Wo war Gott? Wo bleibt Gott angesichts unermesslichen Leids

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Wo war Gott? Wo bleibt Gott angesichts unermesslichen Leids
Wo war Gott? Wo bleibt Gott angesichts unermesslichen Leids?
Eine Gedenkstunde in der Spur Papst Benedikt XVI. und des Philosophen Hans Jonas zum
Holocaust-Gedenktag/Tag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27.1.1945 – mit Gedanken
von Pfarrer Dr. Dieter Koch und Musik an der Orgel von Jürgen Mauri am Sonntag, den
27.1.2008 in der Martin-Luther-Kirche in Stuttgart-Sillenbuch
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Prophet Jeremia erzitterte vor dem Moloch, der Tatsache, dass in einer beschämenden
Verkehrung der Lebensordnung Gottes sein Volk Kinder ins Feuer gab. Der Moloch kehrte
wieder. Ein ganzes Volk ging im Feuer auf. In Auschwitz-Birkenau und in weiteren,
ähnlichen Lagern ließ Hitler über sechs Millionen Juden vernichten. In Auschwitz-Birkenau
starben außerdem etwa 150.000 Polen und Zehntausende Männer und Frauen anderer
Nationalitäten.
Am Mittag des 27.1.1945 betrat eine erste russische Patrouille das von den Deutschen
verlassene Lager Auschwitz. „Es waren vier junge Soldaten zu Pferde; vorsichtig ritten sie
mit erhobenen Maschinenpistolen die Straße entlang, die das Lager begrenzte. Als sie den
Stacheldraht erreicht hatten, hielten sie an, um sich umzusehen, wechselten scheu ein paar
Worte und blickten wieder, von einer seltsamen Befangenheit gebannt, auf die
durcheinanderliegenden Leichen, die zerstörten Baracken und auf uns wenige Lebende… Sie
grüßten nicht, lächelten nicht; sie schienen befangen, nicht so sehr aus Mitleid, als aus einer
unbestimmten Hemmung heraus, die ihnen den Mund verschloss und ihre Augen an das
düstere Schauspiel gefesselt hielt“(zit. nach Agamben, S.76). So beschrieb Primo Levi diesen
Tag, der die Befreiung über Auschwitz brachte, zugleich aber dieses Lager zum Menetekel
machte, zum Gerichtszeichen über der menschlichen Gattung. Seitdem ist nichts mehr wie
zuvor, gibt es keine Rückkehr mehr, sondern nur noch den mutigen Schritt nach vorn – hin in
eine bewußtere Art, des Menschen Leben, Recht und Würde zu retten, bestärkt durch die
Erinnerung, das Gedenken an dieses Mahnmal der totalen Entkleidung und Erniedrigung des
Menschen. Wer sich an Auschwitz erinnert, betritt eine Landschaft aus Schreien. Und dieser
Schrei hallt weiter in den stalinistischen Gulags, den Lagern der Roten Khmer in
Kambodscha, den Völkermorden und Völkerselbstmorden seither sei es in Ruanda, in
Bosnien oder sonst wo.
Wie steht es um uns, wie steht es um die Landschaft der Seele angesichts solcher Gräuel? Ein
Gedicht von Albrecht Goes eröffne uns diese Gedenkstunde:
Landschaft der Seele
Kein Himmel. Nur Gewölk ringsum
Schwarzblau und wetterschwer.
Gefahr und Angst. Sag: Angst – wovor?
Gefahr: und sprich – woher?
Rissig der Weg. Das ganze Feld
Ein golden-goldner Brand.
Mein Herz, die Hungerkrähe, fährt kreischend über das Land.
Orgelmusik
Auschwitz, begegnen wir dieser Mordfabrik in ersten Schritten der Dichter, deren Worte dem
Erzittern Raum geben:
Ich beginne mit Peter Huchels Winterpsalm
Da ich ging bei träger Kälte des Himmels
Und hinab die Straße zum Fluß,
Sah ich die Mulde im Schnee,
Wo nachts der Wind
Mit flacher Schulter gelegen.
Seine gebrechliche Stimme,
In den erstarrten Ästen oben,
Stieß sich am Trugbild weißer Luft:
„Alles Verscharrte blickt mich an.
Soll ich es heben aus dem Staub?
Und zeigen dem Richter? Ich schweige.
Ich will nicht Zeuge sein“
Sein Flüstern erlosch,
von keiner Flamme genährt.
Wohin du stürzt, o Seele,
Nicht weiß es die Nacht. Denn da ist nichts
Als vieler Wesen stumme Angst.
Der Zeuge tritt hervor. Es ist das Licht …
Allein vor der trägen Kälte des Himmels gibt uns die Zeugin Rose Ausländer ihren
Rückblick
Schön der Mensch
Wer leugnets
Schön
Sein aufrechter Gang
Seine Augen geniale Maler
Sein Wortschatz
Gefühl aus Feuer und Eis
Helle und dunkle Gedanken
Helle und dunkle Absichten
Schön der Mensch
Wer leugnets
Sein Drang zu schaffen
Menschen zu schaffen
Menschen aus der Welt zu schaffen
Mit schönen Händen
Städte bauend
Häuser mit mächtigen Öfen
Wer leugnet
Dass der helle Menschenverstand stehnbleibt
Vor den mächtigen Öfen der schönen Menschen
Die Firma Topf und Söhne aus Erfurt war stolz auf ihren Ofen, den sie Ende Juli 1940 im
frisch eingerichteten Konzentrationslager Auschwitz hatte aufstellen können. Die ersten Öfen
arbeiteten einwandfrei. Bis September 1941 schaffte man 18 Leichen pro Stunde –
verstorbene Gefangene, polnische, dann russische Kriegsgefangene, die hierher gebracht
wurden, um beseitigt zu werden. Karl Fritzsch, die rechte Hand des Lagerkommandanten
Rudolf Höß begrüßte schon den ersten Trupp der neu Kasernierten mit den Worten: „Ihr seid
hier nicht in ein Sanatorium gekommen, sondern in ein deutsches Konzentrationslager, aus
dem es nur einen Ausweg gibt- durch den Schornstein. Wem das nicht gefällt, der kann gleich
in den Draht gehen. Falls sich in dem Transport Juden befinden so haben sie kein Recht,
länger zu leben als zwei Wochen. Falls es Geistliche gibt, können sie einen Monat leben, alle
anderen drei Monate“(Knopp,225). Sie wurden zu Tode geschunden, brutal erschlagen oder
erschossen, bis man auf einen bessere Idee zur Liquidierung kam – und die Planzahl dadurch
stark erhöhen konnte: die Tötung durch Gas und anschließende Verbrennung. Am Morgen des
6.September 1941 führte man im Block 11 des Lagers Auschwitz einen Pionierversuch durch.
Er gelang. „Etwa 600 sowjetische Soldaten und an die 300 kranke polnische Häftlinge hatten
im Gas den Tod gefunden. Das Mittel zum Massenmord in Auschwitz war entdeckt. Der
Vorteil von Zyklon B gegenüber den zur gleichen Zeit im Lager schon vollzogenen
Massenerschießungen schien offenkundig: Es tötete nicht nur schneller und kostengünstiger,
sondern es war auch ‚humaner’ für die Täter, nicht für die Opfer“(Knopp,219) – nicht so
blutig.
Die Massenvernichtung des jüdischen Volkes konnte anlaufen. Die Wannseekonferenz am 20.
Januar 1942 leitete endgültig die Endlösung ein. „In Auschwitz traf am 26.März 1942 der
erste durch Eichmann organisierte Zug ein, zum Bersten voll mit slowakischen
Jüdinnen“(Knopp,235). Sie wurden selektiert und die Arbeitschwachen sofort liquidiert. Bei
3000 Menschen pro Woche lag Eichmanns Plansoll. Ein Nebenlager war errichtet worden –
Auschwitz-Birkenau – ein hoch organisiertes Vernichtungslager mit Gaskammern und
Verbrennungsöfen permanent optimiert – eine Mordfabrik. „Bei den neuen ‚Badeanstalten
für Sonderaktionen’, wie die Verbrecher die Gaskammern zynisch umschrieben, wurde …
nichts vergessen. Die Mordmaschine hatte an Effizienz deutlich zugelegt. 4756 tote Menschen
verschwanden täglich in den 52 Brennstellen der 15 Öfen.“(Knopp,252). Was übrig blieb,
wurde konsequent verwertet. Sonderkommandos, aus Häftlingen zusammengestellt, war das
Bestücken der Öfen, das Heraustrennen der Goldkronen, das Scheren der Haare (50 Pfennig
für ein Kilo Frauenhaar war für die Lagerleitung damit zu verdienen) auferlegt. Auch sie
kamen regelmäßig in die Öfen – sie wussten zuviel. „Bis zum Ende des Krieges fehlte es in
Deutschland und der Welt an Vorstellungskraft, das ungeheure Ausmaß des Verbrechens zu
erfassen. ‚Man konnte einfach nicht glauben, dass ein Kulturvolk im 20.Jahrhundert
überhaupt zu solchen Taten fähig ist’, so die Auschwitz-Überlebende Rachel Knobler über
ihre Gedanken vor der Deportation. Insgesamt sechs Millionen Juden wurden auf bestialische
Weise von den Schergen des ‚Kulturvolks’ ermordet (in Belzec, Chelmno, Treblinka und
Sobibor). Eine Million davon allein in der größten aller Mordfabriken, in
Auschwitz“(Knopp,275f).
Albrecht Goes verdanken wir ein sehr eindrückliches Gedicht zu Auschwitz. Mit ihm will ich
diesen Gang schließen – Die unablösbare Kette
Als wir im Thujabaum schaukelten einst,
weißt du noch, Bruder, …
Süß war, mild noch und nahe der
Apfelbaumduft um Jakobi,
bitter des Nussbaums Arom.
Tisch und Bank war bereit,
vieles lernen die Knaben:
Sprachen und Länder und Zeit
Und den phytagoräischen Lehrsatz.
Einen Lehrsatz noch nicht:
Nussbaumholz ist gut für Gewehrschäfte
Später dann, die Platanenallee,
und wir führten die Nachen, …
Eure Stimmen mit uns:
Rahel, Susanne –
Eure Namen:
Rahel, Susanne –
Heiter dir, Bruder – doch mir
Bang und flüsternd geliebt.
Schöne, vorläufige Namen. Und
Keiner hat uns wissen lassen
Den definitiven Sammelnamen Anne Frank
Aber jetzt, wenn das Quittenbaumlaub
Noch im Novemberlicht uns
Seligkeit gaukelt und Glück,
Unschuld der Kreatur –
Wem gehört diese letzte,
die vergessene Frucht
dort in der Krone?
Rahel, Susanne, Bruder im Thujabaum –
Jetzt freilich würgt im Halse sogleich die
Unablösbare Kette:
Baumfrucht Fruchtkern Kernhaus
Blausäure Auschwitz
Orgelmusik
Paul Celans Todesfuge wurde zur Stimme derer, die in Rauch aufgingen. Wer kennt sie nicht
die „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends wir trinken sie mittags und morgens
wir trinken sie nachts wir trinken und trinken wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt
man nicht eng … (Ein Mann) ruft spielt süßer den Tod der Tod ist ein Meister aus
Deutschland“. Wir verdanken ihm aber auch unter vielen seiner stammelnden Versuche die
Zeilen:
Es war Erde in Ihnen, und sie gruben.
Sie gruben, und gruben, so ging
Ihr Tag hin, ihre Nacht. Und sie lobten nicht Gott,
der, so hörten sie, alles dies wollte,
der, so hörten sie, alles dies wusste.
Sie gruben, und hörten nichts mehr;
Sie wurden nicht weise, erfanden kein Lied,
erdachten sich keinerlei Sprache.
Sie gruben.
Es kam eine Stille, es kaum auch ein Sturm,
es kamen die Meere alle.
Ich grabe, du gräbst, und es gräbt auch der Wurm,
und das Singende dort sagt: Sie graben…
Am 28.Mai 2006 kam Papst Benedikt XVI. im Rahmen seiner Pastoralvisite in Polen nach
Auschwitz und sprach: „An diesem Ort des Grauens, einer Anhäufung von Verbrechen gegen
Gott und den Menschen ohne Parallele in der Geschichte, zu sprechen, ist fast unmöglich – ist
besonders schwer und bedrückend für einen Christen, einen Papst, der aus Deutschland
kommt. An diesem Ort versagen die Worte, kann eigentlich nur erschüttertes Schweigen
stehen – Schweigen, das ein inwendiges Schreien zu Gott ist: Warum hast du geschwiegen?
Warum konntest du dies alles dulden? ... Immer wieder ist da die Frage: Wo war Gott in jenen
Tagen? ... Wie konnte er dies Übermaß von Zerstörung, diesen Triumph des Bösen dulden?
Der Ort, an dem wir stehen, ist ein Ort des Gedächtnisses, ist der Ort der Schoah. Das
Vergangene ist nie bloß vergangen…. Ich bin die Steine entlang gegangen ... All diese
Gedenksteine künden von menschlichem Leid, lassen uns den Zynismus der Macht ahnen, die
Menschen als Material behandelte und sie nicht als Personen anerkannte, in denen Gottes
Ebenbild aufleuchtet… Mit dem Zerstören Israels, mit der Schoah, sollte im Letzten auch die
Wurzel ausgerissen werden, auf der der christliche Glaube beruht, und endgültig durch den
neuen, selbstgemachten Glauben an die Herrschaft des Menschen, des Starken, ersetzt
werden….
(Wir teilen den Notschrei des leidenden Israel an Gott in Zeiten der äußersten Bedrängnis)
Wir können in Gottes Geheimnis nicht hineinblicken – wir sehen nur Fragmente… im Letzten
müssen wir bei dem demütigen, aber eindringlichen Schrei zu Gott bleiben: Wach auf!
Vergiss dein Geschöpf Mensch nicht. Und unser Schrei an Gott muss zugleich ein Schrei in
unser Herz hinein sein, dass in uns die verborgene Gegenwart Gottes aufwache . …(Denn)
Der Gott, dem wir glauben, ist ein Gott der Vernunft – einer Vernunft, die freilich nicht
neutrale Mathematik des Alls, sondern eins mit der Liebe, mit dem Guten ist. …Nicht
mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.“
Inmitten der Gräuel von Auschwitz bricht der Schrei nach Gott auf, er bricht auf inmitten der
absoluten Sinnlosigkeit, indirekt verhalten wie in Günter Kunerts Achtzeiler
Auf toten Flüssen treiben wir dahin
Vom Leben und dergleichen Wahn besessen.
Was wir erfahren, zeigt sich ohne Sinn,
weil wir uns selber längst vergessen.
Vom Augenblick beherrscht und eingefangen,
zerfällt der Tag, der Monat und das Jahr
und jede Scherbe schafft Verlangen
nach Ganzheit: Wie sie niemals war.
Orgelmusik
Auschwitz – das ist eine einzige Landschaft aus Schreien – ein Abgrund der Sinnlosigkeit und
des leeren, nackten, entwürdigten Leidens – eine Mordfabrik, in der Menschen über
Menschen richteten. Was hier geschehen ist, lässt sich nicht mehr in den überlieferten Ideen
um Leid und Schuld, um Recht und Gericht fassen – zu tief geht die Demaskierung aller
Werte. Auschwitz das ist der Ruf aus der Tiefe einem abwesenden Gott entgegen: Wo bist du
Gott? Wo bleibst du Gott? Über alle Worte legt sich Erschütterung, ein Weltzittern wie in
Paul Celans Psalm
Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.
Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
Wir blühn.
Dir entgegen.
Ein Nichts
Waren wir, sind wir, werden
Wir bleiben, blühend:
Die Nichts-, die
Niemandrose.
Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.
Solche Psalmen der Nacht - wie stehen sie zum biblischen Gottesbild und zum Gottesbegriff?
Der Philosoph Hans Jonas, der seine eigene Mutter in Auschwitz verlor, nahm in einer
großen Rede, erstmals 1984 in Tübingen gehalten, das alte Ringen um Gott angesichts so viel
Leids auf, indem er konsequent nach dem Gottesbegriff weiter fragte. Er ließ es nicht bei der
Anrufung des ferne scheinenden Gottes und bei der Beschwichtigung des Leids, er forderte
Klarheit, die Klarheit der ehrlichen Rede und deckte auf, wie die alte Hiobsfrage angesichts
von Auschwitz zum Weiterdenken zwingt. Seine Frage war: „Was hat Auschwitz dem
zugefügt, was man schon immer wissen konnte vom Ausmaß des Schrecklichen und
Entsetzlichen, was Menschen anderen Menschen antun können und seit je getan haben? Und
was im besonderen hat es dem zugefügt, was uns Juden aus tausendjähriger
Leidensgeschichte bekannt ist?“(10) Und er kam zum Ergebnis: „Nicht Treue oder Untreue,
Glaube oder Unglaube, nicht Schuld und Strafe, nicht Prüfung, Zeugnis und
Erlösungshoffnung,… Trotz oder Ergebung“(12) reichen hin, Auschwitz zu deuten. Er
folgerte: Wer von Gott und „vom Gottesbegriff nicht einfach lassen will…, der muß, um ihn
nicht aufgeben zu müssen, ihn neu überdenken und auf die alte Hiobsfrage eine neue Antwort
suchen. Den ‚Herrn der Geschichte’ wird er dabei fahren lassen müssen“(14).
Mittels eines Mythos, einer Gottesfabel denkt er über die Grenze hinaus, und entwickelt den
Begriff einer umfassenden Selbstzurücknahme Gottes mit der Schöpfung. „Damit Welt sei,
und für sich selbst sei, entsagte Gott seinem Sein; er entkleidete sich seiner Gottheit, um sie
zurückzuempfangen von der Odyssee der Zeit, beladen mit der Zufallsernte unvorhersehbarer
zeitlicher Erfahrung, verklärt oder vielleicht auch entstellt durch sie. In solcher
Selbstpreisgabe göttlicher Integrität um des vorbehaltlosen Werdens willen kann kein anderes
Vorwissen zugestanden werden als das der Möglichkeiten, die kosmisches Sein durch seine
eigenen Bedingungen gewährt: Eben diesen Bedingungen lieferte Gott seine Sache aus, da er
sich entäußerte zugunsten der Welt“(17). Im Abenteuer der Sterblichkeit “entfaltet die
göttliche Landschaft ihr Farbenspiel und kommt die Gottheit zur Erfahrung ihrer selbst“(19).
Und im Aufbruch des menschlichen Bewusstseins übereignete sich Gott gänzlich dem
Menschen nun des Menschen Tun begleitend „mit angehaltenem Atem, hoffend und werbend,
mit Freude und mit Trauer, mit Befriedigung und Enttäuschung …sich ihm fühlbar machend,
ohne doch in die Dynamik des weltlichen Schauplatzes einzugreifen“(23).
Er zieht dann rationale Folgerungen aus diesem notwendigen Denkakt. Gott ist keine zeitlose,
unveränderliche, allem Leid entzogene Wirklichkeit, sondern notwendig ein leidender Gott,
ein werdender Gott in, mit und an seiner Schöpfung, ein sich sorgender Gott, der „nicht fern
und abgelöst und in-sich-beschlossen, sondern verwickelt ist in das, worum er sich sorgt“(31)
und vor allem eines nicht ist: ein Zauberer, der tun und machen kann, was und wie er will,
„der im Akt des Sorgens zugleich auch die Erfüllung seines Sorgeziels herbeiführt: Etwas hat
er anderen Akteuren zu tun gelassen und hat damit seine Sorge von ihnen abhängig
gemacht“(31f) Denn er hat sich an diese Schöpfung gebunden und steht im Wagnis des
gemeinsamen Werdens. Weshalb er auch und entschieden eines nicht ist: ein allmächtiger
Gott! „In der Tat behaupten wir, um unseres Gottesbildes willen und um unseres ganzen
Verhältnisses zum Göttlichen willen, dass wir die althergebrachte (mittelalterliche) Doktrin
absoluter, unbegrenzter göttlicher Macht nicht aufrechterhalten können.“(33) Denn das
Nachdenken muss erkennen, dass drei Dinge nie zusammen zu bringen sind: die absolute
Güte, die absolute Macht und die Verstehbarkeit (s.S.37).
Hans Jonas entscheidet sich nun dafür, dass absolute Güte und ihre Verstehbarkeit bedeuten,
dass sie nur zu haben sind im Verzicht auf absolute Macht und also auch Gott nur zu haben ist
im Verzicht auf seine Allmacht. „Wenn Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade
verstehbar sei soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muss sein Gutsein vereinbar sein
mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist“(39). Das
Schweigen Gottes in Auschwitz ist in seiner Güte begründet und zwingt zu der „Idee eines
Gottes, der für eine Zeit –die Zeit des fortdauernden Weltprozesses – sich jeder Macht der
Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des
weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht ‚mit starker Hand und
ausgestreckten Arm’, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten
rezitieren, sondern mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles“(42).
Sein Fazit: „Verzichtend auf seine eigene Unverletzlichkeit erlaubte der ewige Grund der
Welt zu sein. Dieser Selbstverneinung schuldet alle Kreatur ihr Dasein und hat mit ihm
empfangen, was es von Jenseits zu empfangen gab. Nachdem er sich ganz in die werdende
Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und
er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, dass es nicht geschehe,
oder nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, dass es Gott um das Werdenlassen der
Welt gereuen muss“(47).“ Rekurrierte die erste Antwort auf Hiobs Frage nach Gott angesichts
des Leids im Buch Hiob auf die Machtfülle des Schöpfergottes, so antwortet Hans Jonas mit
Gottes Machtentsagung und dass in Hiob Gott selbst leide (s.S.48f).
Lassen sie mich diesen nachdenkenden Gang beschließen mit Else Lasker-Schülers Gedicht
Weltende
Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär,
und der bleierne Schatten, der niederfällt,
lastet grabesschwer.
Komm, wir wollen uns näher verbergen…
Das Leben liegt in allen Herzen
Wie in Särgen.
Du! Wir wollen uns tief küssen –
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen.
Orgelmusik
Lassen Sie uns ein weiteres und letztes Mal Paul Celan hören:
Wohin Mir das Wort, das unsterblich war, fiel:
In die Himmelsschlucht hinter der Stirn,
dahin geht, geleitet von Speichel und Müll,
der Siebenstern, der mit mir lebt.
Im Nachthaus die Reime, der Atem im Kot,
das Auge ein Bilderknecht –
und dennoch: ein aufrechtes Schweigen, ein Stein,
der die Teufelsstiege umgeht.
Hans Jonas hat eindrücklich offen gelegt, wie tief das Leiden in Gott dringt und wie es alle
Versuche, sich gedanklich davon zu stehlen, obsolet macht. Jeder Versuch einer menschlichen
Rechtfertigung Gottes scheitert und jede Weise, das Leid klein zu machen oder als verdiente
Schuld auszuweisen, ist unhaltbar geworden angesichts der Stille von Auschwitz-Birkenau,
die die Entsetzensschreie, die erdrosselten Gebete, in der Dunkelheit einer endlosen Nacht
verschlungen hat. Wir rühren an die Todesstille im Herzen des Todes.
Papst Benedikt XVI. wird uns hier ein zweitesmal zum Wegführer, wenn er sagt: „Angesichts
des Grauens von Auschwitz gibt es keine andere Antwort als das Kreuz Christi: die Liebe, die
in den tiefsten Abgrund des Bösen hinabgestiegen ist, um den Menschen an der Wurzel zu
retten.“ Wir treten tief aufgewühlt vor das Kreuz Christi. Von ihm her entschlüsselt sich das
Grauen. Menschengeschaffenem Leid begegnet die sich hingebende, werbende, in die
Ohnmacht niedersteigende Liebe Gottes. Sie hebt den Weltgang nicht aus den Angeln, aber
sie rührt an die Gewissen und lässt aus tiefstem Dunkel, in Solidarität angenommen, einen
Lichtstrahl aufgehen: das Wort der Versöhnung im Mitgefühl. Mit Christus müssen wir neu
lernen: Gott – um Gott zu bitten. Wir können nach Auschwitz beten, weil auch in Auschwitz
gebetet wurde – im Gesang, im Geschrei der jüdischen Opfer, in ihrem und in Jesu Ruf nach
Gott. „Wo man menschliches Leid nicht ästhetisiert oder mit dem Begriff des Leidens
verwechselt, vielmehr in seiner schrecklichen Würde stehen lässt, wird der Mensch zum gottrufenden Wesen“(Johann Reikerstorfer,108).
Statt weiterer, tiefschürfender argumentativer Entfaltung soll hier nur ein Wort Simone Weils
stehen: „Die Zeit ist das Warten Gottes, der um unsere Liebe bettelt“, ein Wort, das der große
jüdische Lehrer Emmanuel Levinas, auch er zutiefst von Auschwitz bestimmt, dahin
abwandelte: „Die Zeit ist das Warten Gottes, der unsere Liebe befiehlt“. Nur in solidarischer
Leidenserinnerung, im Einfordern der Treue Gottes auf Seiten des Menschen, einem
Einklagen seiner Verheißung, seinem „Versprechen der Rettung, gepaart mit dem
Versprechen einer universalen Gerechtigkeit, die auch die vergangenen Leiden rettend
einschließt“(Metz,91) und dem neuen aufmerksamen Achten auf das Walten der werbendrufend-sich verbergenden Liebe, in der Gott ist, können wir einer gereinigten, das Böse
aufdeckenden, aber es in Güte überwindenden Welt, entgegen gehen – oder es gibt für uns
keine Welt mehr, in der Menschen als Menschen leben können. Erschüttertes Schweigen
wandelt sich in ein inwendiges Schreien zu Gott und dieses wird, so Papst Benedikt XVI. in
Auschwitz, „zur lauten Bitte um Vergebung und Versöhnung.“ Aus stillen Zeichen kann
Neues wachsen.
Lassen sie uns diesen Gang mit Worten Nelly Sachs enden:
Welt, frage nicht die Todentrissenen
Wohin sie gehen.
Sie gehen ihrem Grabe zu….
Aber es ist uns in der Fremde
Eine Freundin geworden: die Abendsonne.
Eingesegnet von ihrem Marterlicht
Sind wir geladen zu ihr zu kommen mit unserer Trauer,
die neben uns geht:
Ein Psalm der Nacht.
Orgelmusik
Lassen sie sich sammeln die stillen Zeichen, in denen Gott sich verbergend zu uns spricht:
In dem Gedicht Karwoche 1946 schreibt Albrecht Goes:
Daß dies geschieht: dass so die Erde wieder
Vergessen kann das angetane Leid,
dass sie Verstörung lohnt mit jungem Moosgrün,
mit roter Blüte blutge Grausamkeit.
Den Talgrund schau, des Berghangs neues Leben,
da österlich die blauen Winde wehn,
von Gruß und Dank, von Innigkeit durchklungen,
von Freude ach! – als wäre nichts geschehn.
Als wär nicht sie, sie selber, Gottes Erde,
jahrelang geschändet rings zur Martergruft.
Daß sie vergessen kann! O Veilchenduft!
O wilder Rose selig süßer Duft!
Die Geißel schwingt nicht mehr, es sind die Würger
Hinabgefahren an den finstern Ort –
Das Kreuz nur dauert: mildes Holz der Gnade,
Versöhnung deutend als der Worte Wort.
Und aus dem Munde der tief verstörten Rose Ausländer dürfen wir hören das Gedicht
Buchenblatt
Ein Buchenblatt
Wie aus dem Wald
Meiner Heimatstadt
Fliegt in mein Zimmer
Es kam
Mich zu trösten
Jene junge Zeit
Ein Gedankenort
Da wohnen die verlorenen
Freunde und Berge
Feines Geäder
Eine Widmung für mich
Sagen, wir zuletzt mit Peter Huchel
In Memoriam Paul Eluard
Freiheit, mein Stern,
Nicht auf den Himmelsgrund gezeichnet,
über den Schmerzen der Welt
noch unsichtbar
ziehst du deine Bahn
am Wendekreis der Zeit.
Ich weiß, mein Stern,
Dein Licht ist unterwegs.
Orgelmusik
Schluß und Geleitwort Gelöbnis (Nachtwache, Fleckfieberlazarett, Frühling 1943) von
Albrecht Goes:
Welchem Ziel wir sterben?
Nicht dem Vaterland.
Nicht, dass die Enkel und Erben
Von neuem Länder erwerben,
Mit des Hasses grüngiftigen Schwaden
Von neuem die Seele beladen,
Von neuem die Seele beladen
Mit patriotischem Tod.
Welchem Glauben wir leben?
Uns ward dies Land zu klein.
Die in Panzern verbrannt und in Gräben
Verschüttet, die uns umschweben,
Die Toten, hüben und drüben,
Was wolln sie, als dass wir begrüben
Den bewaffneten Wahn und endlich,
Endlich Brüder sei’n.
Literatur:
Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt/M,2003
Benedikt XVI., Wo war Gott? Die Rede in Auschwitz, Freiburg i.Br.2006
Albrecht Goes, Leicht und schwer, Frankfurt 1998
Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz, Frankfurt/M 1987
Reiner Kunze (Hg.), Über, o über dem Dorn – Gedichte aus 100 Jahren S.Fischer Verlag,
Frankfurt/M, 1986 (eine Anthologie, in der die meisten der zitierten Gedichte wiederzufinden
sind)
Guido Knopp, Holocaust, München 2000
Johann Baptist Metz (Hg.) ‚Landschaft aus Schreien’. Zur Dramatik der Theodizeefrage,
Mainz 1995 (enthält 5 äußerst eindrückliche Aufsätze
- Gerd Neuhaus, Theodizee – Abbruch oder Anstoß des Glaubens?
- Willi Oelmüller, Über das Leiden nicht schweigen
- Johann Baptist Metz, Theodizee-empfindliche Gottesrede
- Johann Reikerstorfer, Leidenserinnerung als Gottesfrage
- Hans Hermann Henrix, Machtentsagung Gottes? Ein Gespräch mit Hans Jonas im
Kontext der Theodizeefrage – Dieser Aufsatz ist wichtig für die Einordnung Jonas und
für weiterführende Kritik an diesem Entwurf!)
Weiterführende Literatur:
Eberhard Jüngel, Gottes ursprüngliches Anfangen als schöpferische Selbstbegrenzung in
ders., Wertlose Wahrheit, München 1990, S.151-162
Armin Kreiner, Gott im Leid, Freiburg i.Br.2005
Johann Baptist Metz, Memoria Passionis, Freiburg i.Br.2006
Gerd Neuhaus, Frömmigkeit der Theologie, Freiburg i.Br.2003
Harald Wagner (Hg.) Mit Gott streiten – Neue Zugänge zum Theodizee-Problem, Freiburg
i.Br.1998
Rolf Zimmermann, Philosophie nach Auschwitz, Hamburg 2005