitschaft so schnell wie möglich zurück und ließ mich auf „Every Kinda Blues“ doch noch ein und wurde nicht enttäuscht. Klar, es ist ganz deutlich zu hören, dass hier ein ausgebuffter und mit allen Wassern gewaschener Profi am Werke war. Neel weiß, Stimmungen in seinen Liedern zu setzen und wechselt vom Rock zum Soulblues und dann wieder zu funkigen Klängen auf seinem Album. Die Band ist fett und groovt, seine Hammond wechselt sich im Sound mit heftigen Gitarrenriffs ab, ab und zu kommt noch - immerhin ist das ein Bluesalbum vom Namen her - eine Harp dazu. Manche Songs erinnern von der Stimmung her gar an die großen Zeiten von The Band. Und Neel singt teilweise relaxt teilweise brennend vor innerem Feuer seine Lieder. So lange er entspannt zur Sache geht, bleibt meine Reaktion durchwachsen. Wenn da nur nicht ab und zu (wie bei dem live-Titel „Won‘t Let Me Down“ diese fast magischen Momente wären, wo man direkt in sein Herz zu blicken scheint... Insgesamt der Eindruck einer ziemlich runden Scheibe mit ein paar wirklich großen Songs. Man sollte ihm wirklich eine faire Chance einräumen. Denn es gibt hier viel zu entdecken nicht nur an Blues, sondern auch an wundervoller amerikansicher Rockmusik ohne weitere stilistische Eingrenzungen. Nathan Nörgel dukt eines kreativen Prozesses und doch fühlt es sich an wie mittem im Sturm. - Booklets sind oft nur eine Ergänzung zum Hören und daher nicht immer gehaltvoll. Hier ist das anders. Katja (be)schreibt sehr offen und ehrlich (über) ein Stück Lebensweg. Das passt besser als alle kritischen Worte von anderen. Darum wollen wir ihren eigenen Worte hier Raum geben. Denn diese Worte haben die Kraft, sich hinein zu begeben in den Sturm, denn mitten drin wartet die Ruhe und darin liegt ja bekanntlich die Kraft. mitten im sturm . . . ... ist ein sehr treffender titel für dies album, denn er bezeichnet die stürme des lebens, durch die ein jeder beizeiten hindurch muss. dann ist es gut, eine richtschnur zu haben, ein lot, eine ahnung, wo es hingeht, doch seien wir ehrlich: es gibt zeiten im leben, da haben wir selbst das nicht. wir wissen nicht, welche richtung unser leben nehmen wird, kraftvolle wogen rütteln an unserem kleinen boot, um in uns die nötige bewegung zu bringen. wir wehren uns dagegen, wollen, dass alles beim alten bleibt und spüren doch, dass es eben diese kraft ist, die uns näher zu uns selber bringt. dann ist es gut, die sache loszulassen und daruf zu vertrauen, dass die wogen sich glätten werden. dass die unbekannten gebiete, in die unser winzig kleines boot vordringt, neues leben, neue einsichten und einen weiteren horizont bringen werden. wir gehen als neuer mensch daraus hervor. (Stockfisch/in-akustik) Lüder Kriete mühsam verkneifen muss. Ergänzt wird das durch ein glückliches Lächeln und vielleicht auch noch mit Fingerschnipsen im Takt. Und ich gehe fast jede Wette ein, dass es sich hierbei um einen Rock&Roll oder um einen Swinggroove handelt. Kaum eine andere Musik kann so schnell gute Laune verbreiten. Auch bei „Gotta Strange Feeling“ dauert es nicht lange, bis der Hörer fröhlich mitwippt und sich von dem klassischen Blues der Band aus Virgina mitreißen lässt. Songs wie der Titelsong oder „Sweet Sue“ sind Jump Blues vom Feinsten. Andere Nummern wie der Titelsong oder „Late Nite Blues“ erinnern mehr an die frühen 50er Jahre in Chicago. Und dann gibt es noch jede Menge dezent swingenden Blues-Shuffle, der auch aus Texas stammen könnte. In diesen Rahmen passen auch die zwei Coverversionen des Albums - „C‘est la vie“ von Chuck Berry (manche kennen es auch als „You Never Can Tell“ aus dem Film „Pulp Fiction) und Louis Jordans „Buzz Me“ genau herein. Natürlich steht Owens Bluesharp klanglich im Mittelpunkt der Band. Aber sie wäre nicht halb so viel wert ohne die Unterstützung der Grand Dukes. Vor allem die Gitarre von Ivan Applerouth (der mit Owens auch die meisten Songs gemeinsam geschrieben hat) setzt in ihrer trockenen Klarheit immer wieder spannende Akzente zu der meist rauhen Harp. „Gotta Strange Feeling“ sollte den internationalen Erfolg, den Li‘l Ronnie und seine Band mit dem Vorgängeralbum „do watcha do“ hatten, fortsetzen können. Das ist traditioneller und niemals verstaubter Blues der Sonderklasse. (EllerSoul) Raimund Nitzsche Li‘l Ronnie & The Grand Dukes - Gotta Strange Feeling Seit über 25 Jahren ist BluesharpAss Ronnie Owens schon mit seinen eigenen Bands unterwegs. Mit Katja Maria Werker - mitten der aktuellen Truppe The Grand Dukes hat er jetzt das vierte Album im sturm Eine deutsche Stimme mit einer veröffentlicht. Und das hat wieder Menge Überraschungspotenzial, die von seinen Fans geliebte Mixtur das ist Katja Maria Werker auf ih- aus klassischem Blues der 50er Jahre rem Album mitten im sturm. Diese mit jeder Menge Swing und etwas Stimme berührt, schafft Nähe und Rock & Roll. Es gibt diesen Beat, bei dem unIntimität und ist doch unnahbar und rätselhaft. Dieses Album ist willkürlich jeder mit den Füßen fraglos das Ziel, das gelungene Pro- wippt oder sich diese Bewegung 23 Lurrie Bell - The Devil Ain‘t Got Music Irgendwann einmal gehörte er zur Young Blues Generation, zur Zukunft des Blues in Chicago. Damals begleitete Gitarrist Lurrie Bell mit seiner aufregend funkigen Band noch seinen Vater Carey. Heute ist er selbst einer der Alten. Was aber nicht dazu führt, dass sein aktuelles © wasser-prawda Platten Album „The Devil Ain‘t Got Music“ verstaubt klingen würde. Ganz im Gegenteil. Also nochmal für alle zum Mitschreiben: Der Blues ist nicht die Musik des Teufels. Das ist eine Erfindung von Frömmlern, denen seit Jahrhunderten alles suspekt ist, was mit Spaß im Leben zu tun hat. Musikalisch gesehen kann man den frühen Blues und die Musik der schwarzen Kirchen sowieso nicht trennen. Musiker wie Rev. Gary Davis oder Georgia Tom Dorsey wussten das ganz genau. Auch wenn Dorsey später dem Blues abgeschworen hatte bevor er zum Vater der Gospelmusik wurde. Was Lurrie Bell mit „The Devil Ain‘t Got Music“ eingespielt hat, dürfte eines der besten Gospelalben des Jahres sein. Oder aber man hört es als ein außergewöhnlich gutes Bluesalbum mit jeder Menge Gott drin. Und es ist eine persönliche Rückkehr Bells zu der Musik seiner Kindheit, die er bei seinen frommen Großeltern und in der Kirche verbracht hat. Es sind die bekannten Lieder von „Swing Low“ bis hin zu „Peace In The Valley“, die sich hier finden. Und es sind ein paar Rocksongs, die das Zeug dazu haben, in den nächsten Jahren zu Gospelklassikern zu werden. Etwa Tom Waits‘ „Deep Down In The Hole“ oder „Lo And Behold“ von James Taylor. Wer jetzt allerdings glaubt, zu wissen, wie die Scheibe klingt, dürfte überrascht sein. Nicht umsonst hab ich das Album als ein Zwitterwerk bezeichnet. Hier ist ein Bluesman am Singen und Predigen und er nutzt diese Klänge für Gott, die er auch für den Tanz im Juke Joint verwendet, seine rauhe und groovende Gitarre, seine nur wenig vom Alter gezeichnete Stimme. Begleitet wird er dabei unter anderem von dem Kenny „„Beedy Eyes“ Smith am Schlagzeug. Und natürlich bei drei Songs von Joe Louis Walker. Und das sind die Höhepunkte. Denn hier sind zwei Bluesprediger zusammen, die noch jeden Sünder zum bereuhen bringen können. Einerseits ist da das Tradition „It‘s A Blessing“, das durch die Slide-Licks von Walker eine spirituelle Tiefe bekommt, die unter die Haut geht. Bei „Peace In The Valley“ kommt es zum Zusammenspiel von Walkers elektrischer Slide mit Bells Fingerpicking. Und man fragt sich, ob dieses Lied wirklich schon 1937 entstanden ist und nicht erst während der Sessions. Und bei Bells eigenem Song „Get To Heaven On My Own“ (nur Bells Stimme und seine Gitarre) spielt Walker die reagierende Gemeinde, liefert mit seinem Händeklatschen den Rhythmus. Das ist Blues aus einem gläubigen Herzen heraus. Und das ist Musik, die auch Menschen berührt in ihrer Persönlichkeit und Direktheit, denen Gott eigentlich ganz egal ist. Hier singt einer, dem er nicht mehr egal ist. Raimund Nitzsche an. Empfehlenswert ist diese CD aber nicht nur für notorische Party-Löwen, sondern auch für alle, die mal hören wollen, was man zu Hause im Kämmerlein so alles anstellen kann, wenn man den ganzen Tag am PC sitzt. Denn da kann man was anstellen, was sich später auch gut hören lassen kann, man muss nur den Mut haben. Sollte also mal gerade nicht Montag sein und man alles andere als den Blues in sich fühlen, dann kann Naked in the City eine heiße Abwechslung bringen. Interessenten erreichen Mr. SoulSell über: [email protected] (Eigenvertrieb) Lüder Kriete Mr. SoulSell - Naked in The City Hier gibt es feinen, elektrischen, Energie geladenen Funk, wie er ausgezeichnet auf jede heiße Sommernachts-Party passt. Egal ob am Strand, im schwülen Keller oder spontan in einer Arbeiterwohnküche. Robert ‚Soul‘ Sell ist eigentlich der Soundmaster im Kulturzentrum Schlachthof in Kassel. Da hat er schon so manchen Stars den Sound so gut eingestellt, dass unvergessliche Momente enstanden. Und Funker wie T.M. Stevens, Delmar Brown oder Stevie Salas & Bernard Fowler haben ihn dann auch gerne mal mit auf ihre Touren genommen. Da wußten sie halt, was sie haben. Wir wissen das auch und darum wollen wir diesen Mann und sein Baby hier mal vorstellen. Hinter all dieser Musik steckt immer nur (s)ein Mastermind! Alle Instrumente, Sounds, Rhythmen, Effekte sind am PC ausgedacht, zerlegt und wieder, in mühevoller Kleinarbeit, zusammengesetzt. Klar, so die eine oder andere Maschine braucht es auch noch, um spezielle Dinge umzusetzten, aber eine ‚echte‘ Band im Studio gab es für diese Produktion nicht. So beeindrucken nicht nur die fetten Bläser-Arrangements, sondern auch die Bollywood-like Titel wie India Sunset. Hier schaffen Tabla, Bass, Drums und die Sitar einen verführerischen Tempeltanz. Im klassisch gehaltenen Titeltrack Naked in the City sind die Wechselspiele zwischen Gitarre und Flöte erstklassig gelungen. Wenn dann das stampfende Drums dazukommt geht‘s geradewegs downstown. Gute 53 Minuten geht‘s nackt durch die Stadt. 12 Gigs sind angesagt und wer dann noch Lust auf mehr hat, der fängt einfach wieder von vorne Nico Wayne Toussaint - Lonely Number Sein Ideal auf der Bluesharp ist der rauhe und zwingende Sound von James Cotton. Sein eigentlicher Stil ist der Chicago-Blues. Mit seinem aktuellen Album „Lonely Number“ ist der Franzose Nico Wayne Toussaint beim kanadischen Label Iguane Records gelandet. Seine Karriere geht schon länger als zehn Jahre. Doch bekannt geworden ist Nico Wayne Toussaint außerhalb von Frankreich und den USA noch nicht wirklich mit seinen Alben. Ob sich das mit „Lonely Number“ ändern wird? Was macht man bloß mit so einem Album? Es ist Chicago-Blues mit einer wirklich guten Bluesharp. Doch die ersten beiden Songs rauschen bei jedem Hördurchgang einfach an mir vorbei, bis endlich bei „Time To Party“ (ok, kein Chicago-Blues, sondern Jump Blues) eine Nummer kommt, wo Name und Sound wirklich stimmen. Auch „Time To Cut You Loose“ geht mit seinem röhrenden Saxophon noch gut ins Ohr und in die Füße. Dann folgen wieder Songs, die ich besser schon tausendmal gehört zu haben glaube. „Waltering In Montreal“ ist dann wieder ein Highlight als Instrumental, wo er seine Meisterschaft an der Harp unter Beweis stellt. Und dann ist da natürlich noch „Moliendo Cafe“ - so eine schöne Harpnummer hab ich wirklich seit Jahren nicht gehört. Doch danach wieder Stücke, die dahinplätschern. Schade drum. Insgesamt bleibt 24 Dynamite Daze auf Sommertour „Scarecrows On Rampage“ gehörte 2011 zu den bemerkenswertesten Veröffentlichungen der deutschen Bluesrockszene. Dynamite Daze sind auch 2012 mit diesem Album und ihrem psychedelischen Bluesrock unterwegs durch Deutschland. Hier die nächsten Termine: 21.07. Tiengen Tienger Sommer* 29.07. Garbsen Blues Matinee 04.08. Parsberg Burgrock Festival 11.08. Prießnitz Open Air 18.08. Plaidt Pellenzer Open Air 19.09. Sömmerda Piano 20.09. Eisenach Schorschl 21.09. Bielefeld Jazzclub 22.09. Elsdorf Stachmos 28.09. Künzelsau Ratzfatz Crossroad Cafe - Blues, Soul und mehr auf radio 98eins Crossroad Cafe ist die Sendung für Blues, Soul, Swing und ähnliche Musik auf radio 98eins. Die Show läuft alle zwei Wochen dienstags von 20 bis 22 Uhr, In Greifswald und Umgebung ist sie zu empfangen auf UKW 98,1 MHz. Der Rest der Welt kann den Livestream auf www.98eins. de empfangen. Hier die nächsten Sendetermine: 17. Juli 31. Juli 14. August 28. August Playlisten werden veröffentlicht auf der Facebookseite der Sendung: www.facebook.com/crossroadcaferadio © wasser-prawda Platten das Gefühl zwiespältig. Aber für diese vier Stücke lohnte es sich doch, es zu hören. (Iguane) Nathan Nörgel storben. Die zweite nachträgliche Ergänzung der Aufnahmen findet sich bei „Since I Fell For You“, wo Otis Clay 2011 die Gesangsspur ergänzen durfte. Insgesamt ist es aber gut und wichtig, dass man die restlichen Aufnahmen des Albums in ihrer Spontaneität und Energie nicht weiter angefasst hat und so mit „Heaven“ ein historisches Dokument eines des besten Pianisten des Chicagoblues überhaupt veröffentlicht hat. (Blind Pig/Fenn Music) Raimund Nitzsche einfach weitertanzen. Denn bald ist das Wochenende vorbei. Nein, bei aller Liebe, diese langbeinige Frau macht mich einfach irre. Sie braucht wirklich nichts zu sagen. Irgendjemand, dem das zu flach und eventuell gar zu sexistisch vorkommt? Solche Texte (siehe oben) gehören einfach zu einer Party. Die Welt rette ich am Montag wieder. Und vorher kommt noch der Sonntagsgottesdienst. (Iguane) Nathan Nörgel Soulstimme von Tad Robinson ist bemerkenswert. Auch die anderen Musiker wie Keyboardeer Ken Saydak, Gitarrist Mark Wydra, Bassist Harlan Terson und Schlagzeuger Marty Binder gehören zu den altgedienten Musikern in der Stadt. „Lake City“ - hörenswert! Nathan Nörgel Pinetop Perkins - Heaven Wenn etwas mehr als ein Jahr nach dem Tode des Pianisten Pinetop Perkins erscheint, dann ist das keine „Resteverwertung“ seiner letzten Nummern. Blind Pig hat vielmehr in seinen Archiven eine Studiosession aus dem Jahre 1986 ausgegraben. Lediglich bei zwei Stücken wurden im Nachhinein Gesangsspuren von Willie „Big Eyes“ Smith und Otis Clay hinzu gefügt. Im Rückblick kann man es sich kaum noch vorstellen, dass Pinetop Perkins erst 1988 sein erstes Soloalbum veröffentlichte. Irgendwie gehörte sein Piano eigentlich immer dazu, wenn man vom Chicagoblues nach dem Zweiten Weltkrieg sprach. Und damit sind nicht nur die zwölf Jahre ab 1969 gemeint, in denen er zur Band von Muddy Waters gehörte. Schon seit er 1953 erstmals „Pinetop‘s Boogie Woogie“ einspielte, hatte er nicht nur seinen Spitznamen weg sondern sich auch gleichzeitig als einer der wichtigsten Pianisten der Gegend etabliert. Die Aufnahmen von „Heaven“ gehen noch auf eine Zeit vor dem Solodebüt „After Hours“ zurück. Perkins - wenn auch mit 75 Jahren schon weit übers Rentenalter hinaus - spielt hier im Wesentlichen allein mit einem nur jugendlich zu nennenden Schwung Klassiker wie den „44 Blues“, „Sweet Home Chicago“ oder auch „Sitting On Top of the World“ neben seinem eigenen „Pinetop‘s Blues“ und „Just Keep on Drinking“. Nur bei vier Stücken kommt eine Rhythmusgruppe (Brad Vickers - b, Pete DeCoste - dr) hinzu. Und bei „Ida B“ sind dann auch noch der Gitarrist tony O und Mike Markowitz an der Bluesharp Gäste der Studiosession. Blind Pig hat die Arbeiten an „Heaven“ wahrscheinlich direkt nach Perkins‘ Tod in Angriff genommen. Denn nur so war es möglich, dass sein langjähriger Partner Willie Big Eyes Smith noch die Gesangsstimme für „Sitting on Top of the World“ beisteuern konnte. Denn auch er ist ja leider 2011 noch ver- Rick L. Blues - Good Luck On My Side Ron Sorin & The Blue Coast Band - Lake City Ok, schmeißt Euch in die Partyklamotten. Rick L. Blues lässt auf seinem Album „Good Luck On My Side“ den Swing los. Und er ist dafür nicht nur extra gut angezogen sondern spielt auch eine gut aufgelegte Bluesharp. Jump Blues, West Coast Swing, Boogie oder was man auch immer dazu sagen mag macht mir zumindest immer gleich gute Laune. Und wahrscheinlich legen es Musiker wie der Kanadier Rick L. Blues es auch gerade darauf an und reklamieren die Tanzböden damit zurück für den Blues. Klar, dass die Themen der Lieder sich dann eher nicht um die Lösung der Wirtschaftskrise drehen sondern eher von den paar magischen Stunden am Wochenende, wo man mit der angebeteten und bewundernswerten Frau an seiner Seite genau diese Krise vergessen will. Songs wie „Well Dressed Man“, „Cool Cat Swing“ oder „Lucky Boogie“ sind mitreißend, tanzbar und äußerst unterhaltsam. Und viel mehr wollen sie auch nicht sein. Vielleicht - und auch das tun sie auch ohne Probleme - sollen sie auch noch nachweisen, dass Mr. Blues seine Harp ganz hervorragend zum Swingen bringen kann. Und wenn er dann noch mal richtig den Blues hat zusammen mit seiner ganzen Farm, dann ist auch das eher unterhaltsam als tottraurig. Und das ist auch gut so, denn sonst würde man durch die ganzen Tränen seinen Drink verwässern. Aber keine Angst - Santa Claus wird niemals sterben. Also kann alles nicht so schlimm sein. Und jetzt lass mich Mit seiner Bluesharp hat Ron Sorin in den letzten Jahrzehnten schon die verschiedensten Musiker begleitet. „Lake City“ ist nun sein Solodebüt, für das er mit der Blue Coast Band eine hervorragende Gruppe gefunden hat. Und für das er noch dazu einen großen Teil der Lieder geschrieben hat. Es ist eine Blueshymne an Chicago. Oder sagen wir: eine musikalische Stadtbesichtigung der Bluesmetropole. Klar, dass dabei in manchen Liedern noch die Erinnerung an die Baumwollfelder zu hören ist. Ebenso sind in den Liedern Ron Sorins Reminiszenzen an die Kirchen zu hören, die Jazz-Clubs oder auch die Musik, die in den Kinos läuft. Und man wird akustisch dran erinnert, dass Chicago an einem See liegt. Klar das Sorins Bluesharp oft an den klassischen Chicagoblues der 60er Jahre erinnert. Schließlich hat er im Laufe seiner Karriere mit Musikern wie Huber Sumlin oder anderen Altmeistern zusammengespielt. Doch ebenso spielt er bei Bedarf auch eine Jazzharp, wie man sie selten zu hören bekommt. Und auch Rock & Roll gehört zu seinem Repertoire. Und manchmal hört man auch noch Musik, bei der man an Shanties erinnert wird. Es war ja gerade die Seeküste Chicagos, wo Sorin aufwuchs (und wo er zuerst den Blues gehört hat). Die angenehmste Überraschung ist, dass das hier zwar ein Solodebüt ist, aber keine allein auf den Solisten abgestellte Performance. Die Blue Coast Band an sich ist eine bemerkenswerte Entdeckung. Besonders die wunderbare Blues- und 25 Rory Block - I Belong the The Band. A Tribute To Rev. Gary Davis Nach Robert Johnson, Son Housee und Mississippi Fred McDowell widmet sich Rory Block auf ihrem aktuellenTribut-Album „I Belong To The Band“ der Musik von Reverend Gary Davis. Und sie bringt damit auch den Glauben einmal mehr wieder zurück auf aktuelle Bluesalben. Als Ella Fitzgerald damals mit ihren Songbook-Alben die Musik verschiedenster Songwriter der Geschichte des Jazz und der amerikanischen Popmusik aufnahm, da war das in vielen Fällen mehr als eine Referenz an große Namen sondern auch eine eigene künstlerische Aneignung der großartigen Musik. Wenn heute Sänger wie Rod Steward und andere aus Mangel an Ideen immer mehr Alben aus dem Great American Songbook auf den Markt werfen, da herrscht zumeist nur gähnende Langeweile beim Hörer. Denn anstatt eigne Akzente zu setzen, werden einfach große Songs möglichst stromlinienförmig für das Formatradio dudelfähig gemacht. Was Rory Block seit Jahren immer wieder macht, wenn sie sich auf Tribute-Alben ihren musikalischen Vorbildern widmet, hat mehr mit Ella Fitzgerald zu tun. Und das ist ein großes Glück. Dass sie jetzt bei Reverend Gary Davis angekommen ist, hat mit ihrer Biografie zu tun. Denn so wie Mississippi Fred McDowell ist sie dem Gospel-Blueser in ihrer Jugend noch persönlich begegnet und hat sein unvergleichliches Gitarrenspiel quasi an der Quelle kennengelerrnt. Und doch nimmt es niemanden Wunder, dass sie erst nach so vielen Jahren wieder zu dieser Musik zurück kehrt. Den eigentlich kennt man die Gitarristin ja eher in den © wasser-prawda Platten Traditionen des Delta-Blues als in den Picking-Regionen der Ostküste. Und schon gar nicht hab ich sie als Virtuosin auf der Zwölfsaiter in Erinnerung gehabt. „I Belong To The Band“ ist eines jener akustischen Bluesalben, die man eigentlich immer als Referenz für das Genre weiterempfehlen sollte. Voller Respekt interpretiert Block hier Lieder wie „Twelfe Gates To The City“, „Samson and Delilah“ oder „Pure Religion“. Und doch hat man in jedem Moment die Gewissheit, dass sie sich diese Songs ganz zu eigen gemacht hat. Das ist der Unterschied zwischen einer billigen Coverversion und einer eigenständigen Interpretation. Und überhaupt war es längst überfällig, dass mal wieder Songs eines Musikers in Erinnerung gerufen wurden, für den die verlogene Trennung zwischen Blues und Kirche einfach nicht existent war. Das ist auch in den eigenen Songs ihrer Karriere nie ein Thema gewesen für Rory Block, hat sie doch vor Jahren schon musikalische Bearbeitungen etwa des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn komponiert und auf Platte gebracht. Der Blues ist einfach nicht des Teufels Musik! Dafür ist er viel zu gut. Hört einfach „I Belong To The Band“ und gebt mir ein AMEN zurück! (Stony Plain) Raimund Nitzsche spätestens mit „Sun Midnight Sun“ den Klischees entsprungen. Denn dieses Album hat zehn Songs, die nur selten an die ganz traditionellen Strukturen des Bluegrass erinnern. Vielleicht noch am ehesten passt der rasante Opener „The Foothills“ da hinein. Aber schon wenn sie mit Fiona Apple den Klassiker der Verly Brothers „You‘re The One I Love“ singt, dann ist sie bei radiofreundlichen Popsounds gelandet. Um dann später bei anderen Liedern ihre eigenen Geschichten rockend heraus zu rotzen. Ok, dieser Begriff passt eigentlich nicht wirklich zu ihrer Stimme und ihrer Art zu singen. Besonders weil sie so schnell wieder zurück zu den unschuldigen Tönen wechselt, die auch von der Carter Family stammen könnten. Weitere Höhepunkte der Scheibe sind die zweite Coverversion, Willie Nelsons I‘m a Memory (gesungen im Duett mit Jackson Browne) und das mehr als ein wenig an Woodie Guthrie gemahnende „Take Up Your Spade“, mit dem das Album schließt. Hatte Watkins bei ihrem von John Paul Jones (Led Zeppelin) produzierten Debüt noch mit einer Gruppe exzellenter Studiomusiker aus Kalifornien live im Studio gesungen, so wurde für „Sun Midnight Sun“ ein anderes Herangehen gewählt. Begleitet wird sie hier hauptsächlich von Multiinstrumentalist Blake Mills und ihrem Bruder Sean an der Gitarre. Die meisten zusätzlichen Instrumente wurden per Overdubbing später hinzu gefügt. Allerdings tut das glücklicherweise der Energie der Aufnahmen keinen Abbruch. (Nonesuch/Warner) Raimund Nitzsche Sara Watkins - Sun Midnight Sun Bekannt wurde Sara Watkins als Fiddel-Spielerin beim BluegrassTrio Nickel Creek. „Sun Midnight Sun“ ist ihr zweites Soloalbum mit Liedern zwischen romantischer Verspieltheit und fast punkigem Folksound. Bei der Stimme kommen sofort Engel oder Elfen ins Spiel: Wenn Sara Watkins singt, dann fällt den Kollegen so schnell nichts anderes ein. Und wenn ich ehrlich bin: Sollte ich zu einem Vergleich gezwungen werden: Wenn Engel so singen, dann ist das Hallelujah im Himmel auf jeden Fall mehr als hörenswert. Wenn sie dann noch zur Fiddle greift, dann hat man eigentlich das Klischee einer jungen Bluegrass-Künstlerin. Doch Watkins ist Schoenholz - Ceylon Melancholisch, manchmal düster und dann wieder aufwühlend - Indiepop in deutscher Sprache nennt man das, was die Berliner Band Schoenholz auf ihrem aktuellen Album „Ceylon“ vorgelegt hat. Und der braucht eine Menge Zeit, um wirklich seine Schönheit zu entfalten. Es ist etwas Schweres mit der deutschen Sprache im Pop. Musiker wie Element of Crime oder Stoppok haben hier eine lyrische Dichte mit ihrer ganz eigenen musikalischen Welt kombiniert und stehen damit einzigartig da. Unerreicht von den zahllosen Nachahmern. Und als Monumente der Vergangenheit stehen die großen Alben von Ideal, Fehlfarben, den Scherben oder vom jungen Udo Lindenberg. Das sind die Gipfel, die zu erreichen so schwer ist, wenn man sich nicht den scheinbar leichten Umweg über das Englische wählen will. Das musikalische Ceylon, diese mythische Gedankeninsel der Berliner Band Schoenholz liegt irgendwo im weiten Meer dessen, was man Independent-Pop nennt. Erinnerungen kommen bei den lyrisch dahin fließenden Klangwellen an so Bands wie die Tindersticks. Wenn auch die schwelgerlische Schwermut der Briten immer wieder gebrochen wird durch elektronische Einsprengsel oder plötzlich aufscheinende Hoffnungsschimmer. Eine Musik, die nicht nach den Rockcharts schielt, die lyrisch dahinfließt, um einen dann doch wieder mit einem Ausbruch zu überrumpeln. Die Stimme von Sängerin Daniela Schönwald nimmt einen auf diese Reisen mit. Und erst spät merkt man, dass sie ja eigentlich auf deutsch singt und Geschichten zu der Musik erzählt. Und da beginnen die Schwierigkeiten. Denn die von ihr selbst geschriebenen Texte sind oft zu bemühlt, ziehen Metaphern heran, die einen aus dem Hörgenuss herausholen mit einem fragenden Blick. Oder es tauchen Formulierungen auf, die nach der zehntausendsten Verwendung nur noch abgegriffen und schal sind. Nein, Daniela Schönwald ist nicht Sven Regner. Auch wenn sie gerne so erzählen möchte meiner Meinung nach. Sie ist auch weit entfernt vom direkten Rock der Fehlfarben oder der scheinbar schnodderigen Alltagssprache von Stoppok. Würde sie ihre Texte alleine zur akustischen Gitarre vortragen, dann wäre das Urteil schnell gefällt: Noch eine Liedermacherin, wo die Botschaft wichtiger ist als Groove und Prägnanz der Sprache. Aber mit der Band entwickeln die Texte bei aller Holprigkeit dann eben doch einen Sog, der einen über die lyrischen Schwächen hinwegzieht. Aber das funktioniert nicht nebenbei. „Ceylon“ ist keine der Platten, die man irgendwie nebenbei laufen lassen könnte. Sie fordert ständige Aufmerksamkeit. Schon das Mahlen der Kaffeemühle zwischendurch zerstört die Magie. (Timezone) Raimund Nitzsche 26 Sonny Landreth - Elemental Journey Die elektrische Slide-Gitarre hat in der Geschichte des Blues einen weiten Weg zurückgelegt von Elmore James und Muddy Waters bis hin zu Johnny Winter und Derek Trucks. Mit seinem sofort zu identifizierenden Sound ist Sonny Landreth seit Jahren einer der faszinierendsten Slidegitarristen zwischen Blues und Roots-Rock. Für sein erstes Instrumentalalbum „Elemental Journey“ hat er sich nicht nur Joe Satriani sondern auch ein Streichorchester ins Studio geholt. Ein Jazzkritiker verglich die Gitarrentechnik von Sonny Landreth (er spielt mit drei Fingern die üblichen Linien auf dem Griffbrett während der kleine Finger mit einem schweren Glas-Slide die Akzente setzt) mit der von Eddie Van Halen für die Rockgitarre. Klar ist auf jeden Fall, dass der 1988 als Gitarrist von John Hiatt erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordene Musiker heute für die Slide-Gitarre einzigartig dasteht neben Ry Cooder und Derek Trucks. Und sofort rufen seine Kompositionen Erinnerungen an die Sümpfe Louisianas hervor, auch wenn er nicht mehr wirklich Zydeco oder ähnliche Musik spielt.“Elemental Journey“ ist vielmehr eine musikalische Exkursion durch Blues, Rock und karibische Klänge, eine Sammlung von teils epischen teils konsequent rockenden Nummern, bei denen keine Note zu viel oder zu wenig ist. Da gibt es klassische Bluesrocker wie „Reckless Beauty“, zu denen man sich ohne weiteres auch noch gesungene Texte vorstellen könnte. Und es gibt Stücke wie den Opener „Gaia Tribe“, die von ihrer ausgreifenden Kompositionsweise her schon fast in den Bereich der imaginären Filmmusik fallen würden. Hierbei ist besonders spannend, wie sich Landreths Gitarre von den begleitenden Streichern abhebt und dann wieder mit ihnen zu verschmelzen scheint. Und selbst Joe Satriani als Gast kann hier seiner Neigung zu vielen schnellen und doch überflüssigen Noten konsequent widerstehen. Instrumentalalben haben es heutzutage schwer auf dem Musikmarkt. © wasser-prawda Platten Doch „Elemental Journey“ ist nicht nur für Fans der Slide-Gitarre eine Empfehlung wert. Nathan Nörgel The Veldman Brothers Bringin‘ It To You Live Nach dem erfolgreichen Studioalbum „Spreadin‘ Around“ ist 2012 von den holländischen Veldman Brothers ein Live-Album zu begutachten. „Bringin‘ It To You Live“ ist in seiner Direktheit ein Konzentrat dessen, was die Fans der Bluesrocker an den Brüdern mögen: Ein kochender Mix aus Blues, Rock und Soul, getragen von den Brüdern Gerrit Veldman an der Gitarre und Bennie an Hammond und Bluesharp. Eines muss man mal voraus schicken: Es gibt im Blues/Bluesrock wenige Bands, die einen so prägnanten und eindeutigen Sound gefunden haben wie die Veldman Brothers. Das mag an Bennies treibender Hammondorgel liegen oder an den Duellen, die er sich an der Bluesharp mit der Gitarre seines Bruders liefert. Es scheint nichts über enge Familienbande zu gehen. Und eine Frage noch vorweg: Warum macht man eigentlich LiveAlben? Ich sehe in der Musikgeschichte zwei Antworten darauf: Es gibt Alben, die einen bestimmten Moment einfangen sollen, die Magie einer besonderen Veranstaltung. Und es gibt Alben, die eher die musikalische Bandbreite einer Band zu einem bestimmten Zeitpunkt dokumentieren sollen und daher Material verschiedener Konzerte verwenden. „Bringin‘ It To You Live“ scheint für mich zur zweiten Kategorie zu gehören. Zumindest ist für mich nicht ersichtlich, ob die Aufnahmen im „Onder Ons“ JK Studios Dalfsen im März 2012 an einem oder mehreren Abenden gemacht wurden. Ein konkreter Konzertablauf ist auf jeden Fall nicht sofort nachzuvollziehen. Zwölf Stücke haben den Weg auf das Live-Album gefunden. Davon stammen (für mich: leider) nur fünf aus der eigenen Feder und sind ganz der typisch groovend rockige Blues der Veldmans. Für mich dabei herrausragend: „Target“ oder das funkige „Heading For The Door“. Und natürlich der „Boogie“ im amtlichen Hooker-Groove ganz am Ende des Albums. Die anderen stammen aus ganz unterschiedlichen Quellen und zeigen die Wandlungsfähigkeit der Band. Da wird dezent Hendrix gefolgt mit „Up From The Skies“, Hookers „Boom Boom“ eher traditionell heruntergerrockt und bei Ry Cooders „Feelin‘ Bad Blues“ kann Gerrit Veldman einmal mehr seine Meisterschaft an der Slide-Gitarre unter Beweis stellen. Natürlich darf auch der große Howlin Wolf nicht fehlen. Da liegt natürlich sein „Killing Floor“ nahe. Konzertbesucher hören diese Klassiker immer wieder gern. Doch für mich sind die eigenen Nummern der Brüder die eigentlichen Hinhörer. Aber ich sitze auch vor der Anlage und nicht im Club beim Konzert. Nathan Nörgel Das mag jetzt alles sehr akademisch klingen und die konservativen Bluesfans erstmal abschrecken. Doch wenn man sich mit Willie McBlind auf die Zugfahrt des Albums begibt, dann werden solche Fragen schnell überflüssig. Schnell findet man sich wieder auf einer Tour in eine seltsam futuristische Welt zwischen dem MississippiDelta, Steampunk-Comix und modernen Industriestädten. Mit einer Mischung aus harten Rockrhythmen und den nur beim ersten Hören ungewöhnlichen Klangwelten von Gitarre und Gesang entwickelt sich eine Blues-Atmosphäre, wie sie so innovativ eigentlich seit den Jugendjahren von Captain Beefheart kaum mal wieder jemand versucht hat. Und da passt es selbst, dass als einziges Cover Robert Johnsons „Love In Vain“ ins 21. Jahrhundert verpflanzt wird. Äußerst faszinierend! Raimund Nitzsche Willie McBlind - Live Long Day Das Thema von „Live Long Day!“ ist typisch Blues: Man könnte die Songs als eine komplette Bahnreise aus dem Süden der USA bis hoch in den Himmel hören. Doch was die Band Willie McBlind auf ihrem dritten Album macht, klingt wahlweise nach der Zukunft des Blues oder wie eine Kreuzung aus Freejazz-Harmonien und Hardrockrhythmen. Ein wenig Theorie vorweg: Die europäische Musik basiert auf einer Tonleiter mit zwölf Halbtonstufen. Willie McBlind haben sich von diesem System verabschiedet zu Gunsten einer „Harmonic Music“, das sämtliche denkbaren Ober- und Untertöne in den Klang mit einbezieht. Dafür nutzt Gitarrist Jon Catler wahlweise Gitarren ohne Bünde oder aber speziell angefertigte Gitarren, die die Nutzung von Zwischentönen durch die Verdopplung der Bundzahl ermöglicht. Diese Gitarrenhälse haben dann Ähnlichkeit mit denen der indischen Sitar. Neben Catler ist auch Sängerin Meredith “Babe” Borden mit ihrer Konservatoriumsausbildung firm in Sachen ungewöhnlicher Klangwelten. Ergänzt wird das Duo um Bassist Mat Fields und Schlagzeuger Lorne Watson. Xavier Rudd - Spirit Bird Xavier Rudds siebtes Album Spirit Bird klingt uns wie das vertonte geheime Tagebuch von Christopher Robin, das er seinem geliebten Freund Winnie Pu gewidmet hat. Geheimnisvoll, privat und unendlich liebenswert. Hier geht es um Freundschaft aus Kindertagen, die alle Unbillen der Zeit, alle Anfeindungen der Erwachsenen und all dem bescheuerten Intellektualismus derjenigen, die sowieso alles besser wissen, die Stirn bietet. Wer bereit ist, das eine oder andere musikalische Konzept eines Mitteleuropäers über Bord zu werfen, der kann mit dieser Scheibe einen großen Eimer voll wildem Honig einsammeln. Und diese Trophäe dann mit den besten Freunden zusammen genießen macht doppelt Spaß – fragt Ferkel, Eule, Kaninchen, Känga und Tigger! Gut Ding will Weile haben; so auch das vorliegende Album des australischen Multiinstrumentalisten Xavier Rudd. In seinen Worten hat er es an den Anfang des Booklets geschrieben: „The keys to this album were passed to me a few years ago deep in Kimberley country far north Western Australia through the eyes of 27 an old old old woman spirit red tail black cockatoo (Dt.: Rotschwanz Rabenkakadu). I would like to pay respect to that experience which opened the door to the music and journey that followed and continues to flow. One love one mob for country arms up!“ Und genau das hat er denn auch getan - Emotionen, Inspirationen und profundes musikalischen Können, das aus einer Vielzahl unterschiedlicher Quellen gespeist wird, bringen Hörerinnen und Hörern ein einzigartiges Erlebnis. Denn Xavier verwebt eigene Sounds (Didgeridoo/Yidaki, stomp box), sein Spiel auf diversen Drums und Perkussionsinstrumenten, Keyboards, Harmonika, Baritone Acoustic Slide Gitarre, 6-seitiger akustischer und elektrischer Gitarre, einer einmaligen Tear Drop Weissenborn Style Acoustic Slide Guitar oder Resonator Slide Gitarre mit Samples aus der Tierwelt wie z.B. den Klängen von Walen oder Vögeln. Und wenn dann noch etwas mehr gebraucht wird, dann kommt auch der Schulchor der Cape Byron Rudolph Steiner School oder die Anishinabe First Nations Big Drum Group dazu. Dann schwingt sich der Spirit Bird für 7:08 zum ganz großen Flug auf und das Bow Down verneigt sich klang- und kraftvoll vor der Natur der Freiheit für alle unbedingt anhören und mitsingen! So nimmt uns Xavier Rudd mit zu einigen magischen Plätzen, meist in einer akustischen Grundstimmung, aber auch voll Strom und Elektrizität wenn‘s besser passt. Unnachahmlich wie er dabei die Weissenborn zeitgleich mit dem Yidaki spielt, aber auch vor Overdubs nicht zurückschreckt, um Titel zu verdichten und dadurch die Stimmung zu erhöhen. Und nicht zuletzt durch seine markante Stimme erhalten die 13 Songs des Albums eine besondere Attraktivität. Es ist gut nachzuspüren, wie der Mann seine kindlichen Fantasiekräfte in die Jetzt-Zeit gerettet hat und sie hemmungslos auslebt. Was früher ein Bär „von sehr geringem Verstand“ war ist jetzt eine Musik von sehr universeller Erfahrung. Es bleibt als Fazit zu einem überaus faszinierendem Album nur: Singt Ho! Der Bär soll leben! Es ist mir egal, ob Schnee oder Regen, Meine Nase riecht Honig auf allen Wegen. Singt Ho! Leben soll Pu. Er braucht einen kleinen Mundvoll ab und zu! (aus: A.A. Milne - Pu der Bär) (SideOneDummy/Cargo) Lüder Kriete © wasser-prawda Feuilleton Erik Münnich Flash Fiction peinlich ist eine untertreibung die dicke der dicke mir gegenüber führt selbstgespräche, während er an seinen fingernägeln kaut. sein hosenstall geöffnet, das scheint ihn nicht zu interessieren. in seinem zustand wäre mir das aber auch egal. auf der couch neben ihm: drei minderjährige prinzessinen, die es geschafft haben, sich in den letzten anderthalb stunden ausschließlich über ihre und andere schönheit, die möglichkeiten der erhaltung und die wirkungen derselben zu unterhalten. das volle programm: welche tönung für welches haar, spezielle nagellackdesigns, schamhaarrasuren, nachteile des tragens von string-tangas, vorteile bh-freier brüste, was männer wollen und wie man es ihnen am besten macht… ihre schrillen stimmen und die mit jedem glas zunehmende lautstärke ihres gesprächs zieht blicke an. nicht unwesentlich ältere, sich aber wesentlich jünger fühlende, braungebrannte und scheinbar stunden vor dem spiegel verbringende typen beobachten aufmerksam die drei grazien, die sich nun , weil die blicke zu offensichtlich, animiert fühlen, die von sechs cuba libre schon arg gezeichneten endgültig um den verstand zu bringen. dabei verwechseln die mädchen diese kneipe mit einem fotoshooting für eines jener extrem angesagten modemaganzine: jeder gang zur bar oder auf den abort eine performance, arsch und vorbau werden effektivst eingesetzt. ich komme nicht umhin, diesem balzritual, in dessen verlauf die beteiligten immer tierähnlicher werden, zu folgen. ich verpasse dadurch den beginn der pöbelei am nebentisch. erst als glas zu bruch geht, wende ich mich nach links, merke gleich, dass ich wesentliches nicht mitbekommen habe, denn der tisch gleicht einem kriegsschauplatz: umgeworfene gläser, der ascher samt inhalt auf dem schoß einer pikiert blickenden bürokauffrau in den ausgehenden dreißigern, die wie jedes wochenende ihren tristen, traurigen alltag mit weißweinschorle aufzuhübschen versucht. der schicke hosenanzug will nicht zum gesicht passen und ist nun eh ruiniert. ihr freund, jedenfalls spielt er sich so auf, ist aufgesprungen, in der rechten hand ein bier, mit der linken schlägt er nach dem vermeintlichen verursacher dieses desasters. dieser weicht geschickt aus, verliert dabei allerdings das gleichgewicht, rempelt einen bulldozer an, der, herausgerissen aus seiner lethargie, seinen abend durch eine anständige schlägerei gerettet sieht. er quält sich aus dem sessel hoch und baut sich auf. gespannte stille an den nebentischen. alle hoffnungen auf blutende nasen werden allerdings jäh zerstört durch den barkeeper, der, wohl aus sorge um das inventar, heran gesprungen kommt, den zielpunkt der aggression geschickt aus dem kritischen bereich manövriert und bürokauffrau, freund und bulldozer mit einer runde aufs haus besänftigt. von all dem völlig unbeeindruckt: das liebespaar an der bar. zärtliche blicke, ab und zu ein zaghafter kuss. aber was ist das? der einem griechischen jüngling verdammt ähnliche berührt ab und zu die brüste der jungfrau, die, weil es der erste freund und sie dementsprechend völlig unerfahren in bezug auf sexualität, nicht weiß, wie sie reagieren soll. also lässt sie es geschehen. er, der das weiß, spielt diesen vorteil aus. meine blase meldet sich und so wanke ich zum klo. kaum dort angekommen, muss ich feststellen, dass auch hier einiges im argen ist: eine kotz- und urinlache auf dem boden. als ich dies bemerke, stehe ich längst drin. ich ignoriere diesen umstand und versuche souverän wie möglich zurück zu meiner couch zu schlendern, denn die gefahr, mit dieser schweinerei in verbindung gebracht zu werden, berührt mich peinlich. ich nehme einen kräftigen schluck aus meinem glas – ich habe es noch nicht wieder abgestellt, da werde ich schon hässlich von der seite gemustert. „der typ da“, sagt eine der prinzessinen, „hat im klo auf den boden gekotzt.“ ich wehre mich nicht dagegen, denn getroffene hunde bellen. und so bleibt mir nichts anderes, als schnellstmöglich den rückzug anzutreten. das schwarze halblange haar in fettigen strähnen im gesicht. sie keuscht. sie ist gerade drei stockwerke nach unten gestiegen und, ich schätze, vierzig meter bis zur ampel gelaufen. ich kann sie auf der anderen seite der kreuzung hören. ihre brille ist beschlagen, auf ihrer oberlippe haben sich gut sichtbare schweißperlen gebildet. die ampel schaltet auf grün. mit einem stöhnen setzt sie sich in bewegung. die analogie zu einem nassen sack kommt mir in den sinn. während wir uns aufeinander zu bewegen, ich suche in meiner rechten manteltasche schon nach dem schlüssel, fällt mir die dunkelbraune, glänzende warze auf ihrer stirn auf. sie bemerkt meinen blick, der halb angeekelt, halb interessiert, ihr nicht gefallen kann. sie starrt mir direkt in die augen. ihre zusammen gekniffen, fast grimmig, so, als wollte sie mir zu verstehen geben: schau dich an. sie hat recht. mein haar ungekämmt, tiefe ränder unter den augen, mein sakko mit undefinierbaren ins gelbliche tendierenden flecken. sie stampft an mir vorbei, muss aufpassen, durch ihre in eine völlig andere richtung schaukelnden brüste nicht das gleichgewicht zu verlieren, denke ich. ein süßlicher, bissiger geruch weht ihr nach – schweiß – die bewegung fordert ihren tribut. auf der anderen seite der kreuzung drehe ich mich im gehen um und schaue ihr nach. ihr körper biegt sich nach rechts, nach links. wie ein baum, der sich kurz bevor er gefällt wird nicht entscheiden kann, wo er zu boden geht. dabei übersehe ich allerdings den gullideckel, dem ich jedes mal, wenn ich kurz vor meinem block, konzentriert auf die suche nach meinem schlüssel, ausgewichen bin. ich gehe zu boden. mit mir mein beutel. die nun auslaufende flüssigkeit, lässt mich vermuten, dass mindestens fünf der acht flaschen bier zu bruch gegangen sind. viel schlimmer aber als dieser umstand, muss das geräusch gewesen sein, denn nicht nur die dicke, sondern alle anderen passanten in näherer umgebung drehen sich nach mir um. [2009] Eine Kurzgeschichte mit maximal 500 Wörtern - das ist der Rahmen, den Erik Münnich sich für seine Flash Fiction gesetzt hat. Zwei seiner bislang unveröffentlichten Stories eröffnen ein „Sommer-Feuilleton“, das im wesentlichen aus literarischen Texten besteht. Neben zwei Rezensionen haben wir Lyrik von Georg Trakl, Prosa von Jack London und den Beginn eines Romanes von Edgar Wallace. Wer sich schon auf einen weiteren Teil der Serie über David Foster Wallace gefreut hat, muss sich noch ein paar Wochen gedulden. [2009] 28 © wasser-prawda Feuilleton Georg Tr akl - Psalm Karl Kraus zugeeignet Es ist ein Licht, das der Wind ausgelöscht hat. Es ist ein Heidekrug, den am Nachmittag ein Betrunkener verläßt. Es ist ein Weinberg, verbrannt und schwarz mit Löchern voll Spinnen. Es ist ein Raum, den sie mit Milch getüncht haben. Der Wahnsinnige ist gestorben. Es ist eine Insel der Südsee, Den Sonnengott zu empfangen. Man rührt die Trommeln. Die Männer führen kriegerische Tänze auf. Die Frauen wiegen die Hüften in Schlinggewächsen und Feuerblumen, Wenn das Meer singt. O unser verlorenes Paradies. Die Nymphen haben die goldenen Wälder verlassen. Man begräbt den Fremden. Dann hebt ein Flimmerregen an. Der Sohn des Pan erscheint in Gestalt eines Erdarbeiters, Der den Mittag am glühenden Asphalt verschläft. Es sind kleine Mädchen in einem Hof in Kleidchen voll herzzerreißender Armut! Es sind Zimmer, erfüllt von Akkorden und Sonaten. Es sind Schatten, die sich vor einem erblindeten Spiegel umarmen. An den Fenstern des Spitals wärmen sich Genesende. Ein weißer Dampfer am Kanal trägt blutige Seuchen herauf. Die fremde Schwester erscheint wieder in jemands bösen Träumen. Ruhend im Haselgebüsch spielt sie mit seinen Sternen. Der Student, vielleicht ein Doppelgänger, schaut ihr lange vom Fenster nach. Hinter ihm steht sein toter Bruder, oder er geht die alte Wendeltreppe herab. Im Dunkel brauner Kastanien verblaßt die Gestalt des jungen Novizen. Der Garten ist im Abend. Im Kreuzgang flattern die Fledermäuse umher. Die Kinder des Hausmeisters hören zu spielen auf und suchen das Gold des Himmels. Endakkorde eines Quartetts. Die kleine Blinde läuft zitternd durch die Allee, Und später tastet ihr Schatten an kalten Mauern hin, umgeben von Märchen und heiligen Legenden. Es ist ein leeres Boot, das am Abend den schwarzen Kanal heruntertreibt. In der Düsternis des alten Asyls verfallen menschliche Ruinen. Die toten Waisen liegen an der Gartenmauer. Aus grauen Zimmern treten Engel mit kotgefleckten Flügeln. Würmer tropfen von ihren vergilbten Lidern. Der Platz vor der Kirche ist finster und schweigsam, wie in den Tagen der Kindheit. Auf silbernen Sohlen gleiten frühere Leben vorbei Und die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder. In seinem Grab spielt der weiße Magier mit seinen Schlangen. Schweigsam über der Schädelstätte öffnen sich Gottes goldene Augen. 29 © wasser-prawda Feuilleton Edgar Wallace A.S. der Unsichtbare The Valley of Ghosts (1922) Kriminalroman Aus dem Englischen übertragen von Ravi Ravendro 1 Der Zufall und ein schnelles Auto brachten Andrew Macleod in die Gegend von Beverley. Die Stadt selbst liegt am Ende einer kleinen Nebenstrecke der Eisenbahn. Sie hat eigentlich keine ersichtliche Existenzberechtigung und auch keine nennenswerten Einnahmequellen. Aber trotzdem leben die Einwohner und sind bis jetzt noch nicht verhungert. Im Gegenteil, die Besitzer der kleinen, sauberen Läden, die an der einzigen breiten und schattigen Hauptstraße liegen, scheinen gute Geschäfte zu machen. Die Bewohner des vornehmen Vororts Beverley Green geben ihnen allerdings nichts zu verdienen, denn sie besorgen ihre Einkäufe in großen Warenhäusern und kommen höchstens herein, wenn sie etwas vergessen haben und eilig benötigen. Andy brachte seinen großen Wagen vor dem Postgebäude zum Stehen und stieg aus. Fünf Minuten lang telefonierte er mit Scotland Yard über Alison John Wicker, der als ›Vieraugen-Scottie‹ bekannt war. Diesen Spitznamen hatte der Mann erhalten, weil er eine Brille trug. Als der geschäftsführende Direktor des Agent Diamond Syndicate an einem Montagmorgen sein Büro betrat, entdeckte er, daß jemand in der Zwischenzeit dort gewesen war und ihm die Mühe abgenommen hatte, den großen, feuer- und diebessicheren Geldschrank zu öffnen. Es war allerdings nicht der Schlüssel, sondern Thermit und ein Sauerstoffgebläse dazu verwendet worden. Dieser Einbruch sah so unzweifelhaft nach Scotties Arbeit aus, daß er ebensogut eine Quittung über die sieben gestohlenen Päckchen Brillanten hätte zurücklassen können. Alle Bahnhöfe und Überseehäfen des Landes wurden durch besondere Polizeibeamte scharf überwacht, die Fremdenlisten der Hotels und Gasthäuser wurden durchforscht und alle Polizeistationen alarmiert. Andy Macleod war gerade auf Urlaub gewesen. Er hatte sich mit seinen Angelgeräten und einem großen Stoß Bücher aufs Land zurückgezogen. Ganz unerwartet hatte man ihn nun aus den Ferien zurückgeholt, um die Nachforschungen nach Scottie zu leiten. Dr. Macleod war zuerst als Pathologe in die Dienste von Scotland Yard getreten, aber im Laufe der Zeit war ein Detektiv und Verbrecherfänger aus ihm geworden, ohne daß er selbst wußte, wie das eigentlich gekommen war. Offiziell war er jedoch immer noch Arzt und erschien bei Prozessen als Zeuge, um die Todesursache der Ermordeten zu bekunden. Inoffiziell aber nannte ihn auch der jüngste Polizist nicht ›Doktor‹, sondern nur ›Andy‹. »Vor drei Tagen ist er zu Fuß durch Panton Mills gekommen. Ich bin ganz sicher, daß es Scottie war«, sagte er. »Ich durchsuche nun den Landstrich von hier bis Three Lakes. Die hiesigen Polizeibeamten schwören, daß er nicht in der Nähe von Beverley sei, was heißt, daß er sich direkt vor ihrer Nase herumgetrieben hat. Es sind überhaupt Leuchten; sie fragten mich allen Ernstes, ob er denn schon wieder etwas verbrochen habe, und dabei haben sie bereits vor einer Woche den Bericht über den Einbruch mit allen Einzelheiten sowie eine genaue Personalbeschreibung Scotties erhalten.« In diesem Augenblick betrat eine junge Dame das Postamt. Andy betrachtete sie voller Bewunderung durch das seitliche Fenster der Telefonzelle. Anziehend – hübsch – schön? fragte er sich. Die meisten Frauen sehen in einem eleganten Kostüm am vorteilhaftesten aus. Sie war groß und schlank. »Ja, ich glaube«, antwortete er seinem Vorgesetzten mechanisch, denn seine Gedanken und seine Aussagen waren jetzt bei diesem Mädchen. Sie hob ihre Hand, und er sah einen Ring am vierten Finger ihrer linken Hand aufblitzen. Es war ein Goldreif mit eingesetzten Smaragden – oder sollten es etwa Saphire sein –, nein, er sah deutlich den meergrünen Schimmer, es waren Smaragde. Nachdem der geheime Teil seines Berichtes erledigt war, öffnete er die Telefonzelle ein wenig und lauschte mit einem Ohr auf den Klang ihrer Stimme. Sie ist wirklich außerordentlich schön, entschied er und bewunderte ihr Profil. Dann ereignete sich etwas Merkwürdiges. Auch sie mußte ihn beobachtet haben, während er nicht hingesehen hatte. Vielleicht fragte sie jetzt, wer er sei. Andy hatte dem mitteilsamen Postbeamten seine Karte gezeigt, um schneller mit London verbunden zu werden. Der Mann würde ihr sicher bereitwillig Auskunft geben. Andy hörte, wie das Wort ›Detektiv‹ fiel. Er konnte jetzt ihr Gesicht deutlich sehen. »Detektiv!« Sie flüsterte nur, aber er hörte es doch und sah sie an. Sie war blaß geworden und mußte sich an der Kante des Schalterbrettes festhalten. Er war so bestürzt, daß er den Hörer vom Ohr nahm. In diesem Augenblick wandte sie sich ihm zu und begegnete seinem Blick. Er las Furcht, Entsetzen und Schrecken in ihren Augen. Ein gequälter Ausdruck lag auf ihren Zügen, als ob er sie irgendwie überrascht und gefangen hätte. Sie schaute verlegen fort und machte sich mit dem Geld zu schaffen, das sie herausbekommen hatte. Ihre Hände zitterten aber so sehr, daß sie schließlich ihre hohle linke Hand unter das Schalterbrett hielt und die Münzen mit der rechten hineinstrich. Dann verließ sie eilig das Postamt. Andy kam es gar nicht zum Bewußtsein, daß am anderen Ende der Leitung ein erstaunter Beamter saß, der dauernd auf den Haken drückte und weitersprechen wollte. Andy hängte einfach den Hörer an und trat an den 30 © wasser-prawda Feuilleton Schalter. »Wer war die Dame?« fragte er, während er die Gebühr für sein Gespräch bezahlte. »Das war Miss Nelson aus Beverley Green. Ein herrlicher Platz, Sie müßten sich ihn einmal ansehen. Es wohnen viele reiche Leute dort, zum Beispiel Mr. Boyd Salter – haben Sie schon von dem gehört? Und dann Mr. Merrivan, auch sehr wohlhabend, aber ein wenig geizig – na –, und dann leben noch allerlei Herrschaften da. Es ist eine Art – wie soll ich sagen – Villenkolonie – eine Gartenstadt! Das ist der richtige Ausdruck. Da gibt‘s einige der größten und schönsten Häuser der ganzen Grafschaft. Die Familie Nelson ist schon seit Jahren dort ansässig, lange bevor die Gartenstadt gegründet wurde. Ich kann mich noch deutlich an Nelsons Großvater erinnern, das war ein netter Mann.« Der Postbeamte war im besten Zuge, Andy genaue Biographien der bekannten Leute von Beverley Green zu geben, aber der Detektiv wollte das junge Mädchen noch sehen und beendete seine Unterhaltung etwas schroff. Er sah sie draußen eilig davongehen und vermutete, daß der Bahnhof ihr Ziel war. Sein Interesse und seine Verwunderung waren geweckt. Wie sollte er sich ihre Aufregung und Bestürzung erklären? Was hatte sie denn von einem Detektiv zu fürchten? Warum hatte sie ihn mit solchem Entsetzen angesehen? Es war Zeitverschwendung, sich darüber Gedanken zu machen. In diesen malerischen kleinen Städten, die dem großen Weltgetriebe so fern lagen, schien der Strom des Lebens so idyllisch und sanft dahinzugleiten, unberührt von den leidenschaftlichen Stürmen, die die großen Städte in Aufruhr versetzen. Das kleine Wörtchen ›Detektiv‹ hatte doch nichts Schreckliches für Leute, die das Gesetz achten! »Hm!« sagte Andy und rieb sich nachdenklich das glattrasierte Kinn. »Auf diese Weise werde ich Scottie wohl nicht fangen!« Er verließ den Ort in seinem Auto, um erst die Hauptstraße ein Stück entlangzufahren und dann mit der systematischen Durchsuchung der vielen kleinen Nebenwege zu beginnen. Er war etwas mehr als zwei Kilometer von Beverley entfernt, als er langsamer fuhr, um eine scharfe Kurve zu nehmen. In dem Augenblick sah er zu seiner Rechten eine breite Öffnung in der Hecke, die die Straße einfaßte. Ein bequemer Weg, der zu beiden Seiten mit Bäumen bestanden war, zweigte hier ab; er war von wohlgepflegten Rasenstreifen eingefaßt, schlängelte sich weithin und verschwand dann im hügeligen Gelände. Ein Wegweiser trug die Aufschrift ›Privatweg nach Beverley Green‹. Andy hatte die Abzweigung schon hinter sich und fuhr nun ein Stück rückwärts. Nachdenklich betrachtete er die Aufschrift und bog dann in die Straße ein. Es war kaum anzunehmen, daß Scottie diesen Weg eingeschlagen hatte. Allerdings war er ein Mann, der jede günstige Gelegenheit wahrnahm. Und in Beverley Green wohnten viele reiche Leute. Auf diese Weise versuchte Andy, seinen Abstecher vor sich selbst zu entschuldigen, obwohl er sehr gut wußte, daß ihn nur seine persönliche Neugierde vom Weg abführte. Er wollte das Haus sehen, in dem sie lebte. In welchen Verhältnissen mochte sich ihr Vater befinden? Der Weg beschrieb viele Windungen, und endlich brachte ihn eine ungewöhnlich scharfe Kurve zum Ziel. Beverley Green breitete sich in all seiner sommerlichen Schönheit plötzlich vor ihm aus. Andy fuhr jetzt so langsam, daß ein Fußgänger neben dem Wagen hätte hergehen können. Vor ihm lag ein ausgedehnter Platz, der von einer ununterbrochenen Reihe blühender Sträucher eingefaßt war. Etwa zehn Meter von der Straße entfernt begann ein Golfplatz, der sich wahrscheinlich das ganze Tal entlangzog. Mitten im Grünen, halb verdeckt durch die umgebenden Bäume, standen mehrere Villen. Hier schaute ein Giebel aus den Bäumen hervor, dort schimmerte ein Fensterkreuz durch das Laub. Anderswo sah er kunstvolles Fachwerk. Andy schaute sich um, ob er nicht jemand um Auskunft fragen könne, denn die Straße teilte sich jetzt ... An der Ecke lag ein sauber mit Schindeln verkleidetes Gebäude, das den Eindruck eines Klubhauses machte. Er stieg eben aus, um die Ankündigungen am Torpfosten zu lesen, als ein Herr um die Ecke bog. Ein wohlhabender Kaufmann, der sich zur Ruhe gesetzt hat, dachte Andy. Trägt schwarze Alpakajacke, breite Schuhe, hohen steifen Kragen, doppelte goldene Uhrkette. Sehr von sich eingenommen und äußerst verwundert über mein Eindringen in diese elysischen Gefilde. Der Herr sah Andy ernst an, aber es war keine Ablehnung in seinem Blick. Sein Alter konnte zwischen fünfundvierzig und sechzig liegen. Sein großes, glattes Gesicht zeigte keine Falten, sein Gang war lebhaft und seine Haltung ausgezeichnet, so daß Andy zuerst nichts von seiner Anlage zur Korpulenz wahrnahm. Ein freundlicher Gruß zeigte Andy, daß er hier gut aufgenommen werden würde. »Guten Morgen, Sir«, begann der Herr. »Sie scheinen hier jemand zu suchen? In Beverley kann sich ein Fremder nur schwer zurechtfinden. Es gibt hier nämlich weder Straßennamen noch Hausnummern.« Er lachte behaglich. »Ich wollte eigentlich niemand aufsuchen«, entgegnete Andy. »Ich bin aus reiner Neugierde hierhergefahren. Es ist ein herrliches Fleckchen Erde. Ich habe in Beverley schon viel davon gehört.« 31 © wasser-prawda Feuilleton Der andere nickte geschmeichelt. »Es kommen nur selten Fremde hierher zu Besuch – beinahe hätte ich gesagt, glücklicherweise. Der Grund und Boden hier gehört mir und meinen Freunden und Nachbarn. Es gibt kein Hotel, das Fremde in Versuchung führen könnte, sich hier aufzuhalten. Aber wir haben unser Gästehaus.« Er zeigte auf das von Grün umsponnene Gebäude, das Andy für einen Klub gehalten hatte. »Wir unterhalten es gemeinsam für Besucher. Manchmal können wir nicht alle unsere Freunde unterbringen, und dann wohnt auch wieder nur eine einzige Person dort, die dann gewissermaßen Gast unseres kleinen Gemeinwesens ist. Augenblicklich hält sich zum Beispiel ein bedeutender kanadischer Geologe bei uns auf.« »Ein glücklicher Mann – und eine glückliche Gemeinde. Sind alle Häuser hier bewohnt?« Andy stellte diese Frage, obwohl er sich die Antwort darauf selbst geben konnte. »Aber natürlich! Das letzte Haus dort links gehört dem großen Architekten Pearson, der sich jetzt allerdings zur Ruhe gesetzt hat. Das nächste mit dem spitzen Giebel bewohnt Mr. Wilmot, ein Herr – nun, ich kann Ihnen leider nicht genau sagen, welchen Beruf er hat, obwohl er mein eigener Neffe ist. Ich weiß nur, daß er eine Stellung oder ein Geschäft in der Stadt hat. Das Haus nebenan mit den Kletterrosen ist das Eigentum von Mr. Nelson – Kenneth Leonard Nelson –, Sie haben sicher schon von ihm gehört.« »Der bekannte Maler?« fragte Andy interessiert. »Ja, ein großer Künstler. Er hat hier sein Atelier, aber Sie können es von hier aus nicht sehen, es liegt auf der Nordseite. Künstler bevorzugen sie zur Arbeit, soviel ich davon verstehe. Dann das Gebäude dort hinten an der Ecke – dort zweigt ein ziemlich breiter Weg zu den Tennisplätzen ab – ist mein Heim«, sagte er zufrieden. »Was ist denn das für ein großes Gebäude an der Seite des Hügels?« fragte Andy – und überlegte schnell: Ihr Vater war also der Maler Nelson. Was hatte er doch über ihn erfahren? Der Name rief irgendeine unangenehme Erinnerung in ihm wach. »Das Haus auf dem Hügel? Das gehört leider nicht zu unserer Gemeinde. Das ist der hochherrschaftliche Adelssitz, um den wir anderen bescheidenen Landbewohner unsere Hütten gebaut haben.« Der Vergleich schien ihm so zu gefallen, daß er noch einmal sagte: »Unsere kleinen Hütten.« Dann fuhr er fort: »Das Schloß dort wird von Mr. Boyd Salter bewohnt, dessen Familie in dieser Gegend seit Jahrhunderten ansässig ist. Die Salters stammen aus – aber ich will Sie nicht mit ihrer Geschichte belästigen. Mr. Boyd Salter ist ein sehr reicher Mann, aber leider Invalide.« Andy nickte höflich. »Sehen Sie, dort kommt unser Gast, Professor Bellingham. Nebenbei bemerkt, mein Name ist Merrivan.« Das war also Mr. Merrivan. Der Postbeamte hatte ihn ›sehr wohlhabend, aber ein wenig geizig‹ genannt. Andy betrachtete den näher kommenden kanadischen Geologen – einen hageren Mann mit bauschigen Breeches. Seine Haltung war etwas gebeugt, was wohl von seiner Arbeit am Studiertisch kommen mochte. »Er war wieder draußen in den Bergen und hat Versteinerungen gesammelt. Er hat schon eine ganze Menge hier gefunden«, erklärte Mr. Merrivan. »Ich glaube, ich kenne ihn sehr gut«, erwiderte Andy, der plötzlich großes Interesse für den Fremden zeigte. Er ging dem Professor entgegen. Als er nur noch einige Schritte von ihm entfernt war, schaute der Gelehrte auf und stutzte. »Peinliche Sache, Scottie«, sagte Andrew Macleod mit schlecht gespieltem Bedauern. »Wollen Sie hier eine Szene machen, oder soll ich Sie irgendwohin zum Mittagessen mitnehmen?« »Wenn Sie gestatten, daß ich eben noch auf mein Zimmer gehe und mein Gepäck in Ordnung bringe, so werde ich Sie begleiten. Ich sehe, Sie haben ein Auto, aber ich möchte lieber zu Fuß gehen.« Andy sagte nichts, bis sie zu Merrivan kamen. »Professor Bellingham will mir einige interessante Funde zeigen«, erklärte er dann liebenswürdig. »Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihre Freundlichkeit.« »Vielleicht kommen Sie wieder einmal hierher – ich würde Sie dann gerne in Beverley Green herumführen.« »Das wäre mir ein großes Vergnügen.« Es war keine Höflichkeitsphrase, sondern Andys wirkliche Meinung. Er stieg hinter Scottie die Treppe des Gästehauses hinauf und folgte ihm in das hübsche Zimmer, das ›Professor Bellingham‹ zwei Tage lang bewohnt hatte. »Mißtrauen ist der Fluch unserer Zeit«, beklagte sich Scottie bitter. »Glaubten Sie etwa, daß ich nicht wieder zu Ihnen hinuntergekommen wäre, wenn Sie mich allein gelassen hätten?« Scottie war mitunter kindisch, und Andy gab sich gar nicht die Mühe, auf diese Frage zu antworten. Ein Ausdruck gekränkter Unschuld lag auf den Zügen des großen Mannes, als er in den Wagen stieg. »Es gibt zu viele Autos jetzt«, beschwerte er sich. »Durch unvorsichtiges Fahren kommen täglich Hunderte um. Was wollen Sie eigentlich von mir, Macleod? Was Sie auch gegen mich vorbringen mögen, ich habe in jedem Fall ein Alibi.« »Wo haben Sie das her? Haben Sie es auch bei den Versteinerungen gefunden?« fragte Andy. Scottie hüllte sich in würdevolles Schweigen. 32 Fortsetzung folgt. Im Sommer ist einfach Zeit, mal wieder einen Krimi zu schmökern und nicht immer nur die hohe Kunst im Auge zu behalten. Die Fotos zeigen Aufnahmen aus Beverly: Die schwarze Mühle und die St. Marys Church. © wasser-prawda Feuilleton Jack London Auf der R ast To the Man on Trail Aus dem Englischen von Peter Friedrich »Kipp es rein.« »Aber hör mal, Kid, wird das nicht n bisschen zu stark? Whisky und Alkohol ist schon schlimm genug, aber auch noch Brandy und Pfeffersauce –« »Kipp es rein. Mach ich den Punsch oder du?« Und Malemute Kid lächelte milde durch die Dampfwolken hindurch. »Wenn du erst mal so lang wie ich im Land bist, mein Sohn, und von Kaninchenspuren und Lachsbauch gelebt hast, wirst du lernen, dass nur einmal im Jahr Weihnachten ist. Und Weihnachten ohne Punsch, das ist wie n tiefer Schacht ohne Goldader.« »Immer noch eins druff,« stimmte Big Jim Belden zu, der extra von seinem Claim am Mazy May gekommen war, um Weihnachten zu feiern, und der, wie jeder wusste, die letzten zwei Monate von Elchfleisch pur gelebt hatte. »Weißte noch das Gesöff, das wer uns bei de Tananas gepanscht ham, hä?« »Glaub schon. Jungs, der Anblick war die reine Freude, der ganze Stamm stockbesoffen – und alles bloß wegen so ner herrlich vergorenen Mischung aus Zucker und Sauerteig. Das war vor deiner Zeit,« sagte Malemute Kid zu Stanley Prince gewandt, einem jungen Bergbauexperten, der seit zwei Jahren im Land war. »Gab damals nicht eine einzige weiße Frau hier, und Mason wollte heiraten. Ruths Vater war Häuptling der Tananas und hatte was dagegen, genau wie der ganze Stamm. Haarige Sache. Na ja, hab ich eben mein letztes Pfund Zucker hergenommen, und ein feineres Stöffchen hab ich im Leben nicht gebraut. War das ne wilde Jagd, den Fluss runter und über die Portagestrecke, hättste sehen sollen.« »Und die Squaw?« fragte Louis Savoy, der hochgewachsene Franko-Kanadier plötzlich interessiert, denn er hatte im vergangenen Winter in Forty Mile von diesem wilden Streich gehört. Und so berichtete Malemute Kid, ein geborener Erzähler, die ungeschminkte Wahrheit über diese Brautentführung des Hohen Nordens. Mehr als einer der rauhen Abenteurer spürte, wie es ihm eng ums Herz wurde und ihn eine leise Sehnsucht nach sonnigeren, südlichen Gefilden überkam, wo das Leben mehr versprach als den ewigen Kampf gegen Kälte und Tod. »Wir erreichten den Yukon unmittelbar nach dem ersten Eisgang,« kam er zum Schluss, »und der ganze Stamm nur eine Viertelstunde hinter uns. Aber das war unsere Rettung, denn der zweite Gang hat die Eisbarriere oberhalb mitgerissen und sie saßen am anderen Ufer fest. Als sie dann endlich nach Nuklukyeto kamen, war die gesamte Station zu ihrem Empfang bereit. Was die Zusammenführung des Paares betrifft, fragt Pater Roubeau hier. Er hat die Zeremonie geleitet.« Der Jesuit nahm die Pfeife aus dem Mund, konnte aber seiner Genugtuung nur mit patriarchalischem Lächeln Ausdruck geben, weil Protestanten und Katholiken gleichermaßen wild applaudierten. »Himmelarsch!« stieß Louis Savoy hervor, anscheinend völlig überwältigt von der Romantik der Geschichte. »La petite squaw; mon Mason brave. Himmelarsch!« Dann, als die ersten mit Punsch gefüllten Blechtassen kreisten, sprang Bettles der Immerdurstige auf und stimmte sein bevorzugtes Trinklied von den Pfaffen und dem Saft der verbotenen Frucht an und die anderen stimmten im trunkenen Chor mit ein. Malemute Kids schauerliches Gebräu tat seine Wirkung. Die Männer der Wildnis entspannten sich in seiner wärmenden Glut, und Witze, Lieder und Geschichten vergangener Abenteuer machten die Runde. Männer aus einem Dutzend verschiedener Länder prosteten sich gegenseitig zu und brachten Trinksprüche aus. Es war der Engländer Prince, der auf »Uncle Sam, das frühreife Kind der Neuen Welt« trank. Der Yankee Bettles seinerseits trank auf »die Queen, Gott segne sie«, und gemeinsam stießen Savoy und Meyers, der deutsche Händler, auf Elsaß und Lothringen an. Dann stand Malemute Kid auf, die Blechtasse erhoben und richtete den Blick auf das Ölpapier vor dem Fenster, das mit einer acht Zentimeter dicken Eisschicht bedeckt war. »Ich trinke auf den Mann, der in einer solchen Nacht draußen unterwegs ist; auf dass ihm das Futter nie ausgehe, 33 © wasser-prawda Feuilleton seine Hunde nicht tot umfallen und seine Streichhölzer nie nass werden.« Krack! Krack! – ertönte die vertraute Melodie aus HundepeitschenGeknall, dem jaulenden Geheul von Malemute-Schlittenhunden und dem Knirschen eines Schlittens, der vor der Hütte stehenblieb. Die Unterhaltung erstarb, während sie den Fortgang der Ereignisse abwarteten. »Ein alter Hase. Kümmert sich erst um seine Hunde und dann um sich,« flüsterte Malemute Kid Prince zu, während sie zuschnappende Kiefer und wolfsartiges Knurren und gellendes Gekläff vernahmen, das ihren erfahrenen Ohren sagte, dass der Fremde ihre Hunde weg prügelte, während er seine eigenen fütterte. Dann kam das erwartete Klopfen, scharf und zuversichtlich, und der Fremde trat ein. Geblendet vom Licht zögerte er einen Moment in der Tür und gab damit allen die Gelegenheit, ihn prüfend zu mustern. Er war eine eindrucksvolle Persönlichkeit und eine sehr malerische dazu, in seiner arktischen Bekleidung aus Wolle und Pelzen. Mit seinen knapp einen Meter neunzig, dazu passender Schulterbreite und mächtigem Brustkorb, seinem glattrasierten, von der Kälte leuchtend rosa gefärbten Gesicht, den langen Wimpern und weiß vereisten Augenbrauen und den lässig hochgeschlagenen Ohren- und Nackenklappen seiner Wolfsfellmütze sah er aus wie der fleischgewordene Eiskönig, gerade der Nacht entsprungen. Über seine Mackinaw Jacke hatte er einen perlenbesetzten Gürtel mit zwei großen Colt-Revolvern und einem Jagdmesser geschnallt, während er zusätzlich zur unvermeidlichen Hundepeitsche noch ein rauchloses Gewehr trug, ein großkalibriges Modell neuester Bauart. Als er eintrat, konnte jeder trotz seines festen und elastischen Schrittes erkennen, dass er zu Tode erschöpft war. Eine nervöse Stille war eingetreten, aber sein herzliches »Tolle Stimmung, Jungs?« löste die Spannung und im nächsten Moment schüttelten er und Malemute Kid sich die Hand. Obwohl sie sich nie begegnet waren, hatten sie voneinander gehört und wussten, wen sie vor sich hatten. Bevor er auf sein Anliegen zu sprechen kommen konnte, musste der Fremde erst eine allseitige Vorstellung über sich ergehen lassen und eine Tasse Punsch annehmen. »Wie lange ist es her, dass dieser Korbschlitten mit drei Männern und acht Hunden vorbeigekommen ist?« fragte er. »Das sind jetzt genau zwei Tage. Sind Sie hinter ihnen her?« »Ja, ist meine Meute. Haben sie mir direkt unter der Nase weggestohlen, diese Gauner. Hab schon zwei Tage aufgeholt, - nächste Etappe erwisch ich sie.« »Glaum Se, die machen Trabbes?« fragte Belden, um die Konversation am Laufen zu halten, da Malemute Kid bereits den Kaffeepott aufgesetzt hatte und fleißig Speck und Elchfleisch briet. Der Fremde klopfte vielsagend auf seine Revolver. »Wann sin Se denn weg aus Dawson?« »Um zwölf.« »Letzte Nacht?« – Klar. Keine Frage. »Mit-tag.« Ein erstauntes Raunen ging durch den Raum. Dafür gab es auch allen Grund – denn es war gerade erst Mitternacht und fünfundsiebzig Meilen Marsch über raues Flusseis war wirklich nicht übel für zwölf Stunden. Aber bald wurde das Gespräch allgemeiner, und Kindheitserinnerungen wurden ausgegraben. Während der junge Fremde sein einfaches Mahl aß, musterte Malemute Kid eindringlich sein Gesicht. Er brauchte nicht lange, um zu dem Schluss zu kommen, dass es anständig, ehrlich und offen war und dass es ihm gefiel. Trotz seiner Jugend hatten sich tiefe Linien der Mühsal und Entbehrungen eingegraben. Die blauen Augen waren im Gespräch zwar liebenswürdig und sanft, enthielten aber eine Andeutung jenes harten, stählernen Glitzerns, das sich im Kampf einzustellen pflegt, vor allem, wenn die Chancen schlecht stehen. Der schwere Unterkiefer und das kantige Kinn signalisierten kraftvolle Beharrlichkeit und Unbezwingbarkeit. Und obwohl die Eigenschaften des männlichen Löwen im Vordergrund standen, fehlte auch nicht jene bestimmte Weichheit, jene Andeutung von Weiblichkeit, die eine gefühlsbetonte Natur verrät. »Und so ham ich un die alte Dame uns verbunden,« beschloss Belden die atemberaubende Geschichte seiner Brautwerbung. »‘Da sin mer, Paps,‘ sacht se. ‚Un verdammt sollste sein,‘ sacht er zu ihr, und dann zu mir: ‚Jim, hey du – du schaust jetzt, dasste aus die feine Klamotten kommst; ich will, dass n gut Stück von die vierzig Morgen noch vorm Abendessen gepflügt is.‘ Un dann geht er auf sie los un sacht, ‚Un du, Sal, jetzt aber Marsch an die Pötte.‘ Un dann hat er n bisschen geschnieft un sie geküsst. Un ich war sowas von glücklich, - aber dann sieht er mich wieder an un brüllt ‚Hey du, Jim!‘. Un ich sach euch, ich war sowas von schnell in der Scheune.« »Dann haben Sie Kinder drunten in den Staaten?« fragte der Fremde. »Nöh. Sal is gestorben, bevor welche kamen. Deshalb bin ich hier.« Belden versuchte zerstreut, seine Pfeife anzustecken, die aber gar nicht ausgegangen war. Dann fragte er, um sich auf andere Gedanken zu bringen: »Un Sie, Fremder – verheiratet?« Als Antwort klappte der seine Taschenuhr auf, fädelte sie von dem Riemen, der als Kette diente, und reichte sie Belden. Der stellte die Öllampe größer, musterte das Innere des Deckels mit kritischen Augen und gab die Uhr, bewundernd vor sich hin fluchend, an Louis Savoy weiter. Unter zahlreichen »Himmelarsch!« überließ dieser sie schließlich Prince, und sie bemerkten, dass seine Hände bebten und seine Augen einen seltsam weichen Ausdruck annahmen. Und so wurde es von schwieliger Hand zu schwieliger Hand weitergereicht – das eingeklebte Foto einer Frau, von der anschmiegsamen Art, die solche Männer bevorzugen, mit einem Kind an der Brust. 34 © wasser-prawda Feuilleton Alle, die dieses Wunder noch nicht erblickt hatten, brannten vor Neugier; die es schon gesehen hatten, wurden still und lauschten in sich hinein. Sie konnten unerschrocken Hungerqualen ins Auge sehen, dem Skorbut oder dem schnellen Tod zu Land oder zur See. Aber das Abbild einer fremden Frau mit ihrem Kind verwandelte sie alle in Frauen und Kinder. »Hab den Kleinen noch nie gesehen – es ist ein Junge, sagt sie, und zwei Jahre alt,« meinte der Fremde, als er seinen Schatz zurückbekam. Lange Sekunden sah er ihn an, dann klappte er das Gehäuse zu und drehte sich weg, aber nicht schnell genug, um die unterdrückten Tränen zu verbergen. Malemute Kid zeigte ihm eine Pritsche, wo er sich hinlegen konnte. »Wecken Sie mich um Punkt vier. Lassen Sie mich nicht im Stich,« lauteten seine letzten Worte, und einen Augenblick später ertönte der tiefe Atem des Schlafes der Erschöpfung. »Herrgott, der hat vielleicht Mumm,« bemerkte Prince. »Drei Stunden Schlaf nach fünfundsiebzig Meilen mit den Hunden und dann wieder auf die Strecke. Wer ist er, Kid?« »Jack Westondale. Ist seit drei Jahren in der Gegend und hat nichts zu Buche stehen außer dem Ruf, wie ein Pferd zu arbeiten und jede Menge Pech zu haben. Ich hab ihn nie kennengelernt, aber Sitka Charley hat mir von ihm erzählt.« »Ganz schön hart, dass ein Mann mit einem süßen jungen Frauchen wie der seine Zeit in diesem gottverfluchten Loch vergeudet, wo jedes Jahr für zwei in der übrigen Welt zählt.« »Sein Problem ist zuviel Mumm und Sturheit. Er ist zweimal groß fündig geworden, hat aber beide Male alles wieder verloren.« Hier wurde das Gespräch unterbrochen, weil Bettles wieder zu krakeelen begann. Die Wirkung hatte nachgelassen. Und bald waren die trostlosen Jahre einförmigen Essens und abstumpfender Plackerei bei rauer Fröhlichkeit vergessen. Nur Malemute Kid schien nicht richtig in Stimmung zu kommen und warf immer wieder einen besorgten Blick auf die Uhr. Einmal zog er seine Fäustlinge und die Biberfell-Mütze über, ging aus der Hütte und durchstöberte sein verstecktes Fach. Er konnte auch die ausgemachte Zeit nicht abwarten und weckte seinen Gast eine Viertelstunde zu früh. Die Glieder des jungen Riesen waren steif geworden, und Malemute Kid musste ihn kräftig abreiben, bevor er auf die Beine kam. Er taumelte unter Schmerzen aus der Hütte und fand seine Hunde bereits eingespannt vor, alles startbereit. Die Gruppe wünschte ihm viel Glück und gute Jagd, und Vater Roubeau, nachdem er ihm hastig den Segen erteilt hatte, führte eine hektische Flucht zurück in die Hütte an; kein Wunder, denn es ist kein Spaß, sich mit nackten Händen und Ohren einer Kälte von minus sechzig Grad auszusetzen. Malemute Kid begleitete ihn noch bis zur Hauptschlittenspur, ergriff herzlich seine Hand und gab ihm letzte Ratschläge. »Auf Ihrem Schlitten finden Sie hundert Pfund Lachsrogen,« sagte er. »Das reicht für die Hunde so lang wie hundertfünfzig Pfund Fisch, und Sie können in Pelly kein Hundefutter bekommen, wie Sie wahrscheinlich angenommen haben.« Der Fremde zuckte zusammen und seine Augen blitzten auf, aber er redete nicht dazwischen. »Sie kriegen kein Gramm Nahrung für Hund und Mensch bis Sie Five Fingers erreichen, und das sind knochenharte zweihundert Meilen. Passen Sie am Thirty-Mile-Fluss auf offenes Wasser auf und nehmen Sie auf jeden Fall die große Abkürzung oberhalb von Le Barge.« »Woher wussten Sie? Die Nachricht kann mir doch unmöglich vorausgeeilt sein.« »Ich weiß gar nichts und will im Übrigen auch nichts wissen. Aber die Hundemeute, hinter der Sie her sind, hat Ihnen nie gehört. Sitka Charley hat sie den Kerlen im letzten Frühjahr verkauft. Aber er hat Sie mir mal als ehrliche Haut beschrieben und ich glaube ihm. Ich habe ihr Gesicht gesehen und es gefällt mir. Und ich habe gesehen – ach, verdammt noch mal, machen Sie Dampf, sehen Sie zu, dass sie Salzwasser erreichen und Ihre Frau wiedersehen, und« – hier streifte Kid seinen Fäustling ab und zerrte seinen Beutel heraus. »Nein, das brauche ich nicht,« und Tränen gefroren auf dem Gesicht des anderen, während er Malemute Kid krampfhaft die Hand schüttelte. »Dann schonen Sie die Hunde nicht. Schneiden Sie sie aus dem Geschirr, sobald sie schlappmachen. Kaufen Sie neue, und denken Sie daran, sie sind die zehn Dollar pro Pfund wert. Sie kriegen welche in Five Fingers, Little Salmon und Hootalinqua. Und passen Sie auf nasse Füße auf,« war sein letzter Ratschlag. »Solange es über minus dreißig hat, können Sie weiterfahren, aber drunter müssen Sie Feuer machen und die Socken wechseln.« Es waren kaum fünfzehn Minuten vergangen, als Schellengeläut Neu- ankömmlinge ankündigte. Die Tür ging auf und ein Offizier der berittenen Polizei des Northwest Territory trat ein, gefolgt von zwei halbblütigen Hundeschlittenfahrern. Wie Westondale waren sie schwer bewaffnet und zeigten Anzeichen von Erschöpfung. Die Hundetreiber waren für dieses Leben geboren und ertrugen es mühelos, aber der junge Polizist stand am Rande des Zusammenbruchs. Doch die verbissene Hartnäckigkeit seiner Rasse trieb ihn zu dem Tempo an, das er sich vorgenommen hatte und würde ihn weiter dazu treiben, bis er umkippte. »Wann ist Westondale aufgebrochen?« fragte er. »Er hat hier gehalten, oder?« Die Frage war überflüssig, denn die Spuren sprachen eine deutliche Sprache. Belden fing Malemute Kids Blick auf, roch den Braten und antwortete ausweichend. »Schon ne ganze Weile her.« »Kommen Sie schon, guter Mann; reden Sie,« ermahnte ihn der Polizist. »Sie sin ja richtich wild auf ihn. Hatter was angestellt, drunten in Dawson?« »Er hat Harry McFarland um vierzigtausend beraubt und das Geld dann im P.C. Laden gegen einen auf Seattle gezogenen Scheck eingetauscht. Und wer sollte ihn daran hindern, ihn einzulösen, wenn wir ihn nicht überholen? Wann ist er aufgebrochen?« Aller Augen verbargen ihre Erregung, Malemute Kids Beispiel folgend, und der junge Offizier begegnete allerseits nur steinernen Mienen. Er ging zu Prince hinüber und stellte ihm dieselbe Frage. Obwohl es ihn schmerzte, so in das offene, ernsthafte Gesicht seines Landsmanns zu blicken gab er eine ausweichende Antwort, den Zustand der Schlittenspur betreffend. Dann entdeckte der Polizist Pater Roubeau, der nicht lügen durfte. »Vor einer Viertelstunde,« erwiderte der Priester, »aber er hatte vier Stunden Erholung für sich und die Hunde.« »Fünfzehn Minuten Vorsprung und er ist ausgeruht! Mein Gott!« Der arme Kerl taumelte zurück und fiel vor Erschöpfung und Enttäuschung halb in Ohnmacht. Er murmelte etwas über eine zehnstündige Fahrt von Dawson, und dass die Hunde am Ende seien. Malemute Kid nötigte ihm einen Becher Punsch auf; dann ging er zur Tür und bedeutete den beiden Hundeschlittenfahrern, ihm zu folgen. Aber die Wärme und Aussicht auf eine Pause waren zu verlockend, und sie weigerten sich standhaft. Kid verstand ihr französisches Patois und lauschte angespannt dem Gespräch. Sie fluchten, dass die Hunde erledigt seien; dass sie Siwash und Babette erschießen müssten, noch bevor sie die erste Meile hinter sich hätten; dass der Rest in beinahe genauso schlechtem Zustand sei und es für die ganze Truppe besser wäre, sich erst mal auszuruhen. 35 © wasser-prawda Feuilleton »Leihen Sie mir fünf Hunde?« fragte der Polizist an Malemute Kid gewandt. Aber Kid schüttelte den Kopf. »Ich stelle Ihnen einen Scheck auf Captain Constantine über fünftausend aus – hier sind meine Papiere – ich bin berechtigt, nach eigenem Ermessen zu handeln.« Abermals schweigende Ablehnung. »Dann beschlagnahme ich sie im Namen der Königin.« Mit ungläubigem Lächeln senkte Kid den Blick auf sein gut bestücktes Waffenarsenal und als der Engländer erkannte, dass er hier machtlos war, wandte er sich zur Tür. Aber da die Hundeschlittenfahrer weiterhin Widerspruch einlegten, fuhr er aufbrausend zu ihnen herum und nannte sie Weiber und räudige Köter. Das dunkelhäutige Gesicht des älteren Halbbluts wurde rot vor Zorn, während er sich hochzog und in klaren, wohl gesetzten Worten versprach, dass er seinen Anführer begleiten wolle, bis ihm die Beine abfielen, um ihn dann mit Vergnügen im Schnee zu begraben. Der junge Offizier – und es erforderte seine ganze Willenskraft – ging festen Schritts zur Tür und stellte eine Frische zur Schau, die er nicht besaß. Alle wussten es und bewunderten seine heroische Anstrengung; aber er konnte den Schmerz nicht verleugnen, der sein Gesicht durchzuckte. Die eisverkrusteten Hunde hatten sich im Schnee zusammengerollt und es war fast unmöglich, sie auf die Beine zu bringen. Die armen Tiere jaulten unter der Schlägen der Peitsche, denn die Hundeschlittenfahrer waren wütend und rücksichtslos. Und erst als sie Babette, die Leithündin, aus dem Geschirr geschnitten hatten konnten sie den Schlitten in Bewegung setzen und aufbrechen. »So ein dreckiger Halunke und Lügner!« »Himmelarsch! Mistkerl!« »Ein Dieb!« »Schlimmer als die Indianer!« Offenkundig waren sie wütend – erstens, weil man sie hinters Licht geführt hatte, und zweitens wegen der Mißachtung der Ethik des Hohen Nordens, wo Ehrlichkeit vor allem anderen als das höchste Gut eines Mannes galt. »Und wir haben dem Kerl auch noch geholfen, nachdem wir wussten, was er gemacht hat.« Alle Blicke richteten sich anklagend auf Malemute Kid, der sich aus der Ecke erhob, wo er es Babette gemütlich gemacht hatte und jetzt stumm die Schüssel zu einer letzten Runde Punsch leerte. »Es ist eine kalte Nacht, Jungs – eine bitterkalte Nacht,« verteidigte er sich zusammenhanglos. »Ihr seid alle erfahrene Männer und wisst, was das bedeutet. Man tritt keinen Hund, wenn er am Boden liegt. Ihr habt nur die eine Seite gehört. Ein unschuldigerer Mann als Jack Westondale hat nie aus demselben Topf gegessen wie ihr oder ich, oder unser Lager geteilt. Letzten Herbst hat er seine gesamte Ausbeute, vierzigtausend, Joe Castrell mitgegeben, um sich am Dominion Creek einzukaufen. Heute wäre er Millionär. Aber während er in Circle City zurückgeblieben ist, um sich um den zweiten Partner zu kümmern, der Skorbut hatte, was macht da Castrell? Er geht zu McFarland’s, verliert den Kopf und verspielt alles. Am nächsten Tag haben sie ihn tot im Schnee gefunden. Und der arme Jack hatte schon Pläne gemacht, diesen Winter zu seiner Frau heim zu reisen und zu seinem Sohn, den er noch nie gesehen hat. Euch ist sicher nicht entgangen, dass er genau das genommen hat, was sein Partner verloren hat – vierzigtausend. Na schön, er ist auf dem Heimweg, und was wollt ihr jetzt unternehmen?« Kid ließ seinen Blick durch den Kreis seiner Richter schweifen, bemerkte, dass ihre Mienen weicher wurden und hob seine Tasse in die Höhe. »Also auf das Wohl des Mannes, der in einer solchen Nacht draußen unterwegs ist; auf dass ihm das Futter nie ausgehe, seine Hunde nicht tot umfallen und seine Streichhölzer nie nass werden. Gott sei sein Gedeih und möge das Glück ihn begleiten und –« »Nieder mit der berittenen Polizei!« brüllte Bettles beim Zusammenscheppern der leeren Becher. 36 Die Fotos sind Aufnahmen aus der Zeit des Goldrauschs am Klondike vom Ende des 19. Jahrhunderts. © wasser-prawda Bücher Roman Anna Katharina Hahn Am Schwarzen Berg Suhrkamp Schwarzwurzeln auf Eisbergspitzen Stuttgart 21 ist ein fürchterliches Thema. Breitgetreten und schwabbelig beschäftigte der im Sommer 2010 eskalierte Streit um den Neubau des Hauptbahnhofs monatelang Medien, Gerichte, Zivilgesellschaften. Die abschließende Nachlese freilich steht den Literaten zu. Klug und weit blickend tut dies die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn. „Am schwarzen Berg“ verscheucht den idiotisch austreibenden Themenbusch „Stuttgart 21“ in die Peripherie, wo er essentiell auf seine Wurzel zurückgestutzt wird: Der schlingernden Suche nach dem richtigen Leben. Eine Rezension von Ole Schwabe. Es ist noch früh am Morgen, als sich Emil Bubs Hände in das spröde Geländer im Stuttgarter Vorort Burghalde krallen, sich Verstörung in ihm ausbreitet, der Wunsch nach Whiskey vor dem Frühstück den Anfang Sechzigjährigen zu Boden sinken lässt. Peter, der Sohn der Nachbarn und gleichzeitig das Kind, das Emil und seine Frau Veronika nie hatten, kehrt in sein Elternhaus zurück, Hab und Gut in eine rostig-roten Fiat gepfercht. „Er fühlte sich krumm und lächerlich, am Boden neben dem Blumenkübel. Seine Erinnerung war voll von Peterbildern, doch keins glich dem, was er eben gesehen hat.“ Bärtig und abgemagert, verschlossen und labil, eine gemarterte Seele in einem zerschundenen Körper. Rückblenden vor dem inneren Auge, Peter am Küchentisch bei den Hausaufgaben, die gemeinsamen Streifzüge durch Stuttgarter hier findet er Trost vor den schulischen Erwartungen des Vaters und pubertären Stimmungsschwankungen. Für die kinderlos Gebliebenen wird der Nachbarsjunge zum Lebensmittelpunkt im sinnentleerten Alltag. Doch keine Sorge: Eifersüchteleien zwischen Noch aber blieb ihm eine Freude, Erwachsenen um die Gunst eines HeranwachNachdem er Land und Meer bewegt, senden stehen ebenso wenig im Fokus des RoWenn er bei Nacht auf oeder Heide Die Sehnsucht seiner Seele pflegt. mans wie der Streit um einen neuen Bahnhof. Anna Katharina Hahn geht es um die großen Da haengen ungeheure Ketten Aus finstrem Wolkenraum herab, Fragen: Wie beständig ist die Liebe in der Zwickmühle aus eigener Sozialisation und gesellschaftDran er, als muessten sie ihn retten, lichen Veränderungen? Welche Abgründe tun Sich schwingt zum Himmel auf und ab. sich im Niemandsland zwischen Liebenden auf, Zufällig waren dessen Eltern Hajo, der vielbe- wie schnell verpufft vermeintliche Nähe? schäftigte Arzt mit eigener Praxis und Veronika, Entgegen des väterlichen Wunschs wird Peter die in der Rolle der Hausfrau verblühte, vor rund Logopäde und nimmt ganz bewusst „nur“ eine dreißig Jahren neben die zurückgezogen lebenden Halbtagsstelle an, der Wunsch seine Söhne Ivo Bubs gezogen. Man lebt fortan nachbarschaftlich und Jörn aufwachsen zu sehen ist stärker als der nebeneinander, das verwilderte Grundstück von Karrieretrieb. An dieser Stelle schwappt der einEmil und Veronika wird zu Peters Rückzugsort, gangs erwähnte Bahnhofskonflikt in die Hand- Antiquariate, das letzte Treffen in Peters Garten. Gemeinsam rezitierten sie „Die Elemente“ von Eduard Möhrike, mit dessen Leben und Werk Emil das „Peterle“ früh vertraut machte. 37 © wasser-prawda Bücher lung, Peter wird begeisterter Baumbesetzer und ein Streiter für den Erhalt des ursprünglichen Schlossgartens. „Ich muß mich nicht damit abfinden, nur im kleinsten Kreis gegen den Strom zu schwimmen. Du weißt schon, man ist Vegetarier, Waldläufer, Konsum- und Schulverweigerer, aber im Grunde ein armes Würstchen. Ein alternativer Kasper ohne Einfluß, der Rad fährt und Ökowaschpulver benutzt.“ Schließlich verlässt ihn seine Frau Mia mit samt den Kindern. Diesen erzählt sie frei erfundene Geschichten über die angebliche Untreue des Papas. In Wahrheit ekelt sie sich vor seiner vermeintlichen Antriebslosigkeit, seinem mangelnden Ehrgeiz im Beruf, der materiellen Ungewissheit und seinem Wunsch nach antiautoritärer Erziehung der Kinder abseits staatlicher Schulen. Die Plötzlichkeit ihrer Flucht streckt Peter nieder und Hahn billigt ihm, der nach einer sinnstiftenden Art zu Lebens sucht, keine zweite Chance zu. Denn schnell ist klar, dass das aus vier Personen bestehende, familiäre Netz keineswegs in der Lage ist, den taumelnden Vierzigjährigen wirklich aufzufangen. Mutter Clara reklamiert die eigene Aufopferung für ihren Sohn, Vater Hajos emotionale Kapazität ertrank vor vielen Jahren in Arbeit und manifestiert sich heute in Behandlungsprotokollen und beruflichem Ehrgeiz bei der Medikamention des Verzweifelten. Beide verzehren sich in dem Wunsch, dass aus den Lebenstrümmern ihres Sohnes ein „normaleres“ Dasein erwachsen möge. „Paßt auf, zwischen Mia und Peter ist das letzte Wort noch nicht gesprochen[...]. Wir könnten ihnen doch ein Haus kaufen oder eine Wohnung. Das hat Peter ja immer abgelehnt. Er wollte nie abhängig sein von uns.“ Tragischer als diese blinde Harmoniesucht der Eltern ist das Unvermögen der Bubs, Peter zu verstehen. Zwar ist ihr Blick nicht von materialistischen Wertvorstellungen oder bürgerlichen Trugbildern vernebelt, wohl aber vom Alkohol. Insbesondere Emil widerfährt eine detaillierte Abarbeitung seiner Unzulänglichkeiten, welche den verträumten Deutsch-und Geschichtslehrer zum trinkenden, geistig umnachteten Zuschauer eins Dramas werden lässt. „Emil schwieg und wendete die Würste auf dem Rost.“ Zurück bleibt hier wir dort breiige Abstumpfung. Und zwischen den Zeilen tropft sie zäh, die scharfkantige Essenz: Wer den Ausbruch aus der Leistungsgesellschaftt, dem ökonomischen Hamsterrad wagt, steht schnell alleine da. Hajo und Clara stehen für das saturierte Bürgertum, die Konservierenden Besitzstandwahrer. Emil und Veronika haben sich mit dem Gesellschaftssystem zwar nie wirklich identifiziert, ihren frühen Fluchtweg aus innerer Emigration, intellektuellem Suff und zugewucherter Kleinbürgerlichkeit jedoch nie verlassen. „Im Keller verstaubten die Schriften von Adorno, Habermas und Erich Fromm neben den Überlebenden der vorjährigen Apfelernte.“ Mia, Peters Frau, ist das hungrige, aus der ärmlichen Enge der Unterschicht ausbrechende Mädchen, voller Trotz und der Angst, später wie die Mutter dickwadig und mit aufgequollenen Wurstfingern die Klos reicher Frauen putzen zu müssen. Jeder der auftretenden erscheint als Gefangener seiner eigenen „Welt“, welche im Falle von Mia und irgendwie auch Peter deckungsgleich mit ihrer Herkunft ist. Dass Hahn ihre Personen dennoch nicht in eine dem Schicksal ausgelieferte Verantwortungslosigkeit entlässt, erfreut. Ebenso die Sprache: Fein, aber fordernd. Leicht und vereinnahmend erzählt die Autorin große und kleine Geschichten, bugsiert detailverliebte Szeneriestimmungen neben große Erkenntnisse. Ein klug komponiertes Buch. Aufschlussreich sind seine Erzählperspektiven, bildhaft und hell seine Schilderungen. Nur manchmal geraten die starken Stimmungsbilder in Gefahr den Leser zu überfluten und vom unmittelbaren Fortgang der Handlung abzulenken. Ähnlich verhält es sich mit Charaktereigenschaften und zwischenmenschlichen Begebenheiten nebst Beziehungen. So trägt beispielsweise das kurz angeschnittene, sexuelle Intermezzo zwischen Emil und Nachbarin Carla außer knittriger Verästelung der ansonsten dichten Rückblenden wenig Wichtiges zur Handlung bei. Nach der Lektüre bleibt das Gefühl, berührt worden zu sein. Nicht nur an schönen Stellen, nicht auf sanfte Art und Weise. Eher hinterrücks und flau. Doch wie beruhigt könnten wir in die Zukunft blicken, wenn nur gewiss wäre, dass „Am schwarzen Berg“ eines der Bücher sein wird, welches im Rückblick auf die Jetztzeit bleibt. Wir werden es sehen. Auch „Am schwarzen Berg“ stirbt die Hoffnung zuletzt. Doch sie stirbt. Und auch die Elemente moegen, Die gottversoehnten, jede Kraft In Frieden auf und nieder regen Die nimmermehr Entsetzen schafft; Dann, wie aus Nacht und Duft gewoben, Vergeht dein Leben unter dir, Mit lichtem Blick steigst du nach oben, Denn in der Klarheit wandeln wir. 38 Anna Katharina Hahn mit Koeppenpreis 2012 ausgezeichnet Am 23. Juni ist Anna Katharina Hahn mit dem Wolfgang Koeppen-Literaturpreis der Stadt Greifswald ausgezeichnet worden. Der mit 5000 Euro dotierte Preis wird alle zwei Jahre verliehen. Ausgewählt wurde Hahn vom letzten Preisträger Joachim Lottmann. Dieser begründete seine Wahl damit, dass Hahn präzise, unideologisch und gegenwärtig schreibe. „Stuttgart 21 kommt vor, schwache Vatermänner, die aber liebevoll zu ihren Kindern sind.“, heißt es weiter. Und: „Jeder führt ein Leben, für das der Leser Verständnis hat. Man sieht alle Beschädigungen und kann sich nicht auf eine Seite schlagen.“ Wundervoll sei das, „eben echte Literatur.“ Die Suche nach seiner Nachfolgerin bzw. seinem Nachfolger – der Umstand, dass ein ausgezeichneter Autor den nächsten auszeichnet, stellt im Übrigen eine Besonderheit im Literaturbetrieb dar – gestaltete sich schwierig, wollte er mit seiner Wahl doch dem Geschmack des Namensgebers gerecht werden. Erster Träger des Koeppenpreises war 1998 der am 24. Juni verstorbene Surrealist Richard Anders. Damals wurde der Preis noch vom Falladaverein mit Unterstützung einer Baufirma vergeben. Außerdem gehören Thomas Lehr, Susanne Riedel, Ludwig Fels, Bartholomäus Grill und Sibylle Berg zu den Preisträgern. Erik Münnich Anna Katharina Hahn - Am schwarzen Berg Suhrkamp 2012 236 Seiten ISBN-13: 978-3518422823 Euro 19,95 (gebundene Ausgabe) Euro 16,99 (e-Book) © wasser-prawda Bücher Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand Mit der schönen Alliteration: „Man möchte meinen“ beginnt der schwedische Autor Jonas Jonasson – man bemerke auch diese Alliteration – seinen ersten Roman Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, der 2009 in Schweden publiziert und 2011 in der deutschen Übersetzung bei Carl´s Books erschien: Eine Reise durch die Welt, eine Reise durch ein Jahrhundert. Der Titel hat mich begeistert – ein Buch, auf dem wie in guten alten Zeiten auf dem Cover steht, was den Leser erwartet. Kein Lust, kein Schuld und Sühne, kein Der Alte oder irgendein anderes nichtssagendes oder alles sagend wollendes Schlagwort. Nein: Allan Karlsson ist tatsächlich hundert Jahre alt, steigt auch wirklich aus dem Fenster seines Altenheimes und verschwindet wirklich aus seiner Stadt. Was für nicht gerade wenig Aufsehen sorgt, schließlich verschwindet er ausgerechnet eine halbe Stunde bevor der Stadtrat und Kollegen zu seinem hundertsten Geburtstag gratulieren wollen. Wiederholungen und Alliterationen sind rhetorische Elemente, die sich durch das ganze Buch zu ziehen scheinen. Genauso wie das Erzählen parallel laufender Handlungsstränge. „Mit der Mode hatte er es nicht so. Aber das ist auch eher selten in diesem Alter. Er war von seiner eigenen Geburtstagsfeier ausgebüxt, was ja auch eher selten ist in diesem Alter. Nicht zuletzt deswegen, weil der Mensch generell selten in dieses Alter kommt.“ Nicht ganz einleuchtend stellt sich die Gliederung des Werkes dar: 1. Kapitel, Montag, 2. Mai 2005; 2. Kapitel, Montag, 2. Mai 2005; 3. Kapitel, Montag, 2. Mai 2005; 4. Kapitel – oh Wunder – 1905 bis 1929 – und dann wieder: 5. Kapitel, Montag, 2. Mai 2005. Eine weitere Untergliederung erfolgt dann in innerhalb der Kapitel mit vier Sternchen, die jeweils einen Ortswechsel markieren. Unvermutet werden einzelne Absätze durch Leerzeichen markiert – eine kleine Kunstpause. Diese Inszenierung hat durchaus etwas Filmisches. So werden Wechsel in der Szenerie deutlich markiert und Jonasson spart sich kunstvolle Übergänge. Der alles überblickende Erzähler berichtet nacheinander, was parallel beim flüchtigen Allan, beim nervösen Stadtrat oder beim suchenden Kommissar passiert. Und das ist allerhand. Die Geschichte kommt ins Rollen, als Allan nebenbei einen Koffer entwendet, der 50 Millionen Kronen enthält und damit bei einem Kleinkriminellen – der übrigens Julius Jonson heißt – in einem alten Bahnhof landet. Die erste Leiche lässt nicht lange auf sich warten: über Nacht ist der Kofferbesitzer in der Kühlkammer erfroren, was Allan am Frühstückstisch mit einem: „Zu dumm. Aber ich muss schon sagen, das Ei hast du perfekt hingekriegt.“ kommentiert. Bezeichnend für Allan, mehr muss man dazu eigentlich gar nicht sagen. Die Erzählung um Flucht und Jagd beginnt. Eine verrückte und witzige Geschichte, die man lieber selbst verfolgen sollte. Aber natürlich steht bei einem hundertjährigen Protagonisten auch die Themen Leben und Sterben im Raum, das Jonasson in seinem Roman nicht auslässt. Etwas banal kommen Sätze wie, „dass er ja auch ein andermal und anderswo sterben konnte“, „dass ihm der Gedanke ans Sterben plötzlich wieder Angst machte“, „die Knie taten 39 ihm weh, also war er wohl doch noch am Leben“ daher. Floskeln wie „für sein Alter“ erscheinen überflüssig und dem Text wenig förderlich. Viel spannender als sein faktisches Alter sind die Jahre, die hinter ihm liegen. Immer wieder werden – im wahrsten Sinne – irre Geschichten aus seinem Leben erzählt, die die Begebenheiten am 2. Mai durchaus erklären und bereichernd illustrieren. Wirft man einen Blick auf die Sprache, dann wird ein mündlicher Sprachduktus deutlich. Satzanfänge mit Konjunktionen – „weil das ist so“ – und jede Menge umgangssprachlicher Ausdrücke sowie zahlreiche Alliterationen, Wiederholungen und Parallelkonstruktionen auf sprachlicher wie inhaltlicher Ebene machen das Buch zu einer erheiternden, aber doch manchmal etwas schleppenden Leküre. Alles in allem aber sehr gute Unterhaltung. Eine ideale Alternative zu Twilight oder anderen sinnfreien Zonen für gemütliche Leseabende. Kristin Gora Jonas Jonasson: Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand, Aus dem Schwedischen von Wibke Kuhn Carl´s Books 2011, ISBN: 978-3-570-58501-6 14.99 EUR. © wasser-prawda Jürgen Buchmann: Memoiren eines Münsterländer Mastschweins ISBN: 978-3-943672-00-8 54 Seiten; 14,8 x 21 cm 12,95 Euro jürgen landt alles ist noch zu begreifen jürgen landt: alles ist nochzu begreifen ISBN: 978-3-943672-01-5 120 Seiten 14,8 x 21 cm 13.95 Euro edition plüsch aus