Was ich morgen kann besorgen
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Was ich morgen kann besorgen
Tip 25 5. April 2015 Ostschweiz am Sonntag Was ich morgen kann besorgen Das Aufschieben, das wir alle kennen, kann krankhaft werden: Menschen, die unter Prokrastination leiden, treiben in einem Teufelskreis aus Hoffnungslosigkeit und verfehlten Zielen. kommt, dass man die vermeintlich «freie Zeit» nun mit anderen Aufgaben füllt, die rasch zu erledigen sind Wir tun es alle: Wir schieben Dinge auf. Immer wieder. Wir tragen die leeund ein klares Erfolgserlebnis bieten. ren Flaschen nicht weg, sammeln Und so waschen wir plötzlich immer E-Mails unbeantwortet in unseren ab oder räumen den Keller auf. Das Problem ist dabei: Langfristig negaPosteingängen und rufen die Grossmutter nicht zurück. «Aufschieben tive Konsequenzen, wie zum Beispiel hat durchaus seinen Reiz», sagt Urs eine Kündigung oder eine BetreiBraun, leitender Psychologe bei den bung, sind in der Regel zeitlich viel zu St. Gallischen Kantonalen Psychiatriweit weg, um bedrohlich zu erscheischen Diensten. Und sei sinnvoll. nen. Die Erfahrung aber, beim AusWarte man mit einer Handlung ab, füllen der Steuererklärung Fehler zu erledige sich das Problem manchmal machen, ist viel näher – und die negavon alleine. «Wenn Sie den neuen tiven Gefühle kommen viel schneller. Computer nicht sofort kaufen, sonIm Job und privat dern den Kauf drei Monate hinauszögern, haben Sie einen schnelleren Studien zeigen: Wer im Studium Computer oder er ist viel günstiger oder Job prokrastiniert, tut es auch im geworden.» Etwa 90 Prozent der LeuPrivaten. «Natürlich sind im Job te würden ab und an wichtige Dinge Grenzen gesetzt», sagt Urs Braun. aufschieben. Das sei ganz normal. «Wer in der Lehre oder im Job immer Gefährlich werde es dann, wenn alles aufschiebt, wird schnell rausdas Aufschieben ausser Kontrolle gegeworfen.» Deshalb könne das Aufrät: «Wenn das Aufschieben den Allschieben in festen Strukturen wenitag beherrscht, und man seine Ziele ger Raum einnehmen. «Die Betroffenicht mehr erreicht, obwohl man nen finden ausserdem im allgemeimöchte, sollte man sich Hilnen oft gute Ausreden für fe suchen», sagt Braun. ihr Verhalten», sagt Braun. Zweifel am eigenen Wert Man sage «so bin ich halt», und ein Gefühl von Hoffoder «ich arbeite so effinungslosigkeit stellen sich zienter». Tatsächlich müsein. Dauert der Zustand an, sen Menschen, die Dinge kann es sogar zu einer Delänger aufschieben, die Arpression kommen. beit innert viel kürzerer Etwa 20 Prozent der BeZeit erledigen als ihre Kolvölkerung leiden unter legen, die nicht unter Prochronischem Aufschieben, «So bin ich halt. krastination leiden. Die im Fachjargon ProkrastinaZweifel aber bleiben. Das Ich arbeite so tion genannt. Die Prokrastiist wohl das grösste Paranation ist bisher noch keine effizienter – die dox des ewigen Aufschieoffizielle psychische Er- Betroffenen bens: Die Betroffenen wolkrankung. Dementsprelen unbedingt gute Leisfinden oft gute chend gibt es kaum systetungen erbringen, sind mit matische Behandlungsan- Ausreden.» dem Ergebnis danach aber sätze, die auf die Behand- Urs Braun nur selten zufrieden. Warlung einer isolierten Auf- Psychologe um sie aufschieben, ist den schiebe-Symptomatik abmeisten völlig schleierhaft. zielen. «Vielmehr ist es so, dass Leute Von der Flucht in die Handlung wegen einer Angststörung in Behandlung gehen und man im Rahmen die«Klare Strukturen, klare Abmachungen helfen, aus dem Kreis ausser Therapie auch das Aufschieben thematisiert und behandelt», sagt zubrechen», sagt Braun. Und eine Braun. emotionale Verpflichtung gegenüber Drittpersonen. «Hängen andere LeuAngst vor der Aussenbewertung te von meiner Arbeit und meinem ErIm Zentrum des chronischen Aufscheinen ab, bin ich eher verpflichtet, meine Aufgaben zu erledigen – sonst schiebens stehen die Angst vor der negativen Beurteilung durch Dritte leidet die ganze Gruppe.» Man müsse und damit indirekt die Angst, zu verlernen, sich selbst eine feste Struktur sagen. Ob diese Anforderungen von zu geben und diese auch einzuhalten. aussen nun real oder nur vermeint«Prokrastinierer sind nicht weniger lich sind, ist dabei zweitrangig. Perfleissig oder weniger klug als andere fektionismus, wie bisher oft angeLeute», sagt Braun. Sie hätten nur nommen, hat mit chronischem AufMühe, ihre Absichten auch in die Tat schieben nicht viel zu tun – ein hoher, umzusetzen. Man solle sich in Erineigener Anspruch an Topleistungen nerung rufen, warum die Aufgabe urarbeitet dem Problem eher entgegen. sprünglich gelöst werden sollte. Und Angetrieben von der Angst, negativ sich bewusst machen, wovor man bewertet zu werden, schiebt man die eigentlich Angst habe. Aufgabe immer weiter hinaus. Man «Das Wichtigste: Bleiben Sie sitzen. fühlt sich zwar schuldig, aber auch Halten Sie Ihrem Drang stand, die irgendwie erleichtert, weil die VersaTätigkeit abzubrechen. Ziehen Sie gensängste nicht aufkommen. Dazu eine Aufgabe durch.» ANNA MILLER Tips zum Vorwärtskommen In Etappen zum Ziel ! Fragen Sie sich: Warum schiebe ich auf? Wovor habe ich Angst? Wie wichtig ist mir mein Ziel? Sonst: loslassen statt Jahre mit sich herumschleppen. ! Erwarten Sie nicht zu viel von sich. Kein Mensch kann jeden Tag 100 Prozent geben. 20 Prozent sind besser als nichts. Produktiver sind Sie, wenn Sie sich Ihre Ziele vor Augen halten und sich in Erinnerung rufen, warum Sie das Ziel erreichen wollen. ! Teilen Sie Ihre Aufgaben in kleinere Häppchen ein und schreiben Sie Ihre Etappenziele auf. Abhaken tut gut! ! Stellen Sie sich Ihre Arbeitsschritte im Vorfeld so bildlich wie möglich vor. Inklusive Gang zur Kaffeemaschine. ! Schalten Sie Ihr Handy auf Flugmodus und deaktivieren Sie in Lern- und Konzentrationsphasen den Zugang zum Internet. ! Nehmen Sie sich nicht vor, acht Stunden zu arbeiten. Arbeiten Sie eine! Aber diese konzentriert. Erhöhen Sie dann nach und nach das Pensum. ! Falls gar nichts geht: Arbeiten Sie zehn Minuten, und hören Sie dann auf. Wetten, Sie bleiben länger sitzen? Illustration: Patric Sandri Die meisten schieben wichtige Dinge ab und zu vor sich her. Bedrohlich wird’s erst, wenn das Aufschieben den Alltag beherrscht. Unter Druck «Wie ein Drogensüchtiger» ANNA MILLER D. S. leidet an chronischem Aufschieben. Die Störung hat ihn seine Firma und seine Liebe gekostet. Ein Gespräch über stundenlanges Fernsehserien-Schauen, das Zerbrechen von Freundschaften und die rettende Routine. Haben Sie heute bereits aufgeschoben? D. S.: Ich bin heute zu spät aufgestanden, weil ich gestern zu spät ins Bett bin. Ich konnte nicht schlafen, weil ich über Dinge nachdenken musste, die ich noch nicht erledigt habe. Wie jeden Tag. Welche zum Beispiel? D. S.: Ich räume den Geschirrspüler so lange nicht aus, bis der Dreck sich stapelt. Ich habe Mails in meinem Posteingang, die ich nie beantwortet habe. Das klingt doch ziemlich normal. D. S.: Ich stelle zwei Jahre keine Rechnungen für meine Leistungen aus. Briefe bleiben über Monate liegen. Die Krankenkasse hat 2000 Franken an Rückzahlungen verweigert, weil ich fünf Jahre zu spät damit ankam. Klingt das immer noch normal? Wann haben Sie realisiert, dass Sie krankhaft aufschieben? D. S.: Ich habe es lange nicht wirklich als Problem gesehen. Als Bub bin ich mal ein halbes Jahr nicht in den Französischunterricht gegangen. Das Studium habe ich mit Ach und Krach geschafft. Aber ich dachte immer: Das klappt schon irgendwie. Und dann? D. S.: Mit Anfang 30 habe ich meine erste eigene Firma verloren, weil ich die Rechnungen so lange nicht bezahlt habe. Ich musste Konkurs anmelden. Haben Sie sich professionelle Hilfe geholt? D. S.: Ja, ich bin in Therapie. Ich war schon mehrere Male nahe an einer Depression, habe den Lebensmut verloren. Dieser ewige Kreislauf von Schuld und Scham macht einen noch verrückt. Auch deshalb habe ich eine Selbsthilfegruppe gegründet. Damit wir das gemeinsam angehen können. Wir treffen uns in unregelmässigen Abständen und arbeiten zusammen unangenehme Dinge ab, wie das Ausfüllen der Steuererklärung, beispielsweise. Kennen Sie die Gründe für Ihr zwanghaftes Aufschieben? D. S.: Nein. Nicht einmal mein Psychiater kennt die Gründe. Man kann nicht genau sagen, woher es bei mir kommt. Es ist wohl ein Miteinander von verschiedenen Faktoren. Sie wollen Ihren echten Namen nicht nennen. Aus Angst, stigmatisiert zu werden? D. S.: Mein Psychiater und meine Mutter sind die einzigen, die wirklich von meinem Leiden wissen. Was soll man den Leuten denn schon erzählen? Keiner hat doch für so etwas Verständnis. Die Gesellschaft mag es nicht, wenn du nicht funktionierst. Hat Ihre Krankheit auch Einfluss auf Ihr Privatleben? D. S.: Ja. Weil ich tagsüber Sachen verschlampe, muss ich oft abends noch arbeiten. Darunter leidet die Zeit mit Freunden, mit Frauen. Ich habe nie Zeit für andere. Oder für mich selbst. Ich kann mich nie entspannen, so paradox das klingen mag. Ich muss aufpassen, dass ich im Rhythmus bleibe. Das klingt wie bei einem Süchtigen. D. S.: Ein bisschen fühlt es sich auch so an. Ich habe von der Serie Walking Dead innerhalb einer Woche drei Staffeln geschaut, 30 mal 45 Minuten, man kann sich das ja ausrechnen. Eine noch, denke ich, eine Folge kann ich mir noch leisten. Am Tag danach dämmert mir dann, dass ich mir was vorgemacht habe. Dann mache ich mir Vorwürfe, und es geht mir schlecht. Haben Sie auch Erfolgsmomente? D. S.: Vor ein paar Monaten habe ich meine CD-Sammlung endlich sortiert, nach Jahren im Schrank. Jetzt habe ich 600 CDs weniger. Das war sehr befreiend. *Name der Redaktion bekannt