Das verlorene Paradies Zum Gedenken an Barbara Hugentobler

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Das verlorene Paradies Zum Gedenken an Barbara Hugentobler
Sonntagsgedanken / Aus der Region
14
Nr. 146
Sonntagsgedanken
Das verlorene Paradies
Michael Ott,
Pfarrer in
Maienfeld
In vielen Religionen steht das Paradies am Anfang und am Ende der
Geschichte – ein Paradies, in dem
Friede auch mit der Schöpfung
herrscht. Wie weit wir momentan
auch nur von einer friedlichen Koexistenz mit der Umwelt entfernt
sind, lehrt uns indes der tägliche
Blick aus dem Fenster. Die Religionswissenschaftler
können
denn auch in allen grossen Religionen einen «ökologischen Sündenfall» nachweisen: Die goldenen ökologischen Lebensregeln,
die diese einmal aufgestellt hätten,
und die das harmonische Sein des
Menschen im Kosmos und damit
in Gott garantierten, seien von
Dogmen, die nur noch der Machtstabilisierung dienten und von
immer unverständlicher gewordenen Riten und Kultpraktiken überwuchert worden. Am Beispiel des
Christentums wird das wie folgt
aufgezeigt: Der ökologische Sündenfall sei seit Augustin vollzogen,
der Descartes die Grundlagen für
dessen Philosophie der Subjektivität und Anthropozentrik sowie
einer dadurch bedingten Geringschätzung und Mechanisierung
der Natur geliefert habe. Einziger
Lichtpunkt in der christlichen
«Heilsgeschichte der Naturvergessenheit»: Franz von Assisi mit seiner vorbehaltlosen Anerkennung
von Tieren und Pflanzen. Doch
gerade zu seiner Zeit liefert ein
Ordensbruder von Franz, Roger
Bacon, mit seiner scientia experimentalis die wissenschaftlichen
Grundlagen für die militärische
und technische Beherrschung der
Natur und der menschlichen Gesellschaften.
Die Religionswissenschaft zieht
die Folgerung: Religion wird verengt, wenn das Heil nur noch
zwischen der Seele und Gott abgehandelt wird, wenn sie allein
durch den Gottesbezug definiert
und genau durch diese Definition die Natur und damit auch die
Gestaltung der Welt durch Gesellschaft und Politik ausgeschlossen
wird. Die Begriffe «Natur, Kosmos,
Universum» stehen dabei für das
«absolute Prinzip», ohne das keine
Religion auskommen kann. Ohne
Vermittlung durch diese drei Begriffe sei es für den Menschen unmöglich, in Beziehung zum abso-
luten Prinzip und damit zu Gott
zu treten. Die Mathematiker und
Naturwissenschaftler unterstützen diese Haltung, indem sie in
den letzten Jahrzehnten immer
deut-licher erkannt haben, wie
sehr die mathematischen Gesetzmässigkeiten in der Natur Abbilder einer «zentralen Ordnung»
sind, dass also Materie letztlich
der sich verkörpernde (Gottes-)
Geist ist, wie es bereits Platon in
seiner Philosophie von den Elementarteilchen dargestellt hat.
Der Selbstwert der Natur ist daher zu anerkennen, der Mensch
hat keine Legitimation, sie als
minderwertig zu behandeln, er
hat lediglich das Glück, dass er
quantitativ, das heisst nach Grösse und Gewicht, in der «goldenen Mitte» zwischen Mikro- und
Makrokosmos, zwischen den
kleinsten Elementarteilchen und
dem Universum liegt. Ehrfurcht
wird dadurch zum Erkenntnisorgan zum Verständnis der Natur, ohne diese Ehrfurcht wird
die Welt sofort zum flachen Rechenexempel degradiert. Albert
Schweitzer, der berühmte Theologe und Arzt, hat es so ausgedrückt: «Wer sich nicht mehr
wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot.»
Doch unser konkretes ökologisches Handeln in Politik und
Wirtschaft, obwohl theoretisch
unterdessen zigfach abgesichert,
kommt über kosmetische Symptombekämpfung nicht hinaus.
Obwohl z.B. der epochale Bericht
«Die Grenzen des Wachstums» von Dennis Meadows im Auftrag
des Club of Rome verfasst – bereits
1972 (aktualisiert 1992 und 2004)
die Warnungen der Wissenschaftler vor einem ökologischen Kollaps
bestätigte, verhält sich die Menschheit in dieser Frage weiterhin schizoid: Alle reden immer mehr davon, nur wenige sind bereit und
können oder wollen es sich leisten,
wirklich umzudenken und die Ursachen der Umweltzerstörung anzugehen. Doch wir können es drehen und wenden wie wir wollen:
Die Ökologie, die Lehre vom Haus
im Kosmos, ist zur globalen Überlebensfrage geworden. Gehen wir
darum wieder neu bei Menschen
wie Albert Schweitzer in die Schule
und buchstabieren wir gerade jetzt
in der Zeit des Advents, der Zeit des
Wartens und der Hoffnung auf das
Heilwerden der Welt, neu das Alphabets des Staunens und der Ehrfurcht über die Wunder des Lebens
und der Schöpfung.
Ein Nachruf und ein Aufruf
Zum Gedenken an Barbara Hugentobler, Pany
Am 20. November hat Barbara Hugentobler diese Welt verlassen, für
uns Nachbarn und Freunde völlig
unerwartet und vorerst unfassbar.
Nun, nach und nach werden uns
einige Beweggründe ihres Entscheids klarer. Barbara Hugentobler hat sich – neben vielen lokalen
Engagements – seit sieben Jahren
mit dem Problem der israelischen
Besetzung und Zerstörung der palästinensischen Gebiete befasst;
sie hat jährlich diese Menschen besucht, hat Solidarität und Freundschaft gelebt, als Mitglied von
Peace Watch und als Privatperson.
Sie hat sich bei Israelis und Palästinensern über deren Lebensumständen und Haltungen erkundigt
und sich ein grosses Wissen über
die dortigen Verhältnisse angeeignet. Mit Bildern und Worten hat
sie uns über ihre erschütternden
Beobachtungen berichtet. Sie hat
regelmässig an den Mahnwachen
für die palästinensische Bevölkerung in Zürich teilgenommen,
Vorträge gehalten und Olivenöl
ihrer palästinensischen Freunde
abgesetzt. Aber die Aussichtslosigkeit einer endlichen Lösung oder
zumindest Verbesserung der Lage,
sowie die Untätigkeit der übrigen
Welt, haben Barbara sehr zugesetzt und verzweifeln lassen.
Ich gebe hier einen Auszug aus
ihrer Dokumentation über die zunehmende Zerstörung der Lebensgrundlagen des palästinensischen
Volkes, die Barbara uns hinterlassen hat, wider:
… «Ausser 2009 war ich jedes Jahr
einige Zeit in Palästina/Israel, beobachtete die Veränderungen und
jedes Mal war ich – entsetzt. Ist solches in der heutigen Zeit möglich,
in einem westlich ausgerichteten
Land, das sich Demokratie nennt?
Fotos können einiges übermitteln.
Was das Zerstören und Abtrennen
des gesamten Landwirtschaftslandes und Erholungsgebiets, das Erstellen der Mauer oder des Zaunes
direkt neben oder vor dem Haus,
für die Einwohner bedeutet, muss
man fühlen und hören. Vor allem
in Beit Jala habe ich dies alles hautnah erlebt, bis im Mai 2011, und
ich weiss, es geht weiter in einem
unvorstellbaren Tempo. Die Vorboten bestehen, kaum sichtbar.
Die Palästinenser wissen darum,
sind aber nicht genau informiert.
Das heisst auch, sie werden immer mehr zusammengepfercht
– nicht nur im Gazastreifen. Wer
hält diesen Alltag über Jahre,
Jahrzehnte aus, frage ich mich
oft. Wie würden wir reagieren?
Der gewaltfreie Widerstand wird
kaum wahrgenommen und möglichst verhindert. Auch bei uns
«rasten» Menschen aus, niemand
bezeichnet sie als Terroristen. Wo
liegt der Unterschied? Dort ist es
Rechtfertigung für immer stärkere «Sicherheitsmassnahmen» und
politische Bestrafung. Dass so viel
Gewalt und Zerstörung auf Grund
der Bibel, welcher Religion auch
immer, vertreten werden kann,
beunruhigt mich. Eine grosse Anzahl Christen ausserhalb Israels
unterstützen dieses Vorgehen, oft
mit verzerrter Information. Dem
möchte ich mit dem Aufzeigen
eines Teils des palästinensischen
Alltags entgegenwirken. Als Information über Fakten, die bestehen,
nicht gegen Israel oder Juden!»
Barbara Hugentobler hat ihren
Einsatz zugunsten des vom israelischen Staat unterjochten Volkes
aufgegeben. Wer führt ihn weiter?
Jakob Lerch, Pany