buch 3_2013.indb - Wasser

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buch 3_2013.indb - Wasser
Nr. 3/2013
29. IBC
in Memphis
• Magic Slim - Alvin Lee - Richard Townend - Saffire
• Wir wollen ein Lied von Dir - Die Zweite
• Album des Monats: Nina van Horn - Seven Deadly Sins
• Texte von Odile Endres, Carl Sternheim, Ernst Toller
• Bücher von Jenny Feuerstein, Rainald Goetz, Stanislaw
Lem
Editorial
Impressum
Die Wasser-Prawda ist ein Projekt des Computerservice Kaufeldt
Greifswald. Das pdf-Magazin wird
in Zusammenarbeit mit dem freiraum-verlag Greifswald veröffentlicht und erscheint monatlich. Es
wird kostenlos an die registrierten
Leser des Online-Magazins www.
wasser-prawda.de verschickt.
Wasser-Prawda Nr. 2/2013
Redaktionsschluss: 28. Februar 2013
Redaktion:
Chefredakteur: Raimund Nitzsche (V.i.S.d.P.)
Redaktion: Lüder Kriete, Erik
Münnich, Dave Watkins
Mitarbeiter dieser Ausgabe:
• Anne-Lena
• Kristin Gora
• Dirk Uwe Hansen (Greifswald)
• Maria Woodford
Die nächste Ausgabe erscheint am
18. April 2013.
Adresse:
Redaktion Wasser-Prawda
c/o wirkstatt
Gützkower Str. 83
17489 Greifswald
Tel.: 03834/535664
[email protected]
Anzeigenabteilung:
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Gerne schicken wir Ihnen unsere
aktuelle Anzeigenpreisliste und die
Mediadaten für das Online-Magazin und die pdf-Ausgabe der WasserPrawda zu. Anzeigenschluss für das
pdf-Magazin ist jeweils der 1. Werktag des Erscheinungs-Monats.
2
Inhalt
Impressum2
Alles neu macht der ... März.
3
Editorial5
24. Bluesfest in Eutin6
Magic Slim (1937-2013)10
Alvin Lee (1944-2013)13
Mia Moth & Melanie Dekker im Roxy (Ulm)
15
Wir wollen ein Lied von Dir - Volume 2
17
Zehn Fragen an: Richard Townend
19
Die International Blues Challenge 24
Eine Erfahrung für‘s Leben
Wiedergehört: Saffire - The Uppity Blues Women
Jos Slabbert, African Cajun. 28
31
33
Nina Van Horn - Seven Deadly Sins 36
Rezensionen A-Z38
4 Jacks - Deal With It
38
Bottleneck John - All around man
38
David Sinclair - Strange Paradise
39
Devon Allman - Turquoise
40
Dubl Handi - Up Like The Clouds
40
Eric Burdon - Til Your River Runs Dry
41
Fred Kaplan - Hold My Mule
41
French Blues Explosion - French Blues Explosion feat.
Nico Wayne Toussaint42
Gaetano Partipilo - Besides - Songs From The Sixties
42
Grady Champion - Tough Times Don‘t Last
43
Harry Connick Jr. - Smokey Mary
43
Hayden Sayers - Rolling Soul
44
Heinz Ratz - Billy the Kid 45
Jeff Healey - As The Years Go Passing By. 46
Jessy Martens & Band - Brake Your Curse
47
Jimi Hendrix - People Hell and Angels
47
Jo Harman - Dirt On My Tongue
48
Kevin Breit & The Upper York Mandolin Orchestra Field Recording51
LZ Love & Lightnin Red - International Blues Family 52
Mario Nyéky & The Road - To The Wind
52
Mark Robinson - Have Axe - Will Groove
53
Matt Woosey Band - On The Waggon
53
Petey Hop - The Levee
54
Preacher and Bear - The Storm Has Come
55
Robben Ford - Bringing It Back Home
56
Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce - Got My Eye
On You56
Tinsley Ellis - Get It
57
Tonträger - Trostlose Torten
57
Vinz - The Birth of Leon Newars
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© wasser-prawda
Alles neu macht der ... März.
Als wir im vorigen Jahr die erste Nummer unseres pdf-Magazins
verschickten, da wollte ich ein ganz klassisches Outfit dafür haben: Eigentlich lag dafür das Tabloid-Format nahe: da passt ein
dreispaltiges Textlayout hinein, man kann schön flexibel mit
Bildgrößen arbeiten. Und außerdem sieht es einfach prima aus
- ich liebe klassische Layouts, wie man es heute fast nur noch im
Spiegel findet. Doch schon bald kamen Klagen darüber: Wenn
man sich das Magazin ausdruckte, dann wurde auf A4-Seiten der
Text zu klein dargestellt. Und auf Tablet-Computern oder ebookReadern musste man ständig scrollen, um zur nächsten Spalte zu
kommen. Jetzt - nach langen Debatten, Experimenten und langen
Nachtschichten des Layouters präsentieren wir hier ein neues Layout: Ab sofort gibt es als Seitengröße A4, was sofort ausdrucken
kann, wer das unbedingt will. Und wir gehen außerdem fort vom
mehrspaltigen Satz, um auch die Lesbarkeit auf mobilen Geräten
zu verbessern. Die direkte Folge wird sein, dass der Heftumfang
spürbar anwachsen wird. Aber das stört hoffentlich nur diejenigen, die unser Magazin ausdrucken wollen.
Wahrscheinlich wird es noch immer mal paar kleine Anpassungen
geben - und hierfür bitte ich um Hinweise, Anregungen und nett
formulierte Kritiken, die uns unter [email protected]
erreichen.
© wasser-prawda
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3
Dynamite Daze auf
Deutschland-Tour
Der „Rolling Stone“ nannte
Dynamite Daze mal die deutsche Antwort auf Tom Waits
und Captain Beefheart. Die
Band selbst bezeichnet ihre
Musik schlicht als Krautblues.
Auf jeden Fall spielen die vier
Musiker einen Bluesrock, der
eigenständig und immer wieder überraschend ist. Mit dem
2011 erschienenen Album
„Scarecrows on Rampage“ sind
sie jetzt wieder auf Tour durch
Deutschland.
B.B. & The Blues Shacks
„Come Along“ ist nicht umsonst von den „Blues News“-Kollegen zum Album des Jahres hierzulande gewählt worden. Und
wie kann man diesen großartigen Soulblues besser genießen als
im Konzert? Bis in den Mai sind B.B. & The Blues Shacks mit
dem Album auf großer Frühjahrs-Tour durch die Welt. Hier die
nächsten Termine in Deutschland:
11.04.2013 | D-HOLSTE
12.04.2013 | D-UNNA
13.04.2013 | D-VERDEN
26.04.2013 | D-PERLESREUT
27.04.2013 | D-LÖHNE
09.05.2013 | D-RÖDERMARK
25.05.2013 | D-LÜNEBURG
16.03. Burghausen Jazztage
23.03. Meidelstetten Adler
12.04. Braunschweig Barnabys
Blues Bar
13.04. Hannover Anderter
Bahnhof
14.04. Rhede Blues
18.04. Roth Rother Bluestage
19.04. Weiden Salute Music
Club
Julian Dawson
Ein Jahr lang war der britische Songwriter nicht mehr auf Tour.
Jetzt hat er einen umfangreichen Tourplan veröffentlicht, der
Konzerte vor allem in Deutschland beinhaltet.
März
28 Featherstone St. Wilfrid’s Catholic High School
April
05 Heiligenhaus Der Club
06 Neustadt (Hannover)
09 Nijmegen Café Trianon (NL)
10 Amsterdam Kapitaen Zeppos (NL)
11 Frankfurt Musikmesse
Mai
05 House concert (NL)
11 Wolfenbuettel Blue Note e. V.
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© wasser-prawda
Editorial
Wenn Ende Januar in Memphis die International Blues Challenge
stattfindet, dann ist das heutzutage längst kein reiner Nachwuchswettberwerb mehr sondern könnte durchaus als „Weltmeisterschaft“ für Bluesmusiker und -bands bezeichnet werden. Außerdem ist dieses Ereignis eines der Szenetreffen für Fans, Musiker,
Journalisten und Plattenfirmen. Leider sieht unser Budget keinen
Posten für eine Reise an den Mississippi vor. Doch wir haben es
geschafft, dass drei Musikerinnen und Musiker ihre Erlebnisse rund
um den Wettbewerb für uns auf chreiben. Den Beginn macht die
Sängerin und Gitarristin Maria Woodford aus den USA. Für die
nächste Ausgabe erwarte ich noch Texte und Bilder von Michael
van Merwyk (mit seiner Band Bluesoul als Sieger der German Blues
Challenge 2011 teilnahmeberechtigt - und hat mit seinem zweiten
Platz in der Bandwertung nach dem Sieg von Schröter & Breitfelder die zweite deutsche Spitzenplatzierung im Wettbewerb erreicht)
und aus Israel Ori Naftaly und Sängerin Elaonor Tsaig.
Eine kleine Vorschau auf ein kommendes Ereignis haben wir in
letzter Minute aufgenommen: Nach wochenlangen Unsicherheiten
steht das Programm für das diesjährige Internationale Bluesfest in
Eutin fest, wo als letzte Künstlerinen Nina van Horn und Morland
& Arbuckle verpflichtet wurden.
Dave Watkins setzt seine vor vier Wochen begonnene InterviewReihe „Zehn Fragen an“ mit dem britischen Gitarristen und Songwriter Richard Townend fort, der als Solist oder mit Band seit 2011
im Vereinigten Königreich große Erfolge feiert. Und Lüder Kriete
besuchte in Ulm eine Open-Mic-Session, wo die Band Mia Moth
und die ebenfalls aus Kanada stammende Songwriterin Melanie
Dekker auftraten. Die Mitschnitte beider Auftritte werden demnächst zum Streaming auf www.wasser-prawda.de zur Verfügung
stehen.
Quasi als Beitrag zum Internationalen Frauentag am 8. März haben
wir die Frauenband Saffire - The Uppity Blues Women mit einem
kurzen Werksüberblick gewürdigt.
Und aus der Kategorie unerwarteter Fundstücke stellen wir Blues
Rock & Country Inc. aus Namibia vor.
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Grenzüberschreitungen beim
24. Bluesfest in Eutin
Grenzen werden in vielerlei Hinsicht überschritten, wenn
vom 17. bis 20. Mai auf dem Eutiner Marktplatz das traditionelle Bluesfestival stattfinden wird: Unter dem Motto
„Crossing Borders“ werden Musiker aus 15 Ländern auftreten, die Blues in verschiedensten Stilrichtungen zwischen
Folkblues, Boogie Woogie, Chicagoblues bis hin zum RetroSoul spielen.
Wonach schaut man zuerst bei einem Festival? Die bekannten
Namen auf dem Programm? Davon hat Eutin zu Pfingsten 2013
einige zu bieten: Tommy Schneller etwa wird am Samstagabend
mit großer Besetzung auftreten. Seine Band - Gewinner der German Blues Challenge 2012 - ist eine der besten Adressen für Soul,
Funk und Rhythm & Blues. Der texanische Bluesrocker Lance
Lopez (Headliner am späten Freitagabend - Foto r.o) ist hierzulande auch kein ganz unbekannter Name mehr. Und in anderen
Teilen dieser Welt wird die Französin Nina van Horn längst als
Star gefeiert. Sie zählte zu den letzten Künstlern, die eingeladen
wurden. Und da war leider nur noch ein Platz am Sonntagnachmittag im Programm frei.
Oder schaut man nach den bevorzugten Stilrichtungen? Klassischen Boogie Woogie kann man da erleben mit dem Österrei-
6
© wasser-prawda
cher Robert Roth und dem
Ungarn Balázs Dániel. Für
die Freunde des Akustikblues
ist wahrscheinlich der Auftritt
von Mario Marchi & the Mojo Workers (Samstag ab 14.45
Uhr) besonders bemerkenswert.
Diese Truppe hat ihre Wurzeln
in der Frühzeit von Blues und
Ragtime - doch daraus haben
die vier Musiker ihren ganz eigenen Sound kreiiert. Und für
die Fans von Retroklängen gibt
es gleich zwei verschiedene Angebote: Die Italiener Guitar Ray
& The Gamblers spielen swingenden Retroblues (Samstag ab
17 Uhr). Und aus Norwegen
wurde die großartige Soulsängerin Stina Stenrud (Foto unten: Helge Nickel) mit ihren Soul Replacements eingeladen. Da kann man
sich auf eine Soul- & Funkrevue mit insgesamt zehn Musikerinnen
und Musikern auf der Bühne freuen. Für die Freunde traditioneller
Bluesklänge ist sicherlich Big Pete Pearson eine Empfehlung (Samstag ab 21.30 gemeinsam mit Sugar Ray & The Gamblers). Und mit
ihrer großen Stimme zwischen Blues, Gospel und Soul wird Wanda
Johnson am Montag die letzte Headlinerin sein.
Traditionsgemäß bildet der Blues aus dem Ostseeraum einen der
Schwerpunkte in Eutin. So wurden aus Norwegen (zusätzlich zu
Stenrud) noch Yngve and His Boogie Legs engagiert (Montag
14.30-16 Uhr(. Mit ihrem modernen Jump Blues & Rockabilly haben die vier jungen Musiker 2011 den Norwegian Union Blues Cup
gewonnen. Aus Schweden ist die Sängerin Ingrid Savbrant am Start,
die einserseits eigenen rockigen Blues, andererseits ein „Tribut to Etta James“ im Programm hat. Und aus Polen kommt eine Band, die
auf Grund ihrer Besetzung für Aufmerksamkeit sorgt: Vier der acht
Musiker von Harpcore sind Mundharmonikaspieler. Und gemein-
© wasser-prawda
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Zu den Fotos:
S. 6: Nina van Horn
S. 7: Lance Lopez, Stina
Stenrud (Foto: Helge Mickel)
S. 8: Big Pete Pearson
S. 9: Cajun Rooster, Robert
Roth und Balázs Dániel,
Wanda Johnson (Foto: Andrzej Matysik)
8
sam spielen alle eine Mixtur von funkigem Blues a la Dr. John
und traditionellen Bluessounds und rockig-modernen Stücken.
Das Eutiner Bluesfest versteht sich immer als Festival für Neugierige. Neben bekannten Namen tauchen auf dem Programm auch
in diesem Jahr wieder Geheimtipps und auch Newcomer auf. So
wird am 18. Mai die Kalle Reuter Experience auftreten. Deren
Gitarrist ist gerade mal 13 Jahre alt, hat aber das Potential (so die
Anmerkung von den Veranstaltern), in den nächsten Jahren in eine Riege mit Bluesrockern wie Henrik Freischlader aufzusteigen.
Lassen wir uns überraschen!
Neben dem Open-Air gibt es auch in diesem Jahr wieder ein
„Nightfestival“, welches vom 17. bis 19. Mai nach Programmschluss auf dem Marktplatz (ca. 23.15 Uhr) im „Theater am
Schloss“ mit Sonderkonzerten und Sessions zelebriert wird. Zum
Konzept dabei gehört, dass man im Vorfeld noch nicht weiß, wer
überhaupt dort auftreten wird. Das können Bands sein, die man
vorher schon auf dem Markt hören konnte - aber auch Auftritte
ganz anderer Musiker sind beim „Nightfestival“ möglich.
Ach so: Nach den Preisen braucht man auch in diesem Jahr nicht
zu schauen. Die Konzerte auf dem Markt sind kostenlos. Dass
von den Veranstaltern um Spenden gebeten wird, das ist selbstverständlich. Das komplette Programm gibt es auf www.bluesbaltica.de
Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Rich Hopkins German
Fanclub & Wasser-Prawda
präsentieren:
RICH HOPKINS & LUMINARIOS (USA) „Buried
Treasures“-EuropeanTour 2013
Rich Hopkins & Luminarios
kommen zusammen mit Lisa
Novak mit neuer Platte wieder bei uns in die Lande. Auch
auf „Buried Treasures“ ziehen
wieder unbequeme Alltagsthemen des amerikanischen Südwestens durch die Songs, sie
sind aber diesmal längst nicht
so dominant.
• Do, 11. April HAMBURG Happy Billard
• Fr, 12. April NEUÖTTING Stadtsaal
• Sa, 13. April SINGWITZ
KesselhausLager
• So, 14. April BERLIN
Chester‘s Music Inn
• Mo, 15. April BERLIN
Rock Steady Record Store
(Private Show)
• Di, 16. April CHEMNITZ Weltecho
• Mi, 17. April BRILON
Kump
• Do, 18. April EPPSTEIN
Wunderbar Weite Welt
• Fr, 19. April ESSEN
Grend
• Sa, 20. April ZÜRICH El
Lokal
• So, 21. April LANGENAU Cafè Kapilio
• Mo, 22. April DRESDEN
Kathy’s Garage
• Di, 23. April ERFURT
Museumskeller
• Mi, 24. April HANNOVER MusikZentrum
• Do, 25. April HALLE
Objekt 5
• Fr, 26. April BORDESHOLM
Albatros
Steaks‘n‘Music
• Sa, 27. April HEILBRONN Red River
• So, 28. April STUTTGART Laboratorium
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Magic Slim (1937-2013)
Noch mit 75 Jahren klang seine Gitarre jünger als
die vieler nach ihm geborener Musiker. Mit „Bad Boy“
hatten Magic Slim & The Teardrops 2012 ein Album
vorgelegt, dass seinen unverwechselbaren Blues aus
der South Side von Chicago aufs Feinste zelebrierte.
Seine letzte Europa-Tournee musste er wegen einer
Erkrankung abbrechen. Am 20. Februar starb Morris
Holt alias Magic Slim in Philadelphia.
Von Raimund Nitzsche.
Die Gitarrenlinien schneiden heftig und kraftvoll in die Gehörgänge und durchdringen spielend jeden Kneipenlärm. Seine Stimme erreicht zuweilen gar die Rauhheit und Heftigkeit von Sängern
wie Muddy Waters. Und die Rhythmusgruppe legt einen Groove
aus, der klar macht: hier ist man richtig, um zum Wochenende gehörig abzutanzen. Das ist BLUES in Großbuchstaben, Blues wie
er seit Jahrzehnten einfach nicht altert. Blues, der so viel direkter
und lebendiger ist als jegliche neue Rockmode. Magic Slim & The
Teardrops haben seit den 60er Jahren ihren Stil beibehalten, ohne
jemals altertümlich zu klingen. So wie auf „Bad Boy“ spielte man
in der South Side von Chicago den Blues seit den 60er Jahren.
Geboren wurde Morris Holt am 7. August 1937 in Torrence, Mississippi. Seine Eltern hatten als Sharecropper eine Farm gepachtet.
Und schon früh musste der Sohn mit raus auf die Baumwollfelder.
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© wasser-prawda
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Sobald als möglich versuchte er, diesem Leben zu entkommen. Irgendwann suchte er sich Gelegenheitsjobs in der Umgebung, um
selbst etwas Geld zu verdienen. Als er 13 war kam es zu einem
Unfall, der sein Leben als Musiker entscheidend beeinflusste.
Schon früh hatte Holt Liebe zur Musik gezeigt. Er begann mit dem
Klavierspiel und sang im Kirchenchor. Doch dann geriet er mit der
Hand in eine Cotton Gin und verlor einen kleinen Finger. Klavier
konnte er jetzt nicht mehr spielen. So wandte er sich der Gitarre zu.
Sein erstes „Instrument“ baute er sich, indem er Teile von Mutters
Besen verwendete. Das gab natürlich zunächst gewaltigen Ärger,
doch fanden sich seine Eltern damit ab. Und 1955 fühlte er sich
gut genug, um seinen ersten Trip ins gelobte Land nach Chicago
anzutreten.
Chicago: Der erste Versuch, der eigene Ton
Er wollte Gitarre bei seinem Jugendfreund Magic Sam spielen. Der
hatte sich auf der South Side von Chicago schon einen Namen erspielt und gab Holt nicht nur Tipps für sein Gitarrenspiel sondern
verpasste ihm auch seinen Bluesnamen Magic Slim (der Holt auch
noch beibehielt, als er schon längst nicht mehr „slim“ aussah). Und
vor allem meinte Sam: Du musst Deinen eigenen Ton finden! Du
musst so klingen, wie du bist - nicht wie eine Kopie von anderen
Musikern. Und irgendwann fand Magic Slim seine ureigne Art,
die Gitarre zu spielen: Allein mit dem Vibrato der Finger auf den
Saiten und ohne Bottleneck entwickelte er einen Klang, der dem
einer Slidegitarre nahekam. Doch konnte er diesen Sound durch
das Bending der Saiten so variieren, wie es mit einem Slide eigentlich unmöglich ist. Viele haben seither versucht, diese Spielweise zu
kopieren. Gelungen ist das eigentlich niemandem.
Weggehen und Wiederkommen
Zunächst allerdings musste er einsehen, dass er noch nicht gut genug war, um in der harten Konkurrenz Chicagos als Gitarrist zu
bestehen. Zwar hatte er in der Band von Robert Perkins einen Job
als Gitarrist gefunden, doch der schien nicht wirklich eine große
Zukunft zu haben. Also ging er wieder zurück nach Mississippi.
1965 folgte der zweite Anlauf, Chicago zu erobern. Gemeinsam
mit seinen Brüdern Nick und Lee „Baby“ Holt als Rhythmusgruppe zog er nach Norden. Als Magic Slim & The Teardrops erspielte
er sich in den Clubs bald einen guten Namen und konnte auch
einige Singles veröffentlichen.
Der eigentliche - landesweite - Durchbruch kam für die Band allerdings erst 1979, als Slim für die bei Alligator erscheinende Reihe „Living Chicago Blues“ einige Titel aufnahm. Schnell folgten
bei diversen Labels weitere Alben. Auch als der langjährige zweite
Gitarrist der Band, John Primer, seine Solokarriere begann, änderte sich der Sound der Teardrops nicht wirklich. Einige der besten
Alben erschienen nach dem Wechsel von Magic Slim zu Blind Pig
Records im Jahre 1996. „Bad Boy“ bildet hier als Coveralbum den
Abschluss einer beeindruckenden Laufbahn, die immer auch mit
den unermüdlichen Touren Slims zu tun hatte. Nicht umsonst
wurden er und seine Teardrops sechs Mal mit dem Blues Music
Award als beste Band ausgezeichnet.
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© wasser-prawda
Alvin Lee (1944-2013)
Schon mit seinem Solo bei „I‘m Going Home“ und einer ellenlangen Tour
de force durch die größten Hits des Rock & Roll auf dem Woodstock Festival ist er als einer der prägenden Bluesgitarristen Großbritanniens in die
Geschichte eingegangen. Nach einer eigentlich harmlosen Operation ist
Alvin Lee am 6. März 2013 im Alter von 68 Jahren gestorben.
Von Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
13
In den späten 60er Jahren änderte sich der Sound des britischen
Blues. Klar, schon immer waren es Gitarristen wie Eric Clapton,
Peter Green oder andere gewesen, die in der Öffentlichkeit als Helden gefeiert wurden. Doch spätestens mit Bands wie Cream oder
dem Einstieg von Jimmy Page bei den Yardbirds ging es mehr um
Rock als um Blues, stand mehr die reine instrumentale Meisterschaft des Einzelnen als die korrekte Erbepflege im Mittelpunkt.
In diese Geschichte fällt auch die von Ten Years After, die zwischen
1968 und 1973 nicht weniger als acht Alben in den den Charts
platzieren konnten.
Die Band, 1962 von Alvin Lee und Leo Lyons als Jaybirds gegründet, kam 1966 in die Londoner Szene. Zuvor hatten sie im
auch schon für eine Weile im Hamburger Starclub gespielt. Jetzt
wurden sie Hausband im Marquee Club und hatten bald schon
einen Plattenvertrag bei Deram. Bis 1973 folgte ein Album dem
nächsten, eine Tour der anderen nicht nur in Europa sondern auch
in den Vereinigten Staaten. Dann war Schluss. Alvin Lee, dem die
Pläne von Columbia, aus Ten Years After eine Popband zu machen,
nicht passten, machte unter eigenem Namen weiterhin Rock mit jeder Menge Blues aber auch Country. So entstanden Alben wie „On
the Road To Freedom“ (wo er unter anderem von Steve Winwood,
George Harrsion und Ronnie Wood begleitet wurde). Dann spielte
er bei den „London Sessions“ von Jerry Lee Lewis ebenso mit wie
Rory Gallagher und Peter Frampton. Seine Bandnamen wechselten
von Alvin Lee & Company zu Ten Years Later.
In den 80ern - noch immer war er konstant auf Tour - holte er
sich auch noch den Ex-Stone Mick Taylor in seine Band. Die Zeit
der großen Hits und der riesigen Festivals war für ihn allerdings
vorbei. Daran änderten auch seine Soloalben nichts. Als letztes
war im September 2012 „Still on the Road to Freedom“ herausgekommen. Die 13 Songs boten noch einmal Querschnitt durch
die Rockmusik seit den 60ern aus der Sicht des älter gewordenen
Musikers, getragen werden sie von der noch immer in irrsinnigen
Tempi dahinjagenden Gitarre Lee‘s, die schon in Woodstock die
Menschen zu Begeisterungsstürmen hingerissen hatte. Aber wo in
Woodstock die schiere Größe des Festivals für Ten Years After Zwischentöne eigentlich unmöglich machten, ist hier eine Entspanntheit und Zurückhaltung genau da zu spüren, wo es notwendig ist.
Und es braucht nicht die große Showtapete, wenn hier ein Musiker
aus seinem Leben jenseits der großen Bühnen singt. „Still on the
Road To Freedom“ ist ein Album, dass eigentlich nicht nur den
treuen Fans sondern eigentlich auch jüngeren Musikern ans Herz
gelegt werden sollte: It‘s only Rock n Roll - but really good.
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© wasser-prawda
Mia Moth & Melanie Dekker im Roxy (Ulm)
Weit über 500 begeisterte Besucher erlebten im Roxy,
Ulm, einen vollauf gelungenen Abend mit hochkarätiger, abwechslungsreicher Unterhaltung. (Und eine
nicht geringe Zahl von Interessierten mussten leider
wieder weggeschickt werden - Ausverkauft!) Dieses
Programm-Format hat sich ja mittlerweile in einer Reihe von Klubs erfolgreich durchgesetzt, hier im ROXY
Ulm ist es immer ein ganz hervorragendes Erlebnis.
Diesmal waren neben viel Comedy und Singer/Songwriter-Musik die beiden kanadischen Topp-Acts Mia
Moth und Melanie Dekker die Topstars des Abends mal ganz abgesehen von dem erstklassigen Publikum!
Von Lüder Kriete
Wenn der Punk poppt - Mia Moth live
on stage
Im Zuge ihrer bisher sehr erfolgreich verlaufenen ersten Deutschland
Tour machten Mia Moth Station im ehrwürdigen ROXY in Ulm.
Eine tolle Location die auch bis auf den letzten Platz mit enthusia-
© wasser-prawda
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Todd Thibaud
„Waterfall“ Tour
2013
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25.04.13
D-Eppstein,
Wunderbar Weite Welt
26.04.13 D-Finnentrop,
private Show
27.04.13 D-Wesel, JZ Karo
28.04.13 D-Frelsdorf, Bostelmann Saal
29.04.13 D-Norderstedt,
Music Star
30.04.13
D-Neuenkirchen-Vörden,
Kulturbahnhof
02.05.13 D-Parchim, Irish
Pub
03.05.13 D-Singwitz, Kesselhaus Lager
04.05.13 D-Weimar, Venue tba
05.05.13 D-Berlin, private
Show
07.05.13
D-Offenburg,
Spitalkeller
08.05.13
D-Heilbonn,
Red River
09.05.13 D-Stuttgart, Laboratorium
10.05.13
D-Langenau,
Music Stage
11.05.13
A-Thalgau,
Hundsmarktmühle
(neues Album „Waterfall“ (VÖ
19.04.13 Blue Rose Records))
www.toddthibaud.com
16
stischem Publikum gefüllt war. War den meisten dieses Trio mit
Kara Fraser - Gesang; Allen Rodger - Bass und Electronics und
BJ Genten - Drums, noch unbekannt, so hat sich dass nachhaltig
durch diesen Gig geändert. Frischer PunkPopFunkRock kam da
von der Bühne und verzauberte das Publikum. Kara mit ihrem
dynamischen Auftritt, ihrem betörendem Gesang, Allan mit seinem unglaublich druckvollem Bass und BJ Genten mit einem astreinen, präzisen Drums fuhren das Publikum vom Fleck weg zu
einer rasanten Spritztour durch den Rock. Das Publikum nahm
diesen Erstkontakt mit den Kanadiern dankbar an und hätte
wohl auch mitgetanzt, wenn der Platz dafür vorhanden gewesen
wäre. So drückte es seine Sympathie für die Band in kraftvollem
Applaus aus. - Wäre schön, wenn diese Band bei ihrer nächsten
Deutschland Tour einen ganzen Abend im ROXY Station machen könnte.
Sunshine from Vancouver - Melanie Dekker begeistert die Fans
Melanie Dekker ist beileibe keine Unbekannte mehr im Ulmer
Land. So sprang der Funke auch sofort über, als sie mit ihrem
Trio nach der Pause kraftvoll in die Saiten griff. Melanie spielt
akustische Gitarre und singt und -Deutschland-Premiere- spielt
seit neuestem auch Banjo! Neben ihr sind diesmal ihr langjähriger
Freund David Sinclair an der E-Gitarre (auch aus Kanada) und
Sven Rowolt aus Fulda an den Keyboards. Die drei machen eine
sehr sympathische Mischung aus Singer/Songwriter und acousticRock. Melanie übernimmt mit ihrem kräftigen Akkorden dabei
mitunter den Part des Drums, was dann den beiden Herren Raum
für Soli bietet, den sie auch gerne und überzeugend nutzen. So ist
der Saal schnell bereit mitzumachen, sei es durch Klatschen oder
Singen. Das auch bei diesem Act das Auge des Betrachters sehr
positiv gereizt wurde sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Kein Wunder also, das Melanie Dekker erst nach einer Zugabe
die Bühne für den nächsten Gast freigeben durfte!
Nicht unerwähnt bleiben sollen auch die anderen Personen, die
ebenso zum guten Abend beitrugen. Da sei allen voran Matthias Matuschek von br3 erwähnt, der als Moderator pointenreich
durch den Abend führte und das Publikum schnell auf Betriebstemperatur brachte. Lukas Lurex mit einer Mischung aus Singer/
Songwriter und Comedian und das Duo Manou, das mit der ungewöhnlichen Besetzung von Gesang und Cajon + Gesang, Gitarre und Bass-Drum zeitgenössische Musik aus dem Wohnzimmer
präsentierte. Im zweiten Set gab es dann als Gegenpol zu Melanie
Dekker viel Comedy mit den beiden Solisten Christa Mayerhofer
und anschließend Thomas Schreckenberger.
© wasser-prawda
Wir wollen ein Lied von Dir Volume 2
Zwischen Blues und Rock - auch Teil zwei unserer
Sampler-Reihe bringt wieder Musik aus vielen Teilen
dieser Welt zusammen, die die Entdeckung lohnt.
Vielen Dank an die Musiker, die uns ihre Songs zum
Geburtstag geschenkt haben!
1. Den Anfang macht der kanadische Gitarrist Danny Marks
mit dem Song Blues of the Future vom aktuellen Album „A
Friend In The Blues“ (Album des Jahres 2012 bei der WasserPrawda).
2. Auch „Radiogram“ gehörte 2012 zu den beliebThe testn Alben der Leser. Gwyn Ashton hat uns Little Girl, die erste
Single daraus zur Verfügung gestellt.
© wasser-prawda
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3. The Motives feat, Matt Taylor gehören in Großbritannien zu
den Aufsteigern des letzten Jahres. „Leap of Faith“ stammt
vom ersten Album dieser Band.
4. „Wings“ ist eine sehr schöne Nummer der großartigen Bare
Bones Boogie Band - wir bleiben in Großbritannien und beim
Bluesrock.
5. Paul Garner - Blue Morning Light
6. Mit der kanadischen Songwriterin Melanie Dekker und ihrem Song „Hippie“ gibt es erstmals einen Blick außerhalb der
Blueswelt.
7. Und auch Mia Moth kann man beim besten Willen nicht
als Blues verkaufen. Dafür ist ihr Song „Bark“ vom Album
12.12.12 eine schöne poppige Rocknummer.
8. Seit 30 Jahren gibt es die Münchner Blue Note Blues Band
schon. Und „Big Easy“ ist eine der Nummern die auf dem
zweiten Album der Truppe namens „Can‘t Get Enough“ zu
finden sind.
9. Mockingbird Hill - Train A Comin‘ (vom Album „One Horse
Town)
10. Greyhound George stammt aus Bielefeld. Und seine Lieder
zählen zu denen, wo man wirklich auf den Text achten sollte, weil hier nicht die üblichen Klischees wiederholt werdden,
sondern ganz aktuelle Geschichten erzählt werden. „Virtual
Bluesman“ etwa ist einer der wenigen Blues, die ich kenne, die
von der Einsamkeit im Internet handeln.
11. Schon lange habe ich eine Schwäche für die Lame Dudes aus
Rejkjavic. „Mojo Oil“ hören wir hier in einer ganz aktuellen
Live-Fassung vom Ende 2012.
12. Für mich eine Neuentdeckung ist das deutsche Studioprojekt
Blackout Country, deren Musik man ganz grob einfach als
Rock bezeichnen kann. Besonders bei dem Duo ist, dass sie
als Texte oftmals Lyrik des 19. Jahrunderts verwenden. „Alone“ wurde beispielsweise von Edgar Allen Poe geschrieben.
13. Big Llou Johnson zählt für mich zu den Neuentdeckungen
der letzten Monate. Als Sänger zwischen Chicago-Blues, Soulblues und Funk ist er einfach umwerfend. „They Call Me Big
Llou“ stammt vom Debüt, das für einen Blues Music Award
nominiert ist.
14. Ebenfalls eher dem Soulblues zugerechnet werden kann Tweed
Funk. „Fine Vine“ The haben wir hier exklusiv im Video-Mix.
15. Noch unveröffentlicht ist „Now I“ von The Jits aus Phoenix
in Arizona. Die Rockband wird demnächst bei Cactus Rock
Records ihr neues Album veröffentlichen. Und sie passt großartig zum Motto des Labels, bisher unerhörte Musik voller
Energie ist das.
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© wasser-prawda
Zehn Fragen an: Richard
Townend
Ein Interview von Dave Watkins.
1: Was war Dein frühester Musikgeschmack und wie hast Du die
Welt des Blues entdeckt?
Mein Vater spielte klassisches Klavier, auch wenn er ein guter Musiker war, fehlte ihm aber das Quentchen Glück, um es darin weiter
zu bringen. So hatte ich seit ich ganz jung war immer irgendwelche
Musik in meinem Leben. Als ich ungefähr zehn war, kaufte man mir
eine Gitarre und ich schrammelte ein paar Akkorde mit meinem
Freund am Klavier und meinem Bruder am Schlagzeug. Ich hatte
außerdem eine Vokalgruppe mit zehn Jahren, die sich Ricky and
the Raindrops nannte mit vier Mädchen, die unser Lehrer aus dem
Kirchenchor zusammengeholt hatte.
Später kaufte mein Bruder Alben von Queen, und so begann ich
mit 15 richtig mit dem Gitarrenspiel. Damals entdeckte ich außerdem Jimmy Page und Jimi Hendrix zusätzlich zu Brian May - sicher
bemerkst Du, wie sich der Musikgeschmack veränderte durch diese
Gitarristen. Ich glaub, die waren die ersten, die mich auf die Blues© wasser-prawda
Dave Watkins, unser
Mann im Vereinigten
Königreich, stellte seine zehn Fragen diesmal an Richard Townend, der seit 2011 - ob
als Solist oder mit seiner Band The Mighty
Boss Cat großen Eindruck in der britischen
Szene gemacht hat.
Vier Alben von ihm - mit
und ohne Band - sind
allein 2011 erschienen.
Jetzt arbeitet er an einem neuen, dass in einigen Monaten auf den
Markt kommen soll. Auf
dem will er sich - obwohl kein sehr religiöser Mensch - mit den
sieben Todsünden auseinandersetzen.
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road schickten. Stevie Ray, Johnny Winter, Clapton, Rea, ... alle
diese folgten ihnen nach und verwiesen mich auf die gleiche rocky road.
2: Wer waren die Künstler, die dich dazu brachten, dass Du
diese Musik spielen wolltest. Und wann stelltest Du fest, dass
Du dazu das Talent hast?
Jeder gute Gitarrist, der einen einzigartigen Sound hat, hat einen
großen Einfluss auf mich. Leute wie Hank Marvin und Mark
Knopfler beispielsweise. Aus Zeitmangel höre ich eigentlich
nicht viel Musik, aber ich erinnere mich, dass die meisten Alben,
wenn man sie mit dem Finger abbremste, um die Solos zu lernen,
nur etwa eine Woche durchhielten!
Mit etwa 15 spielte ich bei einer Band vor, und die sagten, ich
wäre absolut mies. Sofort ging ich in einen Gitarrenladen und
kaufte „Teach yourself rock guitar“ von Pat Thrall. Ich dachte:
Wenn du es liebst, dann solltest du es auch lernen. Ich hab mich
da richtig reingesteigert und dieser Drang hat mich niemals verlassen.
Ich ging aufs Music College in Leeds, um Gitarre zu studieren
und arbeitete nach meinem Umzug nach London als SessionGitarrist. Schließlich war ich gehörig desillusioniert und tauschte
diese Arbeit gegen einen 9-5-Job ein.
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© wasser-prawda
3: Deine ersten Aufnahmen - hörst Du sie immer noch an? Wie
beurteilst Du sie heute? Und gibt es welche, die Du nicht mehr
anhören würdest?
In den 80ern machte ich einige Aufnahmen - Popsongs eigentlich
- danach hängte ich meine Gitarre an den Nagel und nahm bis zum
Januar 2011 nichts mehr auf. Seither hab ich fünf Alben gemacht,
alle mit eigener Musik. Ich würde die alten Songs eigentlich als gut
bezeichen - vom Klang her sind sie wahrscheinlich schrecklich und
sie sind keinesfalls irgendwie dem Blues verwandt. Ich würde sie
wohl niemals wieder hervorholen, mir ist eher danach, sie zu beerdigen.
4: Welche anderen Jobs hast Du gemacht, um Deine Musikkarriere zu unterstützen?
Nun ... geheimnisvoller Elchkopf-Trinker etwa, wo ich dafür bezahlt wurde, durch die Pubs zu ziehen, Bier zu bestellen und wenn
die Leute hinter der Bar den korrekten Werbe-Slogan sagten, gab
ich ihnen einen Preis ... und bekam ein Freibier. Ich hielt ungefähr
fünf Pubs durch, bis ich nicht mehr wirklich als Analytiker für die
Marktforschung durchging, weil ich halt die fünf Pints intus hatte...
Ich war Buchhalter, Gitarrist in einer Cover-Band, Eis-Verkäufer,
Regalbeschicker in einem Supermarkt, IT-Berater, Daten-Architekt,
leitender Verwaltungsangestellter, Fensterputzer, Fahrradkurier, ...
Einmal arbeitete ich von Montag bis Freitag als Aushilfe in einem
Büro, spielte Donnerstag, Freitag und Samstag in einer Coverband
und machte Jobs für die Marktforschung am Samstag und Sonntag.
Das hielt ich etwa einen Monat durch, aber ich bringe heute genau
die gleiche Energie von damals in meine Musik ein. Ich versuche
Dinge immer mit hundertporzentigem Einsatz zu machen.
5: Wie schwer ist es, von seiner Musik zu leben? Und gibt es irgend etwas, dass diese Ziel für alle Musiker einfacher erreichbar
machen würde?
Von der Musik zu leben ist hart, aber wenn Du all die Shows, die
Urlauber-Bespaßung, Kreuzfahrten, oder Unterrichtsstunden machen willst, dann hast Du die gleichen Chancen erfolgreich zu
sein wie jeder andere Selbständige. Es braucht Entschlossenheit,
Selbstvertrauen, Kompetenz und Networking. Geld zu verdienen
als Künstler, der sein eigenes Material schreibt ... Hier reden wir
wirklich über harte Arbeit. Das etwas vollkommen anderes.
Was es für Künstler etwas vereinfachen würde, wäre ein Wiederaufleben der Live-Musik-Szene. Aber wie man das machen soll, davon
hab ich keine Idee. Lokale Radiostationen helfen unwahrscheinlich,
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Der Bombenanschlag
von Omagh
Am 15. August 1998 explodierte in der nordirischen
Stadt Omagh eine Autobombe. Durch das Attentat der
Real Irish Republican Army,
einer Splittergruppe von
ehemaligen Mitgliedern der
Provisional Irish Republican
Army, starben 29 Menschen,
ungefähr 220 wurden verletzt.
Der Anschlag richtete sich gegen das Karfreitags-Abkommen von 1998, dass zwischen
Großbritannien, der Republik
Irland und den Parteien in
Nordirland geschlossen wurde
und einen Verzicht Irlands auf
die Wiedervereinigung mit
Nordirland enthält.
aber wir brauchen Orte, wo die Leute die Musik, die die Sender
spielen auch hören können.
6: Auf welchen Deiner eigenen Songs bist Du besonders stolz?
Erzählst Du uns die Geschichte hinter dem Lied?
Ich hab über 100 Songs in den letzten zwei Jahren geschrieben,
von denen ich 50 oder so aufgenommen haben. Bis zu einem gewissen Grad bin ich auf jeden von ihnen stolz. Ich schrieb ein Lied
über den Bombensnaschlag von Omagh (s. äußere Spalte. R.N.),
das einige sehr freundliche Kommentare von Menschen erhielt,
die noch immer in Omagh leben, es ist schön, so ein direktes
Feedback zu bekommen. Die meisten Songs, die ich schreibe,
handeln von Etwas oder Jemandem und sind nicht einfach formelhafte Texte nach dem Klischee „Woke up this morning“. Ich
möchte Dinge dokumentieren, und daher kommt es mir auf die
Texte ebenso an wie auf den Sound.
Das erste Lied, dass ich für The Mighty Boss Cats schrieb, war
„She‘s my best friend“ - das war über eine Gitarre, die Mark
Knopfler hat. Er hat sie all die Jahre behalten vom Underground
bis zu seinem gigantischen Ruhm. Als er gefragt wurde, warum er
sie behalten hat, sagte er, sie ist wie ein Freund, der einen niemals
hängenlässt, da dachte ich, das gehörte ganz hoch auf die Liste
von Liedern mit einer Bedeutung, die ich und alle Gitarristen
nachvollziehen können. „The House of the Blues“ ist ein anderes
Beispiel von Songs, die Ereignisse dokumentieren. Das handelt
von meinem Trip in die USA, wo ich B.B. King spielen sah. Alle
Lieder haben eine Story - hör sie dir an und achte auf die Texte.
7: Wenn Du Dich zum Schreiben hinsetzt, was kommt zuerst der Text, die Melodie oder die Idee für ein ganzes Lied?
Das hängt ganz davon ab - manche Themen zwingen mich dazu,
ein Lied zu schreiben und dann arbeite ich zuerst am Text. Ich
schaute etwa eine Sendung über das Staatsgefängnis in Indiana.
Die Worte „I got the Indiana State prison blues“, sprangen mich
förmlich an. So entstand ein neues Lied, dass hoffentlich seinen
Platz auf dem nächsten Album findet. Zu anderen Zeiten kann es
auch ein besonders schöner Akkord sein, den ich finde oder ein
Riff, dass einfach beim Rumspielen entsteht. Das ist es, was es so
unvorhersehbar macht: es könnte wirklich alles sein. Inspiration
ist keine exakte Wissenschaft.
8. Erzähl uns etwas über das Lieblingsinstrument in Deiner
Sammlung. Und gibt es irgend ein anderes Instrument, was
Du gern haben oder erlernen möchtest?
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Ich habe verschiedene Gitarren. Aber ich liebe meine Strats, weil
sie für mich eine fast ikonenhafte Form haben. Elektrische Gitarren sollten wie Strats aussehen, was sonst sieht schon seit den 50er
Jahren immer noch genau so aus? Die haben es meiner Meinung
nach einfach genau richtig hinbekommen damals. Ich besitze auch
einige Nationals, weil ich wahrscheinlich mehr akustisch als elektrisch spiele. Die Nationals klingen einfach und klingen - wirklich
ehrfurchgebietende Teile.
9. Wo möchtest Du Deine Karriere gerne hinführen sehen in der
Zukunft? Was sind da Deine hauptsächlichen Ambitionen?
Ich will einfach nur fortfahren zu schreiben, Platten aufzunehmen
und für immer größer werdende Zuschauerzahlen zu spielen. Zusammen haben wir einen wirklich guten Sound gefunden und es
wäre schöne, das mit anderen zu teilen. Ich würde außerdem gern
mehr Festivals spielen - nur für den Fall das irgendein Festival-Organisator oder Booking-Agent mitliest.
10: Was machst Du außer Musik am liebsten?
Ich lese, fahre ein wenig Rad und habe eine wundervolle Familie,
aber das ist es dann auch schon. Musik ist meine Leidenschaft, und
sie kostet mich eine Menge Energie. Daher muss ich einfach bei
anderen Ablenkungen kürzer treten.
Zusatzfragen:
Spielst Du lieber Solo oder mit den Mighty Boss Cats?
Eindeutig mit den Mighty Boss Cats. Wenn wir mit allen Zylindern
Gas geben, ergibt das eine großartige Reise. Es ist eine sehr kreative
Umgebung zum spielen und schreiben. Die Solo-Arbeit kann auf
ihre Art auch sehr erfüllend sein, besonders wenn man sich selbst
mit dem Loop-Pedal antreibt. So ist‘s einfach weniger formelhaft.
Wie auch immer - alles hat seinen Platz und ob Solo oder mit der
Band hängt meistens an Fragen der Verfügbarkeit und der Ökonomie.
Wo können die Menschen mehr über Dich erfahren?
Die können auf www.richardtownend.com oder www.themightybosscats.com schauen. All unsere CDs kann man bei Amazon, itunes
oder auf der Webseite der Band bestellen. Und außerdem gibt es
noch bei youtube einen eigenen themightybosscats-channel mit um
die 50 Videos.
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Die International Blues Challenge - Eine kurze Geschichte
Von Raimund Nitzsche
Wenn heute jedes Jahr mehr als 200 Bands und Musiker
in Memphis zur International Blues Challenge antreten,
dann ist das ein Ereignis, was zumindest in den USA immer wieder die Aufmerksamkeit der Medien auf den Blues
lenkt. Und es ist eine Veranstaltung, die Millionenbeträge
in die Kassen von Memphis spült, die für Bluesfans die Bedeutung von Mekka oder Medina hat - je nachdem welchen Platz man Chicago da einräumen mag.
Die Geschichte von Wettbewerben zwischen Musikern
ist wohl so alt wie die Musik selbst. Und auch im Blues gibt
es die nicht erst seit dem legendären Gitarrenduell zwischen Ralph Macchio und Steve Vai im Film „Crossroads“
aus dem Jahr 1986. Wenn Musiker aufeinandertreffen,
dann wollen sie wissen, wer besser ist. Ob man nun bei
einer Jamsession einander in immer neue Höhen schraubt
oder bei einer „Battle“ das Publikum entscheiden lässt,
wer besser ist. Legendär sind die Geschichten, wie etwa
große Swingorchester in den 30er Jahren einander Battles
lieferten und die Verlierer wie begossene Pudel dastanden.
Und auch von den Straßenbands in New Orleans in der
Geburtszeit des Jazz sind solche Schlachten überliefert.
Warum also nicht in einem Wettstreit feststellen, wer im
Blues die beste Show hinlegen kann?
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Es war 1985, als die Blues Foundation in Memphis erstmals beschloss, einen Wettbewerb auszuschreiben. Man
wollte die besten Solisten, Duos und Bands des Planeten
finden, die noch keinen Plattenvertrag haben.
Die Anfänge waren simpel und billig. Joe Savarin, Gründungsdirektor der Bluesfoundation, wollte eigentlich nur
einen kleinen Beitrag dazu leisten, die historische Beale
Street zu neuem musikalischen Leben zu erwecken und
gleichzeitig den lokalen Bluesmusikern wieder Auftrittsmöglichkeiten zu verschaffen.. Damals in den 70ern und
80ern war die heutige Touristenmeile eher mit einem Abrissgebiet zu vergleichen. Aber dennoch kamen Touristen.
Und die sollten in der Straße wirklich guten Blues zu hören
bekommen. Also nahm er Kontakt zu den 60 oder 70 BluesGesellschaften in aller Welt auf, die er finden konnte. Auch
wenn keine wirklichen Preise ausgesetzt werden konnten,
waren die Reaktionen äußerst positiv.
Der erste Wettbewerb wurde im Handy-Park und im New
Daisy Theater an der Beale Street abgehalten. Und schon,
dass die von außerhalb der Stadt angereisten Musiker im
Handy-Park mit den dort ansässigen Bluesmusikern der
Stadt musizieren konnten, war Ansporn genug.
Schnell stiegen die Teilnehmerzahlen - und die Stadt
Memphis bekam so mitten im Winter ein absolutes kulturelles Highlight, dass Millionenbeträge in die lokale
Wirtschaft spült. Und außerdem wird der Blues nicht nur
in Memphis sondern auch dort, wo die regionalen Vorausscheide abgehalten werden, wieder ganz anders wahrgenommen. Gerade die Teilnehmerinnen von außerhalb der
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Fotos:
S. 20: Die Beale Street 1974:
Bis auf ein Geschäft waren
sämtliche Läden verschwunden.
S. 21: Heute ist die Beale
Street eine Touristenattraktion nicht nur für Bluesfans.
S. 24: Statue von W.C. Handy im nach dem „Vater“ des
Blues benannten Park an der
Beale Street.
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Vereinigten Staaten haben in den letzten Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt. Dass mit Georg Schröter und Marc
Breitfelder vor drei Jahren erstmals Sieger aus Deutschland kamen, hat die Skeptiker hierzulande ganz schön
überrascht. Und auch der zweite Platz für Michael van
Merwyk & Bluesoul 2013 sorgte wiederum für Aufmerksamkeit.
Heute bekommen die Sieger nicht nur Geldpreise sondern vor allem auch Auftritte bei den großen Festivals
in den USA oder auch bei den legendären Blues-Cruises
im Pazifik oder der Karibik. Das kann für die Künstler
schnell kostenlose Werbung bedeuten, die keine Plattenfirma bezahlen könnte. Und daher ist aus dem anfänglichen Amateur-Wettbewerb inzwischen ein hochprofessionelles Ereignis geworden: Jemand, der nicht wirklich
spielen kann, braucht eigentlich gar nicht erst anzutreten.
Doch auch heute läuft der Wettbewerb vor allem über
das Engagement von Freiwilligen, wäre er als rein kommerzielle Veranstaltung nicht zu stemmen. Wenn hierzulande kritisiert wird, dass für die German Blues Challenge keine Gagen gezahlt werden: Die bekommt man
auch in Memphis nicht. Für Anreise, Unterkunft und
Verpflegung müssen sich die Musiker Sponsoren suchen.
Was zählt, ist die Teilnahme, die Chance mit einigen der
besten Musiker der Welt sich zu messen in einem musikalischen Wettstreit. Und vor allen Dingen, Kontakte zu
knüpfen nicht nur zu Kollegen, sondern auch zu Veranstaltern, Labels und Medien. Denn die IBC ist mittlerweile weltweit einer der Termine, wo man sich treffen kann.
In Memphis, dem Home of the Blues, in der Beale Street
und ihren zahllosen Clubs und Lokalitäten.
29. International
Blues Challenge
Die Gewinner
Kategorie Solo/Duo:
1. Platz: Little G Weevil (Atlanta)
2. Platz: Suitcase Brothers (Spanien)
Kategorie Band:
1. Platz: Selwyn Birchwood Band (Suncoast)
2. Platz: Michael van Merwyk & Bluesoul
3. Platz: Dan Treanor’s Afrosippi Band with Erica Brown
(Colorado)
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Eine Erfahrung für‘s Leben
Von Maria Woodford
Der Blues ist für mich eine Art zu leben. Der Geist des Blues
hat mich auf eine Weise gerettet, die ich nicht beschreiben kann.
Der Bewahrung dieser historisch so reichen Tradition ist mir sehr
wichtig. Wenn ich wie in Memphis so viele Menschen sehe, die
ihre Zeit ebenso wie ihr Herz daran hängen, das Überleben und
das Gedeihen des Blues zu fördern, dann hat das etwas Wunderschöne. Ich glaube, ich hab bei der IBC einige wundervolle Freunde für‘s Leben gefunden. Und ich kann es kaum erwarten, das
nochmal zu machen.
Denn: Die International Blues Challenge war einfach unglaublich. Auf dem persönlichen Level war es wundervoll, beim ersten
Versuch das Halbfinale zu erreichen. Aber mehr als alles andere
haben mich die schiere Unermesslichkeit der Veranstaltung und
die perfekte Organisation umgehauen.
Der Wettbewerb selbst läuft wie ein Uhrwerk. Jede einzelne Nacht
treten die Bands reibungslos und pünktlihc auf. Die Leute, die
für Sound und Bühne zuständig sind waren unglaublich hilfreich
und effizient. In jedem Laden, wo wir gespielt haben, überraschten mich die Freiwilligen mit ihrer Professionalität. Wir spielten
gut - und weil alle so prima zusammen arbeiteten, hatten wir eine
Menge Spaß dabei. Nach Jahren im Blues Teil dieses Wettbewerbs
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Maria Woodford
zu sein, hat mir regelrecht die Augen geöffnet. Ich glaub, durch
diese Erfahrung bin ich als Performerin deutlich gewachsen. Meine
Band war unglaublich und nachdem ich mit ihnen durch diesen
Spießrutenlauf gegangen bin, liebe ich sie noch viel mehr.
Drei unerwartete Schwerpunkte der IBC wurden zu meinen Favoriten (abgesehen natürlich davon, dass wir ins Halbfinale kamen
und in die zweite Runde für die beste selbstproduzierte CD): Der
„All Woman‘s Jam“, die Jugend-Workshops und die Jamsessions
spät in der Nacht.
Zuerst: Der von Schauspielerin und Sängerin Michelle Seidman
organisierte „All Woman‘s Jam“ war erstaunlich. Ich wollte dabei
auftreten, aber mein Auftrittsplan ließ das nicht zu. Aber immerhin
habe ich es zwischen all den Verpflichtungen geschaff t, wenigstens
einen Teil von der Veranstaltung zu erleben. Ich hatte von Kopf bis
Fuß Gänsehaut! Die Reaktionen von Frauen auf und vor der Bühne war einfach überwältigend. Die Zuschauerzahl war riesig - und
ebenso die Liste der jammenden Musikerinnen. Dafür, dass sie das
organisiert hat, gebührt Michelle der ganze Ruhm.
Bei weitem meine liebsten Erfahrungen in Memphis waren die
Jugend-Workshops. Schon seit vielen Jahren habe ich bei BluesWorkshops Kinder im Augusta Heritage Center in Elkins, West
Virginia, unterrichtet. Und in diesem Jahr unterrichte ich auch im
Nordwesten am Pazifik. Das letzte, was ich (als erstmaliger Teilnehmer) bei der IBC erwartet hätte, war die Möglichkeit, das zu
tun, was ich am meisten liebe: zu unterrichten. Es war die zweite
Nacht der Viertelfinals, als ich nach der Show von meinen guten
Freunden Jonn DelToro und Rich DelGrosso Besuch bekam. Eigentlich kamen sie, um mich zu unterstützen, aber mir auch von
einer Gelegenheit zu berichten: Jedes Jahr veranstaltet die IBC neben dem Wettbewerb für Erwachsene auch einen Jugendwettbewerb. Und die IBC bietet tagsüber auch „Blues Camp“ genannte
Workshops für die Kids an. Der Lehrer, der eigentlich eingeplant
war, konnte wegen eines familiären Notfalls nicht kommen. John
(ein Gewinner des Albert King Award und langjähriger Kämpfer
für die Erhaltung des Blues) wurde gebeten, einen Ersatz zu finden
und schlug mich gemeinsam mit Cassie Taylor (Tochter von Otis
Taylor, Vorstandsmitglied der Blues Foundation, eine preisgekrönte unglaubliche Musikerin und Sängerin) vor. Joe Whitmer, der
stellvertretende Leiter kam darum auch in dieser Nacht, um mich
zu sehen. Ich wurde dann gebeten einzuspringen und mit den jun-
© wasser-prawda
ha e 2012 mit „Bad Dog
Blues“ ihr erstes Bluesalbum veröffentlicht.
Die Sängerin, Gitarrisn und Musikpädagogin
(die unter anderem auch
ein Buch über Musikerziehung im Grundschulalter veröffentlicht hat)
präsen ert sich darauf in
der Tradi on von Sängerinnen wie Nina Simone
oder auch von den Frauenbluesband Saffire - The
Uppity Blues Women.
Zur Interna onal Blues
Challenge wurde sie vom
Leigh Valley Blues Network delegiert und erreichte in Memphis mit
ihrer Band das Halbfinale.
29
gen Bands Workshops zu ihrem Auftreten zu halten. Bei meiner
allerersten Reise zur IBC gefragt zu werden, neben solch unglaublichen Künstlern zu unterrichten, war eine riesige Ehre. Der beste
Weg, um zu beschreiben, wie großartig diese Erfahrung war, ist,
eine Reaktion zu schilderen, die ein Elternteil an uns weitergab:
„Wow, die Jugendworkshops waren außerordentlich! Wir arbeitenen mit Cassie Taylor und Maria Woodford in zwei Sessions - es
war einfach: Spot on - und du konntest direkt vor deinen Augen
sehen, wie sich die Fähigkeiten der Schüler beim Auftritt verbesserten.“ Die Studenten waren unglaublich talentiert und offen für
Hinweise. Und Cassie ist ein unglaubliches Energiebündel mit jeder Menge Feuer - das machte einfach Spaß, mit ihr zu arbeiten.
Zum Schluss: Die von Jonn DelToro jede Nacht im The New
Daisy geleiteten Late Night Jams waren der Hammer - und ein
Teil der besten Musik, die ich in der ganzen Zeit gehört habe, hab
ich dort gehört. Ich konnte meine Sachen zusammen mit einigen
unglaublichen Musikern spielen. Und alles, was ich auf der Bühne
sah, war absolute Weltklasse. Jonn legte sich voll ins Zeug, um
jede Nacht eine gigantische Show mit Preisträgern der IBC und
kommenden Stars auf die Beine zu stellen. Wobei man natürlich
auch den Fakt erwähnen sollte, dass Jonn DelToro selbst ein fantastischer Gitarrist und eine echte Macht auf der Bühne ist. Mit
ihm auf der Bühne zu stehen, brachte die Diva in mir heraus!
Die International Blues Challenges sind eine Erfahrung, die jeder Bluesmusiker und -fan mindestens einmal - oder besser noch
mehrfach - im Leben machen sollte. Dank an die Blues Foundation, dass sie den Blues am Leben erhält. Dank an die zahllosen
Freiwilligen, die die IBC Realität werden lassen. Dank an Euch
alle, für Eure Unterstützung der Blues Community. Ohne Euch
hätten wir niemanden, mit dem wir dieses Geschenk teilen könnten! Bleibt dabei, den Blues zu lieben - wir lieben Euch auch!
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© wasser-prawda
Wiedergehört: Saffire - The
Uppity Blues Women
Von Raimund Nitzsche
In den 90er Jahren sahen sie Saffire - The Uppity Blues Women eigentlich eher als Blueshistoriker. Doch seit sie überall
auf der Welt auf Festivals auftraten und bei Alligator einen
Plattenvertrag unterschrieben, wurde daraus eines der bemerkenswertesten Kapitel von Frauen im Blues überhaupt:
Drei Musikerinnen - alle herausragende Instrumentalistinnen und Sängerinnen - brachten mit ihren Liedern eine
Note in den Blues, wie er seit den 20er Jahren viel zu selten zu hören war: Frauen, die voller Humor und Selbstbewusstsein Lieder schreiben ohne eingefahrene Klischees.
Keine „Girls“, nein: starke Frauen, die Freudenlieder über
Scheidungen schreiben oder ihr Alter ironisch zum Thema
erheben. Acht Alben nahmen Saffire auf - Platten, die man
nicht nur nach dem kürzlichen Tod von Pianistin Ann
Rabson mal wieder aus dem Schrank holen sollte.
1990: Saffire - The Uppity Blues Women
Als Thema hatten sich Saffire die alte Nummer von Ida Cox „Wild
Women Don‘t Get The Blues“ gewählt, die nicht umsonst am
Schluss ihres 1990 erschienenen Debüts steht: Wilde, starke Frauen lassen sich nicht einsperren, schon gar nicht vom Blues. Sie singen eher drüber - oder lachen. „Middle Aged Blues Boogie“: Nein,
nicht die jungen und vom Leben unberührten Mädchen sind die
richtigen Interpretinnen des Blues. Es braucht die Erfahrungen und den wachen Blick auf die Welt, wo selbst Yuppies nicht davor
gefeit sind, Niederlagen einstecken zu müssen.
1991: Hot Flash
Manche Kritiker bezeichnen das 1991 erschienene zweite Album
der Band als eines der für sie typischsten: Klassische Bluessounds
zu Songs, die deftig, humorvoll und äußerst unterhaltsam. Ann
Rabson, Gaye Adegbalola und Earlene Lewis knüpfen damit an
die Themen an, die auch schon die klassischen Bluessängerinnen
hatten - und so sind Geschichten wie „Shopping For Love“, „Elevator Man“ oder auch das umwerfend witzige „(No Need) Pissin‘
On A Skunk“ denn auch Songs, wie sie Anfang der 90er eigentlich völlig aus der Zeit gefallen klangen. Aber das ist der Vorteil:
Noch heute ist „Hot Flash“ ein Album, das keinerlei Staub angesetzt hat.
1992: Broad Cas ng
Als Ersatz für Bassistin Earlene Lewis ist bei Broad Casting erstmals Andra Faye in der Band. Mit ihrer Mandoline bringt sie
neue Klangfarben in den Sound ein - und für dieses Album wurden auch diverse andere Musiker wie Gitarrist Steve Freund verpflichtet. Neben Neuinterpretationen von Louis Jordan („Is You
Is Or Is You Ain‘t My Baby“), Brownie McGhee („Evil Hearted
Me“) und anderen sind es wieder vor allem die Songs von Rabson
und Adegbalola, die herausragen aus dem Blueseinerlei der 90er:
Klar dürfen Männer weinen - und statt „Dust My Broom“ ist es
© wasser-prawda
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für eine Frau manchmal an der Zeit, to „Shake The Dew Of The
Lily“ als Zeichen für einen nötigen Aufbruch.
1994: Old New Borrowed & Blue
Eine Menge alte und geborgte Songs sind hier zu hören, von Phil
Wiggins‘ „Fools Night Out“ über das von Sippie Wallace bekannte
„You Got To Know How“ bis hin zu Jelly Roll Mortons „Sweet
Substitute“. Und im Trio entsteht daraus der schon von den Vorgängeralben bekannte Sound zwischen Nostalgie und Gegenwart.
Doch wieder sind es die eigenen Songs wie „Bitch With A Bad Attitude“, die das Album für mich zu einem bemerkenswerten machen.
1998: Live & Uppity
Irgendwann war mal ein Live-Album fällig. Und das an drei Abenden mitgeschnittene „Live & Uppity“ ist absolut großartig gelungen:
Drei Frauen in Top-Form, ein begeistertes Publikum - und dazu die
Songs wie „Cold Pizza and Warm Beer“, „Bitch With A Bad Attitude“ oder „Middle Aged Blues Boogie“, „Silver Beaver“ ... Cover
stammen unter anderem von Dorothy LaBostrie („You Can Have
My Husband“), Rick Estrin („Dump That Chump“) und Willie
Nelson („Crazy“).
2001: Ain‘t Gonna Hush
Lange waren sie nicht mehr im Studio gewesen, wenn man vom
Tempo ihrer bisherigen Veröffentlichungen absah. Doch das hat
„Ain‘t Gonna Hush“ gut getan - gab es doch irgendwann dann
doch gewisse „Abnutzungserscheinungen“. Hier aber sind die drei
Frauen wieder in Hochform: Immer deutlicher wird, dass die von
manchen eher als „Comedy“ angesehene Musik weniger wichtig
ist und Platz gemacht hat für tiefernste und persönliche Lieder wie
„Unlove You“ oder „Blues for Sharon Bottoms“. Aber natürlich ist
auch „Ain‘t Gonna Hush“ nicht wieder ohne Songs, die die Welt auf
die Schippe nehmen wie Sidney Baileys „Footprints on the Ceiling“
oder „Prop Me Up Beside The Jukebox“.
2009: Havin‘ The Last Word
25 Jahre ständig auf Tour - mit einer letzten Tournee und dem Album „Havin The Last Word“ verabschiedeten sich Saffire 2009 als
Band. Und das letzte Lied „The Bad Times“, von Rabson gemeinsam mit EG Kight geschrieben klingt als Epilog wesentlich trauriger, als man es erwartet hätte. Aber das hat auch damit zu tun, dass
die Jahre eben Spuren hinterlassen haben bei den Musikerinnen.
Und - ähnlich wie beim Weißen Album der Beatles - man hat hier
eher den Eindruck, schon drei Solistinnen zuzuhören, die künftig
ihre eigene Musik stärker präsentieren wollen. Ann Rabson hatte zu
dem Zeitpunkt schon erfolgreich ihr Album „Music Makin Mama“
veröffentlicht. Und hier hat sie Nummern, wie „Haste Makes Waste“ oder das melancholische „Locked Up“. Gaye Adegbalola macht
sich in Liedern wie „Bald Headed Blues“ über die Folgen ihrer überwundenen Krebserkrankung lustig. Und Andra Faye hat als ihre
„Glanznummern“ „Blue Lullabye“ und ihre Version von Deanna
Bogarts „I‘m Growing Older“. Insgesamt ein melancholischer und
rundum überzeugender Schlussakkord, kein Abgesang.
PS.: Cleaning House (1996) und „The Middle Aged Blues“
(1997) fehlen bislang in meinem Musikarchiv. R.N.
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© wasser-prawda
Jos Slabbert, African
Cajun.
Oder: Country-Bluesrock vom Ende der Welt
Das Alter muss nicht immer einhergehen mit Milde oder Weisheit. Manchmal muss man einfach auch mal auf den Punkt kommen: Du junges Ding bist einfach nur „a pain in the ass“. Und
glaub bloß nicht, dass ich mit 64 Jahren zum alten Eisen gehöre!
Wenn Du Dir gar einbildest, ich würde Deinetwegen meine Frau
verlassen - vergiss es! Sie ist die Liebe meines Lebens. Du bist einfach nur ein One Night Stand. - Kein nettes Liedchen, mit dem
das Album „Old-fashioned Love“ da beginnt.
Aber in seiner Rotzigkeit und Direktheit bleibt es schnell an einem kleben, dieses „I Can Rock n Roll“. Klassischer Bluesrock
mit ner feinen Slide, ab und zu auch mit Parts auf der Resonator
gespielt, und einem eher grantelnden als singenden Geschichtenerzähler. Die Band heißt Blues Rock & Country Inc. Und hier
geht die Geschichte los.
Der Ort: Die Skelettküste Namibias. Auf der einen Seite eine der
gefährlichsten Gegenden des Atlantik mit zahllosen Schiffswracks
und riesigen Robbenkolonien an den Stränden. und auf der anderen Seite die älteste Wüste der Welt, die Namib. Eine Landschaft,
die einen schon auf Fotografien überwältigen kann. Wer hier lebt,
lebt in ziemlicher Einsamkeit. Selbst die Post liefert nicht bis an
die Haustür, sondern nur in ein Postfach in der Provinzhauptstadt
Swakopmund. Hier wohnt Jos Slabbert mit seiner Frau, der Familie, etlichen Tieren und seiner Sammlung von verschiedenen Gitarren. Er ist Fan von Blues, Bluesrock und Country. Doch in weitem Umkreis gibt es niemandem, der seine Vorlieben teilt. Und so
gründete er Blues Rock & Country Inc. als One-Man-Band oder
besser: als Studio-Projekt. Im Herbst 2012 stellte er „Old Fashioned Love“ als erstes Album auf seiner Homepage online.
Man merkt dem Album die Vorlieben für klassische Blues, Bluesrock und auch Country-Klänge an: Auch wenn seine Familie seit
1688 in der Gegend der Skelettküste lebt, ist Slabbert von afrikanischer Musik unbeeinflusst. Eher hört man hier den Bluesrock
aus Texas heraus, die heftigeren Country-Rocker in irgendwelchen
Truckerkneipen zwischen Texas und Tennessee. Und manchmal
auch noch die Melancholie der irischen oder französischen Ahnen.
Er bezeichnet sich eher als afrikanischen Cajun, als jemanden, der
hier am Ende der Welt einen einfachen Lebensstil pflegt, der so
gar nicht zur Hektik eines Europäiers im 21. Jahrhunderts passt:
Wenn es grad vom Wetter her passt, dann macht man für paar
Tage eben eine Reise in die Wüste. Und wenn man dort erleben
kann, wie nach einem Regen plötzlich überall Leben hervorsprießt, dann ist das wirklich ein Ereignis, wofür man losziehen
sollte.
Das Fehlen musikalischer Mitstreiter ist freilich etwas, was „Oldfashioned Love“ immer wieder schmerzlich anzuhören ist: Die
Rhythmusmaschine, die für die Schlagzeugbegleitung sorgt,
klingt oftmals wie von einer Bontempi-Heimorgel und zerrt die
eigentlich guten Songs in eine belanglose Schlager-Humpta-Seligkeit, die fast wehtut. Eine eigentlich wundervolle Ballade wie
„Josephine“ mit ihrem schönen Akkordeon geht dadurch ziemlich
© wasser-prawda
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Blues Rock Country Inc
im Internet:
http://bluesrockcountryinc.
com/
Fotos:
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Gitarren mit „Bandmitglied“ Glenda
Wasser in der Wüste Namib
Die „Skeleton Coast“
Sonnenaufgang
Nach einer Strandparty
am Tiger Reef
kaputt. Anderswo funktioniert es besser - etwa in dem melancholischen Rocker „The Days We Believed In Heaven“, wo Slabbert über
den Verlust des einfachen Kinderglaubens klagt, über die Zeiten,
wo man einfach drauf vertraute, dass alles irgendwie besser werden
würde durch Glauben und Gebet. Hier würde sich der Kritiker
wünschen, dass der Künstler doch noch Musiker finden könnte,
um seinen Blues am äußersten Ende Afrikas mit einer kompletten
Band zu spielen. Denn es geht halt nichts über eine auf den Punkt
spielende Band.
Inzwischen hat Slabbert noch eine weitere One-Man-Band gegründet, mit der er Rockmusik irgendwo zwischen Hardrock, Metal
und Gothic spielt. Manchmal, so meint er, wolle er einfach mit
seiner Les Paul richtig Krach machen und losrocken. Wobei seine
Texte aber da auch mal ins Politische gehen und sich glücklicherweise nicht an den Metalklischees abarbeiten. Eher nutzt er textliche Anregungen von Dichtern wie Yeats oder Milton, als über
endlose Kriege der „Kings of Metal“ zu singen. Auch „Eorongo
Conspiracy“ hat mit „Phoenix Warrior“ inzwischen ein Album online - und er legt sofort mit dem nächsten Projekt nach. Und das
kann für den Bluesfan dann noch interessanter werden. Denn „Joburg Blues“ (auch wenn es unter Eorongo Conspiracy firmiert) ist
dann eher wieder ein Album für Bluesrock-Fans, bei dem er dann
auch Lieder in Afrikaans schreibt. Dass so die gerade in Südafrika
als Spracher der Kolinialisten und des untergegangenen Apartheidstaates verhasste Sprache für Blues Verwendung findet, ist schon
ziemlich bemerkenswert.
Raimund Nitzsche. Fotos: Jos Slabbert.
© wasser-prawda
© wasser-prawda
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Nina Van Horn - Seven Deadly
Sins
Sieben Todsünden reichen im 21. Jahrhundert nicht
mehr aus, um den Zustand der Welt zu beschreiben.
Das meint jedenfalls die französische Sängerin und
Songwriterin Nina Van Horn. Und so erweitert sie den
Kanon von Hochmut, Habier, Wollust, Zorn, Völlerei,
Neid, Stolz und Trägheit noch um Krieg, Elend, Eifersucht und Gleichgül gkeit. Musikalisch zwischen Blues
und Rock ist das Album ein teils zorniger, teils zynischer
aber auch humorvoller Blick auf unsere Gesellscha
heute. Von Raimund Nitzsche
Mit „Sieben“ hat David Fincher vor knapp 20 Jahren unseren Blick
auf die Todsünden entschieden verändert. Ok, er hat vielen Zeitgenossen endlich einmal wieder vor Augen geführt, was unter diesem
Lasterkanon seit Jahrhunderten eigentlich zusammengefasst wird
an Haltungen, die unser Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft vergiften. Doch die Bilder des Films, die raffinierte Story
seines Thrillers rufen jetzt sofort Assoziationen zu durchgeknallten
Serienkillern in uns hervor. Und wir sind ja zum Glück nicht Typen,
die geldgierige Anwälte foltern und zwingen, sich Körperteile abzutrennen. Dass die „Todsünden“ von den verschiedensten Künstlern
durch die Jahrhunderte hin immer wieder genutzt wurden, um den
Zustand unserer Welt zu beschreiben, dass vergessen viele zu gern
auch bei diesem Film.
Ganz anders jetzt bei Nina Van Horn: In dem Gebet „Prayer for the
Ones“ listet sie beinahe endlos auf, wer ihrer Meinung derzeit nicht
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© wasser-prawda
zu gut mit Gott steht. In „A Hand Shake, A Pencil And A Smile“
klagt sie über Politiker, denen ihre Gier über die Menschlichkeit
geht. Mit Handschlag und nem Lächeln werden Entscheidungen
getroffen, die eher dem Bankguthaben wichtig sind als die anderen
Menschen. „In Enough Is Enough“ fordert sie die Politiker auf, endlich mal von ihrem hohen Ross herabzusteigen und sich den Menschen wirklich zuzuwenden. In „Streets of Bangalore“ erzählt sie ein
Erlebnis, dass sie 2010 bei ihrer Indien-Tour hatte: Ein Kind sitzt da
im Freien und isst etwas, was ihre Mutter gerade aus dem Müll einer
Villa geholt hatte. Und wenn man die Nachrichten verfolgt, dann
ist die Schlussfolgerung, auch der Krieg gehöre zu den Todsünden
der Menschheit heute, nicht wirklich von der Hand zu weisen.
„Let‘s Kill The War“ ist noch einer dieser explizit politischen Songs
des Albums. Doch die Sünden gehen immer auch ins private und
persönliche Leben hinein. Da ist der Lüstling, der immer auf der
Pirsch nach der nächsten Frau ist, die er ins Bett bekommen will.
Eine Frau setzt ihr ganzes Bestreben daran, einen Mann zu finden,
auf dessen Wohlstand sie sich gemütlich ausruhen kann. Eifersucht
und Versuchung. Oder Nina erzählt als Beispiel für die Völlerei eine Geschichte aus ihrer Jugend in Texas: 20 Beers Ago ist eine der
wirklich witzigen und selbstironischen Nummern. Aber Momente
wie dieser sind ziemlich rar - immer ist diese tiefe Betroffenheit, die
Wut über sich selbst und über die Zustände der Welt zu spüren.
Entstanden ist „Seven Deadly Sins“ in den Münchner Sky-Studios
mit Bobby Altvater als Produzent. Die Kompositionen, an den Blues
des Mississippi ebenso erinnern wie sie den Texasblues nach Johnny
Winter reflektieren, wurden von dem Gitarristen John. H. Schiessler
(Beige Fish, Vanilla Moon) geschrieben. Die Texte stammen von
Nina van Horn.
Es ist an der Zeit, dass Bluesmusiker sich so wie Nina van Horn
hier wieder stärker als Kommentatoren der politischen und gesellschaftlichen Zustände in der Welt begreifen. „Seven Deadly Sins“
ist für mich eines der ganz wichtigen Bluesalben des Jahres 2013.
Sehr empfehlenswert!
Nina van Horn - Seven
Deadly Sins
Cristal/ Rue Stendhal/Believe
VÖ.: April 2013
Vorbestellungen möglich über
www.ninavanhorn.com
© wasser-prawda
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Rezensionen A-Z
4 Jacks - Deal With It
Ein Grand mit Vieren? Wenn man sich die Besetzung der Band 4
Jacks anschaut, könnte man darauf kommen. Der texanische Gitarrist Anson Funderburgh, Sänger/Schlagzeuger Big Joe Maher,
Keyboarder Kevin McKendree und Steve Mackey am Bass liefern
auf ihrem aktuellen Album „Deal With It“ ein Glanzbeispiel dafür,
wie man heute aktuellen Blues voller Respekt vor der Geschichte
spielen sollte.
Es geht schon los mit dem Titelsong, einem Instrumental, dass
gleich mal Erinnerungen an die Instrumentalbands des Hauses
Stax hervorruft: ein swingender und funkiger Groove, Gitarre und
Orgel spielen sich die Ideen zu und Funderburghs Riffs treiben die
Temperatur in die Höhe. Damit muss man sich auch später einfach
abfinden... Es geht weiter auf diesem Level: mal swingend, mal
funky - manchmal gar politisch („I Don‘t Want To Be President“
- eine Absage an das System, in dem man selbst mit den besten
Absichten immer nur zum Scheitern verurteilt wird angesichts der
Typen, mit denen man sich zusammenraufen muss), oft natürlich
auch um Beziehungen und die ewige Klage des Bluesman über das
andere Geschlecht.
Stilistisch zwischen Texas, Memphis und Kalifornien pendelnd,
musikalisch immer genau auf den Punkt: „Deal With It“ ist genau
das Album, das ich an diesem grauen Montagmorgen brauchte,
um wirklich wach zu werden. (Eller Soul)
Nathan Nörgel
Bo leneck John - All around man
Die britische Bluespresse nannte ihn den Van Gogh des europäischen Blues. Auf jeden Fall ist Bottleneck John (Johan Elisasson)
aus dem schwedischen Lit im Bereich des traditionellen Blues ohne
Weiteres Musikern wie Eric Bibb an die Seite zu stellen. Das wird
auf seinem neuen Album „All around man“ mehr als deutlich.
Es sind vor allem die verschiedensten Resonator-Gitarren, die einem sofort ins Ohr springen: Wenn Bottleneck John Blues spielt,
dann ist er immer daran interessiert, den Sound und die Spielweisen der 20er und 30er Jahre wieder zum Leben zu erwecken.
So erklingt bei seiner Version von Robert Johnsons „Come On
In My Kitchen“ eine 1935 produzierte Dobro von Regal. Aber und das macht das ganze Album deutlich: John versucht nur den
Klang, nicht die verschiedenen Originale der Songs neu zu fassen.
Beim Gesang ebenso wie bei seinem Gitarrenspiel ist ein zurückhaltender, fast elegant zu nennender Klang zu hören. Wo Robert
Johnson beinahe lüstern fleht, dass die Angebetete doch bitte rein
kommen möge, dann ist das hier ein melancholischer, sich mit der
Situation abfindender Mann zu hören. Auch „Do You Call That A
Buddy“, was bei Dr. John rotzig und aufbrausend daherkommt, ist
hier traurig, ja desillusioniert. Und das wird durch die begleitende Harp. Fiddle, Chor und Drums noch unterstützt - bis zu dem
Punkt, wo die Band dann den Sänger doch noch zur Übermütigkeit des Originals aus New Orleans beschleunigt.
Überhaupt sind die verschiedenen Arrangements - ob da nur die
Harp von Stefan Swén erklingt oder der (ebenfalls historische)
Konzertflügel von Mattias Nordquist, ob mit Fiddle und Bass der
Sound traditioneller String Bands aufgenommen wird oder gar mit
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© wasser-prawda
Tuba, Percussion und anderen Instrumenten der frühe Jazz aus
New Orleans erklingt: Immer passt das zu den Songs ebenso wie
zu Johns Interpretation derselben.
Nur manchmal kommen bei der für SACD produzierten und
klanglich absolut hinreißenden Aufnahme auch elektrische Instrumente zum Einsatz. „Out Of The Rain“ etwa lebt gerade durch die
Klangflächen der Hammond-Orgel und ruft einem einen Bußgospel beim Spätgottesdienst am Samstagabend in Erinnerung. Und
bei dem von Tom Waits geschriebenen „Jesus Gonna Be Here“
spielt Bottleneck John auf einer in den 60er Jahren von Kawai in
Japan gebauten E-Gitarre, die sich zwischen all den historischen
Gitarren zunächst seltsam anhören mag. Doch der dreckige Klang
dieser Billiggitarre unterstreicht das Lied in seiner Rotzigkeit optimal.
„All Around Man“ ist für mich auf jeden Fall ein Highlight des
akustischen Blues im Jahre 2013. Unbedingt reinhören! (opus 3
records)
Raimund Nitzsche
David Sinclair - Strange Paradise
David Sinclair hat auf seinem aktuellen Album Strange Paradise
13 musikalische Blickwinkel auf ein befremdliches Paradies eingenommen. Überwiegend akustisch, teilweise mit Wurzeln in der
irisch/schottischen Folk-Musik, teilweise aus dem Blues, teilweise
einfach nur zeitlos schön. Wer die Gitarre, egal ob akustische oder
elektrische, technisch so brillant beherrscht wie der Kanadier mit
schottischen Wurzeln David Sinclair, der verdient Gehör zu finden.
In guten 43 Minuten umrundet David einmal das Paradies und
findet dabei authentische Blickwinkel. Alles beginnt mit einem
gefühlvollen ‚prelude‘ auf diesem Album, das in einem schlicht gehaltenen Papp-Cover daher kommt. Nicht viel Extra-Infos, gerade
mal die Besetzung und die notwendigen Credits. Da kann sich der
Hörer ganz auf das Hören einlassen. Im ‚strange paradise‘ marschiert der Protagonist mit kraftvollem Beat im Daumen über die
Saiten und durch die unterschiedlichen Abteilungen unseres vermeidlichen Paradieses. Die Gitarre hält, auch in der feinen Improvisation über dem Beat, die gemeinsame Richtung ein, damit sich
auch niemand verläuft in diesem sinnlichen Irrgarten der menschlichen Möglichkeiten. Mit ‚windriders‘ macht David Sinclair eine Verbeugung vor den Impulsen von Kanadas First Nation, wie
die heutigen Kanadier ihre seit Frühzeiten dort lebenden Indianer
bezeichnen. Ob eine Trommel zu hören ist oder der Schlag auf
den Resonanzboden der Gitarre lässt sich nicht sicher sagen, in
jedem Fall macht es dies Instrumental rund. ‚gracie‘ erzählt uns
die Geshichte von Eva, die bekannte Plätze verlasst und von den
Menschen, die dort bleiben einfach nicht verstanden wird. Da
muss dann der alte Freund Alc zu Hilfe gezogen werden - Ausgang
ungewiss. Schöne ruhige Ballade mit Mandoline im Overdub. In
‚standing stones‘ nimmt David seine schottischen Wurzeln, um ein
weiteres Instrumetal vorzustellen. Die Finger flitzen teils wie kleine
Kobolde über die Saiten, um dann wieder ganz geordnet im großen Reigen mitzutanzen. ‚gonna find that girl‘ ist ein beswingter
Song über die Suche nach der Traumfrau oder doch eher nach dem
Grund einfach weiter von Ort zu Ort zu ziehen. Ein wenig slide auf
der Dobro, ein leichtes Schlagwerk, eben einfach ein schöner Song
um in Bewegung zu bleiben. In dieser gleichzeitig ernsthaften und
fröhlichen Leichtigkeit geht David Sinclair auf die übrigen Tracks
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auf Strange Paradise an. Der Zeigefinger wird nicht erhoben, den
braucht er ja für sein virtuoses Spiel auf der Gitarre. Instrumentals und mit Text versehene Songs haben gleichberechtigt Bestand,
und auch auf die irisch/schottischen Wurzeln wird noch zurück gegriffen. Über allem aber fasziniert dieses unglaublich saubere und
technisch brillante Spiel des Meisters. Einen guten Eindruck erhält
auch jeder, der sich das Video anschaut. ‚desperate ones‘ ist der
vorletzte Titel des fast 45 Minuten langen Albums des Kanadiers.
Da erzählt er auch ein wenig von der eigenen Geschichte. Der Vollständigkeit halber wollen wir auch diejenigen Musiker erwähnen,
die mit von der Partie sind, wenn David nicht solo spielt. Da wären
Rene West am akustischen Bass und Shawn Soucy an den Drums.
Nur in ‚gonna find that girl‘ übernimmt Buff Allen diesen Part.
Fazit: Strange Paradise ist ein sehr gehaltvolles Album, das wir uneingeschränkt jedem Liebhaber von erstklassiger Gitarren-Musik
empfehlen möchten. (Telesonic Productions)
Lüder Kriete
Devon Allman - Turquoise
Nein, das ist hier kein reinrassiges Southern Rock-Album sondern eine Sammlung von entwaffnend persönlichen Liedern zwischen Rock, Soul und Blues. Aber wenn „Turqouise“ von Devon
Allman mit „When I Left Home“ loslegt, fühlt man sich sofort
in die besten Ecken des Southern Rock (die mit gehörigen Untertönen an Blues und Soul) versetzt. Das ist eine Nummer, die
einen einerseits mit ihrer entwaffnend persönlichen Geschichte,
andererseit natürlich auch mit einem mitreißenden Chorus, der
jeden Thresen einer Rockerkneipe nach Mitternacht zum Singen
bringen kann, sofort packt. Auch „Don‘t Set Me Free“ hält dieses
Level - natürlich deutlich entspannter aber ebenso gut. Später bei
„Into The Darkness“versucht sich Allman gar (leider manchmal zu
hörbar bemüht) als Soul-Crooner in der Nachfolge von Al Green.
Serviert werden dazu Saxophone, jazzige Gitarren und alles, was
man sonst noch von einer Soulnummer erwartet. Und bei „There‘s
no Time“ kommen selbst swingende Reggae-Klänge hinzu. „Stop
Draggin My Heart Around“ ist in der Playlist eine kleine Überraschung: Ein Cover von Fleetwood Mac??? Aber beim Hören stellt
sich schnell heraus, dass das ein kleines Highlight des Albums geworden ist. Denn hier singt Allman gemeinsam mit Labelkollegin
Samantha Fish ein Duett während die Gitarren immer wieder in
Solos ausbrechen und der Hintergrundchor Uhuut. Very nice!
Produziert wurde das Album von Jim Gaines. Yonrico Scott
(Schlagzeug+ Percussions), sowie Myles Weeks (Upright und Electric Bass), beide Kollegen Allmans in der Royal Southern Brotherhood, sind für den Groove zuständig. Und als Gäste schauten
neben der erwähnten Samantha Fish unter anderem noch Luther
Dickinson (Gitarre), und Saxoponist Ron Holloway vorbei. Sehr
empfehlenswertes Album - eine gute Ergänzung im Katalog von
Ruf Records.
Raimund Nitzsche
Dubl Handi - Up Like The Clouds
Während zahlreiche (Rock-)Bands sich wieder mit Folk-Wurzeln
(postmodern aus aller Herren Länder gesammelt) schmücken und
sich damit den notwendigen Hipster-Anstrich (mit oder ohne Bart)
verpassen, gehen Dubl Handi noch weiter: Mitten in Brooklyn
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© wasser-prawda
spielt das Duo (Hilary Hawke - voc, bj und Percussionist Brian
Geltner) den Folk der Appalachen für die Caféhaus-Society, dass
auch die konservativsten Folkjünger in den 50er Jahren begeistert
zugstimmt hätten. „Up Like The Clouds“ heißt das Debüt der
beiden und ist von vorn bis hinten voller Musikalität und mit
einem Humor produziert, dass dem Kritiker böse Bemerkungen
über Unzeitgemäßheit oder Irrelevanz in der Feder vertrocknen.
Und wen es interessiert: Den seltsamen Namen hat Dubl Handi
von einer Firma „übernommen“, die Anfang des 19. Jahrhunderts
Waschbretter hergestellt hat. Und dass passt natürlich wundervoll
zum Sound der beiden.
Nathan Nörgel
Eric Burdon - Til Your River Runs Dry
Es gibt Sänger und Sängerinnen, die werden im Alter komischerweise immer besser. Und es gibt welche, die haben es sich irgendwann in Regionen eingerichtet, wo sie sich wohlfühlen und keinerlei Risiken mehr eingehen. Eric Burdon, einst einer der ergreifendsten weißen Bluessänger überhaupt, ist spätestens mit seinem
aktuellen Album in der Komfortzone angekommen: Musikalisch
und vom Gesang her ein zu routiniertes und glattes Album. Viel
zu selten bekommt man noch wie früher eine Gänsehaut, wenn
er singt. Aber Burdon weiß selbst auch, dass er längst alt geworden ist. Und so ist „27 Forever“ mit den Erinnerungen an früher,
wo einen die Dämonen von Drogen und Alkohol lockten, in den
Club der 27er einzutreten so desillusioniert - und doch so ehrlich,
dass dieses Stück allein den Kauf rechtfertigen könnte.
Nathan Nörgel
Fred Kaplan - Hold My Mule
Die Band: ein paar der wichtigsten Musiker der kalifornischen
Bluesszene, die Pianist Fred Kaplan zusammengerufen hat. Das
Album: !7 Instrumentals, die live beim Zusammenspiel entstanden und nie zu Papier gebracht wurden. Der Stil: etwa aus den
40er Jahren. Damals als Blues und Jazz noch dichter benachbart
waren im Alltag. Es swingt, es jumpt - und ab und zu gibt es auch
paar Rhumba-Rhythmen. Das ist Tanzmusik für den Jazzkeller.
Nicht allein durch seine Mitwirkung in der inzwischen legendären Hollywood Fats Band gehört Keyboarder Fred Kaplan zu den
wichtigsten Musikern im Grenzbereich zwischen Jazz und Blues.
Wenn man sich seine Discographie anschaut, dann finden sich
Alben in den verschiedensten Besetzungen - ob im klassischen
Piano-Trio, ob mit Musikern wie Kim Wilson oder B.B. & The
Blues Shacks - die Liste ist schier endlos.
Sein aktuelles Album Hold My Mule entstand über einen längeren Zeitraum hinweg. Immer wenn die Band (Kaplan - p,org
Junior Watson - g, Richard Innes, drums, Kedar Roy - b, „Sax“
Gordon Beadle - ts) zusammenkam, dann wurde aufgenommen.
Blues, Shuffle, ein wenig klassisch swingenden Rhythm & Blues:
Und das alles ohne aufgeschriebene Noten und allein aus der Session heraus entstehend. Das ist etwas, was sich sonst eigentlich
kaum jemand traut - weil die Ergebnisse ja absolut unvorhersehbar sind. Aber hier hört man sofort: Da ist eine Band, wo jeder
dem anderen genau zuhört, wo - wie in einer guten Jam-Session
üblich - man sich gegenseitig die Ideen zuspielt und einer halt
doch irgendwie immer der Chef im Ring ist. Hier also Kaplan an
den Tasten. Jedenfalls so lange, bis Junior Watsons Gitarre kurz-
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zeitig mit prägnanten Licks die Führung übernimmt oder Beadles
Sax klassische Honking-Sounds einstreut.
Den Stücken hört man die große Liebe zum klassischen Blues Kaliforniens an, zu Musikern wie T-Bone Walker in den 50ern, zu
Pianisten wie Charles Brown aber auch Otis Spann. Wenn man
das „Retro“ nennt, dann liegt man nicht wirklich falsch. Aber man
hört ihnen eben die Frische an, das uneinstudierte und spontane ihrer Entstehung. Und das wiederum ist überhaupt nicht „Retro“ sondern einfach großartig. Insgesamt ist „Hold My Mule“ ein
wirklich unterhaltsames und tanzbares Album, dass ganz bewusst
außerhalb irgendwelcher Trends liegt. Und damit hat es natürlich
am Markt so seine Probleme. Aber das ist in dem Fall wirklich
das Problem der „normalen“ Blueskäufer, denen etwas entgehen
könnte...
Nathan Nörgel
French Blues Explosion - French Blues Explosion feat.
Nico Wayne Toussaint
Hier wird er rotzig und gemein - gemeinsam mit dem Mundharmonika-Ass Nico Wayne Toussaint macht das Trio French Blues
Explosion klar, dass die Sprache der Straße auch im Blues ihren
Platz hat. Musikalisch ist das Album wirklich eine Explosion in
Sachen Elektroblues des 21. Jahrhunderts.
Im Radio läuft nur Scheiße, das Fernsehprogramm ist auch nur
Müll - warum tut man sich das eigentlich immer noch an? Wenn
French Blues Explosion feat Nico Wayne Toussaint mit „S... on the
Radio“ loslegt, dann steht hinter dem Titel auf dem Cover gleich
als Klammerbemerkung: Explicit. Und das ist nicht der einzige
Song, der bildungsbürgerliche Eltern aufschrecken könnte, auch
nicht der einzige mit dieser Warnung vor derber Sprache. Aber
genau die macht einen großen Reiz des Albums aus. In Kombination mit einem immer der Tradition verhafteten aber nie auch
nur im geringsten angestaubten Bluesrock zeigt die französische
Band, dass Blues auch heute noch die Musik rebellischer und unzufriedener Jugendlicher sein kann. Und dass nicht selbsternannte
Gangster-Rapper die alleinige Nachfolge der Punk-Revolte übernommen haben (die diese seinerzeit ja von den Rock & Rollern
übernommen und weitergeführt hatten).
Doch keine Angst: Es geht auf dem Album nicht immer nur so rotzig zu. Bei Stücken wie „Hey Little Honey“ klingt der Rock & Roll
der 50er durch, das wundervolle „I Think“ ist ein gespenstischer
Voodoo-Blues im Geiste von Howlin Wolf. Und bei „El Mariachi“
kollidiert der Blues auf‘s Witzigste mit mexikanischer Musik. Und
eine Ballade wie „Once And For All“ sollte nicht nur die Fans von
Gitarristen wie T-Bone Walker sondern auch die letzten Skeptiker
überzeugen, dass French Blues Explosion eine Band sind, die ganz
genau weiß, was sie tut. Was sie tut, macht einfach eine Menge
Spaß.. Und die Harp von Nico Wayne Toussaint setzt dem Triosound immer noch das letzte Extra-Häubchen auf, so dass niemals
Langeweile auftaucht bei dem Album. (Iguane)
Nathan Nörgel
Gaetano Par pilo - Besides - Songs From The Six es
Nein, hier werden nicht die Hits der Beatles oder der Stones neu interpretiert. Der italienische Saxophonist Gaetano Partipilo hat für
sein aktuelles Album „Besides“ Songs zwischen swingendem Jazz
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und leichtfüßigem Bossa Nova ausgegraben. Gemeinsam mit zahlreichen Gästen und seinem Sextett ist eine sommerlich anmutende
Scheibe herausgekommen, die auch vor heftig aufgetragenem Pathos nicht zurück schreckt. Manche bezeichnen so etwas böse als
„Fahrstuhlmusik“. Ich würde es eher als passendes Album für ein
erstes Rendevouz in der Cafébar meiner Wahl ansehen. Es swingt,
es ist verträumt - und es macht gute Laune.
Nathan Nörgel
Grady Champion - Tough Times Don‘t Last
Zwischen klassischem Chicagoblues mit einer Harp in der Tradition des zweiten Sonny Boy Williamson, Gospel und Soulpop
- für den ehemaligen Rapper Grady Champion ist der Blues ein
weites Feld. Die Lieder auf seinem aktuellen Album „Tough Times
Don‘t Last“ sind ähnlich vielfältig: Persönliche Songs, die die üblichen Blues-Themen vom Unterwegssein und der Liebe behandeln
stehen neben politischen Songs voller Selbstbewusstsein und Gospelpredigten. Und in „Ghetto“ kehrt sogar der Rapper nochmals
zurück, wenn auch nicht in irgendwelchen aufgesetzten Attitüden,
sondern als jemand, der gerade jungen Menschen eine Botschaft
nahebringen will. Und wenn man grade den Vorwurf erheben will,
hier werde Viefältigkeit mit Beliebigkeit gleichgesetzt, dann knallt
er mit „Cookie Jar“ dann doch noch eine astreine Bluesnummer
raus, die man gerne als Hommage an Howlin‘ Wolf hören kann:
Die knarzende Stimme, die heftige Harp und all die Metaphern
über untreue Frauen, die nach dem Mann an der Hintertür ausschauen. Ja doch - Grady Champions „Tough Times Don‘t Last“
ist eben doch ein Bluesalbum. Aber eines, dass zeigt, wie man all
seine Erfahrungen und Kenntnisse, seine Biografie und das Leben
seiner „Gemeinde“ in eine Musik einbringen kann, die bunter ist,
als die Bluespolizei mancherorts gestattet. Mir gefällt‘s! Nur auf die
Weihnachtsschnulze zum Schluss kann ich verzichten. Einerseits
ist bald Karfreitag, andererseits ist dieser Song zu klischeehaft mit
Glöckchenklingeln, Christus im Ghetto und „Christmas in your
Eyes“. Ne, das ist ganz schlimm!
Raimund Nitzsche
Harry Connick Jr. - Smokey Mary
Mit seinem aktuellen Album ist Sänger/Pianist Harry Connick Jr.
wieder ganz in New Orleans, besser gesagt: beim Mardi Gras. Das
nach einem legendären Umzugswagen benannte Album ist funky,
jazzig, swingend - und voller Spaß.
Eigentlich habe ich Harry Connick Jr. erst mit dem Album „Oh
my Nola“ als Musiker wirklich ernst genommen. Klar: Großartige
Soundtracks wie „Harry & Sally“ bleiben einem im Ohr noch nach
Jahrzehnten. Und auch seine Crooner-Scheiben, wo er sich in der
Tradition irgendwo zwischen Nat King Cole und Frank Sinatra
präsentiert, werden immer mal wieder zu passender Stunde aufgelegt. Aber erst 2007 fand ich ein Album, wo er für mich ganz
direkt erlebbar wurde: Eine groovende, swingende und auch politisch engagierte Hymne an seine Heimatstadt war da entstanden
als Antwort auf den Hurrikan Katrina.
An diese Scheibe fühlte ich mich sofort erinnert, als ich jetzt „Smokey Mary“ auflegte: Da sind sie wieder, die funkigen Grooves, die
einen den schmalzigen Balladensänger vergessen lassen. Da kommen Nummern wie der Titelsong daher - und es ist völlig egal, dass
es schon nach Aschermittwoch ist: So muss Karnevalsmusik sein.
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Und es gibt Jazznummern, wo Connick Jr. von Branford Marsalis
am Saxophon, Trompeter Mark Braud (Preservation Hall), Percussionist Bill Summers und anderen angetrieben wird. Und auch
die neuen Rhythm & Blues - Nummern sind feinste Party-Musik
mit einer Garantie für gute Laune ohne Zwangsschunkeln. Höhepunkte für mich nebem dem Titelsong mit seiner heftigen Orgel
sind „The Preacher“ und das swingende „S‘pposed To Be“, dass
er gemeinsam mit Tara Alexander im Duett singt. Hier ist der
Crooner irgendwie vom Mardi Gras-Umzug rechtzeitig zum Gospelgottesdienst gekommen. Ein großer Spaß das ganze Album.
Raimund Nitzsche
Hayden Sayers - Rolling Soul
Hayden Sayers singt den Blues mit der Eindrücklichkeit eines
echten Seelsorgers. Hier ist einer, der aus seinem Leben die Kraft
schöpft, mit der Musik auch anderen Heilung zu schenken. Natürlich ist Hayden Sayers ein Bluesgitarrist, der mit seiner Strat Linien malen kann, die in ihrer Schlichtheit einfach unwahrscheinliche Schönheit ausstrahlen.
Irgendwann Anfang des Jahrhunderts kannte man den Namen
von Hayden Sayers nicht nur in der texanischen Bluesszene. Er
war gefragt nicht nur in Houston und Umgebung, war beständig
auf Tour und veröffentlichte hoch gelobte Platten. Doch dann war
er weg vom Fenster. Erst war er mit seiner Frau in den mittleren
Westen gezogen. Sie hatte die Chance, an einem renommierten
Krebsforschungsinstitut zu arbeiten. Hayden suchte sich eine neue
Band zusammen. Doch dann lösten sich einige Plattendeals plötzlich mitsamt den Firmen in Luft auf. Bandmitglieder starben unerwartet. Und dann verschwand auch noch sein Booking-Agent.
Hayden Saysers hatte genug von der Musik. Seine Strat verstaubte
in der Ecke und Sayers begann mit der Reparatur einer Fischerhütte, um einen klaren Kopf zu bekommen. Dann war dann doch
irgendwann wieder der Blues, der sich meldete, die Melodie, die
einem durch den Kopf ging.
Irgendwann rief Ruthie Foster an, und holte ihn in ihre Band.
Sie unterstützte ihn auch bei den ersten neuen Aufnahmen, die
2011 zum Album „Hard Dollar“ führten. Die Single „Back to the
Blues“ (von Sayers und Foster gemeinsam gesungen) wurde bei
den Blues Music Awards als „Song of the year“ nominiert. Plötzlich war Sayers wieder zurück, als wäre nichts gewesen.
Doch dass da was gewesen ist, dass ist in jeder Note von „Rolling
Soul“ zu hören: Das ist nicht der leichtfertig dahingespielte Partyblues für die Kneipennacht mit Freunden. Das ist Blues in medizinzischer Konzentration, der einen auffängt in fruchtlosen Grübeleien, der einem neue Gedanken fern der Hoffnungslosigkeit
schenken kann, wenn man sich auf die Musik und die Geschichten von der Straße einlässt, die Sayers erzählt in seinen Liedern.
Da ist etwa „Unhappy“, was so gar nicht unglücklich klingt:
Die Geschichte von einem Typen, der letztlich kein Glück hat,
aber sein Leben mit Klamotten von der Heilsarmee doch nicht
als Grund zur Verzweiflung sieht. Ein Rock & Roll wie „Tippin‘
In“ ist voller Energie, die Dinge anzupacken, dass er nicht nur
zum Tanzen reizt. Und wenn Sayers gemeinsam mit Ruthie Foster
„Lay Down Your Worries“ singt, dann ist das ein Lied, dass mich
ähnlich stark berührt wie damals als ich erstmals „The Weight“
von The Band oder „You‘ve Got A Friend“ in der Fassunng von James Taylor hörte: Musik, die heilen kann, die Schmerzen lindert
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© wasser-prawda
und einen nicht nur einfach ablenkt durch elegante Melodien. Das
ist Blues, wie ihn der Doktor verschreibt. Oder aber der Pfarrer.
Raimund Nitzsche
Heinz Ratz - Billy the Kid
Mit Billy the Kid hat Heinz Ratz ein ganz besonderes Konzept-Album bereit gestellt. Abenteuerlich und kurz war das Leben von Billy the Kid. Abenteuerlich, aber lang ist die Entstehungsgeschichte
dieses Albums. Wir wollen Heinz den Raum dafür geben, zu berichten, denn er weiß am besten, wie es einmal war. . .
Wir schreiben das Jahr 2000. Ich lebe in Glasgow. Aus heute leider
völlig vergessenen Gründen komme ich auf die Idee, das Leben Billythe-Kids in die Jetztzeit zu übertragen. Was wäre, wenn sich so ein
Charakter, so ein anarchistischer Pistolero-Lebensentwurf in der heutigen Bundesrepublik entwickeln würde - ich denke an den Entführungs- und Mordfall Silke Bischoff, bei dem die Verbrecher zeitweise
fast Medienhelden waren, ich denke an - den Selbstmord? - die Hinrichtung? - des früheren RAF-Terroristen Wolfgang Grams im Bahnhof in Bad Kleinen, ich lese den hervorragenden Roman von Charles
Neider „Die einzig wahre Geschichte vom Leben und grausamen Ende
des berühmten Revolverhelden Hendry Jones, genannt Billy the Kid“
- ich frage meinen schottischen Schlagzeuger Shane Connolly, ober er
mitmachen würde - er will! - ich entsinne mich eines tollen Trompeters
aus Lada Königshofen, Steffen Faul - er will auch! - und schon gehts los!
Zwei Flüge nach Berlin gebucht, ein verdreckter Hinterhofproberaum
- Benedikt Glatz an der Gitarre, Tobias Strunk am Bass - zwei Tage Zeit für die Grundidee, dann alle zusammen nach Pforzheim ins
Innerear-Tonstudio, zu Thomas Mrochen - und die CD entsteht in
nur 9 Tagen! Allerdings in 20stündigen Aufnahmesessions mit einem
weltrekordverdächtigen Kaffeeverbrauch. Dabei führe ich zum ersten
Mal so eine Art „Musikregie“ durch - das erste Lied eher „afrikanischfeierlich“, mit plötzlichem Übergang in heftige Rockparts, düster und
gewalttätig, das zweite Lied als aufmüpfiger Antierziehungs-Ska usw.
usw. - Die Texte schreibe ich, während die anderen einspielen. Es ist
ein unglaublich intensives Arbeiten, und über all die Begeisterung haben wir etwas wichtiges vergessen: fünf leere Geldbeutel geben nicht genug her, die CD auch noch zu mischen, zu mastern und ins Presswerk
zu geben. So telefoniert jeder, bittet, bettelt, droht, schwört, schmeichelt - und Tobias erinnert sich noch, daß seine Großmutter ihm echtes
Gold vererbt hat - für den Notfall. So können wir die Aufnahmen
auch mischen und mastern! Erste Probeauftritte folgen, aber dann
stellt sich leider raus, daß wir alle zu arm, zu beschäftigt, zu weit weg
von einander wohnen, um „Billy“ wirklich auf die Beine zu stellen.
Zwölf Jahre später: längst wohne ich wieder in Deutschland, längst
bin ich mit anderen Projekten unterwegs, vornehmlich mit „Strom
& Wasser“. Immer noch denke ich schwermütig ans Billy-Album, das
nie veröffentlicht wurde, dessen Lieder mir aber immer noch gefallen
- da kommt mir eine Idee - wenn ich eine ebenfalls abgebrochene und
halbfertige CD-Produktion meiner schottischen Band aus dem Jahr
2002 dazunehme, wenn ich ein paar neue Texte schreibe, ein paar
schwächere Lieder ersetze, noch meinen Freund Arne Assmann an Saxophon und Querflöte dazubitte, nochmal ins Pforzheimer Tonstudio
fahre -- dann könnte ich doch endlich dieses Album in die Welt entlassen! Voilá - nach 12 Jahren ist Billy nun endlich erschienen: aufmüpfig, rotzfrech und anarchistisch - und siehe da: es passt hervorragend
in unsere heutige Zeit voller Terroristenpanik, Überwachungsgesetze,
Medienhysterie und politische Ratlosigkeit! Klasse, daß das Schicksal
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mich gebremst hat, bis der Kapitalismus in voller Blüte steht! Heinz
Ratz
Ja, wir stimmen Heinz Ratz uneingeschränkt zu: dieses Album
passt in die Jetztzeit! Und dass nicht nur wegen der Texte und der
Geschichte. Auch die Musik passt ins Hier & Jetzt. Dass Heinz
Musik machen kann hat er über die Jahre hinlänglich gezeigt. Welche Elemente und Stile er dafür benutzt ist oben beschrieben. Er
nimmt sich über eine Stunde Zeit, um dieses Opus sich entfalten
zu lassen und den notwendigen Eindruck zu schaffen. Denn es
macht Eindruck! Egal, ob man sofort genau auf die Texte hört oder
alles erstmal nur so mitlaufen lässt und einen die Musik mitnimmt
auf eine Reise in die Randbezirke unserer zivilisierten Gesellschaft.
Und dann ist man auch mittendrin im Geschehen: am Rande
fließt kein Mainstream, da entsteht Begegnung mit allem, was da
so außerhalb umhertreibt. Und dass hat Farbe, Form, Kultur und
Würde. - Auch im Rock geht Trompete, Flöte und Saxofon, geht
erzählen neben musizieren. Auch dieser Rock hat mitunter Hosen drunter, ist manchmal gediegen lang, manchmal aufreizend
knapp. - Was diese Musik so besonders macht, ist ihr natürlicher
Impuls zur Interaktion. Und so sind wir auch sicher, dass dieser
Billy the Kid noch lange reiten wird. (Traumton Records)
Lüder Kriete
Jeff Healey - As The Years Go Passing By.
Live In Germany 1989 - 1995 - 2000
Drei bislang unveröffentlichte Live-Mitschnitte des großartigen
Bluesrock-Gitarristen Jeff Healy hat das deutsche Label inakustik
jetzt auf drei CDs und zwei DVDs in eine Box gepackt. Entstanden sind die Mitschnitte bei zwei Auftritten Healeys bei „Ohne
Filter Extra“ (1989, 2000) und bei der ebenfalls vom SWR verantworteten Sendung „Extraspät in Concert“ (1995).
Es gibt wohl kaum einen besseren Weg, einen Künstler kennenzulernen, als verschiedene Stationen seiner Karriere nachzuhören.
1989 stand der damals gerade erst 23 Jahre alt gewordene Gitarrist
mit seinem Trio erstmals vor den Kameras der Sendung „Ohne Filter Extra“. Damals begann der Siegeszug des in seiner Kindheit erblindeten Healey gerade bei europäischen Bluesrockfans. 1988 war
das Debütalbum „See The Lights“ erschienen, „Angle Eyes“ wurde
zum Singlehit. Und kein späteres Album reichte je an den Erfolg
dieser Scheibe heran. Es waren vor allem Stücke dieses Albums, die
Healey mit Schlagzeuger Tom Stephen und Bassist Joe Rockman
hier darbot: Die drei spielen hier ohne Bremse, Netz oder doppelten Boden und reizen das Format des Blues-Rock-Trios aus.
1995 gehörte dann als zweiter Gitarrist Pat Rush zur Band - Healey
kann sich hier mehr auf seine Solos und den Gesang konzentrieren. Der Sound geht mehr in Richtung Hardrock. Aber gerade die
mehrstimmig gesungenen Passagen machen riesigen Spaß. Auch
ist die Spielfreude einer umwerfenden Band zu spüren. Und „See
The Lights“ wird zum Schluss in einer mehr als 15 minütigen Version abgefeiert.
Auch 2000 war wieder ein zweiter Gitarrist auf der Bühne zu erleben. Damals stand Philipp Sayce noch ziemlich am Anfang seiner Karriere. Heute ist er mit eigenen Alben und Konzerten längst
ein bekannter Name in der Bluesrock-Gemeinde. Natürlich gibt
es auch dieses Mal wieder die großen Hits wie „Angel Eyes“ oder
„See The Light“. Auch wenn man diesen Auftritt noch genießen
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kann, bleibt doch ein Stück Wehmut zurück. Kurze Zeit später
zerbrach die Jeff Healey Band. Und mit seinen Solo-Blues-Alben
konnte er nicht wirklich derartig heftig den Nerv der Fans treffen.
Für einen kompletten Karriereüberblick über das Schaffen Healeys reicht „As The Years Go Passing By“ natürlich nicht aus. Hier
müsste man auch noch Aufnahmen seiner Jazzprojekte aufnehmen, die er seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer wieder veröffentlicht hatte. Aber so ist die ausgezeichnet ausgestattete Box
mit ihrem sehr guten Sound und einer hervorragenden Bildqualität
(dafür zahle ich gern meine GEZ-Gebühren!) ein Pflichtkauf für
jeden Fan ebenso wie für diejenigen, die einen wirklich einzigartigen Gitarristen erst jetzt entdecken. Wer auf die bewegten Bilder
verzichten kann, kann auch die „normale“ Ausgabe mit drei CDs
erwerben. (in-akustik)
Nathan Nörgel
Jessy Martens & Band - Brake Your Curse
„How Beautiful“ heist der Song mit dem das zweite Studio-Album
von Jessy Martens & Band beginnt. Und das macht klar: die Hamburger Sängerin hat den Schwerpunkt ihrer Musik vom Blues konsequent weiter in Richtung Rock verlagert.
Auch wenn der gehörigen Spaß macht und überzeugender für mich
ist als aktuelle Werke anderer Bluesrocker wie Henrik Freischlader.
Denn anstatt nur loszubratzen zeigt sie sich - noch stärker als auf
„Brand New Ride“ - als eine äußerst variable Sängerin, die in einem Moment gespielt mädchenhaft daherkommt, um dann gleich
die selbstbewusste Kratzbürste heraushängen zu lassen. Gerade der
Titelsong - auch wenn der manche vielleicht an Stücke von den
Guano Apes oder ähnliche Bands mit Sängerin erinnern mag, ist
ein sehr gelungenes Stück, dass sich im Ohr festsetzt. Und auch
„Run With Me“ mit seinem immer wieder aufbrandenden Riffgewitter ist Klasse.
Nur eines wird mir - ähnlich wie beim Debütalbum der Band immer wieder klar: Ich bin wahrscheinlich zu alt für die Powerballaden des härteren Classic Rock. Das ist - wenn ich mich nicht
live im Konzert mitreißen lassen kann - einfach nicht mehr meine
Musik. Denn da ist für mich zu viel aufgesetzte Show drin, zu viele
nach Applaus schielende Gitarrensolos, zu wenig echte, zu Herzen
gehende Emotion. Hier besteht für mich die Gefahr, dass die großartige Sängerin Jessy Martens irgendwann zu einer Neuauflage
von Doro Pesch verkommt. Das wäre außerordentlich bedauerlich,
denn ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sie sich
irgendwann wieder auf den Blues besinnt.
Das allerdings ist Meckern auf ziemlich hohem Niveau. „Break
Your Curse“ ist ein wirklich gutes Rockalbum von einer der besten
jungen Sängerinnen hierzulande und einer direckt auf den Punkt
kommenden Band. (Moonsound/New Music Distribution)
Raimund Nitzsche
Jimi Hendrix - People Hell and Angels
Alle Jahre wieder - oder in letzter Zeit so ungefähr alle fünf Jahre
wieder - taucht in den Medien die Meldung auf, es seien unveröffentlichte Aufnahmen von Jimi Hendrix entdeckt worden. Zahllos
die Versuche, aus den Hinterlassenschaften von unterschiedlichster
Qualität den geplanten Nachfolger des Klassikers „Electric Ladyland“ zu kompilieren. Grandios gescheitert ist auf jeden Fall der
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bislang letzte, den Sony unter dem Titel „People Hell and Angels“
zum 70. Geburtstag auf den Markt geworfen hat.
Wird das niemals ein Ende haben? Kaum war Hendrix tot, begann eine Veröffentlichungspolitik, die an Fragwürdigkeit lange
nicht seinesgleichens hatte. Zahllos sind die zusammengeschusterten Scheiben, die in wenigen Jahren den Markt überschwemmten.
Und erst als die Hendrix-Nachfahren die Rechte an den Aufnahmen zurück bekommen hatten, schien sich so etwas wie eine angemessene Erbepflege anzudeuten. Scheiben wie „First Rays Of
The New Rising Son“, „South Saturn Delta“ oder „Valleys of Neptune“ versuchten zumindest, aus dem Wust an belanglosen Sessiontapes Lieder auszuwählen, die über einen Grobentwurf hinausgediehen waren. Damit hätte man eigentlich die Geschichte bis
zu einer historisch-kritischen Gesamtausgabe abschließen können. Aber das ist wohl nicht profitabel genug auf Dauer. Also jetzt
schon wieder „neuer“ Hendrix: Welch eine Mogelpackung. Man
kennt die Songs fast alle schon in der einen oder anderen Fassung. Nett eigentlich fast nur „Hear My Train A Coming“ in der
Besetzung mit der Band of Gypsys. Die andere in der Besetzung
eingespielte Nummer „Bleeding Heart“ ist einfach langweilig wie
auch ein Großteil der anderen ohne Konzept zusammengereihten
Aufnahmen. Lieder wie „Izabella“ kennt man in besseren Versionen von anderen Nachlassveröffentlichungen. Der als Single veröffentlichte „Earth Blues“ ist das Ergebnis kreativer Schnittarbeit
von Eddie Kramer, der verschiedenste Aufnahmen des Liedes zu
einer Endfassung montierte. „Crash Landing“ ist völlig misslungen - Gesang und Musik sind asynchron. Und niemals hätte der
Perfektionist Hendris ein Stück mit einfach improvisierten Nonsense-Lyrics durchgehen lassen.
Nein: Das ist kein würdiges Hendris-Album. „People Hell and
Angels“ ist ein Rückfall in eine Veröffentlichungspolitik der frühen 70er Jahre, ein Versuch, aus Restmüll noch Gold zu pressen.
(Sony)
Raimund Nitzsche
Jo Harman - Dirt On My Tongue
Nur selten ist in letzter Zeit das Debüt einer britischen Künstlerin
im Blues und darüber hinaus derartig erwartet worden wie dieses.
Die ersten Rezensionen kommen so langsam herein, und ich hab
keinen Zweifel daran, dass ihre Zahl in den nächsten Wochen
noch gehörig anwachsen wird. Ich will die Gelegenheit nutzen,
meine Meinungen und Gedanken zu äußern. Ich bin kein professioneller Musik-Schreiber, ich werd hier keine Menge langer
Wörter in musiktheoretischer Terminologie äußern, nur meine
ehrlichen Gedanken als ein Fan guter Musik.
Zuerst wurde ich Anfang 2012 auf Jo aufmerksam, ich weiß nicht
mehr genau wie, aber ich bekam mit, dass sie auf dem Raven &
Blues-Podcast gespielt wurde. Und es gefiel mir, was ich da hörte.
Es endete damit, dass ich Kontakt aufnahm und bekam die CD
„Live At Hideway“ und noch mehr Material zugeschickt. Nachdem, was man mir sagte, war ich so ziemlich die erste Radiosendung, die sie gespielt hat. Jo und auch ich waren sehr froh drüber.
Noch glücklicher war ich allerdings, als Jo im Mai 2012 zu Besuch ins Studio von FromeFM kam, zusammen mit Mark Ede,
ihrem äußerst leidenschaftlichem Manager (und einem Supertypen), und einigen Devon-Scones, die ihre Mutter selbst gebacken
hatte. Wir sprachen eine ganze Stunde über ihre Musik und ihre
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Pläne für die Zukunft. Und das war bislang eine der bemerkenswertesten Erfahrungen, die ich in meiner kurzen Zeit im Lokalradio hatte.
Die Art, wie Jo so leidenschaftlich darüber sprach, was sie tun
wollte - man wusste einfach: Eines Tages würde das wahr werden.
Eines der Themen, das wir behandelten, war die Chance, in einer
TV-Reality-Show zu „singen“, aber Jo war sich völlig klar drüber,
dass sie die Dinge auf ihre Art angehen wollte. Und ich kann nur
folgern, dass „Dirt On My Tongue“ genau das Album ist, was sie
schon damals im Sinn hatte. Dass das Album jetzt mit derartiger
Aufmerksamkeit bedacht wird, muss für sie äußerst befriedigend
sein. Und ich kann mir nur vorstellen, wie froh und stolz sie jetzt
sein dürfte, so viele positive Kommentare von hunderten von Menschen zu erhalten.
Nur um das Interesse mal zu verdeutlichen: Kaum war das Album
auch nur erwähnt, erhielt sie Berge von Vorbestellungen. Und das
war Monate bevor an eine Veröffentlichung auch nur gedacht werden konnte. Und die Aufnahmen waren zu dem Zeitpunkt noch
nicht einmal gelaufen! Und selbst Radio-DJs, die normalerweise
kostenlose Exemplare zugeschickt bekommen, zahlten diesmal für
ihr Exemplar.
Und - war das gezeigte Vertrauen am Ende gerechtfertigt? Ich würde sagen: JA! Jo meinte, sie wolle ein Album produzieren, dass man
auch in zehn Jahren noch anhören könne und das auch dann noch
gut klingen solle. Eben ein gutes Album mit guten Songs. Das hat
sie auf jeden Fall erreicht. Auch auf die Gefahr hin, hier zu übertreiben, will ich sagen: Wenn Musikmagazine in ein paar Jahren
ihre Listen über die „Besten Alben“ der letzten Dekade zusammenstellen, dann sollte dieses Album aus dem Jahr 2013 als ganz wichtiger Maßstab aufgenommen werden.
Jo hat lange und intensiv über die Reihenfolge der Lieder nachgedacht und sich zum Schluss ganz auf ihr Gefühl verlassen - und
beginnt das Album mit drei Balladen. Was in vielerlei Hinsicht natürlich ein ziemlich mutiger Zug ist- Aber es funktioniert, und es
zeigt den Leuten, dass das hier ein Album ist, wo es zuallererst um
die Songs geht. Der Opener „I Shall Not Be Moved“ fängt ganz
langsam mit einfacher Pianobegleitung an, bevor er sich langsam
mit einem großartigen Chorus aufbaut und die ersten Zeichen von
Gospel-Einflüssen offenbart, die überall zu spüren sind. „Worthy
Of Love“, dass im letzten Jahr auf einer EP veröffentlicht wurde,
wurde hier verändert zu einem ganz einfachen Lied - und es ist
dennoch enorm wirkungsvoll. Und dann kommt da „(This Is My)
Amnesty“, dass ich liebe, seit ich es das erste Mal live gehört habe.
(Und ich hatte das Glück, es letztens als Erster exklusiv in Blues
Train spielen zu dürfen.) Alles an diesem Song ist einfach klassisch,
besonders hat es mir die Gitarre von Mike Davies angetan: subtil,
aber genau auf den Punkt treffend.
Dieses Album wurde als eines von Jo Harman angekündigt - aber
„and Company“ ist immer noch ein wichtiger Teil des Sounds:
Jeder Musiker in der Band weiß genau, was zum jeweiligen Zeitpunkt gebraucht wird. Es hat mir immer gefallen, sie live zu sehen
- und das Album ist definitiv die Leistung einer Gruppe.
„Heartstring“ ist das vierte Lied und kommt uns funky daher - ein
sehr zeitgemäß klingender Song, sehr catchy, und man kann sich
gut vorstellen, dass dieses Lied in jedem beliebigen Radiosender,
der einem einfällt, gespielt wird. Dann folgt „I Don‘t Live Here
Anymore“, das einen Einschlag vom Country her hat, eine ein-
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gängige Melodie und sehr zugespitzte Textzeilen. Etwas sollte man
hier anmerken: Diese Songs wurden für das Album erneut eingespielt. Aber selbst wenn Du meinst, Du kennst die meisten von
ihnen und hast sie schon mal gehört - denk nochmal drüber nach!
Ein Zeichen dafür, dass ein Song wirklich gut geschrieben ist, ist
die Tatsache, dass man ihn auf ganz verschiedene Weisen hören
kann und er immer wieder neu klingt. Das ist hier der Fall.
Und das auf keinen mehr zu als auf „Sweet Man Moses“, der hier
als Nummer sechs als Zentrum des ganzen Albums fungiert. Klar,
die Nummer hat man schon viele Male gehört, aber vielleicht ist
das hier der krönende Moment für das Lied. Ich kann mir nur die
Gefühle vorstellen, die Jo für den Song haben muss, er ist derartig
persönlich, klingt derartig gut .... einfach Gänsehaut-Zeit! Es muss
großartig sein, wenn man etwas wie dieses Lied schreiben kann
und es dann von so vielen Menschen gemocht wird.
„Underneath The River“ zählt live immer zu den Favoriten, weil
es der ganzen Band erlaubt loszurocken. Diese Version bewahrt
genau dieses Live-Feeling sehr schön. Das ist wahrscheinlich der
„bluesigste“ Song auf dem ganzen Album - und er hat außerdem eine gute Gitarre von Mike Davies. Danach entspannt es sich wieder
etwas mit ein paar großen Balladen. Die erste ist „Fragile“ mit - lustigerweise - zerbrechlich klingender Stimme und Klavier, und das
Stück hält diesen Sound bis hin zum dicken Ende. „Cold Heart“
geht ähnlich los, aber in der zweiten Strophe setzt die Band ein. Ein
wirklich cooles Stück mit dezenten Hammondklängen im Hintergrund, ziemlich nach Blues klingende Nummer - und ich mag
besonders, wie Martin Johnson hier am Schlagzeug seine Akzente
setzt.
Live war für mich immer „Better Woman“ eines meiner Lieblingsstücke. Daher war ich sehr froh, dass es auch hier seinen Platz
bekommen hat, angemessen kurz vor dem Ende platziert. Sieben
Minuten lang, das ist ein derartig soulgeladener Rocker - und hat
auch wieder dieses Live-Feeling im Studio behalten. Wenn ich ehrlich sein soll: Wenn ich die Band das Lied live spielen sehe, dann
zählt zu meinen Lieblingsteilen, wenn Steve Watts gegen Ende regelrecht wahnsinnig wird an seiner Orgel. Und genau das vermisse
ich in dieser Version, die statt dessen mit Gitarre und BackgroundGesang endet. Wie auch immer: Es ist immer noch ein großartiges
Lied, und andere Fassungen davon gibt es ja zu finden. Auf ganz
leise Art endet das Album: „What You Did For Me“ - nur Jo und
Mike, man kann sich vorstellen, wie die beiden auf der Bühne mit
einem einzigen Spotlight die Vorstellung beenden.
Es hat ja ganz schöne Debatten darüber gegeben, in welche Schublade man Jo Harman packen soll. Ist sie „Blues“? Ist sie „Soul“?
Oder was anderes? Ich glaube, dieses Album überschreitet all diese
Kategorisierungen. Können wir nicht einfach sagen: Das ist einfach großartige Musik? Dieses Album sollte in jedem Radiosender
der ganzen Welt gespielt werden und sollte idealerweise Jo‘s Namen
in jedem Haushalt bekannt machen. Aber eigentlich will ich im
gleichen Moment, dass sie „unser Geheimtipp“ bleiben soll...
Ich mag es nicht, Noten für Alben zu vergeben - Musik ist für
uns alle so perönlich. Aber ich kann dennoch mit einigiger Sicherheit sagen, dass ich - wenn ich Du wäre - auf http://joharman.com
gehen und mein Exemplar bestellen würde. Und wenn es dann
ankommt, nimm dir etwas Zeit mit einer guten Stereoanlage und
Kopfhörern, schließ die Augen und genieße! Dave Watkins
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Kevin Breit & The Upper York Mandolin Orchestra Field Recording
Zwischen Blues und klassisch anmutenden Kompositionen, Country und Songs zwischen Musical und Filmmusik: „Field Recording“, das neue Album des kanadischen Sängers und Multiinstrumentalisten Kevin Breit ist eine Fundgrube eindrücklicher Songs.
Und es ist für Freunde akustischer Musik durch die konsequente
Einbeziehung eines Mandolinenorchesters eine absolut wundervolle Scheibe.
Kevin Breit ist als Saitenvirtuose längst ein Begriff für Musiker aus
Folk, Country, Jazz und Blues. Als Songwriter mit einem wachen
Blick für Tradition und Moderne konnte man ihn zuletzt etwa mit
„Strictly Whatever“, seinem zweiten Duo-Album mit Harry Manx
kennenlernen. „Field Recording“ allerdings geht weit darüber hinaus.
Ähnlich wie die Ukelele scheint die Mandoline, dieses seit dem
17. Jahrhundert bekannte Zupfinstrument, zur Zeit eine kleine Renaissance in der Folkszene zu feiern. Mandolinenorchester - diese
an klassische Streichorchester aufgebauten Orchester mit Mandolinen, Mandolas, Mandocellos und Kontrabass - spielen allerdings
dabei keine Rolle. Aber deren Flexibilität geht ja eh darüber hinaus
- schon im Barock gab es Lautenchöre, die als klangliche Alternative zu Streichergruppen eingesetzt wurden. Und die seit dem
19. Jahrhundert weltweit entstandenen Zupforchester können im
Prinzip das ganze Repertoire klassischer Streicherliteratur spielen
und werden von Komponisten immer wieder auch durch spezielle
Kompositionen gewürdigt.
Und genau hier setzt Breit mit „Field Recording“ an: Hier ist kein
einsamer Bluesman mit seinem Saiteninstrument zu erleben, sondern ein Songwriter, der sich von großem Orchester begleiten lässt.
Die Zupfinstrumente malen in den Arrangements Klangflächen,
die zuweilen an Filmscores von Morricone erinnern, im nächsten
Moment nach einer heruntergekommenen Zirkusshow klingen
oder nach der großen Musical-Bühne am Broadway: Das ist eine
Musik, die sich einfach jeder Kategorisierung entzieht. Wenn etwas Breits Hommage an „Big Bill Broonzy“ beginnt, dann ist das
weit entfernt vom Blues des Meisters sondern ist zunächst eher mit
einem Rezitativ eines modernen Oratoriums verwandt, ehe dann
doch noch ein paar Folkklänge in die Melodie einfließen. Aber das
Orchester bleibt hier der ständige moderne Kontrast zu den tradionelleren Melodien des Liedes. Natürlich gibt es auch Songs, wie ich
sie von Breit nach meiner Vorbildung eher erwartet hätte - „Johnny
Dollar“ etwa, eine schöne Folknummer, bei das Orchester zumeist
die Riff begleitung Breits übernimmt. Aber es sind für mich vor
allem die so unerwarteten Klänge und Arrangements, die Breit für
seine Songs jenseits des Blues gefunden hat, die „Field Recordings“
für mich so großartig machen. (Poverty Playlist)
Raimund Nitzsche
Lore a and The Bad Kings - s.t.
Gegründet worden sei die Band mit dem alleinigen Ziel, die Leute zum Tanzen zu bringen. Wenn man das selbstbetitelte Debüt
des französischen Quartetts in völliger Reglosigkeit anhören kann,
ist man wahrscheinlich entweder im Koma oder tot. Denn: Diese
Mixtur aus Blues, Soul und Jazz ist ansteckend.
Eigentlich sollte man ja davon ausgehen, dass sämtliche Spielarten
von Rhythm & Blues, Blues und Soul der 50er und 60er Jahre im
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Rahmen der noch immer andauernden Retro-Bewegung ausgereizt worden seien. Doch immer wieder stößt man auf Musiker,
die mit diesen alten Stilmitteln hinreißende eigene Songs kreiieren. Wie etwa Sängerin und Harpspielerin Loretta mit ihren üblen Königen (Andy Martin - dr, Anthony Stelmaszack - g, Mig
Toquereau - b, voc). Mal singt sie rotzig heftig wie ein weiblicher
Mick Jagger in seiner Teenagerzeit, mal sanft schmusend - und
wenn sie dann noch ihre Harp spielt, könnte man manchmal
meinen, auch Big Mama Thornton hätte bei ihr Patin gestanden.
Loretta ist eine Stimme, die man sich merken muss. Ebenso wie
übrigens auch Gitarrist Anthony Stelmaszack. Seine trockene und
meist unverzerrte Gitarre kann zwischen klassischem Rock &
Roll, Soullicks a la Steve Cropper und mitreißendem Texas-Blues
zu dieser Frau immer die nötige Ergänzung liefern. Und über die
Rhythmusgruppe kann man nur sagen: sie versteht ihr Handwerk
perfekt und hält die teils wilden Ausbrüche fest zusammen.
Die Songs sind witzig, schmalzig, wild, ... aber immer tanzbar.
Wer die Musik von Musikerinnen wie Sabrina Weeks, Paula Harris oder Hip Shakin Mama mag, kann hier ohne Bedenken zugreifen. Schade, dass das kanadische Label Iguane das Album der
Franzosen nur als Download veröffentlicht hat. Aber zumindest
ist es so auch hierzulande problemlos und preiswert erhältlich.
Raimund Nitzsche
LZ Love & Lightnin Red - Interna onal Blues Family
Jahrelang sang LZ Love im Background so unterschiedlicher
Künstlerinnen wie Mary Wells, Joan Armatrading, Billy Preston
oder bei George Clintons Parliament und Luther Vandross zu hören. Bis sie dann von Tommy Castro und Michael Fronti eingeladen wurde, sie auf der Bühne und im Studio zu begleiten. Da
war der Schritt zum Blues getan. Der Schritt zur Solokarriere kam
1995 und führte dann sogar zu einem Hit in Europa - allerdings
in den Dance-Charts. 2001 gehörte sie in der kalifornischen Bay
Area allerdings zu den besten Bluesinterpretinnen. Auf den texanischen Gitarristen Lightnin Red traf sie 2006, als sie bei seinem
ersten Akustik-Album mitsang. Als sie 2010 gemeinsam für einen
Festivalauftritt in die Schweiz kamen, wurden sie dort von fast
10000 Besuchern gefeiert. Begleitet wurden sie dabei von einer
Band mit Musikern aus Kroatien und Deutschland. Und weil
diese Kombination so gut funktionierte, hat man gemeinsam ein
Studioalbum eingespielt, wo Soulblues und klassischer Texasblues
wunderbar miteinander harmonieren.
Nathan Nörgel
Mario Nyéky & The Road - To The Wind
Manchmal zart und behutsam, dann wieder wild und rockend
kommen die Folkpopsongs von Mario Nyéky daher. Mit seiner
Band The Road hat er acht kleine akustische Kostbarkeiten eingespielt, die eine gute Medizin für lärmgeplagte Ohren und vom
Zynismus zerfressene Seelen sein können.
„Quiet Is The New Loud“ - wann war das noch mal der Slogan der Stunde? Auch egal. Könnte auch gut zu Mario Nyéky
& The Road passen in den stilleren Momenten ihrer Songs. Hier
sind vier Freunde am Werke und spielen Lieder, die manchmal
an die zarteren Hymnen des jungen Paul Simon erinnern, dann
aber ausbrechen in wilde Attacken von Geige, Gitarre und Cajon.
Hier wird zwar mit dem Erbe der klassischen Folkmusik ebenso
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gespielt wie mit deren popmusikalischen Verwandlungen. Doch
letztlich - so der Bandchef im Material der Plattenfirma - ist das
nur der Tatsache geschuldet, dass die vier Freunde eben genau Gitarre, Geige, Kontrabass und Cajon spielen konnten und man gemeinsam Musik machen wollte. Das Jonglieren mit Versatzstücken
und Referenzen passiert so wohl eher im Kopf des Hörers, als dass
es beabsichtigt oder gar kalkuliert ist. Hier hat einer Lieder geschrieben und mit seinen Freunden gespielt, die sich Zeit nehmen
für Entwicklungen, die einen langsam gefangennehmen, um einen
dann immer schneller mitzureißen in einen Wirbel an Emotionen,
die einen dann aber auch wieder ganz leise entlassen. Hat seine Berechtigung, wenn die Band ihren Stil Roadmusic nennt. Stillstand
ist hier nur die kurze Pause beim ständigen Unterwegssein. (Meyer
Records/Rough Trade)
Nathan Nörgel
Mark Robinson - Have Axe - Will Groove
Sein 2010 erschienenes Debüt nannte er „Quit Your Job - Play
Guitar“. Das machte Mark Robinson auch und hat sich seither
in den USA einen ziemlichen Namen erspielt. Jetzt kommt mit
„Have Axe - Will Groove“ der Nachfolger auf den Markt: Alltagsgeschichten mit einem hervorragenden Gitarristen. Klassischer
Rhythm & Blues („Cool Rockin Daddy“) wechselt sich ab mit mit
Texas-Blues, elektrische Gitarren mit akustischen und sogar mit
Glockenspiel. So sollte zeitgenössischer Blues klingen. Wenn es in
der Welt gerecht zugeht, sollte Robinson es nicht mehr nötig haben, sich einen Zweitjob zu suchen. Allein „Drive Real Fast“ mit
seiner ersten Strophe My cell phone out the window/Throw my
cell phone out the window/Don’t want to talk to nobody no more
ist den Kauf des Albums wert. Oder aber diese nette Geschichte
in „Baby‘s Gone To Memphis“: Der arme Typ - sie haut ab nach
Memphis, weil sie Elvis den Toten besuchen will. Da hat Mann
selbst als Lebender keine Chance mehr, selbst mit dem schnell zitierten Mojo von Muddy Waters.
Nathan Nörgel
Ma Woosey Band - On The Waggon
Eine geschundene Akustikgitarre, der man die Jahre „on the road“
ansieht, ein Bass und ein stoisches Schlagzeug: Wenn das aktuelle
Album „On The Waggon“ des britischen Gitarristen und Songwriters loslegt, dann ist das Blues aufs Wesentliche reduziert. Auch
inhaltlich spielt der Opener „Black Smoke Risin“ mit all den gängigen Bildern, zitiert zwischendurch gar den „Back Door Man“ von
Howlin Wolf. Großartig auch „That‘s My Baby“: Hier lässt Woosey die Zügel vollkommen los und singt zwischen hinterhältigem
Gelächter und bösartigem Brummen etwas, was ich zunächst für
ein Liebeslied hielt. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Daneben finden sich auf „On The Waggon“ auch Songs, die Matt
Woosey als einen lyrischen Songwriter erkennen lassen, der in seinen besten Momenten an Kollegen wie Ezio erinnert. Ein Album
mit ein paar sehr schönen Songs zwischen Blues und Folk. Reinhören lohnt sich.
Raimund Nitzsche
Pam Taylor Band - Hot Mess
Die Sängerin und Gitarristin Pam Taylor stammt aus South Carolina. 2012 wurde ihre Band bei den Charlotte Music Awards so-
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wohl als „Best Female Rock Band“ als auch als „Best Blues Band“
ausgezeichnet. Damit wird die Mixtur klar, die den Hörer auf
dem Debüt „Hot Mess“ erwartet: funkiger Bluesrock mit einer
prägnanten Gitarre - und einem röhrenden Saxophon, dass ihr
Vater spielt. Eigentlich könnte man Pam Taylor und ihre Band
in die Kategorie: Another Girl With Guitar ablegen. Doch es ist
genau diese inzwischen selten gewordene Spannung zwischen Gitarre und Saxophon, die Taylors Songs aus dem Alltäglichen heraushebt. Und es wird klar, dass sie in ein paar Jahren eine wirklich
gute Bluessängerin werden kann. Heute hört man an vielen Stellen
noch die Anstrengung, den einzelnen Songs mit möglichst auffälligen Phrasierungen die Krone aufzusetzen. Das haben die Lieder
aber eigentlich nicht nötig. Die Leadgitarre spielt sie im Übrigen
nicht selbst. Diesen Job hat der lokal bekannte Kyle Phillips übernommen, dem man seine Liebe zu Musikern wie Tommy Castro
oder Joe Bonamassa anhört, der sich hier aber immer song- und
banddienlich zurückhält mit ausufernden Solo-Ausflügen. Lohnt
das Reinhören auf jeden Fall.
Nathan Nörgel
Petey Hop - The Levee
Zwischen beschwingtem Rock & Roll und mitternächtlichen
Jazz-Balladen, Blues und Rocksongs - der New Yorker Gitarrist
und Songwriter hat auf seinem zweites Album „The Levee“ die
verschiedensten Stile zusammengeführt. Dass daraus ein dennoch
absolut rundes und stimmiges Werk geworden ist, liegt auch an
einer hervorragenden Band - und an Produzent Duke Robillard,
der auch ein Solo beisteuerte.
Dammbrüche sind nicht umsonst gefürchtet: Wenn plötzlich
all das angestaute Wasser sich Bahn bricht, dann wird alles fortgerissen, was sich im Weg befindet. Zurück bleiben Schlamm,
Zerstörung und heilloses Durcheinander. Dieses Album gleicht
(auch wenn das grafisch schön gestaltete Cover es andeutet) keinem Dammbruch, eher einem kontrollierten Fluten einer Region,
um Zerstörungen vorzubeugen. Aber - und hier stimmt das Bild
vom Damm dann doch wieder - man merkt, welch verschiedenen
Einflüsse Gitarrist und Songwriter Petey Hop über die Jahre in
sich aufgenommen hat: Klassischen Swing und Rhythm & Blues,
den seine Eltern liebten, den Blues und Rock&Roll der 60er Jahre, den die Geschwister hörten, die Rockmusik der 70er hin zum
Vorkriegsblues und Jazzpop: Wir wählen uns nur selten die Musik
aus, die in unserem Leben bedeutsam wird. Aber alles das in eine
eigene Welt zusammen zu fassen, ist eine Heidenarbeit. Petey Hop
kann so - ohne sich selbst untreu zu werden einerseits klassisch
anmutende Folkblues-Nummern wie „Porter“ inklusive Fingerpicking mit ebenso klassisch anmutendem Rock & Roll („Out
All Night“ ist einfach ein fantastischer Partysong!) und dem düster drohenden Titelsong kombinieren und zeigt uns so die verschiedensten Facetten. Und wenn er auf der E-Gitarre eines seiner
Solos spielt, dann fühlt man sich an all die „Ahnen“ zwischen
Lonnie Johnson, T-Bone Walker, B.B. King, Chuck Berry - und
auch Chet Atkins - erinnert.
Dass „The Levee“ ein wirklich bemerkenswertes Album geworden
ist, liegt auch an der fantastischen Band, die Hop hier gemeinsam mit Produzent Duke Robillard ins Studio geholt hat: Von
der variablen und stehts im Bauch fühlbaren Rhythmusgruppe
(Nick Longo - dr, Anthony Candullo - b) über Jeremy Baum, der
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zwischen Piano, Orgel oder Wurlitzer wechselt bis hin zu den Saxophonisten Chris DiFrancesco und Ian Bennett: Hier sind Musiker
am Werk, die die ganzen Stilwechsel problemlos mitgehen können.
Und die dem Ganzen dann noch durch einen wundervoll eleganten
Sound Einheitlichkeit verleihen. Erhältlich ist das Album lediglich
über www.peteyhop.com oder iTunes.
Nathan Nörgel
Preacher and Bear - The Storm Has Come
Einen gehörigen Sturm entfachen Sängerin Elin Piel und Gitarrist
Frederik Petterson alias Preacher and Bear auf ihrem zweiten Album.
Geschichten über Kampf und Trauer, Freude und Ungerechtigkeit
sind in Lieder verpackt, die zerbrechliche Folkanklänge mit rockigen Gitarren und der zupackenden Stimme Piels verbinden. Nein:
Hier geht es nicht um ein laues Lüftchen selbstbezogener Folkloristen und Ego-Songwriter. Und vor allem: Wenn jemand das von
der Plattenfirma vergebene Label Folk-Pop zu ernst nimmt, könnte
er schockiert sein. Hier ist eine Band am Start, die den Folk gehörig
anreichert: Americana kann man ebenso hören wie die Rockmusik eines jungen Neil Young. Das verdankt das Duo natürlich auch
der großartigen Schlagzeugerin Kajsa Podnak, die mit ihnen schon
2012 auf Tour war. (Black Star Foundation/Cargo)
Nathan Nörgel
Record Kicks 10th
Es war 2003 als in Mailand Nicolò Pozzoli das Label Record Kicks
ins Leben rief. Mehr als 100 Platten, CDs oder Singles sind dort
bislang veröffentlicht worden. Und alle, Wiederveröffentlichungen
klassischer Raditäten oder Neuerscheinungen, zeichnet eines aus:
Die Liebe zu den Grooves von Soul, Funk, Afrobeat oder Dancefloor Jazz der 60er und 70er. Zum zehnjährigen Bestehen gibt es
jetzt einen Labelsampler mit Hits, neuen Singles und ein paar exklusiven Nummern.
Die ersten Veröffentlichungen waren Sampler der inzwischen bei
Teil 7 angekommenen Reihe „SoulShaker“, mit der der Labelgründer die zeitgenössische Funk & Soul-Szene vorstellen wollte. Damals standen Daptone Records in New York gerade am Anfang.
Und so kam es, dass Record Kicks damals die europäischen Rechte
für neue Singles etwa von Sharon Jones oder Sugarman 3 an Land
ziehen konnte.
Heute sind für DJs, die in der Deep-Funk-Szene arbeiten, sind die
Platten aus Mailand ebensolche Pflichtkäufe wie die Veröffentlichungen von Tramp in München oder Daptone Records. Nur dass
- anders als bei Tramp - bei Record Kicks in den letzten Jahren wesentlich mehr neue Bands präsentiert wurden wie etwa zuletzt Hannah Williams & The Tastemakers, die Dojo Cuts oder die Third
Coast Kings. Die 21 Stücke des Geburtstagssamplers decken das gesamte Spektrum des Labels vom Funk über Northern Soul, jazzigen
Afrobeatklängen bis hin zum klassischen Rocksteady ab. Und wenn
man das Album einlegt, dann streikt der innere Kritiker eigentlich
sofort, weil er lieber tanzen möchte. Denn dass ist ein Sampler, wie
ihn ein DJ für ein wundervolles Set zusammenstellen könnte: Bekannte und (für mich) unbekannte Tracks wechseln sich ab. Aber
niemals fällt die Spannung ab. Der Groove trägt dich unwillkürlich
in Gedanken in einen Club, den es so hier in der Gegend leider
nicht gibt. Aber für einen Moment, für 21 Lieder kannst Du ihn
förmlich spüren diesen Club, der aus einem jeden halbwegs leben-
© wasser-prawda
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digen Menschen einen Tänzer macht. Und hinterher hat man das
beseligte Lächeln im Gesicht, was der Umgebung zeigt: Hier hat
einer etwas unwahrscheinlich Schönes erlebt. - Herzlichen Glückwunsch nach Mailand zu Record Kicks!
Nathan Nörgel
Robben Ford - Bringing It Back Home
Jazzig und äußerst relaxt geht es zu: Robben Fords neues Album
„Bringing It Back Home“ ist formal ein Streifzug durch die Bluesgeschichte. Musikalisch ist es eine Kombination der zwei Persönlichkeiten des Gitarristen: des Blueshelden und das Jazzers.
Er hat mit Jimmy Witherspoon Blues gespielt, war auf Tour mit
George Harrison und Joni Mitchell. Und Robben Ford gehörte
in den 80er Jahren zur Band von Miles Davis: Als Gitarrist ist er
im Jazz ebenso zu Hause, wie im Blues und Bluesrock. Vor allem
Kollegen halten den Kalifornier für einen der versiertesten Meister
der Gitarre überhaupt.
Als 2007 sein letztes Studioalbum „Truth“ erschien, wurde das
für einen Grammy als bestes zeitgenössisches Bluesalbum nominiert. Die Bluesfans bekamen darauf den Saitenzauberer zu hören,
den sie erwarteten. Sein jetzt bei Provogue veröffentlichtes Werk
„Bringing It Back Home“ kommt fast ohne technische Hexereien
aus. Denn Robben Ford hat für die Aufnahmen eine All-Star-Band
zusammengesucht, die genügend Raum lässt, dass er sich ganz entspannt als Sänger von Klassikern der Bluesgeschichte präsentieren
kann.
Ob er nun Werke des Vorkriegsblues wie Charley Pattons „Birds
Nest Bound“ oder Allain Toussaints „Everything I Do Gonna Be
Funky“, seine eigene (ganz wundervolle) Komposition „Oh Virginia“ oder Bob Dylans „Most Likely You Can Go Your Way and I‘ll
Go Mine“ interpretiert: Hier stimmt jede Note die er singt, jede
stimmliche Nuance, die er setzt - und natürlich auch jeder einzelne
Klang, den er seiner Gitarre entlockt. Und das ganze geschieht mit
einer Relaxtheit, die einen in eine nachmitternächtliche Session in
einem kleinen Jazzclub versetzt. Ford spielt den Kollegen in der
Band (herausragend: Larry Goldings - org, Stephen Baxter - tb)
Ideen zu und diese jonglieren sie zu ihm zurück. Besonders schön
zu verfolgen ist das in der mehr als sieben Minuten langen Instrumentalnummer „On That Morning“. Und auch wenn es funky
wird, der Groove über das Schaukelstuhl-Level angezogen wird,
ist hier eine Präsenz und Prägnanz zu erleben, die faszinierend ist.
Ach ja: Wer Belege dafür braucht, dass Ford wirklich einer der begnadetsten Gitarristen der Gegenwart ist, sollte sich anhören, was
er aus Earl Kings „Trick Bag“ macht. (Provogue/Mascot)
Raimund Nitzsche
Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce - Got My Eye On
You
Die Mischung ist die gleiche geblieben wie beim 2010 veröffentlichten Debüt „Tales From Lenny‘s Diner“: Sabrina Weeks &
Swing Cat Bounce servieren auf ihrem zweiten Album „Got My
Eye On You“ wiederum Jump-Blues und Swing irgendwo zwischen
Doris Day und Koko Taylor, zwischen elegantem Nachtclub und
verrauchter Tanzbar am Wochenende.
Oh ja, endlich mal wieder gibt es neues für den Swingfan in mir:
Zu selten tauchen in all den Neuveröffentlichungen auf dem Plat-
56
© wasser-prawda
tenstapel Scheiben wie „Got My Eye On You“ auf, die man sofort
in die Playlist bei der nächsten Swingparty aufnehmen möchte.
Sabrina Weeks & Swing Cat Bounce, 2012 in ihrer kanadischen
Heimat mit dem Maple Blues Award ausgezeichnet, liefern hier
mit einigen Songs echte Tanzflächenfüller - wenn mich mein Ohr
nicht ganz täuscht.
Ähnlich wie auf dem Debüt ist hier nicht die Ruppigkeit von Brian Setzers Orchester zu hören oder anderer Retro-Swing-Kapellen
sondern eine Eleganz, die ziemlich einschmeichelnd ist. Aber wer
glaubt, hier ginge es gelackt und belanglos zu, hat diese Sängerin und ihre perfekt aufeinander eingespielte Band unterschätzt.
Immer ist in Liedern wie „Sunday“ oder „Burn That Boogie“ ein
leichter Hauch des Verruchten drin, der den oben angeführten
Hinweis auf Doris Day eigentlich Lügen straft. Und: Natürlich
ist „Got My Eye On You“ mit gleichem Recht auch ein Bluesalbum, ein Jump-Blues-Album, das man gerade Neueinsteigern im
Blues gern in die Hand drücken kann. Hier bekommt er zwischen
rasanten Boogies und Balladen jede Menge Ohrwürmer geboten.
Ich freue mich, dass Sabrina Weeks den eingeschlagenen Weg fortsetzt. Und ihr zweites Album ist meiner Meinung nach noch eine
deutliche Steigerung zum Debüt. Soviel zum Thema: Schwieriges
zweites Album. Und eigentlich sollte man wirklich mal ein Festival
organisieren, dass die unwahrscheinliche Vielfalt der kanadischen
Bluesszene auch hiesigen Konzertbesuchern nahebringt.
Raimund Nitzsche
Tinsley Ellis - Get It
Ein reines Blues-Instrumentalalbum? So etwas kann eigentlich
nur gut gehen, wenn da ein wirklich großer Meister am Werke
ist. Und Tinsley Ellis zählt nicht umsonst seit den 80er Jahren zu
den wichtigsten elektrischen Bluesgitarristen. Auf „Get It“ finden
sich acht seiner eigenen Kompositionen neben zwei Covern, Bo
Diddley‘s „Detour“ und Texas Cannonball’s „Freddy’s Midnight
Dream”. Vom Bluesrock über Rock & Roll bis hin zu spanisch
anmutenden Klangimpressionen geht das Spektrum dieses unterhaltsamen Albums, das nicht nur Gitarristen ein ums andere
Mal ein Lächeln ins Gesicht zaubern dürfte. Und nur ganz selten
einmal verliert sich die Band, zu der neben Ellis noch Kevin MkKendree (keyboards), Schlagzeuger Lynn Williams und bei fünf
Stücken noch Ted Pecchio am Bass gehören in Belanglosigkeiten.
Wer sich zuweilen an den Sound von Booker T & MGs oder aber
an britische Instrumentaltruppen der 60er erinnert fühlt, dürfte
nicht ganz falsch liegen. Wer endlose Saitenhexereien im Höchstgeschwindigkeitsbereich erwartet, erlebt bei „Get It“ wohl eher eine
Enttäuschung. Und wem beim letzten Stück „Catalunya“ nicht das
Herz aufgeht, der dürfte völlig gefühllos sein. (Heartfixer Music)
Raimund Nitzsche
Tonträger - Trostlose Torten
Das Quartett aus Berlin macht schon seit einigen Jahren die Bühnen der Hauptstadt unsicher und erfreut mit einem Rock‘n‘RollKabarett, in dem die Pointen der Texte exakt mit der Musik abgestimmt sind. Geprägt sind Tonträger von den Beatles, und wenn
man die elf plus eins Lieder von „Trostlose Torten“ gehört hat,
wünscht man sich fast noch eine deutsche Version von „Rocky
Raccoon“ dazu.
© wasser-prawda
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Der Humor der „Tonträger“ reicht „Vom Scheitern der Menschlichkeit“ bis zu „Indierockschmalzschnulzenpop“, wobei Letzteres
beweist, dass sie auch einen anderen, kommerziell verheißungsvollen Weg hätten gehen können. Haben sie aber nicht, und so
spricht sich das Schaffen der Tonträger ohne Major-Deal über
Berlin-Brandenburg hinaus durch andere Künstler ohne Plattenvertrag bei einer Weltfirma wie Bodo Wartke herum. Und dann
gibt es ja auch noch das Internet; auf der Webseite ist für alle
Fans und Interessierten außerhalb Berlins ein Online-Konzert
angekündigt. Es ist spannend zu beobachten, ob sich jenseits etablierter Informationswege, dem immer gleichen Radio-Pop und
der Castingshows im Fernsehen hier was entwickeln kann. Die
Substanz für ein großes Publikum haben Tonträger allemal.
Anne-Lena
Vinz - The Birth of Leon Newars
Eine fazinierende Mixtur: bei dem französischen Songwriter und
Multiinstrumentalisten Vinz treffen die Sounds des Rhythm &
Blues von New Orleans auf französische Chansons, Soul, Funk,
Pop und ein wenig Reggae. Und die Musik entführt einen in die
Gedankenwelten eines Dichters, der im Kampf mit sich und der
Welt liegt.
Die an Hannibal Lecter erinnernde Maske auf dem Cover ist eine
Hilfestellung, um sich dieses Album zu erschließen. Vom Sound
her scheint alles ganz einfach: Das ist ein Album voller schöner
Songs zwischen dem Sound von New Orleans zwischen Professor
Longhair, Fats Domino und Alain Toussaint, der mit jeder Menge Anspielungen aus aller Welt immer wieder aufgebrochen oder
angereichert wird. Von groovenden Tanzflächenfegern bis hin zu
melancholischen Balladen für die späten Stunden ist alles dabei
und jede Note fügt sich ein in ein schlüssiges Album.
Das Grauen allerdings, was die Maske andeutet, lauert unter der
schönen Oberfläche. Hier singt einer zu sonnigen Reggae-Rhythmen von der verzweifelten Frage, ob er es denn jemals schaffen
wird in dieser Welt. Eigentlich hatte man ja geglaubt, man sei der
Hitze gewachsen. Aber jetzt ist die Sicherheit dahin („Make it“).
Bei „Let My People Sing“ bleibt als Reaktion auf die Zustände
der Welt eigentlich nur noch der Gesang übrig, um der Niedergeschlagenheit Herr zu werden. Es ist schon zu lange her, dass man
einfach von vollem Herzen gelacht hat. Es fehlt in der Beziehung
einfach daran, dass die scheinbar „falsche“ Seite nach einiger Zeit
nicht mehr zum Vorschein kommt. („Wrong Side“)
„The Birth of Leon Newars“ ist das Debüt von Vinz, das Iguane
Records in Kanada veröffentlicht hat. Es ist eine der vielschichtigsten Neuentdeckungen im Bluesumfeld seit einiger Zeit. Und
wenn ich irgendwann mal Französisch erlernen sollte, verstehe ich
von diesem Album vielleicht auch noch die andere Hälfte. Oder
zumindest soviel, bis ich auf die nächsten Maskierungen stoße,
hinter denen Vinz seine Welten vor uns immer wieder versteckt,
um unsere durch den Groove geweckte gute Laune nicht völlig zu
zerstören. (Iguane)
Nathan Nörgel
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© wasser-prawda
Editorial
Am 10. Mai 2013 jährt sich die Bücherverbrennung in Deutschland zum 80. Male. Es ist der Tag,
an dem sich Teile der deutschen Bildungselite dafür hergaben, die deutsche Literatur oder besser
gesagt: einen großen und vielleicht bedeutenderen Teil derselben, den Flammen zu übergeben.
„Aktion wider den undeutschen Geist“ nannten sie
das.
Almansor:
Wir hörten daß der furchtbare Ximenes,
Inmitten auf dem Markte,
zu Granada –
Mir starrt die Zung im
Munde – den Koran
In eines Scheiterhaufens
Die Redaktion hat lange überlegt, wie wir an dieses Datum erinnern können. Gerade in den letzten Jahren ist die Forschung über Flamme warf!
die Aktion und der betroffenen Bücher ziemlich vorangekommen.
Aber wir haben uns dafür entschieden, hier nicht über die Täter
zu sprechen, sondern statt dessen Texte von betroffenen Autoren
zu drucken, die teilweise wegen der Bücherverbrennung in Vergessenheit gerieten. Bis zum Mai werden wir im „Sprachraum“ Autoren wie Carl Sternheim, Ernst Toller aber auch Stefan Zweig Platz
einräumen. Und - die Bücherverbrennung ist ja nur ein Teil der
Poltik der Nationalsozialisten - wir haben Werke von Künstlern
beigefügt, die von den Nazis als „entartet“ gebranntmarkt wurden.
Hassan:
Das war ein Vorspiel nur,
dort wo man Bücher
Verbrennt, verbrennt man
auch am Ende Menschen.
(Heinrich Heine, Almansor,
1821)
Die neueste Literatur kommt im „Sprachraum“ in diesem Monat
natürlich auch nicht zu kurz. Hier stellen wie die Lyrikerin Odile
Endres vor, die zur Zeit ihren ersten Gedichtband vorbereitet.
© wasser-prawda
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Inhalt
Editorial
Inhalt
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Bücher
Jenny Feuerstein, Lyriklos: Gedichte und Fotografien
Will Bingley & Anthony Hope-Smith: GONZO.
Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson
Stanislaw Lem: Professor A. Donda.
Rainald Goetz – Johann Holtrop
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69
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Odile Endres: Drei Gedichte
74
„Manuskripte brennen nicht.“
77
Carl Sternheim - Napoleon
Ernst Toller - Kindheit
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Edgar Wallace A.S. der Unsichtbare
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Jenny Feuerstein Lyriklos
silbende kunst 2013
90 Seiten
ISBN: 978-3000411168
VÖ.: 13. März 2013
Jenny Feuerstein, Lyriklos: Gedichte und Fotografien
Von Dirk Uwe Hansen. Fotografien von Jenny Feuerstein.
Seit 2010 erscheint in Köln eine Literaturzeitschrift mit dem schönen Namen silbende_kunst und dem ebenso schönen Motto „betont unbetont“. Tatsächlich sind die einzelnen Hefte im Format
Din-A-5 unbetont, d.h. erfrischend unprätentiös, haben aber dennoch eine ganz eigene Erscheinung, denn die Herausgeberin der
Zeitschrift, Jenny Feuerstein ist nicht nur Lyrikerin (sie debütierte
2007 mit dem Band „In meiner Tasche aus Gedanken“), sie ist auch
Graphikerin und verleiht den einzelnen Bänden eine ganz individuelle Handschrift.
Nun erscheint mit „Lyriklos“ unter dem Label silbende_kunst ein
Einzelband mit Gedichten und Photographien von Jenny Feuerstein. Das weckt Neugier und kaum habe ich das Buch aus dem
Briefkasten genommen, lese ich es auch sogleich von vorn bis hinten
durch. Die Gedichte erzählen die Geschichte eines Verlustes, das
wird sogleich im ersten Stück des Bandes deutlich:
© wasser-prawda
Dirk Uwe Hansen
schreibt und übersetzt (neben seiner Arbeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter für
Gräzistik an der Greifswalder Universität) selbst Gedichte.
2012 erschienen sein Gedichtband „Sirenen“ und
seine Übersetzungen und
Nachdichtungen von Sappho.
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Lilien/Rosen
Ich schreibe nicht mehr
von Lilien / Rosen.
Ich sitze verschwiegen
im roten RE.
Ich fahre mit dir
in die düstere Stadt.
Ich schreibe nicht mehr
am dunkelnden Abend.
Ich schreibe nicht mehr,
am Dunkelnden / Abend,
von Liebe. Ich Lilie,
ich lasse den Park
aus. Ich fahre mit dir
in den Wochenendwald,
ins Farbenlose
einer Stadt.
Ich schreibe nicht mehr
von Lilien / Rosen.
Ich sitze verschwiegen
im roten RE.
Erzählt wird vom Ende zum Anfang hin, von der Sprach- und Farbenlosigkeit der Stadt bis zu den verheißungsvollen „Poetenarmen“
einer naturverbundenen Kindheit. Jedes der vier Kapitel des Bandes
zeigt dabei ganz eigene Aspekte des Verlierens und Fehlens von Etwas, und so schließe ich eine zweite Lektüre, Kapitel für Kapitel, an.
„Ins Farbenlose einer Stadt“ berichtet von Vereinsamung in einer Situation, in die allein das Eisenbahnrot ein bisschen Hoffnung – und
sei es nur auf einen Besuch im Wochenendwald – bringt.
Blaue Stadt
I
Was heißt das: im Blaumann?
Die Arbeit in Schichten?
Du fährst blass in den Morgen,
auf einem Zeitungspapier.
Dein Haus: am Horizont
verschachtelte
Balkone.
Du
fährst blind dafür
den Fuß auf einem Stück
Papier.
In „In einem stummfilmischen Schatten“ ist es das Fehlen von
Kommunikation; die Gedichte beobachten hier genau Situationen,
in denen ein Sprechen nicht stattfinden kann.
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© wasser-prawda
Budapest Westend
Metroshopping Untertage,
wo die Nylonstrumpfverkäuferin
Blaue Stadt
ein Traumamädchen
- ungekämmt - ,
ihr Lachen
so ein Sololachen.
In einem stummfilmischen Schatten.
Eine Person ist es, die im dritten Kapitel „Noch einmal der Wind“
fehlt, das von einem verlorengegangenen wir (woran / wir verloren
gegangen sind) spricht.
Auf einem Spiegelschrank
sah es aus: Die Wimpernpaare im Staub.
Kein Atmen
in der Stille zwischen Fliesen.
Kein Flüstern
fiel.
Du bandst dir den Schal um,
mit einem Albtraumgefühl.
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Wie die Photos des Bandes, sind diese Gedichte Nahaufnahmen,
die immer auch von dem sprechen, was wir nicht und nicht mehr
sehen. Feuersteins Sprache bleibt dabei lakonisch, spröde manchmal
Chris an
und lädt zu genauem Hinhören ein. Und auch die Gedichte des
vierten Teils „Ein Satz von Wiese“ zeichnen solche kleinen Bilder
aus: Regentage. Eine Serie in von großer Schönheit. Eine Kindheit wird beschworen, offensichtdrei Augenblicken.
lich fern der farbenlosen Stadt; doch auch hier ahnt man immer
eine Bedrohung und einen Verlust.
Hortensien
Die Laute hing da und die Lampe,
wie immer.
Der Großvater machte uns Licht.
Der Großvater hatte mit trauriger Hand
ein Lied notiert auf einen Zeitungsrand.
Die Laute hing da und die Lampe,
wie immer.
Der Großvater machte uns Licht.
Die Großmutter machte ein Fenster auf.
Ein Rascheln ging
durch die Hortensien.
Das auf den Zeitungsrand notierte Lied ist nicht nur ein herrliches
Bild, es leitet den Leser auch zurück zum Zeitungsblatt am Boden
des Vorortzuges in Blaue Stadt I. Und so beginne ich eine dritte Lesung, diesmal den Hinweisen der Texte selbst folgend. Vom
schwarzen Haar in „Orkan“ zurück zu den schwarzen Fragen in
„Noch einmal der Wind“ etwa. Vom Wochenendwald zum Wald
der Kindheit:
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Zurückschauen
Zurückschauen in einen Wald, fahrigen Wald.
Insektenwirre, schwarze Schleier.
Zurückschaudern
auf einem Weg. Wir cremten uns den Mückentod
über die schwitzenden Arme.
Poetenarme.
Zurückschauend: die Stämme der Birken.
Ein Bild hing im Schuppen der Eltern, von diesen
Birken. Zurückschauend
und schaudern,
dass ich an den Bilderrahmen rührte,
während über mir
das Wespennest –
Schauen und schaudern: Ein Photo gibt es in dem Band, da schaut
man über die Schultern der Zuschauer auf eine Zirkusmanege; und
während ich noch schaue, bemerke ich mit schaudern, dass mich
aus der linken Bildhälfte ein maskenhaftes Gesicht anschaut. Ein
ähnliches Hin- und Her von Blicken in einem anderen Bild: da spiegelt sich ein Plakat von Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring
im Fenster eines Busses vor einem Bahnhofsgebäude. Passanten laufen daran vorbei und es bleibt unklar, ob man schaut oder angeschaut wird. Und auch hier spielt Feuerstein mit den Richtungen
des Blickes:
Gartenbier
I
Ob du noch da warst: Vielleicht
in deinem Taschenspiegel.
Zogst deine Lippen unter dem Baum
ins Blutbuchenrote.
Gartenbier
II
Das passte sich gut:
der schwatzlastige Nachbartisch
und dein schwarzlastiges Bier
vor deinen Cowboyjeans.
Zogst einen Spiegelrevolver.
Für jemanden, der sich auf diese Bezüge zwischen den Texten / den
Texten und den Bildern einlässt, gibt es viel zu entdecken in dem
Band, dem ich viele Leser, und den ich vielen Lesern wünsche.
© wasser-prawda
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Will Bingley & Anthony Hope-Smith:
GONZO.
Die
Grafische Biografie von Hunter S.
Thompson.
Mit einem Vorwort von Alan
Rinzler.
Übersetzt von Jan-Frederik
Bandel.
80 Seiten, 17 x 24 cm.
Tolkemitt Verlag.
18,00 EUR (D).
Will Bingley & Anthony HopeSmith: GONZO. Die Grafische
Biografie von Hunter S. Thompson
Von Erik Münnich.
Hunter S. Thompson wird „heute viel zu oft nur noch als
eine Karikatur wahrgenommen […]: als menschenhassender,
dauerzugedröhnter Freak mit einer Schreibmaschine.“ Die
grafische Biografie dieses Mannes wage einen anderen Blick
auf den Schriftsteller – „in seinem Balanceakt zwischen dem
altbekannten Paar Genie und Wahnsinn, Schreib- und Drogenexzessen, zwischen Fakten und Fiktion.“ Ganz auf ging
dieses Vorhaben allerdings nicht – dennoch ist diese Graphic
Novel ein lesenswerter Versuch, diesem oft gedeuteten und
selten angemessen gewürdigten Allrounder der US-amerikanischen Literatur näherzukommen.
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© wasser-prawda
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Die Anekdoten über Hunter S. Thompson füllen Bücher und zeichnen das Bild eines Autors, welches sich auf folgende Schlagworte
reduzieren ließe: Waffennarr, Alkoholiker, Kiffer und LSD-Konsument; Hell’s Angels, Nixon, Gonzo, Alter Ego Raoul Duke und
schlussendlich Suizid. Diese Zuschreibungen tragen dazu bei, einen
Mythos zu begründen, der abseits seiner Texte ent- und besteht,
den Blick auf den Literaten und seine Arbeiten verstellt und darüber hinaus eine vermarktungsfähige Gegenposition begründen
soll – ob als Gegenchronist der US-amerikanischen Gesellschaft,
als Rebellion gegen literarische bzw. journalistische Standards
oder, vereinfacht ausgedrückt, als eine Alternative zum vermeintlich allgegenwärtigen Mainstream. Eine Darstellung abseits dieser
scheinbar allgegenwärtigen Klischees würde zeigen, dass Hunter S.
Thompson sehr viel mehr ist als das. Hier setzt, ließe sich unterstellen, GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson
an: Wer ihn nur so kenne, „der hat keine Vorstellung davon, dass
Hunter in seiner besten Zeit ein sehr ernsthafter, hart arbeitender
Schriftsteller war, der über jedes einzelne Wort nachdachte und es
sorgsam auswählte, der sich an jedem Satz abquälte, an seinem Inhalt, den verschiedenen Bedeutungsschichten, dem Rhythmus, der
unnachahmlichen Stimme, dem Witz und der Schärfe“, schreibt
sein langjähriger Lektor Alan Rinzler im Vorwort. Und: „Hunter
hätte der Schwergewichts-Champion der amerikanischen Literatur
werden können.“ Damit trifft er den Kern, bleibt aber leider bei
diesen immer wieder bemühten Bildern stehen: den auf Grund der
Eigenarten Hunter S. Thompsons zu erwartenden Komplikationen
während des Arbeitsprozesses, deren Verbindung zu Alkohol- und
Drogenexzessen sowie der Bedeutung der Verfilmungen seiner Arbeiten für das von ihm gezeichnete Bild u. a. – befremdlich wirkt
hier vor allem die Betonung der Bedeutung seiner Arbeit als Lektor,
fast so, als wären die vier bedeutendsten seiner Werke nicht ohne
seine Hilfe möglich gewesen. Neues oder Unbekanntes, was im
Stande wäre, das kritisierte Bild zu verändern, liefert er nicht – die
Gleichsetzung zwischen Protagonist (Raould Duke vs. Dr. Gonzo)
und Autor ist hier vielmehr viel zu deutlich angelegt; ein Versuch
übrigens, der die Auseinandersetzung mit Texten oft auf abseitige,
weil nicht mit literarischen Fragestellungen kompatible Wege lenkt
und dabei selten für diese relevante Aussagen erbringt. Wird nun
noch die Reduktion des für Graphic Novels üblichen Formats – wodurch die Lektüre erschwert wird – berücksichtigt, sind alle Mängel
benannt.
GONZO. Die Grafische Biografie von Hunter S. Thompson bildet das
Leben eben jenes in den 60er und 70er Jahren ab, wobei bezüglich
dieses „Projekts“ vor allem der künstlerische Ansatz zu betonen ist:
eine Annäherung an, eine Auseinandersetzung mit diesen/m Autor, seinem Leben und Werk. Nicht nur die Einbindung zahlreicher
Zitate des Schriftstellers – welche dieser „Biografie“ eine gewisse
Nähe, Authentizität verleihen –, sondern auch die Verbindung mit
einem Format, das für Darstellungen dieser Art ganz sicher nicht
ungeeignet ist, schaff t Anreize, sich mit seinen Arbeiten auseinanderzusetzen – und damit das überlieferte Bild zu korrigieren.
68
© wasser-prawda
Stanislaw Lem:
Professor A. Donda.
Aus dem Polnischen von
Klaus Staemmler.
87 Seiten.
Insel Verlag.
13,95 EUR (D.)
Mater semper certa est – Die
Mutter ist immer sicher.
Die Wundersame Geschichte des Professor A. Donda.
Eine Rezension von Kris n Gora.
Bereits drei Jahre bevor am 25.07.1978 in Oldham bei
Manchester Louise Joy Brown als erster in vitro gezeugte
Mensch das Licht der Welt erblickte, schrieb der polnische
Autor Stanislaw Lem seine eigenen Vorstellungen bezüglich
eines Retortenbabys nieder. In einem etwas unordentlichen
Gemeinschaftslabor werden Schleimhautzellen der „Frau,
die Dondas Vaters war“, einer Navaho-Mestizin, für Versuche künstlicher Befruchtung benutzt und mit ihnen die
Eizelle einer russischen Spenderin befruchtet.
© wasser-prawda
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„Verlage, die mich
in einer mit Sciencefiction etikettierten
Schublade eingeschlossen haben,
taten dies hauptsächlich aus merkantilen
und kommerziellen
Gründen, denn ich
war ein hausbackener und heimwerkelnder Philosoph,
der die künftigen
technischen Werke
der menschlichen Zivilisation vorauszuerkennen versuchte,
bis an die Grenzen
des von mir genannten Begriffshorizontes.“
Lem in Riskante Konzepte
70
Bekanntlich kann Wissenschaft ja nicht einfach zurückgenommen werden (siehe Atombombe etc.) und so entsteht aus diesem
Experiment der berühmte Professor A. Donda, der Titelheld der
Geschichte. Aber das ist natürlich noch nicht die ganze Geschichte. Die befruchtete Eizelle wird durch Gerichtsbeschluss vor dem
Tod im Inkubator gerettet und einer freiwilligen Austräger-Mutter
eingepflanzt, die wiederum in einen Anschlag verwickelt wird und
im Gefängnis landet, sodass die Schwangerschaft von einer Philanthropin fortgesetzt wird, die dann eine Frühgeburt erleidet. Ein
großes Rätsel der Wissenschaft und ein unendlich seltsamer Zufall: Jede Menge weibliche Beteiligte, aber das Y-Chromosom kam
nun eigentlich woher genau?
Allein mit der Schilderung dieser „Zeugung“ wird die Erzählung
Professor A. Donda zu einem Lesevergnügen, das von der InselBücherei zu Recht mit einer Einzelausgabe gewürdigt wurde, die
in keinem gut sortierten Bücherregal fehlen sollte. Ursprünglich
wurde die Geschichte auf Deutsch erstmals 1978 in der erweiter-
© wasser-prawda
ten Ausgabe der Sterntagebücher sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland veröffentlicht. Ein Zyklus, der vielfach übersetzt und in
Auszügen auch verfilmt wurde. Stanisław Lems Bücher wurden bisher in 57 Sprachen übersetzt und erreichten eine Auflage von mehr
als 45 Millionen. Und das alles nicht ohne Grund.
Lem hat ein Form der Science-Fiction begründet, von der man behaupten möchte, sie sei näher an der Science als an der Fiction, was
natürlich angesichts der dem Leser entgegensprühenden, blühenden
Phantasie ziemlicher Blödsinn, aber doch ein Versuch sei, diesen
Texten, ohne den Stempel eines Genres aufzudrücken, gerecht zu
werden.
Science-Fiction oder Wissenschaftsphilosophie? Sicher ist es für
den heutigen Leser nicht einfach, sich die prognostische Leistung
von Lems Texten zu vergegenwärtigen. Wir haben es hier mit einem Denker zu tun, der nicht nur Wissenschaftsgeschichte schrieb,
bevor sie Geschichte wurde. Während für uns so einiges zum uns
umgebenden Lebensraum geworden ist, war es für Lem noch naturwissenschaftlich-technisches Wissen mit unglaublich viel Phantasie
und Forscherdrang zur Zukunftsvision gepaart. Bei aller Phantastik aber stets im Rahmen der menschlichen Vorstellungskraft und
seines Begriffshorizontes. Kleine Gedankenspiele, die einen wissenschaftsphilosophischen Hintergrund für eine intelligente, humorvolle und anregende Prosa bilden.
Wir haben es hier mit einem Literaten zu tun, der mit viel Humor
und Liebe für Details, die Möglichkeiten der schriftstellerischen
Kunst auslotet und uns die Geschichte des Professor A. Donda
dicht und vom Zufall streng motiviert erzählt. Die geschilderten
Geburtsumstände bilden freilich nur den Anfang der Lebensgeschichte des eigenartigen Professors. Die Entdeckung seines Lebens
ist der Beweis, dass Informationen eine Masse haben und dass es
„eine kritische Masse von Informationen“ gibt, „wie es eine kritische
Masse Uran gibt“. Ist diese kritische Masse erreicht, so beginnt eine
Kettenreaktion und alle Informationen verschwinden. Leider glaubt
niemand dem Herrn Donda, so dass der Untergang der Zivilisation
die einzige logische Konsequenz bleibt.
Hatte Stanislaw Lem, der einen Ehrendoktor von Informatikern
erhielt, Angst vor der informatorischen Sintflut? 1996, in der Wiegezeit der zivilen, kommerziellen Nutzung des Internets, sagte der
Schriftsteller, dass er selbst lieber bei Büchern und Journalen bliebe.
Im gleichen Atemzug sah er die großen Copyright-Debatten unserer Gegenwartspolitik kommen. Literatur mit Relevanz. Etwas, das
heute kaum jemand an erster Stelle dem Genre der Science-Fiction
zuschreibt. Deutlich bleibt aber, dass wissenschaftliche Prosa selten
so viel Freude bereitet, wie bei der Lektüre von Stanislav Lems Professor A. Donda.
In der Insel-Bücherei ist nun eine neue, erstmals illustrierte Einzelausgabe der Erzählung erschienen. Unter der Leitung von Henning
Wagenbreth hat die Klasse für Buchgestaltung und Illustration an
der Universität der Künste im Rahmen eines Illustrationswettbewerbs Entwürfe für diese Ausgabe angefertigt. Ausgezeichnet und
gedruckt wurden die Zeichnungen von Benjamin Courtault, der
mit dreifarbigen Drucken 10 Doppelseiten, den Umschlag und
mehrere Seiten mit Randzeichnungen gestaltete. Professor A. Donda ist seine erste publizierte Illustrationsarbeit.
Die Übersetzung aus dem Polnischen hat Klaus Staemmler geleistet,
das Nachwort Matthias Reiner verfasst.
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Rainald Goetz:
JOHANN
HOLTROP. Abriss
der Gesellschaft.
343 Seiten.
Suhrkamp Verlag 2012.
19,95 EUR (D).
Rainald Goetz – Johann
Holtrop
Eine Rezension von Kris n Gora.
Mit einem treffsicheren Fingerspitzengefühl piekst Rainald
Goetz in seinem aktuellen Roman in eine Sprachblase nach
der anderen. Er zeigt, was Menschen mit ihrer Sprache machen und wie die Sprache die Menschen macht, wie Wirtschaft oder Kunst mit Sprache erklärt und geschaffen werden. Eine große konstruierte Wirklichkeit. Besser als jede
Reality-TV-Sendung, denn hier wird die Wirklichkeit zur
Show. Die Figuren der erzählten Welt des Johann Holtrop
geben ununterbrochen den „normalen Nulltext“ von sich,
den „Text, den alle kannten.“ Die Wirtschaft wird zum großen verbalen Wenn-Dann-Geschäft.
Der Roman kreist um einen internationalen Medienkonzern und
dessen Vorstandsvorsitzenden Dr. Johann Holtrop, der als GlobalPlayer dem Unternehmen mit geschickten Verhandlungen und
Zukäufen mittels Krediten einen Wachstumsschub ermöglicht.
Eine Wirtschaftsblase, die mit dem Zusammenbruch der Investmentbranche nach dem 11. September platzt. Für das eigentliche
Kerngeschäft hat Holtrop keine Interesse und auch so ziemlich
keine Ahnung davon, wie man ein Unternehmen saniert. Als es
eng wird, ist der Vorstandschef zu echten Taten nicht in der Lage.
Denn nur eines konnte Johann Holtrop wirklich: reden. Und das
macht er auch die ganze Zeit. Entweder textet er seine Untergebenen sinnlos selbstdarstellerisch und machtdemonstrierend zu oder
er redet mit sich selbst. Jeder Gedanke scheint ihm Gold wert, Stoff
für ein Buch oder einen Vortrag. Wie er sich freute, „wie gut das
klang, was er in Interviews und Porträts schriftlich zu sagen be-
72
© wasser-prawda
kam, was er angeblich gesagt hatte.“ Eine journalistische Blase über
den ohnehin schon hohlen Worten von Holtrop.
Dass so ein Leben bedacht auf und bestehend aus Außendarstellung, medialer Resonanz und ständiger Selbstvergewisserung bei
mangelnder Kompetenz nicht glücklich und zufrieden wie bei
Fallada in der Gartenlaube enden kann, liegt auf der Hand. Und
so stirbt der Selbstdarsteller während seiner letzten Performance,
seiner letzten verzweifelten Machtdemonstration, weil er sich mal
wieder verzockt hat. Mit einem Schritt wollte er sich rechtzeitig vor
dem herannahenden Zug retten und rutscht dann aus. Das Ende
eines Lebens ohne Sicherheitsabstand.
So gemein es auch ist, mit dem Ende einen Roman schmackhaft
zu machen, so sehr eignet es sich in diesem Fall doch dazu. Für die
Lektüre definitiv eine Schlüsselstelle und ein Grund, auf jeden Fall
noch über den Roman zu schreiben, auch wenn die meisten sich
schon dem Programm der nahen Leipziger Buchmesse zuwenden.
Aber Mainstream wollen wir hier ja auch gar nicht sein. Keine Blasen produzieren und schreiben, was wir morgen schon nicht mehr
lesen wollen. Schlechte Kritiken seien gut für ihn aber schlecht für
das Buch, sagte Rainald Goetz im Interview mit der Zeit. Dem
ist nur zuzustimmen, weshalb hier der Debatte eine etwas andere „- es ist ja nicht so,
Lesart hinzufügen war. Viele schrieben darüber, was der Roman dass Rainald Goetz
hätte sein können/ sollen/ müssen. Sie beschreiben, dass alle auf
„den Roman“ von Rainald Goetz gewartet hätten, beschreiben sein an der Form Roman
Scheitern an der Fiktion um gleichzeitig mit dem gespielten who- gescheitert wäre, es ist
is-who-Spiel wieder das Gegenteil zu wollen. Diskussionen, die
vielmehr so, dass Raidem Buch selbst nur wenig gerecht werden.
So tragisch der Absturz des Vorstandsvorsitzenden Dr. Johann nald Goetz vorführt,
Holtrop doch klingen mag, so wenig Tragödie finden wir im Text.
Ein Erzähler, der seinen Abriss der Gesellschaft – so der Untertitel wie eine Welt scheides Romans – mit den Worten „Wütend schritt ich voran“ einlei- tert, die sich immer
tet, verleiht seiner Wut in einem zunehmenden Erzähltempo, vorschnellen Urteilen über die Figuren und einer Sprache Ausdruck, mehr in einen Rodie dicht und gleichzeitig auch leer ist. So wie man einen wut- man verwandelt.“
schnaubenden, rotanlaufenden und leere Phrasen brüllenden Chef
in Film und Literatur so gerne dargestellt sieht, über den man am (Georg Dietz, Spiegel-onEnde nur noch lachen kann, wie auch kleine Kinder ihre schimp- line 14.9.2012)
fenden Mütter so gerne mit einem Lächeln beglücken.
Rasant und unglaublich witzig. Ein Roman, von dem man sich
durchaus selbst ein Bild machen darf und definitiv sollte.
© wasser-prawda
73
Odile Endres:
Drei Gedichte
Odile Endres
Odile Endres (Jg. 1957) studierte an den Universitäten
Aix-en-Provence
(Lettres
Modernes) und Heidelberg
(Germanistik, Romanistik,
Computerlinguistik). Literarisch debütierte sie 1995 mit
„Rendezvous mit Künzle“. In
den folgenden Jahren widmete sie sich vor allem der
Internet-Literatur, in der sie
Wort, Bild, Klang und Programmcode zu einer Synthese
zusammenführte. Seit 2005
lebt sie in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie als Dozentin
für Schriftkompetenz an der
Universität Greifswald lehrt.
Ihr Schwerpunkt entwickelte sich in den letzten Jahren
hin zur Lyrik und Lyrik-Performance. 2008 wurde ihr
bei der 11. Lyrikmeisterschaft
des Landes MecklenburgVorpommern der 2. Preis der
Jury zugesprochen, 2009 erhielt sie den Publikumspreis.
Im Juni 2009 gründete sie gemeinsam mit Silke Peters und
Irmgard Senf in Stralsund die
Lesebühne tEXTRAbatt, eine
Plattform für Poesie-Performance. 2012 qualifizierte sie
sich für eine Einladung zum
Lese- und Gesprächsabend
„Lichtes Rauschen“, der ersten
Veranstaltung einer neuen
Reihe für Lyrikerinnen und
Lyriker des Landes Mecklenburg-Vorpommern.
Internet-Literatur und
Blogs:
http://www.odile-endres.de:
Das Cyku des Tages und andere Lyrik- und Text-Projekte
http://w w w.cyberprosa.de:
Internet-Literatur, Papier-Literatur, Lyrik im Cyberspace
74
sorgenbus
der sorgenbus fährt jetzt täglich.
zu jeder tages- und nachtzeit.
der zus eg ist überall möglich,
man braucht sich nur an die
straße zu stellen: daumen
nach unten und der bus
stoppt.
für eine atmosphäre der angst
ist gesorgt.
jeder ist berech gt, das mikro
zu nehmen & sich die sorgen
vom herzen zu versen in einer
art sorgenslam der busfahrer
trägt ohropax
besonders beliebt sind die nacht
kurse es spricht sich besser bei
einer not-beleuchtung orangnes
flackern in düster gezackten
abständen gibt das rich ge
höllen feeling
es ist auch erlaubt zu schweigen
angenehmer aber ist das leise
sorgengespräch mit den kummer
sitz kollegen jeder der einsteigt
verpflichtet sich alles was geverst
wird vertraulich zu behandeln
natürlich darf auch geweint werden
besonders beliebt sind die nacht
fahrten jeden letzten samstag im
monat wenn per abs mmung die
sorgenmeister gewählt werden
der rekord waren sechzig
präzise getaktete sorgen in
einer minute also eine sorge
pro sekunde
der sorgenslam ist für manche
der höhepunkt des ganzen
monats andre fahrn lieber in
den morgenstunden wenn
die sorgen allmählich müde
© wasser-prawda
werden & auch den
sorgenmachern den somnambulen
die augen zu
fallen
wenn die ersten licht
pixel in der finsternis am
horizont aufscheinen wenn
die dinge durchsich g werden
und zu flirren beginnen wenn
die schicksale für einen
wimpernschlag der elendszeit
in der schwebe bleiben
wenn der bus für einen hellen
zeitspli er lang hinüberfährt
in die andere zone
aber fast immer bleibt
der bus auf der strecke
der wirklichkeit die ihm
bes mmt ist & selten kehrt
er mit einer leerfahrt
zurück.
(2009)
wir waren am ende der welt
angelangt aber das schicksal
der erde bekümmerte uns wenig
uns war das eigene abhanden
gekommen
wir hörten die stecknadeln fallen
ihre köpfe schimmerten meerblau
vielleicht waren sie daran schuld
dass wir nicht mehr wegkommen
würden
von jenem ufer der langsamkeit
wo die fische mit ihren goldaugen
uns zuflüsterten wenn wir versuchten
die zeichen von wasser und sand zu
verstehen
als die pipelines das haar der meerjungfraun
durchschni en und ihr methanblut am
strand verströmten wachten wir auf
und merkten dass wir zu lange
geträumt ha en
(2008)
© wasser-prawda
75
PUTBUSLUST
ach
putmusbuse
busputmuse
musbuspute
mutbuspuse
mutpusbuse
putbusmuse
ah
putbussucht
putbusbucht
putbuswucht
putbuskuss
putbusbus
putbusnuss
putbussstuss
putbusmousse
putbuswust
putbusfrust
putbuslust
oh
kutbuspunst
busputkunst
nuskutpunst
putkussbunst
putkussbrunst
busputdunst
PUTBUSKUNST
76
(2010)
© wasser-prawda
„Manuskripte brennen
nicht.“
Michael Bulgakow
Voller Trotz schleudert der russische Dichter diese Worte der Stalinistischen Kulturpolitik ins Gesicht. Religiöser oder politischer
Fanatismus hat immer wieder Menschen ihrer kulturellen Identität zu berauben versucht. Von den Zeiten des Alten und Neuen
Testaments über die Antike, von der Inquisition, der Reformation zum Wartburgfest 1817, über Bücherverbrennungen unter den
Nationalsozialisten, die Chinesische Kulturrevolution, die Roten
Khmer, von Aktionen fanatischer „Christen“ in den USA bis jüngst
nach Timbuktu zieht sich die Brandspur. Wer sich im Besitz der
einzigen gültigen Wahrheit glaubt, will die Andersdenkenden und
-glaubenden zwingen, sich ihrer Weltsicht anzuschließen.
Doch: So sehr sie sich auch mühen, sie können Bücher verbrennen,
sie können Menschen erschlagen, sie können versuchen, ihre kulturelle Identität zu zerstören. Was sie nicht können, ist, die Literatur
zu verbrennen. Denn Bulgakow hat Recht, wenn er den Teufel in
seinem Roman „Der Meister und Margarita“ dem Meister das den
Flammen entrissene und unversehrte Manuskript mit den Worten
zurück gibt: „Manuskripte brennen nicht.“
Andreas Kaufeldt und Raimund Nitzsche
© wasser-prawda
Am 10. Mai 1933 gab es
Bücherverbrennungen
in:
Berlin
Bonn
Braunschweig,
Bremen,
Breslau,
Dortmund,
Dresden,
Frankfurt am Main,
Gö ngen
Greifswald
Hannover
Hannoversch
Münden
Kiel,
Königsberg
Landau
Marburg
München
Münster
Nürnberg
Rostock
Worms
Würzburg
77
78
© wasser-prawda
Carl Sternheim
(1878-1942)
Carl Sternheim wurde 1878
in Leipzig geboren. Ab 1900
lebte er als freier Schriftsteller.
Bekannt wurde er vor allem
durch seinen Dramenzyklus
„Aus dem bürgerlichen Heldenleben“, in dem er ebenso
wie in seinen Novellen das
Bürgertum - und die Sprache
desselben - einer scharfen Kritik unterzog. Bevor er 1912
nach Belgien übersiedelte, gehörte Sternheim in München
zur Boheme um Frank Wedekind. Nachdem seine Werke
von den Nationalsozialisten
verboten wurden, starb er
nach langem nervlichen und
psychischem Leiden 1942 in
Brüssel.
Werke: in Auswahl:
„Aus dem bürgelichen Heldenleben“ (Dramenzyklus 19081923): Die Hose, Der Snob,
1913, Das Fossil, Die Kassette, Bürger Schnippel
Carl Sternheim - Napoleon
Napoleon wurde 1820 zu Waterloo im Eckhaus, an dem
sich die Steinwege nach Nivelles und Genappes trennen,
geboren. Sein Kinderleben verließ historischen Boden
nicht.
Über die durch Hohlwege gekreuzten Flächen, auf denen
des Kaisers Kürassiere in Knäueln zu Tod gestürzt waren,
gingen seine Soldatenspiele mit Gleichalterigen. Sie lehrten ihn ewige Gefahr, Wunden und Sieg.
Zwölf Jahre alt, nahm er von Kameraden beherrschten Abschied, sprang zum Vater in die Kalesche, fuhr nach Brüssel hinüber, wo er vor ein Gasthaus abgesetzt wurde. In
der Küche des Lion d‘or lernte er Schaum schlagen, Fett
spritzen, schneiden und schälen. Gewohnter Überwinder
der Kameraden auf weltberühmter Walstatt, ließ er auch
hier die Mitlernenden hinter sich, war der erste, der die
© wasser-prawda
Chronik von des zwanzigsten
Jahrhunderts Beginn, Novellen
(1918)
Europa, Roman (1919-1920)
Vorkriegseuropa im Gleichnis
meines Lebens, Erinnerungen
(1936)
Sternheim nahm seine
1915 erschienene Novelle
„Napoleon“ 1918 in den
ersten Band seiner „Chronik von des zwanzigsten
Jahrhunderts Beginn“ auf,
der wir hier folgen.
79
Geflügelpastete nicht nur zu des Chefs Zufriedenheit bereitete, auch nach Gesetzen zerlegte.
Er selbst blieb von allen Speisenden der einzige, den der
Vol-au-vent nicht befriedigte; doch nahm er Lob und ehrenvolles Zeugnis hin, machte sich, siebzehnjährig, auf den
Weg, betrat an einem Maienmorgen 1837 durch das SanktMartins-Tor Paris.
Als er auf einer Bank am Flußufer die strahlende Stadt
und ihre Bewegung übersah, wurde ihm, was er in Brüssel
geahnt hatte, zur Gewißheit: Nie würde er aus den allem
Verkehr fernliegenden Küchenräumen die enge Berührung mit Menschen, die sein Trieb verlangte, finden. Tage
hindurch, solange die ersparte Summe das Nichtstun litt,
folgte er Kellnern in Wirtschaften gespannten Blickes mit
inniger Anteilnahme; verschlang ihre und der Essenden
Reden, Lachen, Gesten. An einem hellen Mittag, da eine
Dame Trauben vom Teller hob, den ihr der Kellner bot, trat
er in die Taverne auf den Wirt zu, empfahl sich durch Gebärden, flinken Blick als Speisenträger.
Nun brachte er Mittag- und Abendmahl für alle Welt herbei. Von beiden Geschlechtern kam jedes Alter, jeder Beruf
zu seinen Schüsseln, sättigte sich. Unermüdlich schleppte
er auf Tische, fing hungrige Blicke auf, satte, räumte er ab.
Nachts träumte er malmende Kiefer, schlürfende Zungen,
ging anderen Morgens von neuem im Bewußtsein seiner
Notwendigkeit ans Tagwerk.
Allmählich sah er Unterschiede des Essens von schmatzenden Lippen ab, kannte den gierigen, weitgeöffneten Rachen
des Studenten, durch den Bissen in ein nie gestopftes Loch
fielen, unterschied den Vertilger eines nicht heißhungrig
ersehnten, doch regelmäßig gewohnten Mahles von jenem
Überernährten, der sich ungern zum Tisch niederließ, gelangweilt Leckerbissen kostete und zurückschob. Prägte
die kauende, trinkende Menschheit in allen Abstufungen
sich fest und bildhaft ein.
Durch Kennerschaft wurde er ihr Berater und Führer; wies
Hungrigen feste Nahrung, bediente die Satten mit Schaum
und Gekröse; von ihm zu allen Tischen lief ein Band des
Verständnisses. Hob der Gast die Karte, fiel von Napoleons
Lippen der gewünschten Speise Name.
Jahrelang blieben die seine Lieblinge, deren leibliche Not
die Kost stillen sollte. Ein saftiges Stück Fleisch, von kräftigen Zähnen gebissen, schien ihm die gelungenste Vorstellung. Doch machte er Unterschiede zwischen Sorten. Ließ
er Kalb und Lamm im Hinblick auf ihre festere Zusammensetzung gelten, war ihm Wild, Geflügel wenig sympathisch. Von Fischen, Austern und Verwandtem hielt er
der lockeren Struktur wegen nicht das geringste. Inbegriff
guter Nahrung war ihm das Rind. Unwillkürlich sah er die
Begegneten beim Hin- und Heimweg auf ihre Muskulatur
hin an. Die schienen ihm wohlbereitet, die über straffem
Knochenbau gedrängte Materie trugen. Magere verachtete er, die mit losem Fett Gepolsterten waren ihm verhaßt.
Einem gut aufgesetzten Körper folgten seine Blicke zärtlich, zerlegten ihn in gigots, selle, côtes und Kotelettes. In
der Einbildung streute er Pfeffer und Salz hinzu, garnierte, schnitt, servierte das Ganze mit passendem Salat; dann
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© wasser-prawda
lächelte das junge Gesicht, hingerissen ahnte er nicht, in
welcher Zeit er lebte; unterschied Sommer, Winter, Trokkenheit, Regen, Überfluß und Notdurft nicht, wußte nur:
dies freut den Gast!
Immer hitziger wurde sein Trieb, dem zu Bedienenden
sättigende Kost zu bieten. Gewürz und Zutat sah er nur in
dem Sinn, wie sie die bestellte Speise fest und ausdauernd
machten. In seine Vorstellung bildete sich des leeren Magens Raum, in der er Nahrung aus Beton baute.
Ging der Gesättigte, der schlappen Schrittes gekommen
war, wuchtig zur Tür hinaus, hing Napoleons Blick, als
sei dessen Lebendigkeit sein Werk, an dem Schreitenden.
Er brauchte, vor sich bestehen zu können, das Bewußtsein
schöpferischer Tat, steigerte es zur Überzeugung, ohne ihn
und seine Pflege sei der Betroffenen Lebensarbeit unmöglich. Die festzustellen, merkte er der Gäste Namen; nahm
an ihrem Vorwärtskommen teil.
Es geschah, als er am freien Tag durch Wege der Versailler
Parks schritt, in der Einbildung, er habe gerade eine riesige Wurst mit Höchstwerten menschlicher Nährstoffe gestopft und schnitte den Wartenden Scheiben herunter, daß
aufschauend sein Auge zu einem jungen Weib fiel, das ein
Kind am entblößten Busen hängen harte. Gebannt blieb Napoleon stehen, prägte sich das Bild rosiger, geblähter Rundheiten an der Frau und dem Säugling in aufgetane Sinne.
War das eine Apotheose seiner Träume von kraftvoller
Nahrung und ihrem besten Verbrauch! An die Nährende
hätte er niederfallen, durch Umschlingung ihres und des
Kindes Leibes am erhabenen Vorgang teilnehmen mögen.
Das Bild verließ ihn nicht, veranlaßte ihn, flüssigen Stoffen
gesteigerte Aufmerksamkeit zu schenken; dann hob es den
Wert der Frau, der bis heute ihrer geringen Lust zum Essen wegen für seine Welt nicht groß gewesen war, sich jetzt
aber gut ins große Bild tafelnder Menschheit einordnete.
Zum erstenmal besah er das Mädchen an der Anrichte,
dem er bisher nur den kräftigen Gliederbau bestätigt hatte,
immer eindringlicher, als prüfte er es auf gewisse ihm einleuchtende Möglichkeiten. Er fand, sie nähme zuviel leichtes Zeug als Nahrung, belade sich mit Geblasenem und
Aufgerolltem, das im Magen zu einem Nichts zusammenfiele, warnte vor Klebrigkeit und Süßem, forderte sie eines
Tages geradezu auf, mit ihm ein Mahl zu nehmen, das bis
ins kleinste von ihm zusammengestellt, in seinem Wert für
sie erörtert werden sollte. Das Mädchen nahm des Mannes
Kauderwelsch für Umschweif, willigte ein, und an einem
der nächsten Tage gingen sie ein Stück über Land, traten in
einen Gasthof ab.
Dort verschwand Napoleon und erklärte zurückkommend
der schmollenden Suzanne, er habe bis ins kleinste in der
Küche vorgesorgt. Mit einem Ragout von Hammel in Burgunderweinsoße beginne man, gehe, falsche Vorspiegelungen verschmähend, geradezu auf ein wundervolles, halbblutiges Rindlendenstück, an das er englische Gurken und
Zwiebeln habe braten lassen, zu.
Als das Essen aufgetragen war, wies er sie, Bissen langsam
zu kauen, ohne Zukost von Brot zu schlucken, ruhte nicht,
© wasser-prawda
81
bis das letzte Stück auf der Schüssel vertilgt war, befahl ihr
und sich ein Gläschen Schnaps zu besserem Bekommen an.
Da sie nach Tisch im Grase lagen, breitete er Arme und
Beine aus, riet ihr, Gleiches zu tun. Ein schmächtiger Bursche sei er gewesen, seine Gewebe nur durch vernünftige
Nahrung, angemessene Verdauung fest und kräftig geworden. Dabei ließ er Muskeln der Arme und Waden durch
Beugung zu kleinen Bällen schwellen, worauf sie, in der
Eitelkeit gepackt, auch die Glieder spielen ließ, ihn zur Prüfung der festen Beschaffenheit einlud. Doch bestritt er alles von vornherein, meinte, bei ihrer bisherigen Ernährung
sei es nicht möglich, forderte sie, in Zukunft nach seinen
Vorschriften zu leben, auf. Dann werde, was nicht dasei,
kommen.
Er gefiel ihr. Der nüchterne Sinn machte Eindruck auf sie,
sie bemühte sich, seine Erwartung zu erfüllen. Beim nächsten Ausflug blieb sie plötzlich stehen, bäumte den Arm,
ließ seine Hände die Anschwellung fühlen. Doch kam
durch Wochen nur ein Schnalzen von ihm, das ihr, sie sei
auf rechtem Weg, bedeutete. Bis sie eines Tages beim Versuch, ein gelöstes Schuhband zu knüpfen, ihm ein so mächtiges Rückenstück entgegenhob, daß runde Anerkennung
seinen Lippen entfuhr. Gleich lag sie an seiner Brust; bot
ihm den Mund zum Kuß.
Der Besitzer der Taverne starb, und Napoleon wurde des
Speisehauses Inhaber. Er konnte schalten, wie er wollte,
entfernte alle Spielereien von der Karte. Die gleichbleibende
Kundschaft, er selbst und Suzanne waren gewichtige Personen, die eine Rede deutlich in den Mund nahmen, geworden. Es gab kein Getuschel in seinen Räumen, doch dröhnendes Lachen zu schallenden Worten. Forsches Zugreifen
und Fortstellen. Überzeugte Meinungen, Entschlüsse für
kühne Tat.
Napoleons Vaterunser und Einmaleins hieß: in allen Molekülen drängende Kraft. Von Suzannes Kind, das sie von
ihm unter dem Herzen trug, rechnete er, es müßte nach
Menschenermessen ein Herkules werden.
Des Hauses Ruf hatte sich verbreitet. Einer rühmte es
dem andern, brachte ihn zu einem Versuch mit. Schließlich reichte der Raum, die Gäste zu fassen, nicht. Einen frei
werdenden Stuhl besetzte gleich ein anderer Hungriger.
Große Tagesumsätze wurden erzielt, immer bedeutendere.
Verglich aber der Wirt zum Jahresabschluß Einnahme und
Ausgabe, kam kaum ein Guthaben zu seinen Gunsten heraus. Anfangs, bevor er das Ziel seines großen Rufes erreicht
hatte, ließ er es gehen; als der in Paris feststand, begann
die schlechte Abrechnung ihn zu wurmen. Er war dreißig
Jahr alt, hatte große Pläne, und schien Reichtum nicht seine
letzte Absicht, mußte er mit dem übrigen kommen. Nochmals nahm er die Bücher gründlich vor und stellte fest, der
geforderte Preis war in Anbetracht der hervorragenden Beschaffenheit und Menge der gereichten Speisen zu niedrig.
Da ihm aber einleuchtete, er könnte der Konkurrenz wegen
keinen Preisaufschlag eintreten lassen, sah er sich vor der
Entscheidung, alles beim alten zu lassen oder des Gebotenen Qualität zu verschlechtern. Treu seinen Grundsätzen
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© wasser-prawda
entschloß er sich zu ersterem, stand aber den Essenden
nicht mehr mit alter Unbefangenheit gegenüber. Bei jedem
Filet, das der Kellner mit schönem Schwung zum Gast niedersetzte, stellte er den Vergleich zwischen Ware und erzieltem Preis an, kam dazu, daß eine Platte, je besser sie
gelungen, je reichlicher sie serviert wurde, ihn um so mehr
in qualvolle Erregung setzte. Besonders konnte er den Blick
von einem Gast nicht wenden, der mit dem Gebotenen
nicht zufrieden, Bedienung und Küchenbrigade durch anfeuernde Reden zu höchster Leistung gespornt hatte, wahre Fleischtrümmer, die er mit Mengen alles Erreichbaren
würzte, vorgesetzt bekam. Dazu warf er Napoleon triumphierende, anerkennende Blicke zu, die diesen erbitterten,
endlich zu heller Empörung brachten. Der Vielfraß war ein
Kanzleibeamter, von dem besonderes Verdienst nie verlautet hatte, und der Herr des Gasthauses fragte sich, mit
welchem Recht, für welches bedeutende Vorhaben der Betreffende solche Anforderungen für seinen Magen stellte.
Man wisse zu welchem Zweck, schlänge ein Thiers, Balzac
solche Mengen in seine Därme. Dieser Durchschnittsbürger aber schweife widerlich aus, garniere er den faulen
Bauch täglich mit solchen Prachtfleischstücken. Überhaupt
begann der Wirt des Veau à la mode, seine Stammgäste auf
ihre Verdienste hin anzusehen, und stellte vor seinem Gewissen fest, keiner habe die Sorge, die man jahrelang an
seine Ernährung gewandt hatte, durch Erfolge vergolten.
So folgte er ihrem Schlingen mit scheeleren Blicken, und
© wasser-prawda
83
als seines Grolls Maß aufs höchste gestiegen war, brüllte
er eines Tages dem Hauptkoch, der über ein Tournedos ein
volles achtel Pfund Butter goß, zu, ob er von Gott verlassen
sei, ihn durchaus ruinieren wollte.
Über alles das hatte er schlaflose Nächte, bis er sich zu fester Anschauung durchgerungen hatte: Die Mahlzeit hat
ein Äquivalent der durch tägliche Arbeit verausgabten
Kräfte zu sein. Und stellte den Blick seiner Kundschaft gegenüber auf Feststellung dieser Tatsache ein, fand, er könnte ruhigen Gewissens mit der Beschaffenheit, dem Maß der
Portionen heruntergehen und leiste immer noch ein Mehr
in den Magen der Speisenden. Auch Suzanne gegenüber,
die ihm ein Mädchen geboren hatte und noch in derselben
Stellung bei ihm war, nahm er diesen Standpunkt ein. Auf
Grund seiner Erziehung war sie, ihren und ihres Kindes
Körper mit ausgesuchter Eßware zu stopfen, gewöhnt. Jetzt
wies er sie hin, Schande sei es, ungeheueren Nahrungsmengen, die sie genösse, ein so winziges Maß an Leistung
gegenüberzustellen. Sie möge Leib und Geist mehr tummeln oder ihren Eßverbrauch einschränken.
Damit hatte der Prozeß kein Ende in ihm. War gegen Mitternacht das Geschäft vorbei, das Haus leer, blieb er am
Herd, begann, schmorend und bratend, Versuche mit Surrogaten, die er den Speisen beimischte, zu machen, von
Überzeugung geführt, er habe das Recht und die Pflicht, es
den Verbrauchern gleichzutun, die auch an Stelle persönlichen Wertes für das Menschengeschlecht falsches Vorgeben, hohle Gesten und Phrasen gesetzt hatten.
Langsam begann er, seine theoretischen Erkenntnisse in
die Praxis umzusetzen. Äußerlich blieb alles, Name, Anrichtung der Speisen, beim alten. Bedachte er aber, wie ein
Stück Fleisch durch Klopfen und Lockern der Atome geschwollen, durch Beimischung scharfer Gewürze Kiefer
und Gaumen jetzt mehr durch Beize reizte, schmunzelte er,
trieb die entdeckte Kunst zu größerer Vollendung. Da hatte er am Schluß des Jahres zwar die Genugtuung außerordentlichen Überschusses, fühlte aber, ihn befriedigten die
Grundsätze, nach denen er heute Wirt sei, weder in bezug
auf die Beschaffenheit der Gäste noch hinsichtlich der Mittel, die er, ihre Erwartungen zu erfüllen, anwandte.
An einem Sonntagabend lief vor seinen Augen die Wendeltreppe zu Räumen im ersten Stock des Restaurants ein
Persönchen empor, das mit Rockrüschen und Volants,
ein Quirl über seiner Stirn hüpfte. Beine in weißseidenen
Strümpfen nahmen zwei, drei Stufen auf einmal, bei jedem
Satz federte der Körper hoch auf in Gelenken, dazu flogen
Haare, Federn, Pelzwerk um den Kopf, empörtes Hundekläffen kam von ihrem vermummten Busen her. Mit einem
Sprung schwang sie sich oben zu zwei Herren an den Tisch,
rief klingenden Stimmchens: »Hunger!« Napoleon, der auf
Zehen vor sie getreten war, durchfuhr‘s, hier sei seine ganze Speisekarte fehl am Ort, und während Röte sein Antlitz
malte, schlug das Herz in hastiger, aussichtsloser Erregung
Generalmarsch, was er diesem Püppchen bieten könnte.
Als Madame Valentine Forain stellte sie einer der Herren
vor, und Napoleons Unruhe wuchs, als er hörte, er habe
die berühmte Tänzerin, die Paris seit Wochen bezauberte,
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© wasser-prawda
© wasser-prawda
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vor sich. »Stillen Sie meinen Hunger mit Luft«, sagte sie,
»die den Leib nicht beschwert. Sie sehen aus, als verstehen
Sie Ihre Kunst. Diesem süßen Ungeheuer«, sie wies auf das
safranrote Hundeschnäuzchen, das aus Spalten ihrer Taille
schnüffelte, »reichen Sie ein Schälchen zerkleinerte Kalbsmilch.«
Einen Augenblick blieb Napoleon auf dem Gang zur Küche im Dunkeln an einem Pfeiler stehen, als habe er einen
Schlag an die Stirn bekommen, müßte sich zu neuem Leben
sammeln. Gleich aber schoß die Stichflamme der Erkenntnis hoch, hier gelte es Zukunft, er spürte den aus Kämpfen der letzten Wochen gesammelten Willen zu gänzlich
Neuem als Lichtmeer über sich fluten. An den Herd er glitt,
schnitt, mischte, quirlte; hob es in kleinster Kasserolle nur
eben ans Feuer, nahm‘s fort, als erster Wrasen stieg, und
mit vier Sprüngen die ganze Treppe nehmend, servierte er
das Schüsselchen in frühester Hitze: Taubenpüree mit frischen Champignons.
Sie kostete, murmelte, schluckte und schlug ein Paar kornblumenblaue Augen zu ihm auf. Er stürzte in die Küche
zurück, setzte den Herd in heißere Glut, ließ über eine
Handvoll Spargelspitzen, die er den jüngsten Sprossen abgeschnitten, Dampf, in dem er sie gar kochte, schlagen. Im
letzten Augenblick gab er eine Schwitze von Sahne und
Sellerie auf das Ganze. Als drittes, letztes Gericht bot er frische, geschälte Walnüsse mit Himbeeren à la crème. Dem
Hündchen hatte er Trüffeln an die Kalbsmilch getan.
Nun stand er in der Nähe, sah, wie nach wenigen Bissen
von jeder Platte die sanfte Röte auf ihrer Haut lag, der Körper sich tiefer in des Sofas Kissen drückte, ein Fauchen aus
ihrem Mund, winzige Tropfen Feuchtigkeit aus den Augen
kamen, ansagend, das zarte Leibchen ziehe Kraft aus dem
Genossenen. Keiner der Herren sprach in diesen Augenblicken, da auf der Frau Antlitz andächtiges Lächeln lag,
als sei es ausgemacht. Zitternden Zwerchfells lachte Napoleon, schütternden Leibes in heller Seligkeit dazu, bis die
Augäpfel in Tränen schwammen. Er war mit ihm eins, lobte
Gott in der Höhe!
Die Begegnung wurde geänderten Lebens, neuer Ziele Anfang. Als er am gleichen Abend heimkehrend Suzannes
kräftigen Leib in den Bettkissen fand, schnitt er der Schlafenden eine angewiderte Grimasse. Wütend deckte er ein
freiliegendes Rundteil von ihr zu, schloß die Augen und
träumte der Tänzerin behende Gestalt in Wolken Seide und
Band. Vor seinem geistigen Blick prüfte er die schlanken
Arme, schmale Hand, ihre zierliche Erscheinung und stellte fest, wie wenig fleischliche Person die Begnadete sei, wie
geringer Kost sie zu künstlerischer Leistung, durch die sie
eine Nation zum Entzücken hinriß, bedürfe. Für welche Tat
sei der Leib neben ihm so aufgemästet, zu welchen Fortschritten brauchte er die täglichen mächtigen Rationen?
Mit was für Gesindel habe er, Napoleon, sich bis über sein
dreißigstes Jahr abgegeben, welchen steilen Weg zu lohnendem Ziel müßte er noch steigen! Er fühlte, keine Minute sei
zu verlieren, alles Heil ruhe im Anschluß an die verehrte Gastin. So widmete er ihr vom zweiten Erscheinen sein
Trachten und Vermögen. Dachte bis zu ihrem Kommen
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© wasser-prawda
nichts, als was er ihr vorsetzen, wie er ihre Erwartungen
übertreffen müßte. Lief vom Markt in Hallen und Krämereien; suchte, tüftelte Frischestes, Zartes, Rarstes heraus.
Zur Vorstellung ihres winzigen Kernes in einer Hülle von
Tüll und Tand dichtete er aus Schaum, Krusten, Farce und
Soßen das assoziierende Speisengebild; schabte, preßte in
Tücher, seihte, überquirlte ein dutzendmal, bis, eine Wolke, das Gekochte schwebend zum Teller sank. Dann sah
er es entzückt zwischen zwei leuchtenden Zahnreihen auf
schmaler Zunge zergehen.
Einst gönnte sie ihm ein Wort der Anerkennung. Ihm
schien‘s ein Rauschen, hallte ihm lange im Ohr. Zum Schluß
riet sie, das Stadtviertel des soliden Bürgers zu verlassen,
jenseits des Flusses, mitten im Herzen des vornehmen Paris, ein Restaurant, das trotzdem jeder entbehrte, der an Küche und Keller höchste Anforderungen zu stellen gewillt
sei, zu schaffen. Sie würde mit Freunden kommen; wollte
seiner außerordentlichen Kunst Verkünderin sein.
So geschah‘s. Nachdem er in einer Seitenstraße bei der
Oper das passende Lokal gefunden hatte, verkaufte er die
alte Wirtschaft mit Nutzen, ließ die Wände der gemieteten Räume mit weißsilbernen Malereien, die zum reichen
Silber, der Wäsche der Tischreihen stimmten, zieren. Ein
roter Teppich deckte den Boden. Kraft eines Schlagwortes,
das auf und über die Boulevards flog, wußte Paris von der
Existenz des Chapon fin, daß Kenner gewählten Bissens
dort auf ihre Rechnung kämen. Vier Wochen nach Eröff-
© wasser-prawda
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nung ging die beste Welt, als habe sie nie einen anderen
Ort des Stelldicheins gekannt, bei Napoleon ein und aus.
Der Ruhm seiner Küche beruhte auf der leichten Platten
Vorzüglichkeit. Man konnte ein Chateaubriand, Seile de
chevreuil wie anderswo bekommen, doch wies der Maitre
d‘hôtel den Gast mit Augenzwinkern auf des Hauses Spezialität: Muschelgerichte, Ragouts, Pürees in Pfännchen;
Überraschungen in winzigen Schälchen und Kasserollen.
Der Gast folgte und war regelmäßig zufrieden.
Denn was der Herr des Hauses für die Tänzerin erdacht
hatte, vervollkommnete, vermehrte er von Tag zu Tag.
Schalentiere ließ er aus Krusten, Geflügel von Knochen
brechen, nahm Gekröse vom Tier, von Gemüsen Spitzen.
Frikassierte, mischte verblüffende Gegensätze, verband
Widerstrebendes in Soßen von Sahne, kostbaren Eiersorten,
Pilzen und duftenden Essenzen. Das letzte Geheimnis seines Erfolges aber war die »kurze Hitze«, in der die Speisen
gar werden mußten. Oberster Grundsatz hieß: was zu lange Feuer gerochen, ist für den Ruch verdorben.
Nach wie vor blieb Valentine die erste, die jede neue Schöpfung kostete. Zwischen ihr und dem Patron webte schöne
Vertraulichkeit, geboren aus Blicken dankbarer Anerkennung, mit denen die Essende Napoleon nach jeder von ihm
selbst angerichteten Platte beschenkte. Allmählich lernten
sich die Augen sonst auch suchen, nach dem lauten Scherzwort eines Gastes, unzarter Bemerkung von irgendwoher,
bei jedem Vorkommnis. Fühlten, wie es in der Blicktiefe
des anderen ein Geheimnisvolles gab, durch das das eigene
Schauen an feinen Häckchen schmerzvoll süß harangiert
wurde. Dazu fuhr die Frau freundschaftlicher Würde ihm
Beobachtungen und Anregungen mitzuteilen fort, die sie
aus sich selbst, von anderen zur Vervollkommnung des
Betriebes nahm. Auch fragte sie ihn, legte er die kostbare
Pelzhülle ihr um die Schultern, nach dem praktischen Erfolg, und er war glücklich, ihr von Mal zu Mal eine höhere
Summe als erzielten Gewinn zuflüstern zu können.
Die Gefährtin seiner Lehrjahre und ihr Kind hatte er mit
einer Summe abgefunden, aus seiner Nähe verbannt. Anfangs sah er sie noch hin und wieder, dann stand sie als
Gleichnis der Hausmannskost und kleinbürgerlicher Umstände im Schrank seiner Erinnerungen.
Auf den Rat seiner Gönnerin widmete er der Zufriedenheit
jener Frauen Aufmerksamkeit, die nach dem Theater in kostbaren Toiletten in Begleitung von Lebemännern aßen. Er
merkte ein Besonderes, eine Laune der Betreffenden, spielte
das nächste Mal vertraut freundschaftlich darauf an. Das
Luxusgeschöpf sieht vom ernsten Mann sich ernst genommen, errötet vor Vergnügen, wird seine treue Kundin. Neben dieser Kategorie und ihrem Anhang stellte er sich Diplomaten und Staatsmännern zur Verfügung, indem er ihnen, kamen sie mit wichtigen Gesichtern von einer Sitzung,
um zu einer Sitzung zu gehen, ein stilles Eckchen anwies,
wo sie ungestört blieben; nicht duldete, daß sich ein Kellner
näherte, sie für Augenblicke durch ausgesuchte Leckereien
der Bürde ihrer Verantwortlichkeit enthob. Da er aber fühlte, im Umgang mit Spitzen politischer Abteilungen ging
ihm aus Unkenntnis ihres Wirkens und Wollens die nötige
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Sicherheit ab, lud er sie in ein abgelegenes Zimmer, durch
dessen Wand er ihre Gespräche von seinem Kontor hören,
ihre Mienen beobachten konnte. Da lernte er, durch welche Spitzfindigkeiten und Umschweife aus Eifersucht und
Ehrgeiz der Handelnden strittige Fragen zwischen politischen Parteien des Vaterlandes oder den verschiedenen Nationen, aus logischem Gelenk gerissen, zu Entscheidungen
wurden, die Zwischenfälle, Krisen, ein Mißtrauensvotum
für das Ministerium hervorriefen. Er sah Frankreichs Führern ihr Stirnrunzeln, das ironisch überlegene Lächeln, die
knackende Handbewegung, die ein Ultimatum bedeutet,
ab, hörte sich in die inner-, außerpolitischen Strömungen
vollkommen hinein. Bald konnte er dem eintretenden Minister, Attaché oder Abgeordneten so treffende Anmerkung
zur gerade wichtigen Affäre zuzuraunen wagen, daß der
einen bedeutenden Eindruck von ihm bekam und weitergab. Doch auch des galanten und Geschäftslebens Kenntnis
verschaffte sich Napoleon durch seine Horchspalte, sah er
verliebten Paaren, feilschenden Geldleuten angespannter
Aufmerksamkeit zu, bis sich die in Erregung aufgesperrten Kiefern krampften. Am erregendsten blieb es, verließ
ein Teil des Paares für Augenblicke das Zimmer, und der
Zurückbleibende, sich allein glaubend, verlor alle Haltung,
wurde Mensch mit seinen Hoffnungen und Sorgen, zählte
die Barschaft in der Brieftasche oder suchte durch Prüfung
der zurückgebliebenen Kleidungsstücke des anderen auf
dessen wirkliche Lebensumstände zu schließen. Kurz, der
Wirt des Chapon fin wurde Kenner, der in der Menschheit
Unbewußtsein hinabsah.
Binnen Jahresfrist lag ihm Paris zu Füßen. Er beherrschte
es als gütiger Fürst durch Kenntnis seines Magens, lächelte, als man ihn zaghaft, vereinzelt, dann allgemein König
Napoleon im Gegensatz zum Kaiser nannte. Rührung und
Glück aber ergriff ihn, als Valentine das erstemal seine
Hand drückte. Das war Beweis nicht nur geschäftlichen Erfolges, doch erreichten gesellschaftlichen Ansehens, da die
Gefeierte einen unter ihr Stehenden nicht vor aller Welt so
ausgezeichnet hätte. Nun wuchs er von Tag zu Tag mehr
in eine überlegen menschliche Haltung hinein, die veranlaßte, daß auch der höchstgestellte Gast ihm die Hand gab,
gutgelaunt auf die Schulter klopfte.
Für den Mann der Provinz wurde es bei der Rückkehr in
die Heimat Glanzstück des Berichtes der in der Hauptstadt
erlebten Abenteuer, konnte er nicht nur bemerken: Ich habe
beim »König« gespeist, doch hinzusetzen: der mich auf die
Schulter schlug und fragte: »Nun, Baron, wie wäre es mit
einer Boule au jus tutu?«
Als er von einem fremdländischen Herrscher das erste
Ritterkreuz erhalten hatte, dessen violette Rosette er am
gleichen Abend im Knopfloch trug, forderte Valentine ihn
auf, sie am nächsten Tag um fünf Uhr nachmittags aufzusuchen. Er erschien nach schlafloser Nacht, dem ruhelosesten Morgen, fand sie im Raum auf der Erde, wo sie mit
dem Hund balgte. Sie sprang hoch, steckte das entfesselte
Haar auf, saß ihm in niedrigem Sessel so nah gegenüber,
daß er das vergötterte Antlitz vor sich hatte, es sich zum
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erstenmal andächtig einprägen konnte. Sie machte keine
Bewegung, ließ ihn sich satt sehen. Dann gab sie die Hand,
die er inbrünstig küßte. Sie selbst war einfacher Herkunft,
ehrte Tüchtigkeit, die ihm seinen außerordentlichen Platz
verschafft hatte. Umgehend mit Männern vornehmster Geburt, fesselte sie an ihn das Band gleicher Vergangenheit,
bei ihm durfte sie Gefühle, die ihren Freunden fremd waren, voraussetzen. In die Erzählung der Mühsale auf steilem Weg zum Erfolg vertieften sie sich, sprachen mit kräftig
eindeutigen Worten, genossen mit kicherndem Sich-lustigMachen die Schadenfreude, die sie für die Welt, über die
sie jeder auf seine Art herrschten, empfanden. Napoleon
kramte seine kleinen Geheimnisse, Mittel vor ihr aus, mit
denen er sich in der oberen Tausend Vertrauen geschlichen
hatte; erzählte von seiner durchsichtigen Kontorwand.
Sein Vertrauen erwidernd, gab sie ihm ihres Aufstieges
Hauptdaten, nannte drei, vier Männer, denen sie als Frau
und Künstlerin verpflichtet war, zeigte, vor ihm tanzend,
durch welche choreographischen Einfälle sie die Menge bezwungen hatte. Schwebte, bog sich ohne Ziererei, und da
sie im leichten Hausrock war, wurde er durch Zufälle im
Rock- und Kleiderfall entzückt. Zum Schluß, einen Csárdás
hinreißenden Rhythmusses stampfend, kam sie aus des
Zimmers entfernter Ecke auf Zehen gegen ihn, das Bein bei
jeder Taktsenkung wie einen bohrenden Pfeil gegen sein
Antlitz streckend.
Bei seinem zweiten Besuch wurde sie mit reizender Natürlichkeit seine Geliebte. Diese Frau, die Männern das Bild eines buntschimmernden Vogels von phantastischer Seltenheit, blasierter Ungeduld zu genügen, hatte geben müssen,
war an seinem Hals das schlanke Mädchen aus dem Volk.
Es bedurfte nichts Außerordentlichen von seiner Seite, der
Umarmten Sehnsucht zu stillen.
Doch blieb bei dem mannigfachen Glück, das sie sich gaben,
die gassenbübische Art, mit der sie alle offizielle Welt verhöhnten, höchster Genuß. Napoleon war darin unerschöpflich. Größen der Geldwelt, Sterne der Wissenschaft und
Kunst stellte er in gedrängter Plastik hin, knickte mit witzigem Einfall das Pathos ihrer Geste. Berühmte politische
Personen ahmte er nicht nur in Tonfall und Haltung nach,
doch auch, wie er in der Betroffenen Art durchsichtige Tatsachen mit riesigem Wortschwall in ein Chaos verwirrte.
Während sie ihm vorgebeugt zusah, führte er dramatische
Szenen zwischen Botschaftern zweier Staaten auf, in deren
Verlauf die beiden, sich über unsagbare Nichtigkeit unsagbar aufgeblasen unterhaltend, an die Stelle verbindlichster
Umgangsformen steifere Haltung, schroffere Bewegungen
setzten, bis sie, zwei schmollende Gockel, hochmütig auseinanderstelzten. Er erzählte, mit welchen Torheiten und
Zufällen das Schicksal der Gesetzesvorlagen in den verschiedenen Kommissionen, die nach offiziellen Sitzungen
bei ihm fortgetagt hatten, sich entschieden hatte; sie gab
ihm Einsicht in abertausend Spitzfindigkeiten, die die auf
Liebe gestellte Frau der Gesellschaft anwendet, sich Launen
und Lust, am öffentlichen Leben teilzunehmen, zu erfüllen.
Wie oft habe sie ihre Gönner aus Eigensinn zu unsinnigen,
folgenschweren Entschlüssen bestimmt, Reportern, die ihr
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das Haus einliefen, phantastische Lügen aufgebunden! So
reinigten sie sich, das Thema unaufhörlich variierend, von
dem Respekt, den proletarische Herkunft ihrer Jugend auferlegt hatte, wurden lächelnde Verächter feiner Lebensformen und guten Tones, den sie wie den Stil in einem Drama
von Corneille, einer Molièreschen Komödie agierten, während ein herzliches Wort, menschliche Bewegung aus ihrer
Liebe ihnen immer gleichnishaft gewärtig war.
Im Geschäft dehnte Napoleon die Herrschaft, die er auf
Franzosen besaß, auf die übrige Welt aus. Er hatte London,
Petersburg, Wien gesehen, Verbindungen angeknüpft und
befestigt, manche Anregung mit heimgenommen. Sein
Haus wurde an der Themse und Donau berühmt, bei Sacher und Claridge fand man Platten »Au Chapon fin«. Es
scheiterte auch sein Vormarsch an die Newa nicht wie der
seines unsterblichen Namensvetters. Als der fünfzigste Geburtstag vor der Tür stand, war sein Ruhm über zwei Erdteile verbreitet, der größere Teil zivilisierter Menschheit aß
nach seinen Einfällen und Vorschriften. Er besaß ein fürstliches Einkommen, hatte die kluge, ihn anfeuernde Frau,
zu der die Beziehungen nicht legitimiert waren, die er aber
leidenschaftlich, zärtlich liebte, an der Seite.
Da man vierzehn Tage vor seinem Fest vom Krieg mit Preußen zu sprechen begann, die Gäste seine Meinung wollten,
blieb er lächelnd ruhig, verneinte jede Möglichkeit eines
Ausbruchs von Feindseligkeiten. Er wußte aus besten Quellen, kein ernsthafter Politiker glaubte an Krieg, war gewiß,
es handelte sich wieder um die Prestigefrage, das sattsam
bekannte Händeknacken, schmollende Gockeltum. Auch
als die Regierung unter frivolem Vorwand die Schiffe hinter
sich verbrannt hatte, blieb Napoleon in tiefster Seele ruhig.
Er, der wußte, hohe Politik wird gemacht, ein paar tausend
Ehrgeizigen in jedem Land Vorwand für eine Karriere zu
geben, ihren Heißhunger nach öffentlichem Bekanntsein
und Sensationen, mit denen ihr Name verknüpft ist, zu
befriedigen, war überzeugt, man werde diesen Wichtigtuern Genugtuung geben, indem man sie mit Titeln, Orden,
Auszeichnungen so reichlich, daß sie satt werden mußten,
fütterte. Was Frieden bedeutete. Einen Willen der Völker
stellte er nicht in Rechnung. Er hatte gelernt, es wird nach
Gutdünken der Regierung mit ihnen verfahren. Sie sind es
gewöhnt, wissen und wollen nichts anderes. Sagen heute
zu schwarz schwarz, morgen zu schwarz weiß. Es genügt,
ihnen zuzurufen: Das Vaterland ist in Gefahr! Sie fragen
nie: Durch wen im letzten Grund? Lassen sich bewaffnen,
morden jeden beliebigen als Erbfeind, erst zögernd, dann
mit Überzeugung und Hochrufen. Valentine gab ihm recht,
verspottete alles, Regierende und Regierte. Verbreitete Erzählungen, die der Diplomaten Albernheit in fabelhaftes
Licht setzten, militärische Maßnahmen des Generalstabes
dem Gelächter preisgaben. Beide griffen mit Wollust nach
jedem Gerücht, in dem eine großartige Dummheit manifestierte, fütterten, hätschelten es und waren vor Freude
außer sich, akzeptierten es selbst die mit feierlichem Ernst,
die seine Sinnlosigkeit aus übergeordneter Stellung sofort
hätten einsehen müssen. Mehr als der Friede gab ihnen der
Krieg Gelegenheit, der Welt blöde Einfalt auf Schritt und
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Tritt zu erkennen, sich über sie zu erheben. Die einfache
Tatsache, sie sahen durch Einsicht in politische Zusammenhänge die Lügenhaftigkeit aller Vorwände für den Krieg
ein, gab ihnen Unabhängigkeit von ihm.
Sie konnten sich, während alle Welt in das Auf und Ab der
Geschehnisse tiefer verstrickt wurde, auf Grund wirklicher
Überlegenheit von den Menschen trennen. In ihre Seele trat
das Bewußtsein höherer Bestimmung, das sich in den Antlitzen malte. Sie lebten und webten über gemeinem Volk
auf Wolken. Lächelten zu Unglücksfällen und Exzessen,
die die Folgezeit in schnellem Aufeinander brachte. Des Vaterlandes vollendete Katastrophe führte sie auf den Gipfel
innerer Erhebung. Nicht nur die Mitbürger lagen ihrer erkannten Weisheit, Napoleon und Valentine lagen einander,
jeder sich selbst bewundernd, zu Füßen.
Eines Tages trat auf in Paris, was man die Kommune nannte, zerschlug die Spiegelscheiben des Chapon fin, zertrümmerte Gerät im Innern, setzte Valentine und Napoleon, jeden für sich, ins Gefängnis. Als es nach Wochen Napoleon
sich zu befreien gelang, erfuhr er, seines Lebens Gefährtin
sei, an die Wand gestellt, erschossen. Ihm fielen die Beine
unter dem Leib fort, tagelang schleppte er sich aus Gassen
in Felder an Flußrändern entlang, ohne Licht und Finsternis
scheiden zu können. Erstes Bewußtsein empfing er durch
einen Stoß vor die Brust, den ihm ein deutscher Landwehrmann gab. Doch schwand es wieder, bis ihn eines Nachts
auf einer Pritsche Erinnerung an Valentine überfiel. Sie
war rosa und wie eine tanzende Girlande anzusehen, die
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sich enger um ihn schlang, ihm erste Träne, Tränenströme
aus den Augen schnürte. Nun sank er hin, aufgelöst in ein
weiches, warmes Weh. Lange erschütterte es seine Glieder,
hüllte Welt in feuchte Schleier. Es trat aber der Vergleich seiner jetzigen elenden Lage und des Gewesenen hinzu, füllte
ihn mit Haß gegen Menschheit und Schöpfer. Tiefer kroch
er in sich, häufte Anklage auf Anklage gegen die Welt. In
dunkler Nacht stand er vor den mit Brettern vernagelten
Fenstern seines Lokals – noch hafteten des Schildes goldene Buchstaben –, und in das Loch plötzlich riesengroßer Erkenntnis fiel die Summe fünfzigjährigen Lebens: blankes
Nichts und Einsamkeit.
Trotz und Empörung stachelten ihn zu neuem Tun. Gegen
der Verhältnisse Ungunst wollte er Mittel zu neuem Anfang zu schaffen versuchen; des gleichen Abends aber legte
er sich nieder, spürend, seine Natur leide nicht, daß man sie
um das, was ihr vor allem wichtig sei, bestehle: hingebende
Trauer um Valentine. So suchte er einen Platz, der tägliches
Brot gab. Früh am Nachmittag aber schloß er sich in seine Kammer, stopfte Fenster, Schlüssellöcher, legte sich aufs
Bett und begann, die Frau von den Toten heraufzudichten.
Nachdem er sie bis in die kleinste Einzelheit körperlich vor
sich wiederhergestellt hatte, ging er sein Leben mit ihr von
frühestem Anbeginn durch. Um keinen Augenblick ließ er
sich betrügen, repetierte die einzelne Situation so oft, bis
sie lebendiger Wahrhaftigkeit vor ihm stand. Jene erste, da
sie, ein Quirl mit Rüschen und Volants über seiner Stirn,
die Treppe hinaufgehuscht war. Beine in weißseidenen
Strümpfen nahmen zwei, drei Stufen auf einmal, er sieht
sie im Gelenk flitzen, und da – das aber hat er damals nicht
gesehen erscheint blitzend am Knie die goldene Strumpfbandschnalle. Wahrhaftig, als Wirklichkeit dauerte, hatte
sie sein Bewußtsein vor Schauen und Staunen nicht gefaßt.
Heute, beschworen durch seine unwiderstehliche Zärtlichkeit, erstand sie das erstemal zum Leben. So drang er weiter
in Erinnerung, entriß ihr, mit Hingebung und Andacht um
ein Nichts, das Bruchteil einer Sekunde kämpfend, soviel
Nichtgespürtes, Nichterfahrenes, daß er mit der Gestorbenen ein neues, reicheres Leben führte.
Als er bei jener Epoche, in der sie ihr irdisches Leben beendet hatte, angekommen war, brachte er sie leicht über des
leiblichen Todes Klippe in jetzige Zeit hinüber, sah sie zu
seinem augenblicklichen Dasein Stellung nehmen. Er müßte, da die Verhältnisse sich wieder zur Ordnung fügten,
den sinnenden Zustand aufgeben, an äußeres Fortkommen,
neue bedeutende Einstellung zu neuen Umständen denken.
Hatte der Krieg ihm nicht tiefere Einblicke in Fragen der
Ernährung, Möglichkeiten der Rohstoffverarbeitung als
jede Situation vorher gegeben? Welche außerordentlichen
Aufschlüsse hatte die zweckmäßige oder unzweckmäßige
Ernährung eines Heereskörpers, der Bevölkerung einer belagerten Stadt, welche Klarheit des eigenen Körpers Befinden nach dieser oder jener leiblichen Zumutung verschafft!
Das mindestens war klar geworden: Weit über die Notdurft
hatte der Mensch vor dem Krieg gegessen und getrunken.
Es schien Napoleon ein Unding, das bisher übliche Mittagsmahl von sechs oder sieben Platten, ein Abendessen von
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fast gleichem Umfang anzurichten. Millionen hatten größere Arbeitsleistung, höheren Schwung bei einem Stück Brot,
wenigen Kartoffeln als Generationen bei einer täglichen
Unzahl von Gerichten bewiesen. Es schien, die gewonnenen Erkenntnisse dem Publikum praktisch zu zeigen, hohe
Pflicht.
Er gab Valentine recht. Sie habe nicht nur dem eigenen Leib
nie mehr als das Notwendige zugemutet, sei auch, daß er
den Gästen Leichtestes und Verdaulichstes geboten hatte,
Anlaß gewesen. Doch in viel zuviel Platten auf einmal. Von
jetzt ab müßte er in zwei, drei Gerichte, was der Magen zur
Speisung des Organismus brauchte, zusammendrängen,
ihm zugleich eines reichlichen Mahles volle Wollust vermitteln.
Während er die am Leben gebliebenen Gönner aufsuchte
und zu seiner Unterstützung vermochte, die lange leer gebliebenen Räume seines alten Heims in strahlenden Stand
gesetzt wurden, unterrichtete er sich methodisch über der
verschiedenen Nahrungsmittel wissenschaftliche Zusammensetzung, ihren Gehalt an Eiweiß, Kohlehydraten, Fett.
Machte Tabellen, Exempel über Exempel, errechnete an
glückseligen Tagen eine neue ideale Speisekarte, auf der
er jeden, auch den verführerischsten Namen einer Platte
durch Zahlen ersetzen konnte; aus der man mittels zweier Speisen einen ausreichenden Nenner sämtlicher für die
Ernährung wichtigen Stoffe erzielen konnte. Hatte anfangs
Notwendigkeit, die gewollten Einheiten in ein Gericht unterzubringen, auf dessen gastronomische Vollkommenheit
gedrückt, ging Napoleons Phantasie auf Spaziergängen
der erklügelten Platte von allen Seiten zu Leib, wie ihre
Schmackhaftigkeit und Anrichtung auf höchste Höhe zu
bringen sei. Und da ihm Hitze des Entdeckerglückes ein
über das andere Mal ins Gesicht stieg, fixierte er Gerichte, mit denen er künftige Menschen aus der Schwächung
durch den Krieg zu frischem Leben führen wollte.
Der Erfolg war an der wiedereröffneten Stelle nicht wie das
erstemal überraschend. Schon nach wenigen Tagen stellte
der Wirt, er hatte es mit Unbekannten zu tun, fest, die nicht
Empfehlung, aber Zufall und Laune zu ihm geführt hatte. Der Kreis seiner alten Gäste war vom Erdboden getilgt.
Doch stählte die Erkenntnis seine Kräfte, da ihm einleuchtete, die Neulinge brachten keine Voreingenommenheit auf
Grund liebgewordener Gewohnheiten mit. Er verließ die
Küche Monate nicht, wo er mit Anspannung aller Kräfte
die gewonnenen Grundsätze in Tat umsetzte. Vor allem
mußte er die Köche von der Richtigkeit seiner Ansichten
überzeugen, daß ihnen nötige Herzenslust zur Arbeit nicht
fehlte. Erst als unten die Wirtschaft geregelten Gang ging,
betrat er des Restaurants Räume wieder, suchte Fühlung
mit den Gästen. Vom Ton zwischen ihnen und den Kellnern war er betroffen. Es gab keine Unterhaltung über zu
wählende Speisen, keinen Scherz, kein Hin und Wider.
Kurze Kommandos flogen. Der Bedienende, geneigten
Hauptes stumm, machte kehrt. Man aß schnell, ließ sich
nicht mit Behaglichkeit nieder. Kaum, daß man die Kissen
drückte. Zur Verdauung gab sich niemand Zeit. War der
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letzte Bissen gegessen, fuhr der Gast auf und verschwand.
Rote Köpfe, fettgeränderte Lippen, müde Scheitel, die sich
in Sofarücken lehnten, Hände, mit geschwollenen Adern
aufs Gedeck gebreitet, sah Napoleon nicht mehr. Es wehte
kein Atem glückseliger Sattheit nach Tisch und des Dankes
gegen Gott und den Wirt durch den Raum. Steif und gereizt saß der Kauende, vermied, von sich fortzusehen. Das
war kein geänderter Kundenkreis, war das Gesicht einer
anderen Welt, erkannte Napoleon.
Es war klar: andere Ideale herrschten in neuen Menschen.
Der Krieg hatte die Machthaber von gestern vernichtet.
Nicht mehr die Glieder alter Familien saßen an seinen Tischen, die in jahrhundertelangem Ringen Ansehen, Vermögen an sich gebracht hatten, es zu brauchen wußten; er bediente nicht mehr die dreifache Aristokratie des Adels, ererbten Reichtums und des Geistes. Hier trat eine Rasse auf,
die durch den Umsturz aller Verhältnisse an die Oberfläche
gespült, behend zugegriffen, in allgemeiner Verwirrung,
bei der Besitzenden sentimentaler Erschlaffung, sich bereichert hatte. Den Sack voll Gold, saßen sie unkundig seines
Verbrauches, gierig, sich der Wissenden Haltung anzueignen, elend und leer mit der Geste schweigender Abwehr.
Stumm und in der Bewegung beherrscht, konnten sie für
unterrichtet gelten. Sprachen sie, wurde Wirken der Glieder
notwendig, klappten sie zu völliger Ohnmacht zusammen.
Nachdem er eingesehen hatte, der Gäste Zurückhaltung sei
in einem Zuwenig begründet, ließ er die beherrschte Unterwürfigkeit, ging langsam, eindringlich zum Angriff gegen
die maskierte Gesellschaft vor, brach, ein Dieb, gepanzerte
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Unnahbarkeit, legte ein harmloses Sätzchen als Köder vor
und amüsierte sich göttlich, ließ sich der geschmeichelte
Heraufkömmling aufs Eis überkommener Begriffe locken,
legte eine erbarmungswürdige Blöße an den Tag. Hatte
er jemandes Vertrauen hinter undurchdringlicher Maske
gewonnen, ließ er den Getäuschten das eigene Selbstbewußtsein ausbreiten, das sich fast immer auf alberne, mit
Emphase vorgetragene Gemeinplätze über den Krieg, Heldentaten, die der Betreffende während des Feldzuges vollbracht haben wollte, stützte; dann kamen Napoleons Einwürfe aus des Herkommens Schatz, Namen ausgezeichneter Menschen der Vergangenheit, bedeutender Erfindungen, einer Geistesgroßtat. Am höchsten hüpfte sein Herz,
konnte er durch einen einzigen Kulturbegriff, den er dem
Gegner als spitzen Pfeil in die Parade flitzte, diesen bis auf
die Haut entlarven.
Nun fing des Abends im Bett ein Gekicher an, das grausamer und schonungsloser als jenes Lachen mit Valentine über Narrheiten einzelner Zeitgenossen vor dem Krieg
war. Hier fand Napoleon eine Welt närrisch; ihren einzigen
Ehrgeiz, Geldgewinn und Beurteilung des Menschen nach
seiner Eignung dazu, über das Maß abgeschmackt, kahl.
Während die Geschäfte noch gut gingen, sah er die Kluft
zwischen moderner, merkantiler Weltauffassung und dem
eigenen Universalismus sich auftun. Ergriffen spürte er,
wie er zum erstenmal von Valentine sanft sich schied. Er
wußte, auch für die schrecklich veränderte Welt hätte sie
gutmütigen Spott gehabt, in ihm aber kam von Tag zu Tag
Empörung, die ihn beherrschte, stärker herauf.
Ihm schien, die fröhliche Überlegenheit, die mit Valentines
fortschreitendem Alter friedlicher und harmloser geworden war, hätte ihn in der letzten Zeit ihres Lebens gereizt.
Hatte sie nicht, nachdem man sich ausgelacht, immer Entschuldigung, Güte für den Verspotteten gehabt? Er war, sie
würde es heute nicht anders machen, gewiß, sie möchte
zur Nachsicht noch geneigter sein, und zürnte ihr. Je mehr
seine Abneigung gegen das Publikum wuchs, je hassenswerter ihm die Erscheinungen wurden, um so mehr schob
er Valentine den unbeugsamen Willen zu, alles zu begreifen, zu vergeben. Täglicher Kampf, unaufhörliche Auseinandersetzung mit der Welt einerseits, dem lebendigen Bild
der geliebten Frau auf der anderen Seite, der ihn zermürbte
und elend machte, begann. Doch blieb allen Einwendungen
gegenüber sein dumpfer Haß siegreich. Jahre hindurch hatte er nichts mehr von Freundlichkeiten und Lieblichkeiten
geselligen Lebens bei sich gesehen. Der Sinn für Blumen,
Überraschungen, Tollheiten, geistreich Unvorhergesehenes
war geschwunden; nicht mehr gab es die über das Mannesbewußtsein als Spenderin alles Glückes erhöhte angebetete Frau. Kein Lachen herrschte mehr, Verschwenden, nicht
Laune, Überlegenheit. Wohin er hörte: Geschäfte. Zahlen,
wohin er sah. Das Dach des Hauses schien auf ihn zu stürzen, als ihm eines Tages ein Gast, kühl und korrekt, an dem
er sich mit witziger Bemerkung gerieben hatte, ein Goldstück als Trinkgeld bot.
Da lief das zum Rand gefüllte Gefäß über. Von jenem
Abend grub sich bis zum anderen Morgen eine Falte zwi-
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schen seine Brauen, Lippen preßten sich aufeinander. Er
hatte für der Gäste gute Bedienung nicht nur keine Teilnahme mehr, genoß mit Schadenfreude ein Glück, sah er
über die angerichtete Speise Enttäuschung in einem Antlitz. Schnell ward den Kellnern, Köchen sein geänderter
Sinn offenbar. Sorgfalt und Gewissen floh. Immer häufiger
gab es der Essenden unzufriedene Gesichter. Unbewegter
Miene schlürfte der Wirt jedes Quentchen Wut, dessen
Ausdruck er erhaschte, berauschte sich daran. Ganz nach
vorn wuchs sein Gesicht. Stechenden Blickes, geblähter
Nase schnüffelte er sich in das Empfinden der neuen Welt;
trank, wie bitter es schmeckte, sie aus und spürte zum anderen Mal als Entscheidung: in dreißig Millionen Narren
besaß die Nation nur noch einen Sinn: das Geld, und jeder, dem der Erwerb geglückt war, war im eigenen und
allgemeinen Urteil Person. In Napoleons Auffassung ein
Räuber, Scheusal, das während des Krieges die Anarchie
der Vernunft benutzt hatte, den durch Überlegenheit und
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Mühsale in Generationen erworbenen Familienbesitz des
Landes an irdischen und himmlischen Gütern zu zerstören. Es kamen die Häuptlinge der neuen Geldaristokratie
zu ihm. Fett, frech, verlegen stümperten sie mit ihren Weibern Geselligkeit.
In Napoleons Hirn stieg der Gedanke an Gift, das ihnen in
die Speisen zu mischen sei. Bald machte er sich im Denken
breiter, beherrschte sein Trachten ganz. Von irgendwoher
hatte er sich das Quantum Arsenik, das ihm seit einigen
Tagen in der Tasche brannte, verschafft, es als harmloses
Gewürz in die Teller zu streuen, abzuwarten, bis die Wirkung, die in Eingeweiden wühlte, ins Auge brach. Glut
stieg ihm ein über das andere Mal in die Haare, bis er fühlte, im nächsten Augenblick widerstände er dem ungeheueren Verlangen nicht mehr.
Da riß er die Tür zur Gasse auf, und barhäuptig im Galopp,
als wälzten sich Lavaströme auf seinen Fersen, entlief er
der Straße, dem Stadtviertel, der Bannmeile von Paris; sank
draußen ins Feldgras, schluchzte, daß die Knochen bebten,
schluchzte sich und die Erde naß.
Er zog Landstraßen entlang, durch Märkte, Städte. Blieb aus
Zufall Monate, Jahre als Aufwärter, Hausknecht, Gelegenheitsarbeiter. Sein Weltbild wurde auf gleicher Basis runder. Überall sah er die vom Kampf ums Dasein betäubten
Massen, von rücksichtslosen Unternehmern an Kessel und
Maschinen geschmiedet, Waren verfertigen, für die aus
Mangel an Absatz über kurz oder lang durch neue Kriege
mit neuen Hekatomben zerfleischter Menschen neue Abnehmer in zu erobernden Provinzen gewonnen werden
mußten.
Hellen Bewußtseins trat er aus diesem Lauf der Geschicke
aus, riß den Gedanken an Erwerb aus seiner Seele, erlaubte
sich keinen Besitz über die Notdurft. Das von aller Welt gesonderte Dasein gab ihm Person und Überlegenheit; Mangel an Eigentum, Unabhängigkeit und freie Bewegung. Von
einem Tag zum andern hatte er durch einen einzigen Entschluß Verfügung über sich und die Welt nach allen Seiten
gewonnen, erlöstes Lachen trat in sein Gesicht. Jetzt, wo er
stand und ging, war er Zuschauer der menschlichen Komödie, an der er, weil durch eigene Qual nicht mehr verbunden, gutmütige Kritik übte. Da war es, daß er sich Valentines vergessenem Andenken wieder innig vermählte,
der er, wie er sich gestand, während seine Vernunft ihre
Einflüsse bekämpfte, ahnend nachgefolgt war.
Eines Tages stand er vor jenem Eckhaus, an dem sich die
Steinwege nach Nivelles und Genappes treffen; in dem er
geboren war. Niemand kannte ihn dort. Alles Verwandte
war tot. Als zwölfjähriger Knabe war er fortgegangen, der
Wiedergekehrte zählte fünfundsechzig Jahre.
Doch wußte man seine Geschichte im Wirtshaus. Erzählte Grandioses, Historie von ihm. Mehr war dieses heimischen Napoleons Erfolgen die allgemeine Teilnahme und
Bewunderung als dem Korsen zugetan. Man wies ihm, der
sich nicht zu erkennen gab, gerahmte Zeitungsnachrichten,
in denen es hieß, wie Außerordentliches in verschiedenen
Zeitläuften von ihm ausgerichtet war – »und angerichtet«,
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wie ein Witziger hinzufügte. Länder samt ihren Fürsten,
die zivilisierte Welt habe von West nach Ost dem flamischen Bauernsohn zu Füßen gelegen. Mit nachdenklichem,
gerührtem Erstaunen hörte Napoleon die mannigfachen
Erzählungen, entsann sich der Kreuze und Sterne an rotgrünen, an gestreiften Bändern, die in einer Schublade lagen.
Am Rand des unvergleichlichen Wälderkranzes, der Brüssel einsäumt, liegt an der Straße von Quatre-bras nach Waterloo in einer Talsenkung das Schlößchen Groenendael; ein
weißes einstöckiges Haus aus dem Empire. In vergangenen
Zeiten Abtei, wurde es im neunzehnten Jahrhundert Wirtshaus, in das Brüssels bessere Bürger auf Ausflügen einkehren. Dort, nah der Stätte seiner Geburt, nahm Napoleon
Platz als Kellner. Seine Jahre, schwache Füße erlaubten angestrengten Dienst nicht mehr. Hier war im Winter nichts,
im Sommer an Wochentagen wenig zu tun. Nur sonntags
mußte er sich ein wenig tummeln. Doch nahmen die Gäste
seiner Rücksicht, blickten ihm neugierig entgegen, trug er
das hochbeladene Brett auf sie zu. Jeder hatte ein Wort, dem
er freundliche Empfindung unterlegte, für ihn; alle Anrede
begann mit Umschreibung, Entschuldigung. Nicht, was er
brachte, wie er‘s ausführte, blieb Gegenstand teilnehmender
Aufmerksamkeit, gutmütigen Staunens, und stand das Gewünschte auf dem Tisch, strahlte ihm alles Anerkennung
zu. Doch auch Napoleon lachte in heller Befriedigung. Der
Wirt und seine Familie merkte der Gäste Gefallen an dem
alten Mann, behandelte ihn mit Rücksicht, ließ ihn ungescholten Tage hinbringen.
So kam kein Mißlaut mehr von außen in sein Leben, das
im ruhigen Gleichmaß ging. Den Frühling sah er, Gottes
himmlische Wärme in bestimmten Abschnitten über die
Erde kommen, auf Hügeln Buchen grünen, Kühe über die
beblumte Wiese weiden. Menschen aller Art wandelten zu
allen Jahreszeiten in schönem landschaftlichem Panorama
vor ihm. Lange sah er sie als deutliche Figuren mit Lärm
und eigener Bewegung, dann als scharfe Schatten. Allmählich lösten sie sich in umgebende Natur auf.
Die sich in seine Seele als vollkommenes Gemälde spannte,
das er mit Andacht schaute. War Sonne mild, trat er unter Bäume, blickte Warmes an, das um ihn summte. Dort
strahlte ein Vogel lange dasselbe Lied; dann flog er, Licht,
zum andern Baum hinüber. Hier putzte das Eichhorn sich
schnurrig geduldig zum Goldbraun der Stämme, Blindschleiche kroch mit dem Schatten ins Helle und züngelte.
Dann faltete Napoleon die Hände, stieß entzückte Seufzer
aus, legte sich lang ins Gras. Den Blick zum Himmel aufgeschlagen, hatte er gesamte Schöpfung, Ton, Raum und
Licht mit eins in der Netzhaut.
An Vergangenheit, Macht, Ehre, Leid und Elend, häusliches
bürgerliches Wesen, dachte er nicht mehr. Manchmal tätschelte er die Kuh, den Hund und wußte nichts dabei. Er
wurde gar sehr schwach. Das war ihm eitel Wollust. Als die
letzte, größte Schwäche kam, war er gut und fromm.
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Gemälde von
Christian Rohlfs
(1849 - 1938)
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Der Zecher (1921)
Gauner (1918)
Gasse in Ehringsdorf bei
Weimar (1893)
Kirche in Soest (1912)
Gelbes Haus mit rotem
Dach (c. 1913)
Winterlandschaft (1900)
Berg (1912)
Hügellandschaft mit tiefstehender Sonne (c. 1911)
Erlinger See (c. 1911)
Das Porträt von Carl Sternheim stammt von Ernst Ludwig Kirchner.
99
Ernst Toller
(1893 – 1939)
Ernst Toller wurde 1893 in
Samotschin, Provinz Posen,
geboren. Er wurde er vor allem als Dramatiker bekannt.
Nach der Niederschlagung
der Münchner Räterepublik
entkam er nur knap der Todesstrafe. Nach seiner Haftentlassung wurde er mit expressionistischen Gedichten
und Dramen bekannt. Mit seiner Geschichtsrevue „Hoppla,
wir leben!“ eröffnete 1927 die
Piscator-Bühne in Berlin. Auf
der Ersten Ausbürgerungsliste
des Deutschen Reichs 1933
befand sich auch sein Name.
Völlig mittellos floh Toller ins
Ausland. 1939 nahm er sich in
New York das Leben.
Werke:
Hoppla, wir leben!
Das Schwalbenbuch (1924)
Eine Jugend in Deutschland
(1933)
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Ernst Toller - Kindheit
Beginn des ersten Kapitels von Tollers 1933 erschienener Autobiografie „Eine Jugend in Deutschland)
Friedrich der Große erlaubte meinem Urgroßvater mütterlicherseits als einzigem Juden in Samotschin, einer kleinen
Stadt im Netzebruch, sich anzusiedeln. Mein Urgroßvater
bezahlte eine Summe Geldes, dafür ward ihm der Schutzbrief eingehändigt. Auf diesen Akt war der Urenkel stolz, er
sah darin Auszeichnung und adlige Erhöhung und prahlte
damit vor den Schulkameraden.
Mein Urgroßvater väterlicherseits, der aus Spanien gekommen sein soll, besaß ein Gut im Westpreußischen. Von diesem Urgroßvater erzählten die Tanten, daß ihm das Essen
auf goldenen Schüsseln und Tellern gereicht werden mußte
und seine Pferde aus silbernen Krippen fraßen. Die Söhne verkupferten erst die Krippen, dann versilberten sie die
Schüsseln und Teller. Vom sagenhaften Reichtum des Urgroßvaters träumte der Knabe: Die Pferde fraßen den alten
Mann, und er sieht zu, ohne Abscheu und ohne Mitleid,
eher mit einem unerklärlichen Gefühl der Befriedigung.
Auf den Dachböden des Hauses verstaubten riesige vergilbte Folianten. Sie hatte der Großvater bei Tag und oft
bei Nacht studiert, während die Großmutter im Geschäft
stand, die Käufer bediente, Wirtschaft und Küche versah.
Dieses Geschäft übernahm mein Vater, nachdem er als Primaner und Apotheker versagt hatte.
Samotschin war eine deutsche Stadt. Darauf waren Protestanten und Juden gleich stolz. Sie sprachen mit merklicher
Verachtung von jenen Städten der Provinz Posen, in denen
die Polen und Katholiken, die man in einen Topf warf, den
Ton angaben. Erst bei der zweiten Teilung Polens fiel die
Ostmark an Preußen. Aber die Deutschen betrachteten sich
als die Ureinwohner und die wahren Herren des Landes
und die Polen als geduldet. Deutsche Kolonisten siedelten
ringsum in den flachen Dörfern, die wie vorgeschobene Festungen sich zwischen die feindlichen polnischen Bauernhöfe und Güter keilten. Die Deutschen und Polen kämpften
zäh um jeden Fußbreit Landes. Ein Deutscher, der einem
Polen Land verkaufte, ward als Verräter geächtet.
Wir Kinder sprachen von den Polen als »Polacken« und
glaubten, sie seien die Nachkommen Kains, der den Abel
erschlug und von Gott dafür gezeichnet wurde.
Bei allen Kämpfen gegen die Polen bildeten Juden und
Deutsche eine Front. Die Juden fühlten sich als Pioniere
deutscher Kultur. In den kleinen Städten bildeten jüdische
bürgerliche Häuser die geistigen Zentren, deutsche Literatur, Philosophie und Kunst wurden hier mit einem Stolz,
der ans Lächerliche grenzte, »gehütet und gepflegt«. Den
Polen, deren Kinder in der Schule nicht die Muttersprache
sprechen durften, deren Vätern der Staat das Land enteignete, warf man vor, daß sie keine Patrioten seien. Die Juden saßen an Kaisers Geburtstag mit den Reserveoffizieren, dem Kriegerverein und der Schützengilde an einer
Tafel, tranken Bier und Schnaps und ließen Kaiser Wilhelm
hochleben.
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Ich bin am ersten Dezember 1893 geboren.
Suche ich nach Kindheitserinnerungen, werden mir diese
Episoden bewußt:
Ich habe ein Kleidchen an. Ich stehe auf dem Hofe unseres
Hauses an einem Leiterwagen. Er ist groß, größer als Marie, so groß wie ein Haus. Marie ist das Kindermädchen, sie
trägt rote Korallen um den Hals, runde, rote Korallen. Jetzt
sitzt Marie auf der Deichsel und schaukelt. Durchs Hoftor
kommt Ilse mit ihrem Kindermädchen. Ilse läuft auf mich
zu und reicht mir die Hand. Wir stehen eine Weile so und
sehen uns neugierig an. Das fremde Kindermädchen unterhält sich mit Marie. Nun ruft sie Ilse: »Bleib da nicht stehen,
das ist ein Jude.«
Ilse läßt meine Hand los und läuft fort. Ich begreife den
Sinn der Worte nicht, aber ich beginne zu weinen, hemmungslos. Das fremde Mädchen ist längst mit Ilse davongegangen.
Marie spricht auf mich ein, sie nimmt mich auf den Arm,
sie zeigt mir die Korallen, ich mag nicht die Korallen, ich
zerreiße die Kette.
Der Sohn des Nachtwächters ist mein Freund. Wenn die
anderen »Polack« schreien, schreie ich auch »Polack«, er ist
trotzdem mein Freund. Die Polacken hassen die Deutschen,
ich weiß es von Stanislaus.
Auf dem Marktplatz wird das Pflaster aufgebrochen, Gräben werden geschaufelt. Es ist Feierabend, die Arbeiter haben Spaten und Hacken in einen kleinen Schuppen getan,
aus rohen Brettern gezimmert. Sie sind in die Kneipe gegangen, einen heben. Stanislaus und ich sitzen im Graben.
Unser Versteck ist ein schmaler Schacht, mit Pfählen verschalt.
Stanislaus zielt und spuckt.
»Heute nacht wird ein Arbeiter sterben«, sagt Stanislaus,
»zur Strafe. Sie dürfen hier nicht graben, es ist polnische
Erde. Die Deutschen haben sie gestohlen. Aber laß sie nur
graben, hier unten, wo sie graben, hundert Meter tief, wartet der polnische König. Im Stall steht sein weißes Pferd,
dagegen ist das Pferd vom Herrn Rittmeister ein Ziegenbock. Wenn es soweit ist, setzt sich der König aufs Pferd,
reitet nach oben und verjagt euch. Euch alle. Dich auch.«
Ich möchte Stanislaus fragen, wann es »soweit« ist, Stanislaus weiß mehr als ich, sein Vater ist Nachtwächter, aber die
Lippen von Stanislaus pressen sich, und sein Mund wird
hart und abweisend.
»Spuck jetzt, einen Murmel als Einsatz!«
Ich spucke und verliere. Nachts träume ich, daß Stanislaus
auf dem Markt steht und auf dem Horn seines Vaters bläst.
Aus unserm Schacht springt im Galopp ein weißes Pferd,
auf dem braunen Sattel, rechts und links, oben und unten,
sitzen Kaiserbilder. Jetzt ist es »soweit«, denke ich.
Ich sammle Kaiserbilder. Im Geschäft meiner Eltern gibt
es viele verlockende Dinge, Bindfaden und Bonbons, Limonaden und Rosinen, große und kleine Nägel, aber am
schönsten sind die Kaiserbilder. Wenn auch am schwersten
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zu stehlen. In jeder Tafel Schokolade liegt eins. Der Schokoladenschrank ist verschlossen, der Schlüssel hängt an
einem Bund, den Mutter an ihrer blaugewürfelten Umhängeschürze trägt. Früh, wenn ich aufwache, arbeitet Mutter.
Sie arbeitet im Laden, sie arbeitet im Getreidespeicher, sie
arbeitet in der Wirtschaft, sie schickt den Armen Essen und
lädt die Bettler zum Mittag, und wenn der Knecht aufs Feld
geht, den Acker zu pflügen und das Korn zu säen, mißt sie
ihm das Korn zu. Abends liest sie bis tief in die Nacht, oft
schläft sie ein über einem Buch, und wenn ich sie wecke,
bittet sie:
»Laß mich lesen, Kind, es ist meine einzige Freude.«
»Warum arbeitest du immer, Mutter?«
»Weil du essen willst, Kind.«
Wenn Mutter nicht achtgibt, stehle ich erst die Schlüssel,
dann aus den Schokoladentafeln die Bilder, Schokolade nur
nebenbei. Schön sind die Bilder der alten Germanen, sie
tragen Felle und Keulen, auf die sie sich stützen, ihre Weiber kauern auf der Erde und müssen die Schilde scheuern.
Stanislaus meint, sie gebrauchten dazu ihre blonden Haare,
die aussehen wie um den Kopf gelegte Bettvorhänge aus
Stroh. In den meisten Tafeln liegen Bilder von unserem
Kaiser, er hat sich einen Mantel von rotem Samt auf seine
Schultern gelegt, in der einen Hand hält er eine Kugel, in
der anderen einen goldenen Feuerhaken.
Wenn ich morgens in meinem Bett liege und die vielen
Kaiserbilder ansehe, frage ich mich: Geht ein Kaiser auch
aufs Klo? Die Frage beschäftigt mich sehr, und ich laufe zur
Mutter. »Du wirst noch ins Gefängnis kommen«, sagt Mutter. Also geht er nicht aufs Klo.
Vom Marktplatz zu den Kirchhöfen führt die Totenstraße.
Die Menschen, die dort wohnen, finden nichts dabei, daß
ihre Straße »Totenstraße« heißt, sie stehen vor den Türen
und schwatzen, sie schimpfen auf den Bürgermeister, weil
das Trottoir, auf das alle Leute in der Stadt stolz sind, mitten in der Straße aufhört. »Wie abrasiert«, sagt Kaufmann
Fischer. Ich möchte nicht in der Totenstraße wohnen. Ich
habe noch nie einen Toten gesehen, nur Schädel und Knochen, die haben Arbeiter gefunden, als sie neben der Mühle
einen Brunnen gruben. Stanislaus und ich spielen Ball mit
Schädeln, die Knochen dienen als Abschlaghölzer, Stanislaus gibt den Schädeln Fußtritte.
»Warum tust du das?«
»Großmutter hat gesagt, es sind böse Menschen gewesen,
Gute bleiben nicht im Grab, Engel holen sie und fliegen mit
ihnen in den Himmel zum lieben Gott.«
»Was tun sie da?«
»Pellkartoffeln fressen sie nicht.«
Ich esse Pellkartoffeln sehr gerne, zu Hause nicht, ich esse sie lieber bei Stanislaus. Seine Großmutter, seine Mutter,
sein Vater, drei Schwestern und vier Brüder wohnen in der
Dorfstraße, in einem kleinen Haus aus Lehm, oben deckt
es ein Strohdach, alle schlafen in einer Stube, und gekocht
wird darin auch. In der Dorfstraße fehlt das Trottoir, aber
niemand schimpft auf den Bürgermeister. Immer, wenn ich
um die Mittagszeit Stanislaus besuche, essen sie Pellkartof-
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feln und Grützsuppe oder Pellkartoffeln und Hering, ich
stehe in einer Ecke, und das Wasser läuft mir im Mund zusammen.
»Lang zu«, sagt endlich Stanislaus‘ Mutter, »essen elf sich
satt, wird es auch für zwölf reichen.«
Stanislaus pufft mich in die Seite:
»Braten und Gebackenes kannst du dir malen.«
»Wir essen auch nicht jeden Tag Braten und Gebackenes,«
»Ihr könntet so fressen, wenn ihr wolltet.«
Ich nehme meine Mütze und renne nach Haus.
»Was mußt du dort zu Mittag bleiben«, schilt mich Mutter,
»du ißt den armen Leuten ihr bißchen Brot weg.«
»Warum haben sie so wenig?«
»Weil der liebe Gott es so will.«
Die Totenstraße ist sehr lang, ich denke mir, wegen der Toten, sie wollen noch ein bißchen spazierenfahren, ehe sie
ins Grab gelegt werden und es sich entscheidet, ob sie darin
bleiben oder in den Himmel fliegen.
Neulich ist Onkel M. gestorben. Ob er ein guter Mensch
war? Ich stehe an der Friedhofsmauer. Von einer Weide breche ich mir eine Gerte und spitze sie an, ich klettere über
die Mauer, laufe zum Grab und bohre, der Friedhofswärter
überrascht mich, ich mache mich aus dem Staub.
Auf dem Nachhauseweg denke ich: ›Was ist ein guter
Mensch?‹
Draußen krachen Türen. Im Zimmer ist es dunkel. Dort
schläft Vater, dort Mutter. Es ist gar nicht dunkel. Und die
Betten von Vater und Mutter sind leer. Haben Räuber sie
überfallen? Von draußen blinkt es rötlich. Ein Horn bläst,
immer den gleichen heulenden Ton. Ich springe aus dem
Bett, reiße die Tür auf, renne auf die Straße, drüben, auf der
anderen Seite des Marktes, brennt ein Haus, rot und grün
und schwarz, Feuerwehrleute mit glänzenden Helmen auf
dem Kopf rennen wild umher, und die Menschen stellen
sich auf die Zehenspitzen. Jule, unsere Köchin, sieht mich
und jagt mich ins Bett zurück.
»Warum brennt es, Jule?«
»Weil Gott strafen will.«
»Warum will Gott strafen?«
»Weil kleine Kinder zuviel fragen.«
Ich fürchte mich, ich kann nicht mehr einschlafen, es riecht
nach Rauch, es riecht nach Versengtem, es riecht nach dem
lieben Gott. Am andern Morgen stehe ich vor verkohlten
Balken und Steinen, sie sind noch heiß.
»Nicht einen Knochen hat man gefunden, die arme Frau ist
in ihrem Bett verbrannt.«
Ich drehe mich jäh um, der Mann, der es sagte, ist weitergegangen.
Ich laufe nach Haus, setze mich in eine Ecke, der Stock,
mit dem ich in der Asche gestochert habe, klebt in meiner
Hand.
Herr Levi kommt. Er lacht.
»Schöne Sachen machst du.«
Ich rühre mich nicht.
»Alle in der Stadt wissen es, du hast Eichstädts Haus angesteckt.«
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Herr Levi steckt sich eine Zigarre an und geht davon. Erst
meinte Jule, ich sei schuld, nun sagt es Herr Levi.
Ich verkrieche mich auf dem Boden und bleibe dort bis
zum Abend.
War es anders gestern? Ich hatte mich ausgezogen, mich
gewaschen, ins Bett gelegt und geschlafen, gewaschen habe ich mich nicht, nur Mutter vorgeredet, ich hätte es getan,
also gelogen. Darum das Feuer? Darum diese schreckliche
Strafe? Ist Gott so streng? Ich denke an die Pellkartoffeln,
an die verbrannte Frau Eichstädt.
Im Zimmer ist es dunkel. Ich liege und horche. Rechts von
der Tür hängt ein rundes längliches Glasröhrchen, an das
zu rühren mir verboten ist, das Stubenmädchen Anna bekreuzigt sich, bevor sie es abstaubt.
»Da wohnt der Juden ihr Gott drin«, brummt sie.
Mein Herz klopft. Noch wage ich es nicht. Wenn »Er« nun
aus der Rolle herausspringt und schreit: »Ich bin der liebe
Gott! Zur Strafe, daß du gelogen hast...« Ich lasse mir nicht
länger Angst einjagen, und vor Pellkartoffeln fürchte ich
mich auch nicht, mit einem Satz bin ich an der Tür, klettere auf die Kommode, reiße den »lieben Gott« herunter. Ich
zerschlage das Glasröhrchen. »Er« rührt sich nicht. Ich werfe das Röhrchen auf den Boden. »Er« rührt sich nicht. Ich
spucke es an, ich nehme meine Schuhe und schlage drauf
los. »Er« rührt sich nicht. Vielleicht ist »Er« schon tot. Mir ist
leicht zumute. Ich packe Glas- und Papierfetzen, stopfe sie
in die Sofafalte zwischen Lehne und Polster, morgen werde
ich den »lieben Gott« begraben.
Fröhlich lege ich mich ins Bett, mögen alle wissen, daß ich
den »lieben Gott« totgeschlagen habe.
Ich habe geglaubt, alle Jungen und Mädchen gehen zusammen in eine Schule. Ilse und Paul gehen in die »evangelische«, Stanislaus in die »katholische«, ich in die »jüdische«.
Dabei lernen sie lesen und schreiben wie ich, und die Schulhäuser sehen eins aus wie das andere.
Der Lehrer heißt Herr Senger. Wenn er morgens die Türe
aufreißt, rufen wir: »Guten Morgen, Herr Senger.« Er setzt
sich aufs Katheder und legt den Rohrstock neben sich. Wer
seine Aufgabe nicht gelernt hat, muß seine Hände vorstrekken, dann schlägt Herr Senger mit dem Rohrstock darauf,
»zur Strafe«, sagt er. Wer seine Aufgaben gelernt hat, den
nimmt Herr Senger auf die Knie, er muß seine Backe an die
Backe von Herrn Senger legen, die ist stachlig, und Herr
Senger reibt sich daran, »zur Belohnung«, sagt er.
In der Pause zeigen wir uns die Frühstücksstullen.
»Ich habe Fleisch.«
»Ich habe Käse.«
»Was hast du drauf?«
»Er hat gar nichts drauf.«
Kurt will seine leere Stulle verstecken, wir lassen es nicht
zu, wir lachen ihn aus, Kurt ruft: »Ich werde es meiner
Mutter erzählen«, wir rufen: »Petzer«, Kurt wirft sein Brot
in den Sand und weint.
Wie wir von der Schule nach Haus gehen, sagt Max: »Meine
Eltern erlauben nicht, daß ich mit Kurt spiele, seine Mutter
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wäscht bei uns jede Woche, alle armen Leute sind schmutzig und haben Flöhe.«
Ich spiele mit Stanislaus. Ich habe eine Eisenbahn geschenkt
bekommen. Ich bin der Lokomotivführer. Stanislaus ist
Weichensteller. Mitten in der Fahrt bremse ich.
»Weiterfahren«, ruft Stanislaus, er steckt zwei Finger in den
Mund und pfeift schrill.
»Hast du Flöhe?«
»Fahr weiter.«
»Bist du schmutzig?«
Stanislaus tritt mit seinem Fuß auf die Eisenbahn und zerbiegt das schöne Spielzeug zu einem Haufen Blech.
»Wenn Max doch sagt, daß alle armen Leute schmutzig
sind und Flöhe haben. Jetzt hast du meine Eisenbahn kaputt gemacht, und du willst mein Freund sein?«
»Ich bin nicht dein Freund. Ich hasse euch.«
Auf der Straße schreien die Kinder: »Jude, hep, hep!« Ich
habe es früher nie gehört. Nur Stanislaus schreit nicht, ich
frage Stanislaus, warum die anderen so schreien.
»Die Juden haben in Konitz einen Christenjungen geschlachtet und das Blut in die Mazzen gebacken.«
»Das ist nicht wahr!«
»Daß wir schmutzig sind und Flöhe haben, das ist wohl
wahr, wie?«
Lehrer Senger geht über den Marktplatz. Ein Junge läuft
hinter ihm her und singt:
»Jiddchen, Jiddchen, schillemachei,
reißt dem Juden sein Rock entzwei,
der Rock ist zerrissen,
der Jud hat geschissen.«
Lehrer Senger geht, ohne sich umzudrehen, weiter. Der
Junge ruft: »Konitz, hep, hep! Konitz, hep, hep!«
»Glaubst du wirklich«, fragte ich Stanislaus, »daß die Juden
in Konitz einen Christenjungen geschlachtet haben? Ich
werde nie mehr Mazzen essen.«
»Quatsch! Gib sie mir.«
»Warum rufen die Jungen Jude, hep, hep?«
»Rufst du nicht auch Polack?«
»Das ist etwas anderes.«
»Ein Dreck! Wenn du‘s wissen willst, Großmutter sagt, die
Juden haben unsern Heiland ans Kreuz geschlagen.«
Ich laufe in die Scheune, verkrieche mich im Stroh und leide bitterlich. Ich kenne den Heiland, er hängt bei Stanislaus
in der Stube, aus den Augen rinnen rote Tränen, das Herz
trägt er offen auf der Brust, und es blutet. »Lasset die Kindlein zu mir kommen«, steht darunter. Wenn ich bei Stanislaus bin und niemand aufpaßt, gehe ich zum Heiland und
bete.
»Bitte, lieber Heiland, verzeih mir, daß die Juden dich totgeschlagen haben.«
Abends im Bett frage ich Mutter:
»Warum sind wir Juden?«
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»Schlaf, Kind, und frag nicht so töricht.«
Ich schlafe nicht. Ich möchte kein Jude sein. Ich möchte
nicht, daß die Kinder hinter mir herlaufen und »Jude« rufen.
Auf dem Hof des Tischlers Schmidt steht ein Schuppen.
Dort versammeln sich die »Wahren Christen«. Sie blasen
Posaune und singen Haleluja, sie knien sich hin und schreien: »Dein Reich ist nahe, o Zion!« Sie umarmen sich und
Holzschnitte von küssen sich und blasen wieder Posaune. Ich will auch ein
wahrer Christ werden, darum gehe ich in den Schuppen.
Kurt Scheele
Der Herr Vorleser streichelt mich, schenkt mir Zucker und
(1905 - 1944)
sagt, ich sei »auf dem rechten Wege«.
»Wir werden alle in Liebe und Eintracht das heilige Weih• Mann mit Kind (1934)
nachtsfest feiern«, sagt er.
• Der Mann, der das Gras »Ja«, sage ich.
wachsen hört
»Und du, mein Kind, wirst dieses Weihnachtsgedicht auf• Bestialisches Gelächter
sagen.«
• Der Kuss
Ich bin selig, ich bin kein Jude mehr, ich werde ein Weih• Paar mit Lampe
nachtsgedicht aufsagen, keiner darf mir mehr »Jude, hep,
• Schnapstrinker
hep!« nachrufen. Ich nehme meine Trompete und blase
wie er die Posaune, dann spreche ich mit lauter, feierlicher
Stimme das Weihnachtsgedicht. Am andern Tag sagt mir
der Herr Vorleser, es täte ihm leid, aber dem Herrn Heiland
sei es angenehmer, wenn Franz das Gedicht aufsage.
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© wasser-prawda
A.S. der Unsichtbare
Kriminalroman von Edgar Wallace. Aus
dem Englischen von Ravi Ravendro
9. Fortsetzung. Kapitel 14
Mr. Boyd Salter saß an einem kleinen Tisch in der Nähe
des offenen Fensters seiner Bibliothek. Von hier aus konnte er das ganze Tal und auch einen Teil von Beverley Green
überschauen. Er war damit beschäftigt, Patiencen zu legen,
wurde aber doch nicht so davon in Anspruch genommen,
daß er nicht von Zeit zu Zeit eine Pause gemacht und aus
dem Fenster gesehen hätte. Einmal interessierte ihn eine
Schafherde, die gerade des Weges kam, dann beobachtete er einen Habicht, der plötzlich herabstieß und sich mit
seiner Beute wieder in die Lüfte erhob. Er wurde auf einen
Mann in einem langen dunklen Mantel aufmerksam, der
sich sehr merkwürdig benahm. Aber die Entfernung war
zu groß, um feststellen zu können, was er eigentlich tat.
Er ging an dem Rand einer Pflanzung entlang, aus der er
vermutlich herausgekommen war.
Mr. Salter drückte den Knopf einer elektrischen Klingel.
»Bringen Sie mir meinen Feldstecher, Tilling. Wissen Sie,
ob dort ein Parkwächter in der Gegend herumstreift?«
»Ich glaube nicht. Madding ist unten im Leutezimmer.«
»Schicken Sie ihn, bitte, herauf, aber bringen Sie erst mein
Glas.«
Mr. Salter stellte den Feldstecher ein, aber er konnte den
Fremden nicht erkennen, der etwas zu suchen schien. Der
Mann kam nur langsam vorwärts und bewegte sich nicht
in gerader Linie.
Boyd Salter wandte den Kopf. Ein untersetzter Mann mit
rotem Gesicht, der einen Anzug aus Manchestersamt und
Gamaschen trug, war eingetreten.
»Madding, wer geht dort bei Spring Covert?«
Der Wächter legte die Hand über seine Augen.
»Sieht mir so aus, als ob es einer von diesen Leuten aus
Beverley Green wäre. Ich glaube, es ist Wilmot.«
Mr. Salter schaute wieder hinaus.
»Sie werden wohl recht haben. Gehen Sie hin, bestellen Sie
einen schönen Gruß von mir und fragen Sie, ob Sie etwas
für ihn tun können. Vielleicht hat er etwas verloren. Warum aber gerade auf meinem Grundstück etwas vermißt
wird, ist mir ein Rätsel.«
Madding ging hinaus, und Mr. Salter wandte sich wieder
seinen Karten zu. Als er nach einiger Zeit noch einmal
hinaussah, eilte der Wächter mit großen Schritten durch
das Gelände. Später konnte er nur Madding allein ins Glas
bekommen, der Fremde war verschwunden.
Boyd Salter nahm die Karten zusammen, mischte sie und
legte sie von neuem auf. Bald darauf kam Madding zurück.
»Ich danke Ihnen, ich habe schon gesehen, daß Sie ihn
nicht mehr angetroffen haben.«
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»Dieses Ding habe ich gefunden, Sir. Es lag etwas weiter entfernt von der Stelle, wo Mr. Wilmot suchte. Wahrscheinlich hat er danach gesucht.«
Er reichte Salter ein goldenes Zigarettenetui, von dem er
den Lehm abgewischt hatte. Der Boden um Spring Covert
war feucht und lehmig.
Mr. Salter nahm das Etui und öffnete es. Es enthielt zwei
feuchte Zigaretten und ein abgerissenes Stück Zeitungspapier, auf dem mit Bleistift eine Adresse geschrieben war.
»Es ist gut, Madding. Ich werde dafür sorgen, daß es Mr.
Wilmot zurückerhält. Es wird ihm gehören, hier ist sein
Monogramm. Ich glaube, daß er Ihnen eine gute Belohnung geben wird. Ich habe gehört, Sie haben heute morgen
ein Hermelin gefangen? Diese Tiere sind doch die größten Feinde der jungen Fasane. Sagten Sie nicht, daß es in
diesem Jahr viele gibt? Nun, es ist gut, ich danke Ihnen,
Madding.«
»Entschuldigen Sie bitte, Sir, ich möchte Ihnen noch etwas
mitteilen.«
Der Parkwächter wartete einen Augenblick, bis Salter ihm
zunickte weiterzusprechen.
»Es ist wegen des Mordes. Ich habe die Vermutung, daß
der Täter durch den Park geflohen ist.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich war in jener Nacht draußen unterwegs. Die Leute von
Beverly wildern schlimmer denn je. Mr. Goldings Oberwächter erzählte mir erst heute wieder, daß er einen Mann
gefaßt hat, der sechs Fasanen in seinem Rucksack hatte.
Als ich so herumstreifte, hörte ich unten bei Vally Bottom
einen Schuß. Ich lief so schnell wie möglich hin, obgleich
ich mir sagte, daß sich Wilddiebe im allgemeinen hier nicht
mit Gewehren herumtreiben. Als ich eine Strecke weit gegangen war, hielt ich an und horchte. Ich kann einen Eid
darauf leisten, daß ich hörte, wie jemand über den hartgetretenen Weg ging, der nach Spring Covert führt, wo eben
auch Mr. Wilmot war. Ich rief ihn an, aber da hörte ich keine Schritte mehr. ›Bleiben Sie stehen, Sie sind erkannt!‹ rief
ich, da ich dachte, es sei ein Wilddieb. Ich habe aber nichts
mehr gehört und auch niemand gesehen.«
»Haben Sie der Polizei das alles mitgeteilt? Das hätten Sie
tun sollen, Madding. Es könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein. Glücklicherweise besucht mich Mr. Macleod
heute nachmittag.«
»Ich wußte nicht recht, was ich tun sollte. Ich habe den
Schuß nämlich nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht. Erst als ich es meiner Frau erzählte, sagte sie, daß
ich Ihnen das mitteilen müsse.«
»Ihre Frau hat recht, Madding«, erwiderte Salter lächelnd.
»Bleiben Sie in der Nähe, wenn Doktor Macleod kommt.«
Andy, der Mr. Salter wegen der Leichenschau verschiedenes zu fragen hatte, hörte die Geschichte des Parkwächters
mit Interesse an und erkundigte sich nach der genauen
Zeit, wann er den Schuß gehört hatte.
»Madding hat auch ein Zigarettenetui gefunden, das Mr.
Wilmot gehört«, sagte Boyd Salter und erzählte, daß er Artur auf der Suche nach einem Gegenstand gesehen habe.
»Ich danke Ihnen, Madding, Sie brauchen nicht zu warten,
112
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wenn nicht Doktor Macleod noch weitere Fragen an Sie
hat. Nein? Dann können Sie gehen.«
Andy betrachtete das Etui.
»Wie kam er denn in die Nähe von Spring Covert? Führt
dort ein öffentlicher Weg vorbei?«
»Nein, er hat unerlaubt fremdes Gebiet betreten, obgleich
ich so harte Worte nicht gern von den Spaziergängen eines
Nachbarn auf meinem Grund und Boden gebrauche. Unsere Freunde in Beverley Green haben die Erlaubnis, hier
auf meinem Gelände Picknicks zu veranstalten. Sie müssen nur meinem Wächter davon Mitteilung machen. Aber
sie kommen eigentlich nie nach Spring Covert – es ist nicht
besonders schön dort.«
Andy öffnete das Etui und nahm das Stückchen Zeitungspapier heraus. »Es ist wohl eine Adresse«, meinte Mr. Salter.
»Ja – die Adresse des ermordeten Sweeny –, und Wilmot
hat sie am selben Tag erhalten, an dem der Mord begangen
wurde!«
Er drehte den kleinen Fetzen um. Er war von einer Sonntagszeitung abgerissen, oben war noch zu lesen ... onntag,
den 23. Juni...
Offenbar hatte diese Zeitung Sweeny gehört, dachte Andy.
Wahrscheinlich hatten sich die beiden getroffen, miteinander gesprochen, Wilmot hatte sich währenddessen überlegt, daß ihm der Sekretär Albert Selims vielleicht noch
irgendwie nützlich sein könnte, und hatte sich deshalb
seine Adresse notiert. Diese Begegnung hatte aber schwerlich in Spring Covert stattgefunden, wo das Etui gefunden
worden war. Sie mußten sich dort nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal getroffen haben, oder Wilmot hatte
nachts diesen Platz heimlich aufgesucht. Die erste Möglichkeit erschien Andy wahrscheinlicher.
Wilmot hatte also doch etwas mit der Sache zu tun.
»Worüber denken Sie nach?« fragte Boyd Salter.
»Es ist merkwürdig, ich weiß nicht, was ich aus diesem
Fund machen soll. Ich werde Wilmot aufsuchen und ihm
das Etui zurückgeben, wenn Sie gestatten.«
Als er nach Beverley Green zurückging, fiel es ihm plötzlich auf, daß fast alle wichtigen Ereignisse während seines
Aufenthaltes doppelt eingetreten waren. Er hatte die Drohung Wilmots vor Merrivans Haus und die Wutausbrüche Nelsons vor dessen Tür gehört. Sowohl in Merrivans
als auch in Nelsons Haus hatte er verbrannte Papiere entdeckt. Und nun war wieder etwas gefunden worden –
»Wir haben einen kostbaren Brillantring gefunden – vielmehr Mr. Nelson hat ihn auf dem Rasen entdeckt«, begrüßte ihn der Polizeiinspektor. »Ich habe nicht gehört, daß
irgendwo ein Ring vermißt würde. Niemand im ganzen
Dorf bekennt sich als Eigentümer des Schmuckstücks.«
Stella war doch wirklich zu achtlos! Sie streute verdächtigende Gegenstände wie der ›Fuchs‹ bei der Schnitzeljagd.
»Der Eigentümer wird sich schon noch melden«, meinte
Andy gleichgültig.
Am Abend traf er Wilmot, der gerade nach Hause kam.
»Ich glaube, das gehört Ihnen«, sagte Andy und hielt ihm
das Etui hin.
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Wilmot wurde rot.
»Ich glaube kaum. Ich habe nichts verloren –«
»Aber Ihr Monogramm ist doch darauf, und zwei Leute
haben es bereits als Ihr Eigentum erkannt.«
Das war zwar nicht die Wahrheit, aber Andy hatte Erfolg
mit dieser Methode.
»Tatsächlich! Ich danke Ihnen, Doktor Macleod. Ich hatte
es noch nicht vermißt.«
Andy lächelte.
»Dann haben Sie oben bei Spring Covert wohl nach etwas
anderem gesucht?«
Wilmot wurde jetzt blaß.
»Wann haben Sie sich Sweenys Adresse notiert?«
Wilmot sah Andy haßerfüllt an. Entweder war Wilmot
schuldig oder eifersüchtig. Wahrscheinlich war Eifersucht
die Ursache – er wußte oder vermutete doch, wie Andy zu
Stella Nelson stand.
»Ich traf ihn am Sonntagmorgen, er bat mich, ihn für eine
neue Stellung zu empfehlen. Ich hatte ihn kennengelernt,
als er in den Diensten meines Onkels stand. Ich traf ihn
auf dem Golfplatz, und so schrieb ich seine Adresse auf
ein Stück Zeitungspapier.«
»Sie haben aber weder mir noch Inspektor Dane gesagt,
daß Sie ihm begegnet waren.«
»Das hatte ich ganz vergessen – nein, das stimmt nicht,
aber ich wollte nicht in diesen Fall verwickelt werden.«
»Sie haben ihn dann nachts noch einmal gesehen – warum
wählten Sie Spring Covert als Treffpunkt?«
Wilmot schwieg, und Andy mußte seine Frage wiederholen.
»Er war von Beverley Green fortgegangen und wollte mich
noch einmal sprechen. Er dachte, daß es mir peinlich sei,
wenn man uns zusammen sähe.«
»Wann dachte er denn das? Am Morgen, als die zweite
Verabredung vereinbart wurde?«
»Ja«, entgegnete Wilmot zögernd. »Wollen Sie nicht hereinkommen, Macleod.«
»Sind Sie allein?«
»Ja, ich bin allein im Haus. Die Dienstboten haben heute
alle Ausgang. Sie kommen auch sonst nur in mein Zimmer, wenn ich sie rufe.«
Artur Wilmots Haus war das kleinste von allen, aber es
war mit hervorragendem Geschmack eingerichtet. Wenn
es Andy trotzdem nicht vollständig befriedigte, so lag das
wohl daran, daß ihm der Charakter der Einrichtung zuwenig männlich erschien.
Auf dem Tisch des Zimmers, in das sie traten, lag ein halbfertiger Damenhut. Wilmot unterdrückte einen Ausruf. Es
war eine mit prachtvoller, farbiger Seide überzogene Hutform.
Ihre Ankunft mußte irgend jemand gestört haben. Andy
tat, als ob er nichts gesehen hätte, aber Wilmot war zu aufgeregt, um die Sache übergehen zu können, und versuchte, Andy eine Erklärung zu geben.
»Vermutlich hat wieder eins der Dienstmädchen hier gearbeitet!« Mit diesen Worten packte er den Hut und schleuderte ihn in eine Ecke.
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Der Zwischenfall, der eigentlich Wilmots Verwirrung hätte vergrößern müssen, schien die entgegengesetzte Wirkung zu haben. Seine Stimme war klar und fest, als er jetzt
sprach.
»Ich habe Sweeny zweimal getroffen, und es war töricht
von mir, es nicht sofort zuzugeben. Sweeny haßte meinen
Onkel. Er kam zu mir, um mir etwas zu erzählen – er deutete wenigstens an, daß er etwas wüßte, durch das ich Mr.
Merrivan in meine Hand bekäme. Die zweite Zusammenkunft in Spring Covert diente dazu, über die Bedingungen
zu verhandeln, unter denen Sweeny mir seine Informationen geben wollte. Ich wünschte, ich wäre nicht hingegangen, ich bin auch nicht lange dort gewesen. Ich versprach
Sweeny, ihm zu schreiben, und damit hatte die Sache ein
Ende.«
»Worin bestand denn Sweenys Geheimnis?«
Wilmot zögerte.
»Offen gestanden, ich weiß es nicht. Ich hatte nur den Eindruck, daß Mr. Merrivan irgendwie in Selims Schuld war
– Selim war der Name von Sweenys Chef. Aber das kann
ich nicht recht glauben, es kommt mir fast lächerlich vor.
Mein Onkel war ein reicher Mann.«
Andy schwieg und überlegte, ob Wilmot die Wahrheit gesagt haben könnte.
»Haben Sie irgendeine Ahnung, wer Ihren Onkel getötet
haben könnte?«
Wilmot runzelte die Stirn. »Haben Sie denn eine Vermutung?«
Andy wußte, wen Wilmot beschuldigen würde, wenn
auch nur der geringste Verdacht auf ihn selbst fallen sollte.
»Ich habe mir viele Theorien zurechtgelegt«, erwiderte er
kühl. »Aber es wäre übereilt, wenn ich mich jetzt schon
endgültig für eine von ihnen entscheiden würde. Da fällt
mir etwas ein, Mr. Wilmot. Als wir uns das letztemal sahen, sprachen Sie von einem nichtswürdigen Mädchen.
Das interessiert mich. Sie beschwerten sich heftig über sie
und sagten, daß Sie ihretwegen Streit mit Ihrem Onkel gehabt hätten. Das könnte ein wichtiger Anhaltspunkt sein.
Wer war diese Dame?«
Das war ein meisterhafter Angriff, der wohlüberlegt im
günstigsten Augenblick geführt wurde.
Auf eine so direkte Frage war Wilmot nicht vorbereitet. Es
war ihm klar, daß Macleod genau wußte, wen er gemeint
hatte. Er mußte jetzt mit der Sprache heraus oder –
»Die Antwort darauf muß ich schuldig bleiben.«
Aber Andy war schon zu weit gegangen und hatte zu viel
gewagt, um seinem Gegner jetzt noch gestatten zu können, das Gefecht abzubrechen.
»Das kann ich nicht gelten lassen. Entweder kennen Sie eine solche Dame oder Sie kennen sie nicht. Entweder haben
Sie sich mit Ihrem Onkel gestritten oder nicht. Ich spreche
jetzt als der Polizeibeamte, der mit der Untersuchung dieses Falles beauftragt ist, und ich muß die Wahrheit erfahren.«
Seine Stimme klang hart und drohend.
»Ich war damals sehr verwirrt«, sagte Artur Wilmot mürrisch und widerwillig. »Ich wußte nicht, was ich sagte. Ich
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meinte keine bestimmte Dame, auch habe ich mich mit
meinem Onkel nicht gestritten.«
Langsam zog Andy ein Notizbuch aus der Tasche und
schrieb diese Worte Wilmots, der ihn wütend beobachtete,
auf.
»Ich danke Ihnen. Ich werde Sie jetzt wohl nicht wieder in
dieser Angelegenheit belästigen müssen.«
Ohne ein weiteres Wort entfernte er sich.
Wilmot blieb zurück und trug sich mit Mordgedanken.
»Mr. Macleod!«
Andy drehte sich an der Gartenpforte noch einmal um.
Wilmot kam hinter ihm her.
»Es ist jetzt sicher kein Grund mehr vorhanden, warum
ich das Haus meines Onkels nicht betreten dürfte. Ich bin
der gesetzmäßige Erbe Mr. Merrivans, und ich habe einige
Vorbereitungen für seine Beerdigung zu treffen.«
»Ich muß Ihnen im Augenblick nur noch die eine Beschränkung auferlegen, daß Sie nicht in sein Arbeitszimmer gehen. Dieser Raum kann erst nach der Leichenschau
freigegeben werden.«
Andy ging über die Straße und sprach mit dem Polizeisergeanten, der das Haus bewachte.
»So, diese Sache habe ich in Ordnung gebracht, Mr. Wilmot. Der Beamte wird Sie einlassen.«
Andy war weder überrascht noch belustigt über den Damenhut in Wilmots Zimmer, der zu vielen Vermutungen
Anlaß geben konnte. Wilmots Verlegenheit war zu deutlich und seine Erklärung vollständig unglaubwürdig gewesen. Ein Dienstmädchen sollte den Hut dort genäht haben? Das stimmte doch nicht mit seiner Angabe überein,
daß kein Dienstbote in sein Zimmer kommen dürfe, wenn
er nicht gerufen war. Wilmot war Junggeselle wahrscheinlich nicht besser und nicht schlechter als alle Junggesellen.
Aber es war doch ein wenig überraschend, daß er seine
Damen nach Beverley Green brachte, wo alle Dienstboten
bekanntermaßen klatschten. Eine solche Unbesonnenheit
sah Artur Wilmot gar nicht ähnlich.
Er ging zu Nelsons. Wenn er nach seinen Wünschen hätte
handeln können, wäre er jeden Tag dort hingegangen und
die ganze Zeit dort geblieben. Er richtete es jetzt immer so
ein, daß er Scottie in den frühen Morgenstunden draußen
im Freien traf, gewöhnlich in den Parkanlagen.
Stella empfing ihn. Ihr Vater war im Atelier und arbeitete.
Sie war begeistert, denn Kenneth Nelson hatte ein neues
Gemälde begonnen, ein Porträt Scotties.
»Das ist ja großartig, weil ich dann immer ein gutes Bild
von Scottie zur Verfügung habe«, meinte Andy. »Wenn
ich ihn in Zukunft wieder einmal verhaften lassen muß,
schicke ich meine Leute einfach zur Akademie, damit sie
ihn vorher genau studieren können.«
»Er wird in Zukunft aber nichts mehr anstellen«, sagte sie,
denn sie war über seine Worte erschrocken. »Er erzählte
mir, daß er sein altes Leben aufgeben und nicht mehr stehlen wolle.«
Andy lächelte.
»Ich würde ja nur zu froh sein, wenn es so wäre. Kennst du
Artur Wilmot sehr gut, Stella?«
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Sie wollte schon sagen, daß sie ihn nur allzugut kenne.
»Ich habe es einmal gedacht«, erwiderte sie. »Warum fragst
du danach?«
»Weißt du, ob er irgendwelche Freundinnen oder weibliche
Verwandte hat?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Seine einzigen Verwandten waren Mr. Merrivan und eine
alte Tante. Er hat nie Besuch gehabt mit Ausnahme seiner
Tante, die aber gestorben ist, soviel ich weiß. Er hat nicht
einmal Junggesellenabende gegeben. Ich weiß nicht mehr,
was vorgeht. Hast du neue Anhaltspunkte gefunden? Der
ganze Ort wimmelt von Zeitungsreportern. Einer kam und
fragte mich, ob ich ihm irgendwelche Einzelheiten aus Mr.
Merrivans Privatleben erzählen könne. Er fragte mich zum
Beispiel, ob er regelmäßig zur Kirche gegangen und sonst
ein ruhiger, stiller Mensch gewesen sei. Ich gab zur Antwort, daß ich nicht viel über ihn wisse. Er war leicht zufriedenzustellen.«
Andy seufzte. »Ich bin nur froh, daß Downer nicht gekommen ist.«
»Wer ist Downer?«
»Ein Journalist, der tüchtigste und geschickteste Mann von
der ganzen Gesellschaft. Der gibt sich nicht so leicht zufrieden wie der Reporter, der dich aufgesucht hat. Er hätte auch
nicht so dumme Fragen gestellt. Er hätte mit deinem Vater
über Kunst gesprochen, wäre ins Atelier gegangen, hätte den Pygmalion bewundert und mit deinem Vater über
Farbwerte, den Einfluß der Atmosphäre, über Beleuchtungs- und Bewegungsmotive diskutiert. Wenn er aber gegangen wäre, hättest du das unangenehme Gefühl gehabt,
mehr gesagt zu haben, als gut war. Und zwar nicht über
alte Meister, sondern über Mr. Merrivans Privatleben.«
Sie wandte die Augen nicht von ihm, während er sprach.
Aber er sah sie nicht lange an, denn er fürchtete, er würde
sie an sich reißen und nicht wieder freigeben.
»Du mußt unheimlich viele Menschen kennenlernen, diesen Downer zum Beispiel, und Leute wie Scottie. Ich nannte ihn übrigens aus Versehen auch Scottie, es schien ihm
sehr angenehm zu sein. Gibt es eigentlich etwas Neues?«
»Inspektor Dane hat deinen Ring gefunden. Streust du deine Brillantringe immer so aus?«
Sie war nicht im mindesten verwirrt.
»Ich habe ihn weggeworfen, ich weiß nicht mehr, wo. Willst
du schon gehen? Du bist noch kaum eine Minute hier und
hast weder meinen Vater noch sein Gemälde gesehen.«
»Ich bin schon lange genug hiergewesen, um die ganze
Nachbarschaft in Aufruhr zu bringen. Verstehst du nicht,
daß ich dich nur besuchen kann, wenn ich unter dem einen
oder anderen Vorwand auch zu allen anderen gehe? Jeden
Tag mache ich zehn bis zwölf verschiedene Besuche und
falle den Leuten auf die Nerven – nur um dich einmal sehen zu können.«
Sie begleitete ihn zur Tür. »Ich wünschte, du würdest kommen und wieder Staub wischen«, sagte sie zärtlich.
»Und ich – ich wünschte, wir wären wieder bei dem zweiten Golfloch«, erwiderte er leise.
Sie lachte, und er hörte sie noch auf dem Gartenweg.
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