Freiheit statt Kapitalismus
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Freiheit statt Kapitalismus
http://zeus.zeit.de/text/2000/15/200015.beck_sennett_.xml DIE ZEIT Freiheit statt Kapitalismus Was bedeuten heute noch Begriffe wie Klasse, Familie, Arbeit, Betrieb? Die Sozialwissenschaftler Ulrich Beck und Richard Sennett über die Schwierigkeiten des modernen Individuums, eine neue Orientierung zu finden Das Gespräch führte Christiane Grefe DIEZEIT: Sie beide leben und denken zurzeit als akademische Wanderarbeiter in London: Sind auch Sie entwurzelte "flexible Menschen"? ULRICH BECK: Ich bin überhaupt nicht entwurzelt, die London School of Economics ist für mich Heimat. Hier arbeiten Intellektuelle aus aller Welt an einer Neudefinition der Sozialwissenschaften. Hiertobt international ein Grundsatzstreit. Die einen glauben, dass die radikalisierte Modernisierung viele Bereiche der Gesellschaft völlig umwälzt, ohne dass sich das 1 in der Soziologie spiegelt. Die Mehrheit der anderen reagiert beleidigt und empört und will weiter so forschen wie bisher, nur mit noch ausgefeilteren Methoden. Von London aus sieht man erst, wie abgekapselt von grundlegenden Debatten, ja wie protektionistisch auch in Deutschland oft diskutiert wird. Zur Globalisierung ist das ein seltsamer Widerspruch. RICHARD SENNETT: Auch in den USA ziehen sich die Wissenschaftler ins Schneckenhaus amerikanischer Themen zurück. Dies führte zu einer immensen Fragmentierung an den Universitäten, und jetzt ist jeder bloß noch damit beschäftigt, herauszufinden, wer er ist. Außerdem haben sich Soziologen in Amerika immer marginal gefühlt gegenüber Ökonomie oder Naturwissenschaften. In die Ecke gestellt, hat sich ausgerechnet die Disziplin der Neuerung zu einer kleinteiligen Orthodoxie entwickelt. BECK: Wir leben in Zombie-Institutionen und forschen in Zombie-Kategorien; in lebend-toten Kategorien, die uns blind machen für die sich rasant verändernde Realität. Auch im Westen droht der DDR-Effekt. Die staatstragenden Säulen erodieren: Parteien, Gewerkschaften, Kirchen. Die Bindekraft für ihre Anhänger schwindet ebenso wie ihre Definitionsmacht für die politische Agenda. ZEIT: Was wären denn Zombie-Kategorien? BECK: "Klasse", "Familie", "Arbeit", "Betrieb": Was ist mit diesen Begriffen heute gemeint? Gerade reflektierte Soziologen haben größte Schwierigkeiten damit, diese Frage noch zu beantworten. In München untersuchen wir in einem neuen Sonderforschungsbereich, was eigentlich ein "Haushalt" ist unter den neuen Bedingungen der ganz normalen Scheidung, der Wiederverheiratung, der "Deine-meine-unsere-Kinder"-Konstellation, der Doppelerwerbstätigkeit, Mobilität, Zweit- und Drittwohnung. Und obwohl schon der klassische "Haushalt" Fiktion ist, ist die noch größere Fiktion des männlichen "Haushaltsvorstands" die Grundlage dafür, soziologische Klassen zu definieren. SENNETT: Aber gewinnen nicht die alten Kategorien zugleich eine neue Verführungskraft? In den USA gibt es etwa eine regelrechte Nostalgie der Klassenkämpfe der dreißiger Jahre. Und es hat mich stets überrascht, wie verzweifelt Menschen in den neuen, beschleunigt flexiblen Arbeitsformen wieder den alten Sinn suchen. Sie beharren etwa darauf, dass Arbeit Identität stiftet. Nur das ermöglicht ihnen Widerstand; nur so gewinnen sie kritische Maßstäbe gegenüber einer Arbeitswirklichkeit, die sie als Individuen gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt und diesem altmodischen Anspruch Hohn spricht. Dieser Widerstand ist nicht einfach konservativ; er versucht ja, sehr positive Werte fortzuschreiben. Aber in seiner Rückwärtsgewandtheit blockiert er beinahe selbstzerstörerisch jedes Bemühen um Neuorientierung. BECK: Bei der Kategorie Familie ist es ähnlich. Da praktizieren die Menschen, teils von der Arbeitswelt erzwungen, teils frei gewählt, längst die kompliziertesten mobilen, sogar transnationalen Formen des Zusammenlebens. Trotzdem gehen meine hoch individualisierten Studenten wie eh und je todsicher davon aus, dass sie als Ausnahme von der Regel einen festen Arbeitsplatz und eine stabile Familie haben werden. 2 SENNETT: Mir kommt das ein wenig vor wie in der Mitte des Lebens, wenn man sich vormacht, dass man noch einmal von vorn beginnen kann. Man verdrängt das Neue, das auch die eigene Zukunft sein wird, und verharrt in den alten Vorstellungen - bis die Realität einen einholt. Ich halte das für eines der großen Traumata des modernen Kapitalismus. Er hat eine riesige Aufschub-, Verdrängungs- und Verweigerungsstruktur hervorgebracht, die behauptet: Alles bleibt, wie es ist. ZEIT: Die gleiche Entwicklung kann man ganz anders beschreiben, nämlich als Befreiung aus den ehernen Verbindlichkeiten und Traditionen von Ehe bis Gewerkschaft. Mir scheint, dass Richard Sennett in seinen Büchern eher die daraus entstehenden Probleme und Verunsicherungen beschäftigen - während Ulrich Beck eher die Emanzipationsgewinne und Chancen betont. BECK: Da haben wir es wieder: ein optimistischer Intellektueller - das ist das Letzte! SENNETT: Und ich bin kein Pessimist; eher ein Optimist mit besseren Informationen. BECK: Freiheit hat für mich einen politischen Kern. Sie meint Selbstregulierung im Kleinen wie im Großen. Aber sicher ist damit nicht die Auswahl zwischen Jogurtsorten und Wohnorten gemeint; nicht die schiere Anzahl der Optionen, unter denen wir auswählen müssen. ZEIT: Müssen wir wählen? Oder können wir wählen? Ein Kabarettist hat sein Programm einmal Freiheit aushalten genannt . BECK: Wir müssen wählen. Das ist gerade die Pointe. Es gibt nicht nur Wahlfreiheit, sondern auch Wahlzwang. Eine Frau zum Beispiel, die vor der Frage steht, ob sie ihr Kind abtreiben soll, weil in der genetischen Beratung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bestimmte Krankheitsanfälligkeiten diagnostiziert wurden, muss eine unentscheidbare Entscheidung treffen. Das ist keine neue Freiheit. Im Gegenteil: Die Freiheit der Nulloption, der Selbstbegrenzung angesichts galoppierender Unsicherheiten ist ihr zur unerreichbaren Utopie geworden. Freiheit als Selbstregulierung fragt also: Wer entscheidet, welche Wahlmöglichkeiten für wen zur Entscheidung stehen? SENNETT: Für mich ist eine andere Perspektive wichtig. Die moderne politische Ökonomie unterstellt, dass Individuen ihr Leben allein bewältigen können, ihre Handlungsfähigkeit aus sich selbst heraus gewinnen und erneuern. Aber diese Ideologie vom "Selbstunternehmer" steht im krassen Gegensatz zur Realität. Sie widerspricht der alltäglichen Erfahrung in der Arbeitswelt und beim Zusammenleben, dass man unvollständig ist. Sie ist eine totale Illusion und führt dazu, dass der Sinn für gegenseitige Verpflichtung schwindet. Ihretwegen bedroht der Neoliberalismus den Wohlfahrtsstaat. Insofern ist die Freiheitsfrage für mich eng verbunden mit der Frage, wie Individuen diese falsche Vorstellung von Autarkie entmystifizieren. Nicht die Wahlfreiheit, sondern die Einsicht in die fundamentale Unvollkommenheit des Selbst ist für mich der Kern der Freiheit. ZEIT: Können Sie das veranschaulichen? 3 SENNETT: Nehmen Sie das amerikanische Gesundheitssystem. Unsere medizinische Versorgung ist ziemlich am Boden, weil der Staat der Ansicht ist, dass sich jeder um seinen Körper sehr gut selbst kümmern kann - was natürlich nicht stimmt. Ersetzt wurde die öffentliche Infrastruktur weitgehend durch einen Markt, der den Leuten suggeriert, sie hätten die freie Wahl. Aber spätestens wenn einer mal richtig krank wird, funktioniert das System überhaupt nicht mehr - weil es den Ruin ganzer Familien, also totale Unfreiheit bewirkt. BECK: Vielleicht sollten wir unterscheiden zwischen dieser neoliberalen Idee vom freien Marktindividuum und dem, was ich Individualisierung nenne. Nämlich einen institutionalisierten Individualismus: Zentrale Institutionen der modernen Gesellschaft - die Grundrechte, aber auch Erwerbsbeteiligung und als deren Voraussetzung Bildung und Mobilität - sind auf das Individuum ausgerichtet und gerade nicht auf die Gruppe. In dem Maße, in dem Grundrechte verinnerlicht sind und alle erwerbstätig werden wollen, zersetzt die Individualisierungsspirale die vorgegebenen Grundlagen des sozialen Zusammenlebens. SENNETT: Aber heißt das nicht doch, dass jeder Einzelne vergisst, wie sehr er zur Durchsetzung seiner Ellenbogenfreiheit auf die Unterstützung durch andere angewiesen ist? BECK: Das ist das Stereotyp: Individualisierung führe zur Ego-Gesellschaft, jeder kreise ausschließlich um sich. Doch dieses Stereotyp liefert ein völlig falsches Bild von dem, was sich im Alltag von Familie, Geschlechterverhältnissen, Liebe und Erotik abspielt. Ich versuche, so etwas wie die Ethik eines altruistischen Egoismus zu beschreiben. Wer ein eigenes Leben will, muss sozial hochgradig sensibel leben. In Partnerschaften etwa muss man über alles reden, verhandeln, entscheiden. ZEIT: Wie nervenzehrend. BECK: Genau. Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat einmal gefragt: Was macht eigentlich ein Paar aus, wenn es nicht mehr die Heiratsurkunde ist? Seine Antwort: Ein Paar entsteht, wenn zwei Menschen eine Waschmaschine anschaffen. Weil dann das Dauerdebakel um die "schmutzige Wäsche" beginnt: Was gilt als schmutzig? Wer wäscht wann und für wen? Ist Bügeln nötig? Alles kann verhandelt werden und doch nicht, weil es peinlich ist. Wer schweigt und wäscht, nimmt hin, dass die erlittene Ungerechtigkeit die Liebe schließlich erstickt. ZEIT: Dann ist Trennung befreiend. Aber auch die läuft nicht immer sozial sensibel ab. BECK: Und doch ist da ein Aufbruch, ein Ringen um Kooperation: Jeder, jede hat auch ein Recht auf ein eigenes Leben, und die Konditionen des Zusammenlebens müssen jeweils neu ausgehandelt werden. Den wechselseitigen Versuch der Individuation - der oft auch misslingt nenne ich Kultur der Freiheit. Diese alltägliche, hoch politische Kultur der Freiheit aber steht im totalen Gegensatz zum Neoliberalismus. Der schwelende Konflikt lautet: Freiheit oder Kapitalismus! ZEIT: In Anlehnung an den alten CSU-Wahlkampfspruch "Freiheit oder Sozialismus"? 4 BECK: Genau. Die Kultur der Freiheit ist in der Gefahr, vom Kapitalismus zerstört zu werden. SENNETT: Das sehe ich auch so. Eine Dimension aber fehlt mir: die Macht; die Beziehung zwischen Macht und Subjektivität. Von Hegel stammt die Vorstellung, dass die Menschen an der Spitze auch eine reichere Subjektivität entwickeln. Im modernen Management verdichtet sich das zu der Auffassung, dass, wer auf der Karriereleiter aufgestiegen ist, nicht nur besser weiß, was er will; er vergisst auch, dass er von denjenigen abhängt, die er hinter sich gelassen hat. Er lebt in der Fiktion: Ich kann jeden Job jedes anderen machen, der für mich arbeitet. Gleichzeitig radikalisiert der neue Kapitalismus die sozialen Ungleichheiten, und im Bewusstsein der Mächtigen geht jeglicher Sinn dafür verloren, dass sie Verantwortung tragen. So ist "Klasse" zwar im altmarxistischen Sinn zu einer Zombie-Kategorie geworden. Aber zugleich müssen wir den Klassenbegriff rekonstruieren. ZEIT: Wie könnte das aussehen? SENNETT: Ein neuer Klassenbegriff muss dieses Machtspiel einbeziehen, bei dem sich die oben durch ihre größere Unentbehrlichkeit legitimieren. Er muss psychologischer sein, subjektiver, und er muss die Herrschenden wieder lehren, dass sie auf die Beherrschten angewiesen bleiben. BECK: Genau, Ungleichheit nimmt zu, und ihre Qualität ändert sich. Marx sprach vom Proletariat und hatte vor Augen, dass Kapital auf billige Arbeit angewiesen ist. Doch bald wird es immer mehr Menschen geben, die überhaupt keiner mehr braucht. ZEIT: Trotzdem: Reicht es nicht, den alten Klassenbegriff mit neuen Inhalten zu füllen? Auch die neue Ungleichheit ist doch eine kollektive Erfahrung. BECK: Das ist genau die Frage. Kollektiv ist - paradoxerweise - zunächst die Erfahrung der Individualisierung, des Zerfalls in Einzelbiografien. Tatsächlich schönt der Klassenbegriff die Situation wachsender Ungleichheit ohne kollektives Band! Klasse, Schicht, Geschlecht setzten stets voraus, dass eine bestimmte Kollektivität das individuelle Verhalten prägt. So glaubte man, wenn jemand als Angelernter bei Siemens arbeitet, auch zu wissen, wie er spricht, sich kleidet, vergnügt; was wählt. Dieser Kettenschluss ist fragwürdig geworden. Nun gilt es, vor dem Hintergrund der Individualisierung herauszufinden, ob und welche neuen kollektiven Handlungsformen entstehen. Darüber hinaus entstammen viele soziologischen Begriffe dem nationalstaatlichen Container, also einem territorialen Bias. Jedoch: Klasse oder Macht kann man nicht mehr nur national definieren, Familie nicht mehr nur lokal. SENNETT: Und das hat einschneidende Folgen. Gemeinschaft setzt Ortsbindung voraus, hat Tönnies früher geschrieben. In den modernen Städten gilt heute das Gegenteil: Das Lokale ist zum Mülleimer unbewältigter sozialer Krisen geworden. Auf der Ebene der Nation oder der Stadtöffentlichkeit wird der Eindruck erweckt, es existiere eine öffentliche Ordnung, in der die Gegensätze der ethnischen Gruppen und der Klassen perfekt im Griff seien. Vor Ort aber, auf der Straße, in den Häusern explodieren die Spannungen. An der Beschreibung dieser Realität scheitert die Soziologie bisher total. Und diese intellektuelle Lähmung ist deshalb so gefährlich, weil sie den Menschen kein Werkzeug an die Hand gibt, ihre Lage zu verändern. 5 BECK: Ja, sie überhaupt zu verstehen! SENNETT: Ich habe dazu eine ketzerische Überlegung. Ich denke nämlich, auch Tönnies hat die Gemeinschaftsfrage auf das Lokale abgewälzt. Vielleicht bilden sich Subjektivität und Gemeinschaft auch über Entfernungen und unpersönliche Institutionen heraus? Vielleicht müssen wir bewusst akzeptieren, dass sich die Investition in den Mülleimer des Nahraums kaum mehr lohnt? ZEIT: Das würde neue Ungleichheit hervorbringen. Denn manche sind ganz unfrei dazu verdammt, auf der Müllhalde des Lokalen zu leben. SENNETT: Genau. BECK: Einspruch, denn Sie unterstellen, Globalisierung und transnationale Lebensformen kämen nur an der Spitze der Gesellschaft vor. Aber was ist mit den zahllosen Arbeitsimmigranten? Auch sie wechseln nicht mehr wie früher von einem Ort zum anderen und leben entweder hier oder da. Die Globalisierung, die sich auf den Finanzmärkten vollzieht, zeigt ihre Parallele im Leben an zwei Orten. Mexikaner, die in New York leben, finanzieren, verhandeln und entscheiden kommunale Angelegenheiten in Mexiko. Von diesen Wanderern zwischen den Welten kann man viel darüber lernen, wie man mit dem Zwang, aber eben auch der Freiheit zurechtkommt, die in ständiger Neuorientierung liegt. SENNETT: Die größten Probleme damit hat die Mittelschicht: Warum tut sie sich so schwer? BECK: In Deutschland habe ich auf diese Frage lange geantwortet, dass die Individuen noch immer eher in der Lage seien, die neue Unsicherheit zu bearbeiten, als die Institutionen. Aber zweifellos wird die Frage nach den Grenzen der Individualisierung immer drängender. Manche meinen, es gebe objektive Grenzen vorgegebener Kollektivität, ähnlich naturgegebenen Grenzen des Wachstums. Ich experimentiere mit der Überlegung, dass der Individualismus seine Grenzen selbst erzeugt. Ganz mechanisch gedacht: Je mehr Menschen sich individualisieren, desto mehr Menschen erleiden die Individualisierung anderer. Wenn die Frau die Scheidung einreicht, sieht sich der Mann vor ein Nichts gestellt; im Streit um die Kinder versucht jeder, dem anderen das Diktat des eigenen Lebens aufzuzwingen. Es gibt also nicht nur ein Positivsummenspiel der Koindividualisierung, sondern - vermutlich noch häufiger - ein Negativsummenspiel der Kontraindividualisierung. Und ich fürchte, dass die Nervigkeit, die aus der Erfahrung des Widerstands der anderen kommt, das Bedürfnis nach einem neuen Autoritarismus verstärkt. SENNETT: Zusammenfassend teilen wir wohl die Ansicht, dass Freiheit bedeutet, in sich selbst genug Raum für Komplexität zu haben. Freiheit ist also nicht bloß Entscheidungsfreiheit. Freiheit entsteht vielmehr durch die Fähigkeit, widersprüchliche Dinge zu tun; selbst eine widersprüchliche Person zu sein. Das bedeutet allerdings nicht einfach, eine Art Chaos aushalten zu können. Es erfordert sowohl subjektive wie soziale Organisation. Die Schwierigkeit ist: Wir wissen zwar, dass sich die Gesellschaft so entwickelt hat, dass sie uns den Umgang mit Komplexität abverlangt. Aber wir haben die neuen Strukturen noch zu wenig verstanden. Deshalb gelingt es uns noch nicht, sie so zu gestalten, dass den Menschen ihr flexibles Doppelund Mehrfachleben leichter wird. 6 ZEIT: Konkreter gefragt: Wer ersetzt in der flexiblen und mobilen Weltgesellschaft der freien Individuen die dauerhafte Einbindung und Versorgung, die früher Staat, Kirche, Familie und andere Institutionen gewährleistet haben? SENNETT: Warum "ersetzen"? Ich mag die These überhaupt nicht, dass der Prozess der Modernität eine stabile Vergangenheit zerstöre. Modernität als Wunde - das ist wirklich die Rückkehr zur Frankfurter Schule. Auch in Amerika verklären die Leute die angeblich einst so stabile Familie. Aber wenn sie genau hinsehen, müssen sie etwa feststellen, dass Mütter und Väter ihre Familien viel häufiger als heute verlassen haben, weil Scheidung tabuisiert war. Loyalität und Vertrauen sind nicht verschwunden, sie haben sich nur verändert. Und das Problem ist: Ihre Formen sind so individuell, dass sie nicht mehr zu gemeinsamem politischem Handeln führen. Wir müssen neue Institutionen erfinden, die Dauerhaftigkeit ins Leben der Menschen bringen. BECK: Tatsächlich gibt es einen unglaublichen Reformbedarf, den man historisch wohl nur mit dem Beginn der Industrialisierung vergleichen kann. Wir müssen den Nationalstaat öffnen für transnationale Beziehungen und Lebensformen; wir müssen den Wohlfahrts- und Sozialstaat für die neuen Arbeits- und Lebensbedingungen demokratisch umorganisieren. ZEIT: Aber wie kann das erodierten Zombie-Institutionen gelingen? BECK: Warum sollen die Gewerkschaften nicht der zerstückelten Arbeit und ihren Wertketten folgen und sich transnational neu erfinden? Auch die Kirche ist ein uralter Global Player; sie wäre der ideale Gegenspieler eines inhumanen Neoliberalismus. Die Parteien müssen ebenfalls nicht auf ewig nationalstaatliche Akteure bleiben. Das transnationale Machtspiel können sie von der Wirtschaft erlernen. Das Gespräch führte Christiane Grefe (c) DIE ZEIT 2000 15/2000 7