Freiheit statt Kapitalismus

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Freiheit statt Kapitalismus
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DIE ZEIT
Freiheit statt Kapitalismus
Was bedeuten heute noch Begriffe wie Klasse, Familie, Arbeit, Betrieb? Die
Sozialwissenschaftler Ulrich Beck und Richard Sennett über die Schwierigkeiten des modernen
Individuums, eine neue Orientierung zu finden
Das Gespräch führte Christiane Grefe
DIEZEIT: Sie beide leben und denken zurzeit als akademische Wanderarbeiter in London: Sind
auch Sie entwurzelte "flexible Menschen"?
ULRICH BECK: Ich bin überhaupt nicht entwurzelt, die London School of Economics ist für
mich Heimat. Hier arbeiten Intellektuelle aus aller Welt an einer Neudefinition der
Sozialwissenschaften. Hiertobt international ein Grundsatzstreit. Die einen glauben, dass die
radikalisierte Modernisierung viele Bereiche der Gesellschaft völlig umwälzt, ohne dass sich das
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in der Soziologie spiegelt. Die Mehrheit der anderen reagiert beleidigt und empört und will weiter
so forschen wie bisher, nur mit noch ausgefeilteren Methoden. Von London aus sieht man erst,
wie abgekapselt von grundlegenden Debatten, ja wie protektionistisch auch in Deutschland oft
diskutiert wird. Zur Globalisierung ist das ein seltsamer Widerspruch.
RICHARD SENNETT: Auch in den USA ziehen sich die Wissenschaftler ins Schneckenhaus
amerikanischer Themen zurück. Dies führte zu einer immensen Fragmentierung an den
Universitäten, und jetzt ist jeder bloß noch damit beschäftigt, herauszufinden, wer er ist.
Außerdem haben sich Soziologen in Amerika immer marginal gefühlt gegenüber Ökonomie oder
Naturwissenschaften. In die Ecke gestellt, hat sich ausgerechnet die Disziplin der Neuerung zu
einer kleinteiligen Orthodoxie entwickelt.
BECK: Wir leben in Zombie-Institutionen und forschen in Zombie-Kategorien; in lebend-toten
Kategorien, die uns blind machen für die sich rasant verändernde Realität. Auch im Westen droht
der DDR-Effekt. Die staatstragenden Säulen erodieren: Parteien, Gewerkschaften, Kirchen. Die
Bindekraft für ihre Anhänger schwindet ebenso wie ihre Definitionsmacht für die politische
Agenda.
ZEIT: Was wären denn Zombie-Kategorien?
BECK: "Klasse", "Familie", "Arbeit", "Betrieb": Was ist mit diesen Begriffen heute gemeint?
Gerade reflektierte Soziologen haben größte Schwierigkeiten damit, diese Frage noch zu
beantworten. In München untersuchen wir in einem neuen Sonderforschungsbereich, was
eigentlich ein "Haushalt" ist unter den neuen Bedingungen der ganz normalen Scheidung, der
Wiederverheiratung, der "Deine-meine-unsere-Kinder"-Konstellation, der Doppelerwerbstätigkeit,
Mobilität, Zweit- und Drittwohnung. Und obwohl schon der klassische "Haushalt" Fiktion ist, ist
die noch größere Fiktion des männlichen "Haushaltsvorstands" die Grundlage dafür,
soziologische Klassen zu definieren.
SENNETT: Aber gewinnen nicht die alten Kategorien zugleich eine neue Verführungskraft? In
den USA gibt es etwa eine regelrechte Nostalgie der Klassenkämpfe der dreißiger Jahre. Und es
hat mich stets überrascht, wie verzweifelt Menschen in den neuen, beschleunigt flexiblen
Arbeitsformen wieder den alten Sinn suchen. Sie beharren etwa darauf, dass Arbeit Identität
stiftet. Nur das ermöglicht ihnen Widerstand; nur so gewinnen sie kritische Maßstäbe gegenüber
einer Arbeitswirklichkeit, die sie als Individuen gar nicht mehr zur Kenntnis nimmt und diesem
altmodischen Anspruch Hohn spricht. Dieser Widerstand ist nicht einfach konservativ; er
versucht ja, sehr positive Werte fortzuschreiben. Aber in seiner Rückwärtsgewandtheit blockiert
er beinahe selbstzerstörerisch jedes Bemühen um Neuorientierung.
BECK: Bei der Kategorie Familie ist es ähnlich. Da praktizieren die Menschen, teils von der
Arbeitswelt erzwungen, teils frei gewählt, längst die kompliziertesten mobilen, sogar
transnationalen Formen des Zusammenlebens. Trotzdem gehen meine hoch individualisierten
Studenten wie eh und je todsicher davon aus, dass sie als Ausnahme von der Regel einen festen
Arbeitsplatz und eine stabile Familie haben werden.
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SENNETT: Mir kommt das ein wenig vor wie in der Mitte des Lebens, wenn man sich vormacht,
dass man noch einmal von vorn beginnen kann. Man verdrängt das Neue, das auch die eigene
Zukunft sein wird, und verharrt in den alten Vorstellungen - bis die Realität einen einholt. Ich
halte das für eines der großen Traumata des modernen Kapitalismus. Er hat eine riesige
Aufschub-, Verdrängungs- und Verweigerungsstruktur hervorgebracht, die behauptet: Alles
bleibt, wie es ist.
ZEIT: Die gleiche Entwicklung kann man ganz anders beschreiben, nämlich als Befreiung aus
den ehernen Verbindlichkeiten und Traditionen von Ehe bis Gewerkschaft. Mir scheint, dass
Richard Sennett in seinen Büchern eher die daraus entstehenden Probleme und Verunsicherungen
beschäftigen - während Ulrich Beck eher die Emanzipationsgewinne und Chancen betont.
BECK: Da haben wir es wieder: ein optimistischer Intellektueller - das ist das Letzte!
SENNETT: Und ich bin kein Pessimist; eher ein Optimist mit besseren Informationen.
BECK: Freiheit hat für mich einen politischen Kern. Sie meint Selbstregulierung im Kleinen wie
im Großen. Aber sicher ist damit nicht die Auswahl zwischen Jogurtsorten und Wohnorten
gemeint; nicht die schiere Anzahl der Optionen, unter denen wir auswählen müssen.
ZEIT: Müssen wir wählen? Oder können wir wählen? Ein Kabarettist hat sein Programm einmal
Freiheit aushalten genannt .
BECK: Wir müssen wählen. Das ist gerade die Pointe. Es gibt nicht nur Wahlfreiheit, sondern
auch Wahlzwang. Eine Frau zum Beispiel, die vor der Frage steht, ob sie ihr Kind abtreiben soll,
weil in der genetischen Beratung mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit bestimmte
Krankheitsanfälligkeiten diagnostiziert wurden, muss eine unentscheidbare Entscheidung treffen.
Das ist keine neue Freiheit. Im Gegenteil: Die Freiheit der Nulloption, der Selbstbegrenzung
angesichts galoppierender Unsicherheiten ist ihr zur unerreichbaren Utopie geworden. Freiheit als
Selbstregulierung fragt also: Wer entscheidet, welche Wahlmöglichkeiten für wen zur
Entscheidung stehen?
SENNETT: Für mich ist eine andere Perspektive wichtig. Die moderne politische Ökonomie
unterstellt, dass Individuen ihr Leben allein bewältigen können, ihre Handlungsfähigkeit aus sich
selbst heraus gewinnen und erneuern. Aber diese Ideologie vom "Selbstunternehmer" steht im
krassen Gegensatz zur Realität. Sie widerspricht der alltäglichen Erfahrung in der Arbeitswelt
und beim Zusammenleben, dass man unvollständig ist. Sie ist eine totale Illusion und führt dazu,
dass der Sinn für gegenseitige Verpflichtung schwindet. Ihretwegen bedroht der Neoliberalismus
den Wohlfahrtsstaat. Insofern ist die Freiheitsfrage für mich eng verbunden mit der Frage, wie
Individuen diese falsche Vorstellung von Autarkie entmystifizieren. Nicht die Wahlfreiheit,
sondern die Einsicht in die fundamentale Unvollkommenheit des Selbst ist für mich der Kern der
Freiheit.
ZEIT: Können Sie das veranschaulichen?
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SENNETT: Nehmen Sie das amerikanische Gesundheitssystem. Unsere medizinische
Versorgung ist ziemlich am Boden, weil der Staat der Ansicht ist, dass sich jeder um seinen
Körper sehr gut selbst kümmern kann - was natürlich nicht stimmt. Ersetzt wurde die öffentliche
Infrastruktur weitgehend durch einen Markt, der den Leuten suggeriert, sie hätten die freie Wahl.
Aber spätestens wenn einer mal richtig krank wird, funktioniert das System überhaupt nicht mehr
- weil es den Ruin ganzer Familien, also totale Unfreiheit bewirkt.
BECK: Vielleicht sollten wir unterscheiden zwischen dieser neoliberalen Idee vom freien
Marktindividuum und dem, was ich Individualisierung nenne. Nämlich einen institutionalisierten
Individualismus: Zentrale Institutionen der modernen Gesellschaft - die Grundrechte, aber auch
Erwerbsbeteiligung und als deren Voraussetzung Bildung und Mobilität - sind auf das
Individuum ausgerichtet und gerade nicht auf die Gruppe. In dem Maße, in dem Grundrechte
verinnerlicht sind und alle erwerbstätig werden wollen, zersetzt die Individualisierungsspirale die
vorgegebenen Grundlagen des sozialen Zusammenlebens.
SENNETT: Aber heißt das nicht doch, dass jeder Einzelne vergisst, wie sehr er zur
Durchsetzung seiner Ellenbogenfreiheit auf die Unterstützung durch andere angewiesen ist?
BECK: Das ist das Stereotyp: Individualisierung führe zur Ego-Gesellschaft, jeder kreise
ausschließlich um sich. Doch dieses Stereotyp liefert ein völlig falsches Bild von dem, was sich
im Alltag von Familie, Geschlechterverhältnissen, Liebe und Erotik abspielt. Ich versuche, so
etwas wie die Ethik eines altruistischen Egoismus zu beschreiben. Wer ein eigenes Leben will,
muss sozial hochgradig sensibel leben. In Partnerschaften etwa muss man über alles reden,
verhandeln, entscheiden.
ZEIT: Wie nervenzehrend.
BECK: Genau. Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann hat einmal gefragt: Was
macht eigentlich ein Paar aus, wenn es nicht mehr die Heiratsurkunde ist? Seine Antwort: Ein
Paar entsteht, wenn zwei Menschen eine Waschmaschine anschaffen. Weil dann das
Dauerdebakel um die "schmutzige Wäsche" beginnt: Was gilt als schmutzig? Wer wäscht wann
und für wen? Ist Bügeln nötig? Alles kann verhandelt werden und doch nicht, weil es peinlich ist.
Wer schweigt und wäscht, nimmt hin, dass die erlittene Ungerechtigkeit die Liebe schließlich
erstickt.
ZEIT: Dann ist Trennung befreiend. Aber auch die läuft nicht immer sozial sensibel ab.
BECK: Und doch ist da ein Aufbruch, ein Ringen um Kooperation: Jeder, jede hat auch ein
Recht auf ein eigenes Leben, und die Konditionen des Zusammenlebens müssen jeweils neu
ausgehandelt werden. Den wechselseitigen Versuch der Individuation - der oft auch misslingt nenne ich Kultur der Freiheit. Diese alltägliche, hoch politische Kultur der Freiheit aber steht im
totalen Gegensatz zum Neoliberalismus. Der schwelende Konflikt lautet: Freiheit oder
Kapitalismus!
ZEIT: In Anlehnung an den alten CSU-Wahlkampfspruch "Freiheit oder Sozialismus"?
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BECK: Genau. Die Kultur der Freiheit ist in der Gefahr, vom Kapitalismus zerstört zu werden.
SENNETT: Das sehe ich auch so. Eine Dimension aber fehlt mir: die Macht; die Beziehung
zwischen Macht und Subjektivität. Von Hegel stammt die Vorstellung, dass die Menschen an der
Spitze auch eine reichere Subjektivität entwickeln. Im modernen Management verdichtet sich das
zu der Auffassung, dass, wer auf der Karriereleiter aufgestiegen ist, nicht nur besser weiß, was er
will; er vergisst auch, dass er von denjenigen abhängt, die er hinter sich gelassen hat. Er lebt in
der Fiktion: Ich kann jeden Job jedes anderen machen, der für mich arbeitet. Gleichzeitig
radikalisiert der neue Kapitalismus die sozialen Ungleichheiten, und im Bewusstsein der
Mächtigen geht jeglicher Sinn dafür verloren, dass sie Verantwortung tragen. So ist "Klasse"
zwar im altmarxistischen Sinn zu einer Zombie-Kategorie geworden. Aber zugleich müssen wir
den Klassenbegriff rekonstruieren.
ZEIT: Wie könnte das aussehen?
SENNETT: Ein neuer Klassenbegriff muss dieses Machtspiel einbeziehen, bei dem sich die oben
durch ihre größere Unentbehrlichkeit legitimieren. Er muss psychologischer sein, subjektiver,
und er muss die Herrschenden wieder lehren, dass sie auf die Beherrschten angewiesen bleiben.
BECK: Genau, Ungleichheit nimmt zu, und ihre Qualität ändert sich. Marx sprach vom
Proletariat und hatte vor Augen, dass Kapital auf billige Arbeit angewiesen ist. Doch bald wird es
immer mehr Menschen geben, die überhaupt keiner mehr braucht.
ZEIT: Trotzdem: Reicht es nicht, den alten Klassenbegriff mit neuen Inhalten zu füllen? Auch
die neue Ungleichheit ist doch eine kollektive Erfahrung.
BECK: Das ist genau die Frage. Kollektiv ist - paradoxerweise - zunächst die Erfahrung der
Individualisierung, des Zerfalls in Einzelbiografien. Tatsächlich schönt der Klassenbegriff die
Situation wachsender Ungleichheit ohne kollektives Band! Klasse, Schicht, Geschlecht setzten
stets voraus, dass eine bestimmte Kollektivität das individuelle Verhalten prägt. So glaubte man,
wenn jemand als Angelernter bei Siemens arbeitet, auch zu wissen, wie er spricht, sich kleidet,
vergnügt; was wählt. Dieser Kettenschluss ist fragwürdig geworden. Nun gilt es, vor dem
Hintergrund der Individualisierung herauszufinden, ob und welche neuen kollektiven
Handlungsformen entstehen. Darüber hinaus entstammen viele soziologischen Begriffe dem
nationalstaatlichen Container, also einem territorialen Bias. Jedoch: Klasse oder Macht kann man
nicht mehr nur national definieren, Familie nicht mehr nur lokal.
SENNETT: Und das hat einschneidende Folgen. Gemeinschaft setzt Ortsbindung voraus, hat
Tönnies früher geschrieben. In den modernen Städten gilt heute das Gegenteil: Das Lokale ist
zum Mülleimer unbewältigter sozialer Krisen geworden. Auf der Ebene der Nation oder der
Stadtöffentlichkeit wird der Eindruck erweckt, es existiere eine öffentliche Ordnung, in der die
Gegensätze der ethnischen Gruppen und der Klassen perfekt im Griff seien. Vor Ort aber, auf der
Straße, in den Häusern explodieren die Spannungen. An der Beschreibung dieser Realität
scheitert die Soziologie bisher total. Und diese intellektuelle Lähmung ist deshalb so gefährlich,
weil sie den Menschen kein Werkzeug an die Hand gibt, ihre Lage zu verändern.
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BECK: Ja, sie überhaupt zu verstehen!
SENNETT: Ich habe dazu eine ketzerische Überlegung. Ich denke nämlich, auch Tönnies hat die
Gemeinschaftsfrage auf das Lokale abgewälzt. Vielleicht bilden sich Subjektivität und
Gemeinschaft auch über Entfernungen und unpersönliche Institutionen heraus? Vielleicht müssen
wir bewusst akzeptieren, dass sich die Investition in den Mülleimer des Nahraums kaum mehr
lohnt?
ZEIT: Das würde neue Ungleichheit hervorbringen. Denn manche sind ganz unfrei dazu
verdammt, auf der Müllhalde des Lokalen zu leben.
SENNETT: Genau.
BECK: Einspruch, denn Sie unterstellen, Globalisierung und transnationale Lebensformen
kämen nur an der Spitze der Gesellschaft vor. Aber was ist mit den zahllosen Arbeitsimmigranten?
Auch sie wechseln nicht mehr wie früher von einem Ort zum anderen und leben entweder hier
oder da. Die Globalisierung, die sich auf den Finanzmärkten vollzieht, zeigt ihre Parallele im
Leben an zwei Orten. Mexikaner, die in New York leben, finanzieren, verhandeln und
entscheiden kommunale Angelegenheiten in Mexiko. Von diesen Wanderern zwischen den
Welten kann man viel darüber lernen, wie man mit dem Zwang, aber eben auch der Freiheit
zurechtkommt, die in ständiger Neuorientierung liegt.
SENNETT: Die größten Probleme damit hat die Mittelschicht: Warum tut sie sich so schwer?
BECK: In Deutschland habe ich auf diese Frage lange geantwortet, dass die Individuen noch
immer eher in der Lage seien, die neue Unsicherheit zu bearbeiten, als die Institutionen. Aber
zweifellos wird die Frage nach den Grenzen der Individualisierung immer drängender. Manche
meinen, es gebe objektive Grenzen vorgegebener Kollektivität, ähnlich naturgegebenen Grenzen
des Wachstums. Ich experimentiere mit der Überlegung, dass der Individualismus seine Grenzen
selbst erzeugt. Ganz mechanisch gedacht: Je mehr Menschen sich individualisieren, desto mehr
Menschen erleiden die Individualisierung anderer. Wenn die Frau die Scheidung einreicht, sieht
sich der Mann vor ein Nichts gestellt; im Streit um die Kinder versucht jeder, dem anderen das
Diktat des eigenen Lebens aufzuzwingen. Es gibt also nicht nur ein Positivsummenspiel der
Koindividualisierung, sondern - vermutlich noch häufiger - ein Negativsummenspiel der
Kontraindividualisierung. Und ich fürchte, dass die Nervigkeit, die aus der Erfahrung des
Widerstands der anderen kommt, das Bedürfnis nach einem neuen Autoritarismus verstärkt.
SENNETT: Zusammenfassend teilen wir wohl die Ansicht, dass Freiheit bedeutet, in sich selbst
genug Raum für Komplexität zu haben. Freiheit ist also nicht bloß Entscheidungsfreiheit. Freiheit
entsteht vielmehr durch die Fähigkeit, widersprüchliche Dinge zu tun; selbst eine
widersprüchliche Person zu sein. Das bedeutet allerdings nicht einfach, eine Art Chaos aushalten
zu können. Es erfordert sowohl subjektive wie soziale Organisation. Die Schwierigkeit ist: Wir
wissen zwar, dass sich die Gesellschaft so entwickelt hat, dass sie uns den Umgang mit
Komplexität abverlangt. Aber wir haben die neuen Strukturen noch zu wenig verstanden.
Deshalb gelingt es uns noch nicht, sie so zu gestalten, dass den Menschen ihr flexibles Doppelund Mehrfachleben leichter wird.
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ZEIT: Konkreter gefragt: Wer ersetzt in der flexiblen und mobilen Weltgesellschaft der freien
Individuen die dauerhafte Einbindung und Versorgung, die früher Staat, Kirche, Familie und
andere Institutionen gewährleistet haben?
SENNETT: Warum "ersetzen"? Ich mag die These überhaupt nicht, dass der Prozess der
Modernität eine stabile Vergangenheit zerstöre. Modernität als Wunde - das ist wirklich die
Rückkehr zur Frankfurter Schule. Auch in Amerika verklären die Leute die angeblich einst so
stabile Familie. Aber wenn sie genau hinsehen, müssen sie etwa feststellen, dass Mütter und
Väter ihre Familien viel häufiger als heute verlassen haben, weil Scheidung tabuisiert war.
Loyalität und Vertrauen sind nicht verschwunden, sie haben sich nur verändert. Und das Problem
ist: Ihre Formen sind so individuell, dass sie nicht mehr zu gemeinsamem politischem Handeln
führen. Wir müssen neue Institutionen erfinden, die Dauerhaftigkeit ins Leben der Menschen
bringen.
BECK: Tatsächlich gibt es einen unglaublichen Reformbedarf, den man historisch wohl nur mit
dem Beginn der Industrialisierung vergleichen kann. Wir müssen den Nationalstaat öffnen für
transnationale Beziehungen und Lebensformen; wir müssen den Wohlfahrts- und Sozialstaat für
die neuen Arbeits- und Lebensbedingungen demokratisch umorganisieren.
ZEIT: Aber wie kann das erodierten Zombie-Institutionen gelingen?
BECK: Warum sollen die Gewerkschaften nicht der zerstückelten Arbeit und ihren Wertketten
folgen und sich transnational neu erfinden? Auch die Kirche ist ein uralter Global Player; sie
wäre der ideale Gegenspieler eines inhumanen Neoliberalismus. Die Parteien müssen ebenfalls
nicht auf ewig nationalstaatliche Akteure bleiben. Das transnationale Machtspiel können sie von
der Wirtschaft erlernen.
Das Gespräch führte Christiane Grefe
(c) DIE ZEIT 2000
15/2000
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