Freundschaft bis auf `s Blut - Katholische Universität Eichstätt
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Freundschaft bis auf `s Blut - Katholische Universität Eichstätt
April 2007 · Preis: 1 Euro · www.journalistik-eichstaett.de CONTAINER Zweites Semester Journalistik der KU Eichstätt-Ingolstadt Blut als Ware Blutkonserven kamen früher meistens bei Operationen zum Einsatz — heute helfen sie besonders bei der Krebstherapie. Das Thema: Seite 2 PANORAMA ZWEI LEBEN, EIN GESICHT Fritz von Thurn und Taxis über sein Leben als Blaublüter SEITE 6 Wenn man sich die Schmerzen aus Armen und Beinen schneiden will. Die Geschichte einer Selbstverletzung. Teilkultur: Seite 3 BLUT IM FILM Hollywoodregisseur Michael Rösch verbraucht Blut galonenweise SEITE 12 ESSEN & TRINKEN TÖTEN ALS JOB Zehn Schweine, drei Metzger und eine Stunde Zeit SEITE 8 GESUNDHEIT TABU-THEMA IMPOTENZ Eine Selbsthilfegruppe hilft Männern, darüber zu reden SEITE 10 Tritt. Kniekick. Ellenbogencheck. André Balschmieter ist der beste Kämpfer im deutschen Free-Fight. Sport: Seite 11 Ein Einschnitt im Leben: Sebastian von Nagaroon und Falk Kracht sind Blutsbrüder VON MARTIN KLIEMANK Ein Schnitt, Blut tropft, dann ein fester Handschlag und ein inbrünstiges „mein Bruder“ — von Winnetou und Old Shatterhand lassen sich Kinder heute noch zur Blutsbrüderschaft hinreißen. Doch manchmal sind es auch Erwachsene, die Blutsbrüderschaft schließen, wie etwa Sebastian von Nagaroon und Falk Kracht. Eine dünne Schneeschicht bedeckt die Wallburg-Anlage Haskenau. Buchen leuchten im Schein des Feuers, um das sich in dieser Nacht Frauen und Männer schweigend versammelt haben. In der Mitte des Kreises stehen sich Sebastian von Nagaroon und Falk Kracht gegenüber. Sie nehmen den Dolch, mit dem sie sich die Arme aufschneiden. „Wir haben viel erlebt und miteinander aufgebaut. Das darf nicht auf der Strecke bleiben“, erklärt der 38jährige Sebastian, warum er vor zwei Jahren die Blutsbrüderschaft geschlossen hat. Das Internet hat den Staplerfahrer aus Enningerloh im Münsterland und Falk zusammengeführt. Gleiche Interessen ließen sie bald zu Freunden werden: Gemeinsam gründeten sie die Historiengemeinschaft „Saxo Celtica“, in der sie die Geschichte der Kelten, Germanen und Römer aufarbeiten und auf Festen nachstellen. Doch als Falk die Blutsbrüderschaft anbietet, nimmt Sebastian ihn zunächst nicht ernst: „Ich dachte es wäre ein Scherz. Wir kannten uns ja erst ein paar Jahre.“ Starke emotionale Bindung ist vergleichbar mit der ersten Liebe „Bei den Germanen wurde man durch die Blutsbrüderschaft mit einem älteren Stammesmitglied in den INTERVIEW Kein Sport für Softies Freundschaft bis auf ’s Blut EDITORIAL Horror-Regisseure lassen es in Strömen fließen, einige halten es für eine Delikatesse, andere wiederum schmieren es an Haus- und Leinwände: Blut. Es eint und es trennt — viele Diskussionen waren nötig, um den letzten Skeptiker in unserer Redaktion vom Blut-Druck zu überzeugen. Die Blutarmut wich einem buchstäblichen Blutrausch: Unsere Reporter fuhren bis nach Hof, Frankfurt und Berlin. Sie schlugen sich mit Vampiren herum und manchem gefror in der Metzgerei das Blut blau. Einmal Blut geleckt, kochte das Herzblut, der (Blut-) Druck stieg. Sätze wie „Sei doch mal realistisch“ und „Komm mal wieder runter“ bremsten immer wieder die Höhenflüge der Chef-Bluter. Schweiß, Tränen, Wortgefechte — die Nerven lagen blank. Aber letztlich siegte die Vernunft: „Wir leben doch nicht im Gummibärchenland.“ Womit wir wieder beim Thema Blut wären: Blut in Lebensmitteln und Medien interessierte uns genauso wie die Blutgrätsche. Heraus kam ein Themenpaket zusammengeschnürt mit einem blutroten Faden: Wir Journalistik- Studenten präsentieren Ihnen stolz den blutigsten Container aller Zeiten. Viel Spaß mit dem einzigen hochwertigen Blut-Druck, der garantiert keine Gesundheitsschäden verursacht… Bäm! Tief im Fleisch A Fest im Griff: Warmes Blut rinnt durch die Finger und besiegelt eine Freundschaft für die Ewigkeit. Kreis der Männer aufgenommen. Sie war eine Patenschaft für das Erwachsenwerden, ein An-die-Handnehmen“, erklärt Sebastian. In den kriegerischen Männerbünden verbrüderten sich vor allem Kampfgefährten, um sich der Treue und Hilfe des Anderen zu vergewissern. In heimischen Sandkästen lebt der Kult der Blutsbrüderschaft noch heute, wenn junge Spielgefährten das Plastikmesser zücken, um ihre Freundschaft zu besiegeln. „Die emotionale Bindung unter Blutsbrüdern ist noch viel stärker“, vermutet Sebastian von Nagaroon. „Die Blutsbrüderschaft ist vergleichbar mit der ersten großen Liebe. Man sagt sich Liebesschwüre, will den anderen nie mehr vergessen.“ So ist es auch heute bei heidnischen Hochzeiten üblich, dass Mann und Frau den angeschnittenen Daumen aneinander drücken. Gegenseitiges Vertrauen ist dabei unerlässlich, schließlich könnten selbst durch den Austausch geringer Mengen Blut Krankheiten übertragen werden. „Klar besteht die Gefahr von HIV oder Hepatitis. Allerdings schließt man die Blutsbrüderschaft ja auch nicht mit jedem x-beliebigen Heckenpenner“, meint Sebastian. Mehr als nur Freundschaft: Der Blutsbruder ist Teil der Familie Mit wem man die Blutsbrüderschaft schließt, sollte man sich mehr als zweimal überlegen: „Man kann dabei auch ganz schön ins Klo greifen“, erzählt Sebastian von einem bekannten Blutsbrüderpaar, das sich verkracht hat. Im Gegensatz zu einer normalen Freundschaft ist eine Blutsbrüderschaft aber nicht mehr lösbar. „Es geht nicht, dass ich mit meinem Blutsbruder nichts mehr zu tun haben will. Ich habe ihn mir ja selbst ausgesucht.“ Mit Falk Kracht verbindet Sebastian mehr als eine Freundschaft. Sollte einer der beiden sterben, würde sich der andere um die Hinterbliebenen und um ein Begräbnis kümmern. Selbst Sebastians Eltern haben Falk Kracht als Sohn angenommen. „Er ist Teil meiner Familie. Wir können uns aufeinander verlassen und stehen füreinander ein“, sagt der verheiratete Familienvater. Dafür, dass er die Nähe zu seinem Blutsbruder nie vergisst, sorgt schon die daumenlange Narbe auf seinem linken Unterarm. Jedes Mal, wenn er die Narbe bewusst ansieht, erinnert er sich an die Nacht des 6. Februar 2004, die Nacht des heidnischen Festes Imbolc. Bilder werden wach: Buchen im Feuerschein, der Dolch, der Schnitt, der Schmerz. Fröstelnd vor Kälte pressen beide Männer die Unterarme aneinander. Während sie einander Ehre und Gerechtigkeit schwören, tropft Blut aus den Wunden. Ohne Hast nehmen beide einen Schluck aus dem gebogenen Trinkhorn, das mit Met und einigen Blutstropfen des Gegenübers gefüllt ist. Nie, so sagt Sebastian, habe er sich seinem Freund näher gefühlt, als in diesem Moment. Mit der Spritze an die Spitze usdauersportler sind ehrlich und loyal. Besonders unter den Radfahrern ist der Zusammenhalt so groß wie in kaum einer anderen Sportart. „Nie in meiner Karriere habe ich andere Fahrer betrogen!“, sprach einer ihrer Größten. Und das, obwohl er selbst gedopt hat, dass sich die Nadeln bogen. Doch dank des Wir-Gefühls ist er dabei nicht allein. Und so legen die Profis, statt zu trainieren, zu Hause ihre Beine hoch, und spritzen sich einfach kurz vor dem Rennen das leistungssteigernde sauerstoffreiche Blut. Alles könnte so schön sein, wären da nicht die AntiDoping-Agenturen: Mit fiesen Bluttests flößen sie den Radlern Angst ein. Wer zu rotes Blut hat, sprich: Wer mehr als 50 Prozent rote Blutkörperchen hat, muss aussetzen. Also bleibt dem, der den französischen Radlerthron erklimmen möchte, nichts anderes übrig, als möglichst nahe an diesen Wert heran zu dopen. Der „Kampf um die 50“ beginnt. Doch schon die Natur legt den Radlern die ersten Reißnägel auf die Fahrbahn. So kommt es in den besten Familien vor, dass man mit einem Wert von 45 schlafen geht und am Morgen mit 52 aufwacht. Schuld ist der Flüssigkeitsverlust – nicht nur bei Bettnässern. Denn auch der kontinente Sportler verliert im Schlaf bis zu einem Liter Schweiß. Kommt dann noch der Angstschweiß vor der Kontrolle hinzu, ist der Blutwert total hinüber. Und dazu muss noch nicht mal gedopt worden sein. Wer das wieder in Ordnung bringen will, dem bleibt nichts anderes übrig, als zu saufen wie ein Loch. Am besten eignet sich dafür Wasser mit viel Kohlensäure, schließlich verdrängt CO2 ja Sauerstoff. Weshalb im Anschluss am besten auch schleunigst eine Schachtel Zigaretten folgt. Einen negativen Effekt haben dagegen Getränke wie Cola oder Bier, die zwar CO2, aber auch Koffein oder Alkohol enthalten – bei der Dopingkontrolle nicht unbedingt von Vorteil. Schon bei der Vorbereitung auf den Wettkampf kann der ambitionierte Radler vieles richtig machen. Zunächst sollten alle Trainingseinheiten, die über einer Höhe von tausend Metern stattfinden, geschwänzt werden, da sich dadurch die lästigen roten Blutkörperchen vermehren. Wer dem Bergtraining nicht entkommt, sollte sich wenigstens in der Nähe einer Kuhweide aufhalten. Bekanntlich haben die Verdauungsgase der Rinder ja eine sauerstoffverdrängende Wirkung. Auch bei der Suche nach einer geeigneten Unterkunft für die Vorbereitungsphase ist bedacht vorzugehen. Keine wolkenkratzenden BILD: ISABELLE MODLER Luxushotels — ab dem Parterre aufwärts ist Schluss. Zu guter Letzt ist auch ein ausgefeilter Ernährungsplan Pflicht für den erfolgshungrigen Radler. Wer Waden aus Stahl will, muss sich nicht zwangsläufig auch mit Eisen voll pumpen. Im Gegenteil: Das verursacht nur einen hohen Sauerstoffgehalt im Blut. Also sollte der schlaue Sportler auf jeden Fall eisenreiche Linsen und Bohnen vermeiden — womit er zudem Rücksicht auf die Kollegen im Windschatten zeigt. Positiv dagegen wirken Käse oder Joghurt. Verursachen aber auch einen weichen Stuhlgang. So kann es in der Folge sein, dass es weniger die Sauerstoffwerte sind, die den Sieg in weite Ferne rücken lassen, als vielmehr die Tatsache, dass man das Rennen auf dem stillen Örtchen zubringen wird. Damit es also was wird mit dem Aufstieg in den Radlerolymp, ist es vielleicht doch besser, das Risiko einer Kontrolle einzugehen. Andere haben sich ja auch nicht abschrecken lassen und standen jahrelang auf dem Treppchen. TEXT UND ILLUSTRATION: MATTHIAS FLEISCHER 2 E VON DAS THEMA Wohin das Blut fließt Das Deutsche Rote Kreuz spricht von steigendem Blutbedarf — Die Krankenhäuser sehen das anders KATHARINA KURTZ twa 500 000 Blutspenden hat das Deutsche Rote Kreuz (DRK) im Jahr 2004 gesammelt. 15 Jahre davor waren es nur 333 000 Spenden. Das gesammelte Blut wird an die Krankenhäuser verkauft. „Der Blutbedarf ist kontinuierlich gestiegen. Obwohl mehr Spenden eingehen, läuft das DRK dem Bedarf hinterher“, erklärt Franz Schmidt, Leiter der Organisation vom DRK-Blutspendedienst Baden-Württemberg-Hessen. Der ständig steigende Blutbedarf der Krankenhäuser sei auch der Grund, warum immer mehr Blutspenden nötig seien, meint das DRK. Erstaunlicherweise hat sich der Blutbedarf in verschiedenen großen Kliniken in den vergangenen 15 Jahren aber gar nicht erhöht. „Wir benötigen seit Jahren gleich viel Blut“, sagt Dr. Beate Luz, Oberärztin für Transfusionsmedizin und für den Blutspendedienst am Stuttgarter Katharinen- hospital. Die gleiche Erfahrung macht Dr. Georg Wittmann, Arzt für Innere Medizin und Transfusionsmedizin an der Uniklinik München. Obwohl die Uniklinik ein Krankenhaus der Maximalversorgung ist, also auch besonders komplizierte Fälle behandelt, blieb auch dort der Blutbedarf in den vergangenen 15 Jahren konstant. „Es haben sich die Patientengruppen verändert, die Blut brauchen“, erklärt Dr. Beate Luz. Anders als früher wird heute mehr Blut für Therapien als für Operationen verwendet. Besonders bemerkbar macht sich das bei den Krebspatienten. Dr. Georg Wittmann erklärt warum: „Die Therapiemöglichkeiten gegen Krebs ha- ben sich verbessert und auch wenn die Patienten nicht geheilt werden können, so leben sie doch länger und brauchen mehr Blut.“ Die Chemotherapie zerstört nicht nur die Tumorzellen, sondern auch die gesunden Zellen. Dadurch kann eine Blutarmut entstehen, die durch Gabe von Blutpräparaten ausgeglichen werden muss. Früher hätten im Schnitt 60 Prozent der Krebskranken nach der Diagnose drei Jahre überlebt und seien nur im letzten Jahr auf Blut angewiesen gewesen, erklärt Dr. Georg Wittmann. Heute würden die Krebspatienten durchschnittlich sechs Jahre überleben und in den letzten drei Jahren Blut benötigen. Bei den Operationen geht der Trend in eine andere Richtung. Es werde zwar mehr operiert, meint Dr. Georg Wittmann, dafür aber um einiges besser als noch vor 15 Jahren. Schlagwort ist die so genannte minimal invasive Chirurgie. Dabei operieren die Ärzte sehr schonend. Dr. Beate Luz erinnert sich an früher: „Da schnitt der Chirurg bei einer Gallenoperation den Bauch auf, entsprechend waren viele Blutkonserven nötig. Heute erfolgt der Eingriff mithilfe einer Bauchspiegelung, bei der nur ein sehr kleiner Bauchschnitt vorgenommen wird.“ Große Krankenhäuser wie in Stuttgart und München brauchen seit Jahren nicht mehr Blut — da erscheint es widersprüchlich, dass das DRK über einen ständig steigenden Bedarf spricht. Die Pressestelle des DRK-Generalsekretariats in Berlin will sich dazu nicht äußern und verweist auf den zuständigen Fachvertreter. In einer späteren E-Mail heißt es, dass der Fachvertreter die nächsten vier Wochen nicht „greifbar“ sei. Immer her mit dem Arm: Obwohl Anita Beck gerade Blut abgezapft wird, blickt sie ganz entspannt. In Deutschland nimmt das Rote Kreuz 80 Prozent der Blutspenden ab. BILD: MARTIN WIMÖSTERER Zwar deckt das DRK 80 Prozent des Blutbedarfs in Deutschland, dennoch ist nicht jedes Krankenhaus auf dessen Blutversorgung angewiesen. Das Katharinenhospital in Stuttgart besitzt eine eigene Blutzentrale und ist damit einer der wenigen kommunalen Blutversorger in Deutschland. Rund 70 000 Blutkonserven kommen hier jährlich zusammen. Dr. Beate Diagnose aus der Vene Luz ist von der eigenen Blutzentrale vollkommen überzeugt: „Mit unserer Blutzentrale können wir viel besser auf unsere individuellen Bedürfnisse eingehen, zum Beispiel gezielt Spender mit einer gefragten Blutgruppe mobilisieren.“ Das Katharinenhospital versorgt auch umliegende Krankenhäuser mit Blut. Für 70 bis 80 Euro verkauft es ei- CHARLOTTE HORN Der Patient hat Fieber und Gliederschmerzen — leidet er an einer Erkältung oder an einer gefährlichen Virusgrippe? Eine Blutanalyse gibt Ärzten oft die richtige Antwort. Die Auswertung im Labor ist schwierig, denn die Blutwerte verändern sich ständig und können individuell Unterschiedliches bedeuten. Um die Analyse zu vereinfachen, gibt es bereits eine neue Methode. Ein Tropfen Blut fällt auf eine Chipkarte. Kleine Kanäle saugen ihn ein. Die Karte wird in ein Auswertegerät gesteckt und nach einer knappen Stunde zeigt das Display die aktuellen Blutwerte an. Ein solches Minilabor in Form einer Scheckkarte gibt es bereits als Prototyp: quicklab soll Ärzten eine schnelle Blutanalyse ermöglichen und ab 2008 auf den Markt kommen. Die Firma Siemens hat die Karte mitentwickelt und rechnet mit einer großen Nachfrage, denn Blut ist der meistuntersuchte Stoff in der Labormedizin. „Man hat einen Verdacht und die Blutanalyse kann ihn erhärten oder schwächen“, erklärt Dr. Thomas Neuhardt-Wilsch, Allgemeinmediziner aus Erlangen. Wenn sich in einem Organ eine Entzündung bildet, hat das meist auch Auswirkungen auf das Blut. Daher spiegelt Blut immer den momentanen Zustand des Körpers wieder. Für die Analyse werden Keine gewöhnliche Scheckkarte: Das Minilabor könnte bald in jeder Praxis für schnelle Blutanalysen zum Einsatz kommen. BILD: SIEMENS-PRESSEBILD dem Patienten etwa zehn Milliliter Blut abgenommen. Das ist nur eine geringe Menge bei vier bis sechs Litern, die insgesamt durch den menschlichen Körper, je nach Geschlecht und Größe, fließen. Sie reicht aber aus, um die wichtigen Werte zu bestimmen. Im Labor werden die festen und flüssigen Bestandteile des Blutes in kleinen Röhrchen getrennt getestet. Damit man die Form und Größe der roten und weißen Blutkörperchen und der Blutplättchen besser erkennt, wird das Blut ungerinnbar gemacht. Zur Untersuchung des flüssigen Teils des Blutes werden die festen Bestandteile abgefiltert und im zurückbleibenden Serum Werte wie Cholesterin, Blutzucker, Leber und Harnsäure gemessen. Je nachdem, welcher Krankheitsverdacht vorliegt, werden 20 von bis zu 300 möglichen Blutanalysen ausgewählt. Sind die Blutwerte bei einer ersten Untersuchung auffällig, werden sie genauer unter die Lupe genommen. Zum einen kann die Analyse Krankheiten bestätigen, die sich durch die Blutwerte ablesen lassen, wie Infektionen, bei denen die Zahl der weißen Blutkörperchen extrem ansteigt. Zum anderen kann sie Krankheiten aufdecken, die das Blut selbst befallen. So werden zum Beispiel bei Blutarmut nur noch vermindert rote Blutkörperchen hergestellt. Die Interpretation der Blutwerte ist sehr kompliziert, da sie von vielen Faktoren abhängt: unter anderem von Alter, Geschlecht und Körpergröße, ebenso wie von Fitness und Ernährung. Bei Kindern ist etwa eine höhere Anzahl an weißen Blutkörperchen als bei Erwachsenen normal. Für eine richtige Auswertung des Blutes müssen alle diese verschiedenen Aspekte berücksichtigt werden. Außerdem reagiert das Blut ständig auf Vorgänge im Körper, weshalb die einzelnen Blutwerte immer nur Momentaufnahmen sind und daher mehrmals getestet und verglichen werden. Das Entscheidende bei der ne Konserve mit roten Blutkörperchen. Ähnliche Preise verlangt das DRK. Im Gegensatz zum DRK zahlt das Katharinenhospital seinen Spendern aber eine Aufwandsentschädigung von 25 Euro, hauptsächlich für den Anfahrtsweg. Das DRK zahlt nichts, weil seiner Meinung nach mit Blut als menschlichem Organ nicht gehandelt werden dürfe. BLUTSPRITZER Ein Spiegelbild des Körpers: Richtig interpretiert, verraten Blutwerte viel über die Gesundheit VON CONTAINER Blutanalyse ist für Dr. Peter Hindersin, Biochemiker und langjähriger Laborleiter am Bezirkskrankenhaus Erlangen, dass die Blutwerte bei jedem Patienten individuell beurteilt werden. Denn ein Laborwert allein sage nichts aus. „Wir wollen schließlich keine Laborkranken schaffen.“ Gleich hohe Leberwerte können beispielsweise für zwei Personen Unterschiedliches bedeuten: Während sie für den einen wirklich krankhaft sind, können sie für den anderen genetisch bedingt normal sein. Dieser Meinung ist auch Dr. NeuhardtWilsch. „Blutwerte allein reichen nicht aus. Sie sind ein notwendiger Faktor für eine ganzheitliche Diagnose.“ Daher bringen Blutuntersuchungen ohne gezielten Verdacht nach Ansicht des Allgemeinmediziners nur wenig. Dennoch wird Blut nicht nur dann untersucht, wenn es darum geht, einen bestimmten Krankheitsverdacht zu erhärten oder zu entkräften, sondern auch zur Vorsorge. So ist etwa der gestresste übergewichtige Raucher ab 35 Jahren besonders gefährdet, einen Schlaganfall zu bekommen. Erste Anzeichen dafür können im Blut frühzeitig sichtbar werden, wenn zum Beispiel Cholesterin- und Zuckerwerte oder auch die Gerinnungsfaktoren erhöht sind. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchung überprüft der Arzt deshalb auch immer die wichtigen Blutwerte. Kommt man also durch regelmäßige Blutuntersuchungen einer Krankheit auf die Spur, noch bevor sie ausbricht? Biochemiker Dr. Hindersin verneint: „Wir sind keine Wahrsager. Das Blut verändert sich erst, wenn die Krankheit schon da ist.“ In Zukunft soll die Blutanalyse noch einfacher und schneller funktionieren. Das kann mitunter lebensrettend sein, wenn ein Verdacht auf eine gefährliche Erkrankung durch die Blutwerte schnell bestätigt und sofort behandelt werden kann. quicklab, das Minilabor auf der Chipkarte, ist ein Schritt in diese Richtung. Berliner Blut zum Spielen Es fließt in internationalen Filmproduktionen wie „Das Parfum“, bei Übungen von Bundeswehr und Rotem Kreuz: das Kunstblut der Berliner Firma Kryolan. Für den weltweiten Markt stellt das Unternehmen über 40 Sorten Kunstblut her. Zum Angebot gehören externes Blut zur äußeren Anwendung, aber auch internes Blut, das für den Kontakt mit Schleimhäuten geeignet ist. Kunstblut besteht größtenteils aus Wasser, Glycerin und Stärke. Je nach Sorte kostet der Liter Blut zwischen 30 und 150 Euro. jk Schluck für Schluck zum Metzger Wer Metzger werden möchte, muss von der ersten Stunde an hart im Nehmen sein. Mit Schauern erinnert sich der Münchberger Metzgermeister Rainer Lottes an seinen ersten Ausbildungstag. Kaum im Betrieb angekommen, wurde das erste Rind geschlachtet – für einen angehenden Fleischer nicht allzu schokkierend. Dann allerdings folgte die Bluttaufe: Schnell sollte er die Metallglocke an seinem Gürtel säubern, die eigentlich zum Schweine scheren gedacht ist. „Der Kopf des Rindes kam ab und die Glocke wurde mit dem warmen Blut gefüllt — ja und dann hieß es runter damit.“ Einen unverwechselbaren Geschmack habe es gehabt: „Salzig — wie wenn man an Eisen leckt“. Als aus Lehrling Lottes der Metzgermeister Lottes geworden war, behielt er die blutige Willkommensgeste für seine Auszubildenden zunächst bei. Erst seit einigen Jahren verzichtet er darauf: „Blut ist ja der Saft des Lebens — irgendwie ist es nicht ethisch, das zu trinken.“ ph CONTAINER LEITKULTUR Der Strichcode auf dem Arm Kristin Wölke verletzte sich über drei Jahre lang selbst — heute ist sie clean R über zwei Jahre her. Den Körper der Berlinerin übersäen mehr als 300 Narben. Dreieinhalb Jahre lang, von Anasierklingen und Verbandsma- fang 2001 bis zum Sommer 2004 hat terial gehören zum Ritual. Al- sie sich immer wieder die Ober– und kohol auch: Bier, zwei Flaschen Unterarme, beide Beine und die HüfSekt und eine halbe Flasche Wodka. ten zerschnitten. Ihre Arme sind mit Kristin Wölke hört Musik — laut, strichförmig vernarbtem Gewebe behart, schnell. Am wichtigsten ist Pri- deckt. „Das sieht aus wie ein Strichvatsphäre: Das, was sie gleich tun code. Damit kannste mich an der wird — das, was sie sich mehrmals in Kasse durch den Scanner ziehen und der Woche antut – darf niemand dann is schick“, sagt Kristin und läsehen. Sie geht ins Bad, nimmt die Ra- chelt. Sie sitzt rittlings auf ihrem Sofa sierklinge, setzt sich auf den Wannen- in der Wohnung ihrer Eltern, hält ein rand und schneidet sich in den Glas Ginger Ale in der Hand. Wenn rechten Unterarm. Warmes Blut läuft sie lächelt hebt sich der schwarze über ihre Haut, fließt über die Unter- Ring in ihrer Unterlippe ein bisschen. Kristin ist eine Borderline-Persönseite ihres Handgelenkes in die Handfläche, weiter zur Spitze ihres lichkeit. Falsch: „Ich habe eine BorMittelfingers. Dort verharrt es kurz, derline-Persönlichkeitsstörung. Ich bin das nicht, ich tropft dann auf habe das.“ Sie ist den Boden der eine selbstbewussWanne. Sie ist in „Ich dachte: Scheiße, te junge Frau, die Trance. Es tut gern Poker spielt, nicht weh. Kristin tut das weh, wenn zeichnet, gelbe schneidet sich wieder und wieder: man das nicht selber Gauloises raucht und ihren Gürtel Nach ein paar verkehrt herum Schnitten hackt sie macht.” trägt. Ihre grünen nur noch, schlägt Augen schauen die Rasierklinge nie verlegen zu zentimetertief in Boden. Ein paar ihr Fleisch. Rechter Arm, linker Arm – ihre linke Hand „Vorfälle, nicht Rückfälle“ gab es verschont sie: Die braucht sie, wenn schon noch, doch seit 2004 ist sie sie sich nach einem Fressanfall den „clean“. Trotzdem muss die Linkshänderin im Augenblick ihre GauloiFinger in den Hals steckt. Nach über zwei Stunden ist der Bo- ses mit rechts rauchen, denn vor den der Wanne mit einer schleimigen kurzem hat sie sich ihre linke Hand Schicht aus geronnenem Blut be- an einer Konservendose geschnitten deckt. Kristin fährt mit der Hand und sich dabei die Sehnen von Mittelüber den rot glänzenden Wannenbo- und Ringfinger durchtrennt – verseden. Warm und dickflüssig fühlt sie hentlich. „Ich dachte: ´Scheiße, tut das Blut zwischen ihren Fingern. Sie das weh, wenn man das nicht selbst verbindet ihre Wunden, putzt das macht.´“ Sie schüttelt lächelnd den Bad, räumt die Flaschen weg und Kopf. „Ich bin dann mit blutüberstellt die Musik aus. Alles sauber? strömter Hand ins Krankenhaus und Was vergessen? Als sie in die Stra- das Erste, was die Ärztin zu mir sagßenbahn steigt, sind ihre Mullbinden te, war: ´Was haben sie denn mit ihschon blutdurchtränkt. Macht nichts. ren Armen gemacht?´ Tja, is schon Sie ist mit den Gedanken noch bei ih- lustig.“ Wenn Kristin so erzählt, mit rem Blut in der Wanne. Wohin? Ganz ihrem Sinn für Ironie, wird es tatsächegal. Einfach irgendwohin, in irgend- lich irgendwie lustig. Über ihre Vergangenheit redet sie ein Krankenhaus in Berlin. Wie oft sie nach einem Ritual in einem war, weiß so wie über einen Film: Sie kommt sie nicht mehr. Die Selbstverletzung: mit nur 1900 Gramm auf die Welt Für Kristin eine Wohltat. „Ab und zu und muss im Krankenhaus drei Monate aufgepäppelt werden. In dieser habe ich mir das eben gegönnt.“ Heute ist Kristin Wölke 25 Jahre alt, Zeit hat sie keinen Kontakt zu ihrer studiert Erziehungswissenschaften Mutter. „Es lief also von Geburt an und Psychologie. Ihr letztes Ritual ist nicht so wie es sein sollte. Erst hat VON 3 ROSMARIE INES BUNDZ mich niemand berührt und dann habe ich die Liebe bekommen, die ich brauchte — das hat mich verwirrt.“ Sie entwickelt früh eine emotionale Wachsamkeit ihrem Umfeld gegenüber. So bemerkt sie, dass sich ihre Mutter und ihr Großvater öfter streiten und entschließt sich, ihrer Mutter nicht noch mehr Sorgen zu machen. Sie funktioniert nur noch und verbirgt ihre Sorgen in der Schule, mit den Freunden, mit sich selbst. Mit 13 Jahren versucht sie, sich die Knochen zu brechen, schlägt sich Glasflaschen auf Hände und Füße. „Ich konnte meine Gefühle nicht beschreiben, ich hatte nur so einen Hass auf mich“, erinnert sie sich. „Zwei Mal war ich erfolgreich.“ Nach dem Abitur fährt sie mit ihren Eltern für drei Wochen an den Gardasee. Auf Erholung wartet sie vergeblich: „Der Sohn des Ho- teliers hat mich mehrmals vergewaltigt. Ich gab mir die Schuld. Ich hätte ja auch nein sagen können.“ Danach verletzt sie sich in immer kürzeren Abständen und entwickelt ihre eigenen Methoden. „Da muss man erst mal reinwachsen und alle Tricks und Kniffe kennen lernen. Und zwei Mal drüber mit der Klinge und schick is – das hat irgendwann nicht mehr gereicht.“ Erst ein auseinander gebauter Anspitzer, später Präparierbesteck. „Doch das war auch irgendwann stumpf.“ Dann nimmt sie nur noch Rasierklingen — Zehnerpacks für 2,39 Euro. Nach sechs Klinikaufenthalten und acht in der Psychiatrie ist alles, was noch von ihrem alten Leben geblieben ist, ein blauer Aktenordner mit den Klinikunterlagen. „Wenn du in die Klinik gehst, schlüsseln die dir sämtliche Diagnosen auf. Du bekommst ein Blatt und da steht dann: Borderline-Störung, Depression, Essstörung, Alkoholmissbrauch und posttraumatische Belastungsstörung.“ Kristin nimmt noch einen Schluck von ihrem Ginger Ale. „Das alles belastet mich nicht mehr.“ Auch die Narben nicht: Sprüche wie „nettes Design“ kontert sie mit „hat halt nicht jeder“. Manchmal sieht sie im Supermarkt ein Mädchen, das sich wahllos Essen kauft und sie denkt sich „aha, Fressanfall“. Im Sommer sah sie auf der Fanmeile jemanden mit einem vernarbten Unterarm — „aha, noch so einer“. Sie ist nun nicht mehr „so eine“. Ihre Narben gehören zu ihrem Körper wie das Piercing in ihrer Unterlippe. Verstecken oder weglasern kommen für sie nicht in Frage. Borderline-Störung, Depression, Essstörung, Alkoholmissbrauch, posttraumatische Belastungsstörung — das sind nur noch Wörter auf einem Blatt Papier aus der Klinik. Wenn Kristin Wölke so locker und ein bisschen herausfordernd neben ihrer Lieblingsblume sitzt, käme man nie auf den Gedanken, dass sie sich Arme und Beine zerschnitten hat. Ihre Narben versteckt sie aber nicht — es war nur ein kalter Tag. BILD: ROSMARIE INES BUNDZ Wenn im Blut der Klebstoff fehlt Im Sandkasten und auf dem Fußballplatz — Lukas (18 Monate) und Markus (9 Jahre) lernen, mit der Bluterkrankheit zu leben D BILD: ISABELLE MODLER VON ISABELLE MODLER er kleine, blonde Junge liegt auf dem Rücken. Seine großen, blauen Augen schauen aufmerksam hoch ans Kopfende der Liege, wo seine Mutter mit einer spitzen, dünnen Nadel in der Hand steht. Unwillig dreht er den Kopf weg, seine kleinen Füße strampeln in der Luft, als wolle er weglaufen. Lukas Kuhnhen weiß, was ihn erwartet: Der Eineinhalbjährige ist Bluter. Da offene Wunden oder innere Verletzungen bei ihm nicht zu bluten aufhören würden, bekommt er einmal in der Woche in der Haunerschen Kinderklinik in München ein Mittel für die Blutgerinnung gespritzt. Seit vier Wochen lernt seine Mutter Stephanie unter ärztlicher Aufsicht, wie das geht, damit sie ihn in Zukunft auch zu Hause spritzen kann. Lukas windet sich auf der Liege wie ein Aal. Neben ihm sitzt Dr. Karin Kurnik. Behutsam umfassen ihre schlanken Hände seinen zarten Kopf. Die Kinderärztin versucht ihn abzulenken und spricht liebevoll, mit ruhiger Stimme auf ihn ein: „So kalte Hände! Mmmh, Lukas?“ Langsam schmiegt sich die Wange des kleinen Jungen an die Hand der Ärztin. Durch die zarte, helle Haut an seiner Stirn schimmert ein feiner, bläulicher Strich — die einzige Ader an seinem Körper, die nicht unter weichem Babyspeck versteckt ist. Stephanie Kuhnhen beugt sich über ihren Sohn. Hochkonzentriert schaut sie auf seine Stirn. Und zack: Die Nadel dringt ein und schiebt sich unter die Haut. Lukas zuckt zusammen. „Auuuaa, Mama“, ruft er und versucht sich an die Stirn zu fassen, an der mittlerweile Kanüle und Schlauch hängen. Dicke Tränen laufen über sein Gesicht. „Musst Mama helfen!“, sagt die Ärztin. Wie durch eine Zauberformel hält der Junge augenblicklich still und lässt alles über sich ergehen. „So tapfer bist du!“, bestärkt ihn seine Mutter liebevoll. Eine Kinderhand streichelt die Wange von Lukas und tröstet ihn mitfühlend: Die vierjährige Laura kommt immer mit, wenn ihr jüngerer Bruder gespritzt wird. Das ist Stephanie Kuhnhen wichtig, damit sich ihre Tochter miteinbezogen fühlt, wenn sich mal wieder alles um Lukas dreht. Laura weiß von ihrer Mutter: „Lukas fehlt der Klebstoff im Blut“. Stephanie spritzt die Kochsalzlösung: Die klare Flüssigkeit mischt sich sofort mit Lukas’ Blut und verfärbt den milchigen Schlauch langsam rot. Dann spritzt sie den Gerinnungsfaktor und zieht anschließend die Kanüle vorsichtig wieder heraus. Laura tupft mit einem sterilen Tuch den dunkelroten Blutstropfen von seiner Stirn. „Ja fein! Alles fertig, Lukas!“, rufen alle erleichtert. Kurz darauf lacht der Kleine schon wieder fröhlich. Erleichtert räumt Stephanie Nadel und Spritze weg. Sie ist stolz auf ihren Sohn. „Das Verhalten der Eltern überträgt sich direkt auf die Kinder“, erklärt die Ärztin: „Je selbstverständlicher die Erwachsenen mit der Situation umgehen, umso besser.“ Als Stephanie mit ihren Kindern die Klinik verlässt, schleift Lukas seine kleine, blaue Umhängetasche hinter sich her. Er weiß genau: Wenn er unterwegs ist, muss die Kühlbox mit dem Gerinnungsfaktor vorsichtshalber mit, denn bei einer Verletzung genügt die vorbeugende Spritze nicht. Ein Schritt zur Selbstständigkeit: Markus lernt das Spritzen Der neunjährige Bluter Markus Böckle hat sich bereits an die regelmäßigen Injektionen gewöhnt. Weil sein Körper den Gerinnungsfaktor sehr schnell abbaut, wird er dreimal die Woche gespritzt. „Am Anfang haben wir Blut und Wasser geschwitzt, als er gespritzt wurde“, erzählt sein Vater Gerhard. Als Markus mit zweieinhalb Jahren das erste Mal eine Spritze bekam, hat er so gestrampelt, dass ihn vier Erwachsene auf der Liege fixieren mussten. Mittlerweile übernimmt Markus die Vorbereitungen für die Injektion schon selbst: Er zieht die Spritze mit der Kochsalzlösung auf, mischt das pulverige Faktorkonzentrat mit dem sterilen Wasser und legt sich Alkoholtupfer und Pflaster bereit. Dann streift er einen Stauschlauch über seinen dünnen Unterarm und zieht die Schlaufe so fest, dass sich die bunten Bären auf dem dunkelblauen Schlauch in die Länge strecken. Die Adern treten deutlich aus der Haut hervor. „Ich hab Venen wie Gartenschläuche“, sagt er stolz und grinst. Auf dem Handrücken zeichnen sich zwei lilablaue, vernarbte Einstichlöcher ab. Noch spritzt ihn seine Mutter, aber Markus übt bereits an den Venen seiner Eltern. Schließlich will er später ohne sie ins Schullandheim oder Skilager fahren. „Je selbständiger er ist, umso mehr Freiheiten können wir ihm geben“, sagt sein Vater. Das Wichtigste ist, dass Markus Bescheid sagt, wenn er sich verletzt, erklärt seine Mutter. Im Alltag lauern genügend Gefahren: Einmal hat er sich einen Finger in der Autotür geklemmt. In der Nacht ist er dann in einer Blutlache aufgewacht, weil der Bluterguss geplatzt war. „Das schaut schlimm aus, aber innere Blutungen sind gefährlicher“, sagt sein Vater. Trotz solcher Sorgen bemühen sich die Eltern, ihren Sohn nicht überbehütet aufwachsen zu lassen. Im Alltag fördern sie seine Selbstständigkeit und seinen Bewegungsdrang. „Sport ist wichtig, damit er seine Muskeln und Sehnen trainiert. Ein gesunder Bewegungsapparat ist der beste Schutz gegen Gelenk- oder Muskelblutungen.“ Markus schwimmt, geht in den Leichtathletikverein und spielt in jeder freien Minute Fußball. Sein größter Wunsch wäre es, im Fußballverein zu trainieren, aber das erlaubt seine Mutter nicht: „Man muss eine Verletzung ja nicht herausfordern.“ 4 KULTURTEIL CONTAINER Tanz, Trance, Tierblut S VON Die Darbietung der Därme Fast sieht es so aus, als würden dem jungen Mann die Gedärme herausgerissen: Auf ihm liegt ein totes Schwein, aufgeschlitzt und vollgestopft mit Innereien — Teil einer Inszenierung von Hermann Nitsch. BILD: VG BILD-KUNST BONN D VON Der Aktionskünstler Hermann Nitsch spielt mit Tabus und Ekel KARIN JANKER er junge Mann ist nackt an ein Kreuz gefesselt, seine Augen sind verbunden. Auf ihm liegt ein totes Schwein, ausgeweidet. Weiß gekleidete Frauen und Männer pressen Hände voller Gedärme in den offenen Schweinebauch. Einer gießt Blut und Wasser darüber, die übrigen kneten und wühlen in den Därmen und Hirnen. Über alldem schwebt ein atonales Brausen, ein Orgelton bohrt sich in die Köpfe. Plötzlich ein schriller Pfiff – die Menschen in den weißen Kitteln lassen ab vom Schwein und dem Mann, der darunter liegt. Er zittert am ganzen Körper, frisches Blut ist ihm in den Mund gelaufen. Er hat sich freiwillig ans Kreuz binden lassen. Im Namen der Kunst. Und um sich zu befreien. Zumindest ist es so vorgesehen von Hermann Nitsch, dem Regisseur dieses Spektakels, das sich Orgien-MysterienTheater nennt. Nitsch will mit seinen Aktionen „die Menschen aus ihrem lauen Sumpf herausholen“. Er spielt gerne mit Blut und den damit verbundenen Tabus. Es reizt ihn, „weil Blut der Saft des Lebens und des Todes gleichzeitig ist“. Und so gießt er es aus, über Leinwände und Leiber. Der Österreicher malt mit Blut und schockiert – mittlerweile allerdings nur noch wenige. Früher schritt bei seinen Aktionen regelmäßig die Polizei ein, Tierschützer protestierten, Kirchenvertreter empfanden Nitschs Kunst als Blasphemie. Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt. Den österreichischen Staatspreis hat Nitsch 2005 bekommen und bald eröffnet im niederösterreichischen Mistelbach ein Museum für ihn. Ein „Staatskünstler“ will der beinahe 70Jährige trotzdem nicht geheißen werden: „Ein blödes Wort. Ich hasse es.“ Er sieht sich als Psychotherapeut, als einer, der mit seiner Kunst die Menschen aufrütteln, sie zur Überwindung des Alltags und zu intensivem Leben zwingen will. Vor allem Freuds Psychoanalyse beeinflusst ihn in seinem künstlerischen Schaffen: Das Orgien-Mysterien-Theater soll eine Art Katharsis bewirken. Obwohl eine Karte für diese innere Reinigung um die 250 Euro kostet, war das Wiener Burgtheater, das Nitsch 2005 für seine 122. Aktion zur Verfügung gestellt wurde, innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Nitsch ist in seinem Heimatland salonfähig geworden. Auch über die Grenzen Österreichs hinaus zollt man Nitsch, als einem wichtigen Vertreter des Wiener Aktionismus, mittlerweile Anerkennung. Im Berliner Martin-GropiusBau dokumentierte vor kurzem eine Retrospektive Nitschs blutige Spiele in 18 Räumen. An den Wänden Fotos von den Aktionen: Immer wieder nackte Frauen und Männer, an Kreuze gebunden, die Körper mit Blut bespritzt, besudelt von Rinderdärmen. Dazwischen ein Stier, geschlachtet, gehäutet, ausgeweidet. Der kleine Mann mit dem langen Bart, der Blut in die Bauchhöhle des Stiers gießt, das ist Nitsch. Die Szenen auf den Fotos wiederholen sich, die christlichen Symbole auch: Monstranzen und Priestergewänder akkurat angeordnet vor einer haushohen Leinwand, an der rote Farbe wie Blut hinuntergelaufen und noch im Fließen getrocknet ist. Auch für diese Schüttbilder ist Nitsch bekannt. Sie entstehen in Malaktionen, so genannten Happenings. In einer Video-Installation, die Teil der Ausstellung ist, sieht man Nitsch im weißen Malhemd bei einer solchen Aktion. Er nimmt Anlauf und schüttet einen Eimer roter Farbe auf die am Boden liegende Leinwand. Dann verteilt er die dickflüssige Farbe mit bloßen Füßen und einem breiten Besen, verausgabt sich dabei bis zur Erschöpfung. Für solche Werke verwendet Nitsch hauptsächlich rote Öl- und Acrylfarbe. In der Berliner Ausstellung wirken die wenigen grünen, blauen und mehrfarbigen Bilder wie eine erfrischende Atempause, bevor man die Luft wieder anhält, weil man glaubt, den Gestank von warmem Blut, von Gedärmen, Schweiß und Exkrementen zu riechen, der über dem grausigen Schauspiel hängt. Kaum vorstellbar, dass die Teilnehmer am Orgien-Mysterien-Theater die Tiere hinterher genussvoll verspeisen, wie Andreas Stasta erzählt. Der 36-jährige Wiener hat bereits an einigen von Nitschs Aktionen teilgenommen. Er war der Mann, der – ans Kreuz gebunden – unter dem Schwein lag. Stasta spürte, wie die anderen Teilnehmer in dem Schweinebauch kneteten, die Arme bis zu den Ellbogen in den Gedärmen. Er hörte dieses „gatschige Geräusch“, roch das Fleisch und das frische Blut – und „würde das sofort wieder machen“. In Marokko opfern die Gnawa für das Lebensglück ALI ATABI ie tanzen und musizieren auf öffentlichen Plätzen in Marrakesch oder in Casablanca. Männer und Frauen wirbeln ihre Arme und Tücher durch die Luft zu rhythmischen Klängen der Trommler. Das sind die Gnawa – Musiker in Marokko. Doch hinter diesem Namen verbirgt sich mehr als nur eine gewöhnliche Musikgruppe. Die Gnawa sind Heiler. Durch ein blutiges Ritual, das Hadra heißt, versuchen die Gnawa Menschen von Besessenheit und seelischen Erkrankungen zu heilen. Angeführt werden sie dabei von ihrer Meisterin, der Maullay Zarie. Für dieses Ritual muss Blut spritzen: Die Gnawa verlangen Tieropfer. Ursprünglich waren die Gnawa Sklaven, die im 16. Jahrhundert von Sultan Abdel-Aziz aus dem Sudan nach Marokko gebracht wurden und sich bis heute ihre Kultur bewahrt haben. Die Gnawa glauben, dass das Leben jedes Menschen von einem Geist beeinflusst wird. „Die Geister leben unter uns und steuern täglich unser Verhalten“, sagt Almahdi Bader, 43 Jahre und Mitglied einer Gnawa-Gruppe in Essaouira im Süden von Marokko. Manche Geister seien gut, andere böse. Denn sie seien genau wie wir Menschen männlich oder weiblich und auch von Gefühlen wie Hass, Neid und Liebe geprägt. Allerdings hätten die Geister Kräfte, die die Menschen nicht hätten. Böse Geister missbrauchen diese Kräfte, um Menschen zu schaden. „Es kommt vor, dass ein Geist sich in einen Menschen verliebt. Der Geist versucht jeden Erfolg der betroffenen Person mit dem anderen Geschlecht zu verhindern, um seinen Geliebten nur für sich zu behalten.“ Ein Ritual gegen Depressionen oder Streit in der Ehe In diesem Fall ist dann das HadraRitual notwendig, ein fast schon alltägliches Ritual, das überall im Land stattfindet, allerdings immer nur in Privathäusern und nicht in der Öffentlichkeit, denn das Ritual verstößt gegen den islamischen Glauben, weil dabei ein Tier geopfert wird. Im Islam aber darf man Tiere nur für das Opferfest schlachten oder um sie zu essen. Obwohl ein guter Moslem nicht abergläubig sein darf, erhoffen sich viele Marokkaner von dem Ritual Hilfe, wenn sie unter Depressionen leiden, Streit in der Ehe haben oder unglücklich verliebt sind. An einer Hadra-Zeremonie nehmen neben der Gnawa-Gruppe bis zu 20 Gäste teil. Frauen machen den größten Teil der Hadra-Anhänger aus. „Das liegt unter anderem daran, dass die Zahl der Analphabeten unter Frauen in Marokko sehr groß ist. Deswegen hängen sie stark am Aberglauben“, erklärt Mohammed Albadaoui, Professor für Geschichte und Gesellschaft in Fes. Im Gegensatz dazu behauptet Almahdi: „Zu uns kommen Frauen, die eine gute Ausbildung haben, manchmal auch Ärztinnen und Lehrerinnen.“ Das Hadra-Ritual darf nur nachts stattfinden, denn mit Sonnenaufgang soll für die betroffene Person ein neues Leben beginnen. Die Zeremonie beginnt bei Sonnenuntergang. Dabei wird Weihrauch verbrannt, um in die Welt der Unsichtbaren einzutreten. „Es öffnet sich so eine Tür zwischen zwei Welten“, sagt Almahdi. Langsam fangen die Gnawa unter Leitung der Maullay Zarie mit Gesangserzählungen an, um die sieben Könige der Geister, die „Mluk der Djinn“ zu rufen, denn die „haben die Macht und die Kraft, die betroffene Person von dem bösen Geist zu befreien“, behauptet Almahdi. Die Sprache der Erzählungen gehört zu den Geheimnissen der Gnawa und darf nur deren Nachfahren beigebracht und erklärt werden. Böse Geister werden mit dem Blut des Opfertieres vertrieben Dann beginnt die Gnawa zu musizieren und das Tier, meistens ist es ein Hahn oder ein Schaf, wird als Zeichen für die Anwesenheit der Geister geschächtet. Während das Blut in einer Schüssel aufgefangen wird, müssen die Trommler und Flötenspieler in unterschiedlichen Rhythmen spielen, um die anwesenden Gäste vor den bösen Geistern zu schützen. Mit der Schüssel voll Blut laufen die Gnawa im Raum herum, der nur mit Kerzen beleuchtet ist. Nach und nach gelingt es den Gnawa mit ihren geistigen, intensiven Gesängen und Rhythmen die Teilnehmer der Hadra in einen tranceartigen Zustand zu versetzen, in dem sie harte Sprünge und Drehungen ausführen und unbewusst schreien. Dies dauert die ganze Nacht. Kurz vor dem Ende des Rituals spielen die Gnawa wie zu Anfang langsamer und leichter, damit sich die Teilnehmer wieder entspannen. Schließlich lässt die betroffene Person die Schüssel mit dem Blut fallen, damit es in alle Richtungen spritzt und so die letzten bösen Geister vertreibt. Jetzt herrscht absolute Ruhe. Die betroffene Person wird ohnmächtig und fällt auf den Boden. Dann erklingen die gellenden Juojuo-Rufe der Frauen. Sie rufen zum Ende des Hadra-Rituals auf. Am nächsten Tag verspeisen die Teilnehmer das Opfertier, um wieder zu Kräften zu kommen. Hat das Ritual nicht gewirkt, muss es noch einmal vollzogen werden — und wieder Blut fließen. Mit ihrem Blut haben viele Afrikaner das Ende der Kolonisation und den Schritt in die Freiheit bezahlt. An dieses vergossene Blut erinnert die rote Farbe in der Flagge der Panafrikanismus-Bewegung. Sie soll alle Volksgruppen Afrikas an die gemeinsame Herkunft erinnern. Seit dem ersten Panafrikanischen Kongress im Jahre 1900 wird die Bewegung mit einer dreifarbigen Flagge symbolisiert: Neben Rot stehen Grün für die Vegetation des Mutterlandes und Schwarz für die Menschen. Die Flagge orientiert sich an der Äthiopiens: Es war das einzige Land, das nicht unter der Herrschaft von europäischen Kolonialmächten stand. ASIEN Nur ein Saft unter vielen ist Blut für die Asiaten. In der traditionellen chinesischen Medizin ist Blut ein Energieträger der Ying-Gruppe. Die beiden Gegenpole Ying und Yang sind in der chinesischen Medizin die wichtigsten Faktoren für einen gesunden Körper und eine gesunde Seele. Ursache einer Krankheit kann eine Störung des Energieflusses Qi sein. Damit die Energie wieder ungehindert fließen kann, wird unter anderem Akupunktur angewandt. Ying-Elemente, also auch das Blut, werden bei chronischen Krankheiten untersucht. Bei akuten Beschwerden wird die Ursache bei YangOrganen, zum Beispiel dem Magen und der Gallenblase, gesucht. AUSTRALIEN Das Blut floss in Strömen, wenn die Azteken ihren Göttern Opfer brachten. Meistens wurden Kriegsgefangene, Sklaven oder Kinder getötet, um die Götter gnädig zu stimmen. Vor allem den Gottheiten der Sonne, der Toten, des Regens und des Stammes wurden solche Blutopfer dargebracht. Zu Ehren des Kriegs- und Sonnengottes schnitten Priester dem Todgeweihten bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust und legten es in geweihte, steinerne Opferschalen. Die Zuschauer verspeisten anschließend oft die Gliedmaßen der Toten. Die Götterbilder auf dem Tempel wurden dann mit dem Blut des Geopferten bemalt. Um den Kriegs- und Fruchtbarkeitsgott gnädig zu stimmen, zogen Priester den gefesselten Opfern bei lebendigem Leib die Haut ab und trugen diese mehrere Tage als Mantel. Mit diesem neuen Mantel des Priesters sollte das Gras als neuer Mantel für die Erde symbolisiert werden. Ein Bad in Menstrualblut als wirksames Mittel gegen Aussatz – klingt eklig, war aber im frühen Mittelalter gängige Praxis. Das Rezept stammt von der Äbtissin Hildegard von Bingen, die Blut bei verschiedenen Krankheiten als Heilmittel empfahl. So soll zum Beispiel das Blut aus dem Uterus einer Jungfrau schmerzende Gelenke, also die Gicht, lindern. Auch die Gebrüder Grimm berichten, dass ein Bad in dem Blut einer Jungfrau wahre Wunder wirken soll, denn schließlich, so die Begründung, sei dieses Blut noch so rein und voller Leben, dass es den kranken Körper reinigen könne. AFRIKA EUROPA Die „Beerdigung“ einiger Blutstropfen im Amazonas-Gebiet Mittelamerikas hat vor ein paar Jahren bei den Yanomami-Indianern für Aufregung gesorgt. Es ging um das Blut von Stammesangehörigen, denen vor einigen Jahren Blut entnommen worden war, um es auf Malaria zu testen. So hatte man es ihnen gesagt. Doch in Wirklichkeit wurden mit dem Blut Gen-Analysen durchgeführt, um die Ergebnisse im „Human Genome Diversity Project“ zu speichern, einer Art Datenbank, in der das Gen-Material von Naturvölkern gesammelt wird, die vom Aussterben bedroht sind. Die Gene, die unverfälschter als die zivilisierter Kulturen sind, sollen bei der Entwicklung neuer Medikamente und AIDS-Impfstoffe helfen. Doch für die Yanomami-Indianer fließt im Blut eines Stammesmitgliedes auch dessen Kultur und das Andenken an seine Ahnen. Deswegen forderten sie das entwendete Blut wieder ein, um es dem Amazonas, dem Ursprung des Lebens, zurückzugeben. SÜDAMERIKA MITTELAMERIKA Gestohlenes Blut und ermordete Sklaven Body-Painting der ganz besonderen Art gibt es in Australien: Bei den Ureinwohnern, den Aborigines, gehört eine Bemalung aus ockerfarbenem Lehm und Blut zu den spirituellen Tänzen. Männer malen mit Staub und dem Blut aus ihren Armvenen Muster auf ihre Körper, um die magnetischen Schwingungen der Erde besser spüren zu können. Dahinter steckt eine nüchterne chemische Erklärung: Blut und Ocker enthalten Eisenoxidverbindungen, die mit dem Erdmagnetismus wirken. Zellen und Moleküle richten sich parallel zu den Magnetfeldern aus. So und durch die tranceartigen Tänze sollen die Aborigines eine Verbindung zu den unsichtbaren Energiewelten herstellen können. EVA PALITZA TEILKULTUR CONTAINER 5 BLUTSPRITZER Verdammt scharf: Maria macht blau Obwohl die Verkleidung von Vampir Peter Eck furchterregend aussieht, verletzen sich die Akteure beim VampirRollenspiel nicht wirklich. Die Kämpfe spielen sich nur in der Fantasie ab und es geht hauptsächlich um Intrigen und Lügen. Manch einer schwört darauf, wenn er nach durchzechter Nacht mit einem Kater aufwacht: Die Bloody Mary. Ursprünglich bestand der Cocktail nur aus Wodka und Tomatensaft. Aus geschmacklichen Gründen verfeinerte man ihn später unter anderem mit Zitronensaft, Tabasco und Worcestersauce. Erfunden hat die Bloody Mary der Pariser Barkeeper Fernand Petoit in den 20er Jahren. Woher sie ihren Namen hat, ist bis heute allerdings nicht eindeutig geklärt. Einige führen ihn auf die englische Thronerbin Maria „Bloody Mary“ Tudor zurück. Andere glauben, Ernest Hemingway habe den Drink seiner Ehefrau Mary Welsh gewidmet. Verwendet man statt Wodka einen Schuss Tequila, nennt sich die Kreation „Bloody Maria“ — mit Rum heißt sie „Bloody Morgan“ und mit Reiswein „Bloody Geisha“. mf Anders gekleidet: Blutsgeschwister Eher die Bluse mit biederem Blumenretromuster und rosa Glitzergürtel, oder doch lieber Aschenbrödels märchenhafter Drei-Nüsse-Coat mit schräger Zipfelmütze? Das Stuttgarter Modelabel „Blutsgeschwister“ kleidet seit fünf Jahren Blutsschwestern zwischen 14 und 25 in respektlose Stilmixe antiquierter Blümchenmuster und hipper Kitschmode. Mittlerweile hat sich die ehemalige Indie-Marke einen breiten Kundenstamm aufgebaut: Der eigenwillige Blutsschwestern-Stil ist heute selbst für Bürokauffrauen schick und die Klamotten werden bis nach Israel verschifft. Blutsbrüder hatten bisher noch keine Fashion-Blutbank. Das soll sich jedoch mit einer Männerkollektion ändern: Ab Sommer 2007 sollen alle Winnetous und Old Shatterhands nur noch in Retrohemden reiten und ihren Durst mit der Blutsgeschwister-Feldflasche für fünf Euro stillen. rf BILD: CELEBRITIES ENTERTAINMENT Einfach pervers: Das KuscheltierMassaker Sie sind kleine, kitschig-plüschige Tierchen, heißen Flippy, Flaky oder Giggles und springen lachend und singend durch ihre bonbonfarbene Welt. Bis ihnen ein explodierender Mülleimer den Kopf zerfetzt. Die Happy-Tree-Friends polarisieren wie kaum eine andere Zeichentrickserie: Drohen ihre makabren Späße ein ganzes Genre zu pervertieren, oder ist es lustig, wenn sich ein Elch mit einem Löffel sein eigenes Bein amputiert? Ja, ist es. Zumindest für die Fans der Serie. Denn wer sich so etwas ansieht, hat einen gewissen Hang zum Sadismus, und anhand einer Comicserie darf er den auch ausleben. Schließlich ist bis heute noch kein Amokläufer bekannt, der wegen eines solchen Cartoons gleich ein Kuscheltiermassaker angerichtet hätte. Wem metzelnde Eichhörnchen aber zu niveaulos sind, der schaltet einfach ab. Und wer unter 16 ist am besten auch. mf BILD: MARKUS HACKL Vampire ohne Biss S VON Rollenspieler treffen sich einmal im Monat im Nürnberger Stadtpark BRIGITTE ZINTZ chwarze Decken umhüllen die Tische, Kerzen flackern und leise, klassische Musik erfüllt den Raum, in dem sich ein Dutzend Frauen und Männer versammelt haben und schweigend auf den großen, grimmigen Mann starren, der mit gefalteten Händen und gesenktem Blick an einem der Tische sitzt: Prinz von Bülow, der Mächtigste unter ihnen, der, der über Leben und Tod entscheidet, hat etwas zu sagen: „Ich möchte, dass Wunsdorf zu mir kommt.“ Ein junger Mann tritt in die Mitte, verbeugt sich tief und nimmt zitternd das Urteil des Prinzen entgegen: Ihm soll die Hand abgeschlagen werden. Was er getan hat, weiß keiner genau, aber das Urteil wird trotzdem ohne Widerrede vollstreckt. Ein schneller Hieb mit dem Messer, ein Schrei — Wunsdorf liegt ohnmächtig am Boden. Seine Hand hat er aber trotzdem noch, denn fast alles, was hier geschieht, geschieht in der Phantasie all derer, die sich jeden vierten Freitag im Monat im Kulturladen Nord in Nürnberg zum Live-VampirRollenspielabend treffen. Wenn sie sich sehen, fallen sie nicht nach Vampir-Manier übereinander her, denn mit Blutsaugen und Überfällen auf Passanten hat das Rollenspiel überhaupt nichts zu tun. „Wir sind Vampire, weil das erotische und grazile Wesen sind“, erklärt Peter Eck (30). schlägt eine Kirchturmuhr. Es ist Mitternacht. Kaum jemand ist zu dieser Stunde noch unterwegs. Peter, der als Industriemeister für Chemie arbeitet, leitet das Rollenspiel und so folgen ihm alle zunächst einmal nach draußen in den Park. Eine kurze Einweisung: „Kein Alkohol, keine Drogen“, und schon sind alle „In-Time“, also im Spiel. Als Spielleiter sorgt Peter dafür, „dass das Spiel läuft, wenn es einmal eingeschlafen ist.“ Mit kleinen Tipps hilft er den anderen auf die Sprünge, denn er ist der Einzige, der über jeden Charakter Bescheid weiß. Die anderen müssen sich dieses Wissen erarbeiten — am besten klappt das mit Hilfe von Intrigen und Lügen. Manchmal übernimmt Peter eine kleine Rolle oder er spielt einen Fremden, je nachdem, wie der Abend seinen Lauf nimmt. Aber darauf hat selbst er keinen Einfluss, denn das Spiel ergibt sich aus dem Moment heraus und immer sind es die Spieler selbst, die entscheiden, welche Richtung die Handlung einschlagen soll. Nach und nach verbreitet sich in der Gruppe das Gerücht, dass jemand aus einem feindlichen Clan im Park umherschleicht. „Das ist gar nicht gut“, bemerkt Jakob Miller. Er ist der Hüter des Elysiums und macht sich deshalb auf die Suche nach dem Feind. Ein paar andere folgen ihm. Miller ist ein vergesslicher, recht ängstlicher Regisseur in Anzug und mit Hut, ein Charakter, den sich Student Oliver vor zwei Jahren geschaffen hat. Miller und die anderen beratschlagen, was zu tun ist. Im Park ist es dunkel und kalt. Nur hier und da spendet eine Laterne ein wenig Licht. Einige ziehen die Mäntel enger um den Körper, andere halten die Arme verschränkt vor der Brust oder ziehen sich die Hüte tiefer in die Stirn. „Ich hab ihn da hinten gesehen. Am besten teilen wir uns auf und kreisen ihn ein“, sagt Vampir Markus, alias Harald. Und so streifen sie paarweise umher. „Das ist beunruhigend, äußerst beunruhigend“, flüstert Miller immer wieder. Sobald nur das kleinste Geräusch ertönt, sieht er sich ängstlich nach allen Seiten um. Der Wind fegt ihm beinahe den Hut vom Kopf, die Blätter rascheln. Aus der Ferne einen Herzfehler. Bisher waren bei keiner der Operationen Blutkonserven nötig. Lisa Sennholz, Ende 40, aus Schernfeld, lehnt Transfusionen ebenfalls ab. Sie ist genau wie ihre Glaubensschwester Gudrun König noch nicht ihr ganzes Leben Zeugin Jehovas. Bevor sie sich für die Glaubensgemeinschaft entschieden hat, war sie Katholikin und hat sogar selbst Blut gespendet. „Früher, da war das ganz normal, man kannte ja nichts anderes. Aber jetzt wissen wir, dass es x Alternativen zur Transfusion gibt.“ In den Publikationen der Glaubensgemeinschaft, zum Beispiel im Wachtturm, wird das Thema immer wieder aufgegriffen. Außerdem werden Zeugen, die vor einer Operation stehen, vom Krankenhausverbindungskomitee der Gemeinschaft beraten. Lisa Sennholz ist davon überzeugt, dass die Zeugen deswegen sehr gut Bescheid wissen: „Ich würde mich von keinem Arzt einschüchtern lassen, der sagt, die Chancen stehen so und so. Weil ich mir sagen würde: 'Ist der diesbezüglich so gut informiert wie ich?'“ Um ihre Ablehnung von Transfusionen deutlich zu machen, führt Lisa Sennholz immer das „Dokument zur ärztlichen Versorgung“ in ihrer Handtasche oder in einem Brustbeutel mit sich. Mit diesem amtlich oder notariell abgestempelten und somit für Ärzte verbindlichen Ausweis verweigern Zeugen Jehovas die Annahme von Vollblutspenden sowie von roten und weißen Blutkörperchen, von Blutplättchen und -plasma. „Wenn ein Zeuge bei Besinnung ist und kompromisslos Transfusionen ablehnt, muss sich der Arzt daran halten“, meint Dr. Josef Schmidramsl, leitender Oberarzt der Anästhesie der Klinik Eichstätt. Bei Operationen, die keine Notfälle sind, sei es für den Mediziner eine absolut freiwillige Sache, einen Zeugen zu behandeln. Schmidramsl behält sich zum Beispiel vor, Operationen bei Zeugen, bei denen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Blutkonserven benötigt werden, abzuweisen. Ein Arzt eines Augsburger Krankenhauses, der anonym bleiben will, geht ähnlich vor wie sein Kollege. Allerdings kann er die Einstellung der Zeugen grundsätzlich nicht unterstützen: „Ich lasse den Patienten nicht sterben wegen zwei, drei scheiß Blutkonserven.“ Er hat die Erfahrung gemacht, dass etliche Zeugen angesichts einer lebensbedrohlichen Situation doch Transfusionen annehmen. Oft käme diese Einsicht jedoch reichlich spät und die Heilungschancen seien dadurch beispielsweise bei Krebspatienten vermindert: „Der Tumor wächst und irgendwann merkt der Patient, dass in seinem Körper was passiert – dann will der Idiot doch Blut. Vorher wäre die Operation noch einfach gewesen, nach ein paar Jahren ist es die totale Katastrophe.“ Es gibt Momente, in denen die Ansichten der Zeugen Jehovas auch den Eichstätter Arzt Schmidramsl in Rage bringen. Zum Beispiel, wenn die Glaubensgemeinschaft kritisiert, dass sich viele Ärzte nicht mit Alternativen befassen und gewohnheitsmäßig auf Blutkonserven zurückgreifen würden. „Das halte ich für absoluten Quatsch und da ärgern mich solche Leute dann auch“, sagt Dr. Schmidramsl: „Wir geben ja nicht Blut, weil wir lustig sind, sondern weil es der Patient lebensnotwendig braucht.“ In der Situation, in der nur eine Blutkonserve Leben retten könnte, waren Gudrun König und ihr Sohn Samuel trotz aller Operationen noch nie. Doch was wäre, wenn das einzige, was Samuel am Leben halten könnte, eine Transfusion wäre? Gudrun König würde, so meint sie, wahrscheinlich trotzdem ablehnen: „Diese Entscheidung kann man nur treffen, wenn man absolut davon überzeugt ist, dass es noch ein anderes, ein ewiges Leben gibt, das man nur von Gott erhalten kann.“ Dieses ewige Leben ist für Gudrun König und die Zeugen Jehovas wichtiger als das irdische Leben. Gegen acht Uhr am Abend trudeln die Spieler ein. „Na, wie war euer Tag?“, fragt Chemielaborant Harald (24). Hausfrau Christiane (29) erzählt von ihrer Tochter, während Student Oliver (24) über das Mensaessen schimpft. Während sie miteinander plaudern, helfen sie alle den Kulturladen mit schwarzen Tüchern und Kerzen zum Elysium, dem Gemeinschaftsraum, zu verwandeln. Hier darf keine Kampfhandlung stattfinden, selbst wenn sich ein Feind im Elysium aufhält. Hin und wieder verschwindet einer nach draußen, um sich umzuziehen. Jeder hat sich einen eigenen Charakter geschaffen, eine Rolle, in die er mit dem Wechseln der Kleider schlüpft. Intrigen und Lügen bringen das Spiel in Gang Gemeinsam ringen die Spieler den Eindringling zu Boden In der dunkelsten Ecke des Parks, gleich neben dem Spielplatz, kreisen sie den Eindringling, den Spielleiter Peter mimt, ein. Sie stürzen sich auf ihn und ringen ihn schließlich zu Boden. Mit letzter Kraft greift Peter in seine Tasche und zieht eine Flasche Brandverstärker heraus, übergießt sich mit der Flüssigkeit, greift nach einer Pistole und drückt ab. Ein riesiger Feuerball erfasst die Vampire. Sie taumeln in alle Himmelsrichtungen davon und fallen erschöpft ins kalte, nasse Gras. Miller hat es gerade noch zu einem Baum geschafft, an dem er nun lehnt. Er atmet unregelmäßig, greift sich an die Brust, um zu zeigen, wie anstrengend der Kampf war. Er muss sich von dem Abenteuer, das sich nur in der Phantasie abgespielt hat, erst einmal erholen, ehe es weiter gehen kann. Egal wie kraftraubend das Spiel auch ist: Wenn Oliver zu Miller wird, sind diese Abende für ihn „wie Urlaub“, denn dann zählen die Nöte und Sorgen in seinem wirklichen Leben nicht mehr. Jetzt ist er Miller — und der hat andere Probleme. Weitere Informationen zum Spiel gibt es unter: www.blutsband.de Bei Blut sehen die Zeugen Jehovas rot VON JOHANNA KEMPTER Sie würde lieber sterben als eine Blutkonserve anzunehmen: Gudrun König aus Adelschlag ist Zeugin Jehovas. Die Glaubensgemeinschaft hat in Deutschland rund 164 000 Mitglieder. „Wir lehnen Bluttransfusionen ab, weil wir uns nach unserem Gott Jehova ausrichten und der nicht möchte, dass wir Transfusionen annehmen.“ Gudrun König hängt am Wehenhemmer-Tropf — ihr Kind soll per Kaiserschnitt auf die Welt kommen. Als der Narkosearzt den Kreissaal betritt, erfährt er, dass seine Patientin Zeugin Jehovas ist. Er weigert sich daraufhin zunächst, bei der Operation mitzuwirken. Schließlich lässt er sich aber doch umstimmen und wenig später wird Gudrun Königs Sohn Timo geboren. Heute weiß Gudrun König, dass sie — weil sie Transfusionen ablehnt — vor jedem Eingriff nicht nur mit dem operierenden Arzt, sondern auch mit dem Anästhesisten sprechen muss. Die 47-Jährige leidet an Gelenkrheuma und ist mittlerweile rund zehn Mal operiert worden. Auch ihr zweiter Sohn Samuel musste schon zwei Mal unters Messer: Der 14-Jährige hat 6 Mit Rost und Bratspieß für die Blutwurst G VON PETRA HEMMELMANN ewänder aus schwerem Samt: Rot wie Blut, weiß wie Speck und schwarz wie Blutwurst. Dutzende Robenträger reihen sich an diesem Märzsonntag auf dem Podium im Rathaussaal von Mortagne-au-Perche aneinander. Einer der Männer löst sich aus der Gruppe. Mit einem riesigen Bratspieß in der Hand schreitet er zum Bühnenrand, wo fünf Männer mit gesenkten Köpfen warten. Der Robenträger berührt mit geübtem Schwung zunächst den Kopf des Ersten mit dem Spieß, dann die linke und schließlich die rechte Schulter: „Bei Hiram, dem König von Tyr und den Phöniziern, den Erfindern der Blutwurst, bei Lucullus, dem Meister der Kochkünste, schlage ich Sie zum Blutwurstritter.“ Beifallrufe und Applaus – ein neuer Ritter der Blutwurst ist geboren. Die Confrérie des Chevaliers du GoûteBoudin, die Bruderschaft der Blutwurstritter, wurde 1963 in Mortagneau-Perche gegründet, einer kleinen Stadt in der Normandie, die schon seit dem Mittelalter als Hauptstadt der Blutwurst gilt. Jedes Jahr im März lädt die Bruderschaft zum internationalen Wettbewerb um die beste Blutwurst, an dem auch immer mehr deutsche Metzger teilnehmen. Im vergangenen Jahr stammten knapp hundert der 550 eingereichten Blutwurstproben aus Deutschland. Einige Metzger fahren sogar selbst nach Frankreich, weil sie der Bruderschaft beitreten wollen, wie Uli Schumann, 49-jähriger Metzgermeister aus Hannoversch Münden. Als Schumann 2003 erstmals am Blutwurstwettbewerb teilnahm, gewann er gleich eine Goldmedaille. Die Öffentlichkeit bekam davon schnell Wind: Schumann wurde interviewt, gefilmt und erhielt sogar ein Glückwunschschreiben aus dem Kanzleramt. Bereits im Jahr darauf erklomm er den Blutwurst-Olymp: Mit dem besten Gesamtergebnis aller Zeiten gewann er den Grand-Prix d’excellence und empfing den Ritterschlag. Jedes Jahr werden etwa vierzig Blutwurstbegeisterte auf Antrag oder Vorschlag zu Rittern ernannt, insgesamt hat die Bruderschaft mehr als 2000 Mitglieder. Die feierliche Aufnahmezeremonie findet Ende März im Rathaus von Mortagne statt. In kleinen Gruppen befragt Großmeister Jean-Claude Gotteri die Anwärter zunächst zu ihrer Motivation. Dann legen die Neulinge unisono den Inthronisationseid auf die Insignien der Bruderschaft ab: „Auf Rost und Bratspieß schwöre ich, dass ich für alle Zeiten und an allen Orten die Blutwurst von Mortagne verteidigen werde.“ Außerdem versprechen sie, mindestens einmal in der Woche Blutwurst zu essen. „Dieses falsche Versprechen gibt jeder anstandslos“, sagt Jean-Michel Eichelbrenner schmunzelnd. Der aus Deutschland stammende Professor gehört zum Vorstand der Bruderschaft. Als Zeichen der Liebe zur Blutwurst muss ein angehender Ritter schließlich eine Scheibe Blutwurst verkosten — „eine Parodie auf das Abendmahl“, wie Eichelbrenner erklärt. Dann erst tritt der Großmeister in wallender roter Robe hervor und erteilt mit seinem riesigen Bratspieß den Ritterschlag. Feldzug gegen Fertigfutter Eine eigene Robe bekommt der Neuritter nicht. Diese Ehre ist den Dignitaires, also den Männern und Frauen im Vorstand, vorbehalten. Weder unter den Dignitaires noch unter der Wettbewerbsjury findet sich ein aktiver Fleischer. „Uns verbindet die Leidenschaft für die Blutwurst — das genügt“, meint Eichelbrenner. „Vorstand und Jury der Bruderschaft bestehen ganz bewusst nicht aus Fachleuten, sondern aus Normalverbrauchern.“ Als Hauptziel der Bruderschaft sieht der 66-Jährige die Qualitätssicherung: „Die Confrérie macht gute Ware bekannt und fördert sie. Wir wollen verhindern, dass traditionelle Spezialitäten verloren gehen. Wenn wir nicht aufpassen, bekommen wir bald nur noch Fertigfutter.“ Beim Blutwurstwettbewerb werden die Produkte daher sorgfältig begutachtet. Die Bewertung erfolgt nach drei Kriterien: „Die Wurst muss den Augen Freude machen, frisch duften und natürlich gut schmecken.“ Feierlich umrahmt wird der Wettbewerb durch das Blutwurstfest La Foire au Boudin. Zum Auftakt am Samstag marschieren bis zu 30 Bruderschaften in Trachten durch die Innenstadt. Eine Blaskapelle untermalt den Festzug mit dem Lied „Tiens, il y a du Boudin — Ei, heute gibt’s Blutwurst“. Bis Sonntag bewertet die Jury die Würste, am Abend folgt dann der Höhepunkt des Wochenendes: Jean-Michel Eichelbrenner gibt die Tische frei. „Die Leute stehen schon mit Plastiktüten da und wetzen die Messer. Dann drehe ich mich kurz um und wenn ich wieder hinschaue, sind die Tische leer. Gerade die deutschen Blutwürste sind sehr beliebt.“ Während die Wettbewerbsteilnehmer vor einigen Jahren noch hauptsächlich aus Frankreich, Deutschland und Österreich stammten, ist die Konkurrenz mittlerweile international. „Wir haben Wurst aus Belgien, den Niederlanden, England, Irland, Italien, Spanien und sogar von den Antillen zu bewerten“, so Jean-Michel Eichelbrenner. Andere Länder, andere Geschmäcker Egal woher die Wurst kommt — ihre Grundmasse ist überall ähnlich. Glibberig glänzender Speck und gekochte Schwarten werden durch den Fleischwolf gedreht. In die haferschleimartige Masse mischt der Metzger Salz, Zwiebeln, Pfeffer, Zucker, Nelken, Piment und duftendes Majoran. Dann kippt er Blut in den weiß-gelben Brei und mischt alles mit den Händen durch. Ist der rötliche Wurstteig fertig, wird er in eine Portioniermaschine gefüllt. Perfekt abgemessen schießt die Maschine die Blutmasse in Naturdärme. Dunkle, etwas unregelmäßige Würste entstehen. Bei etwa 80 Grad müssen die Blutwürste eine gute Stunde ins Wasserbad, anschließend können sie noch geräuchert werden. Da darf’s auch ein bisschen mehr sein: Deutsche Blutwurst. BILD: PETRA HEMMELMANN Im Gegensatz zur französischen Blutwurst werden der deutschen meist Einlagen wie Fleischstücke beigemischt. Ein weiterer Unterschied: Während die deutsche Blutwurst oft kalt verzehrt wird, grillen Franzosen ihre Würste grundsätzlich. Blutwürste deutscher und französischer Art treten daher beim Wettbewerb in zwei unterschiedlichen Kategorien an. In einer dritten Sparte werden innovative Kreationen verkostet. Hier ist Uli Schumann mit seinen Ideen genau richtig: Ob Blutwurst mit Apfel-Calvados, Roquefort, Pfifferlingen oder Pflaume — die Kreativität des Metzgermeisters kennt kaum Grenzen. Freilich ist da nicht jede Kombination ein Geniestreich und so manches Experiment landet am Ende nicht in der Auslage, sondern im Abfall. Beim Blutwurstwettbewerb 2006 gelang Uli und seiner Frau Eveline jedoch der große Coup: Blutwurstpralinen bescherten ihnen Gold. P A N O R A M 7 A Blutrotes Packeis: Robbenjagd in Kanada BLUTSPRITZER Der blutigste Ort der Welt Das Blut klebt ihr noch auf der Stirn: Diese Sattelrobbe wurde eben in Kanada gekeult. Über 300 000 Robben werden jährlich wegen ihres Pelzes getötet. Bereits ab dem zwölften Lebenstag sind die Jungtiere zur Jagd freigegeben und zu langsam, um den Knüppeln und Gewehren der Jäger zu entkommen. Noch auf dem Eis werden die toten Tiere gehäutet, die Kadaver bleiben in der Eiswüste zurück. Der International Fund for Animal Welfare (IFAW) berichtet zudem, dass einige Robben noch am lebendigen Leib gehäutet werden. Um gegen dieses sinnlose Abschlachten anzukämpfen, hat die Deutsche Bundesregierung im Oktober 2006 ein nationales Handelsverbot für Robbenprodukte beschlossen. Kanadische Wissenschaftler schätzen dennoch, dass der Bestand an Sattelrobben bis 2011 um 30 Prozent zurückgehen wird. Das Kolosseum in Rom, Gladiatorenstätte und Schauplatz von Hinrichtungen — ein Ort mit blutiger Vergangenheit. Die Mitglieder des Kaiserhauses richteten grausame Spiele aus: Tiere wurden aufeinander gehetzt und Gladiatoren kämpften gegeneinander. Sogar Seeschlachten wurden nachgespielt. Jeder freie Bewohner Roms hatte kostenlos Zutritt zum Kolosseum. Zu fast allen Spielen gehörte auch die Hinrichtung von Verurteilten, viele wurden wilden Tieren zum Fraß vorgeworfen. Historiker schätzen, dass im Laufe der Jahrhunderte etwa 500 000 Menschen im Kolosseum starben. Im 18. Jahrhundert ließ Papst Benedikt XIV. an dem Ort ein Kreuz aufstellen, wo der frommen Legende nach Tausende Märtyrer ihr Leben für das Christentum hingaben. Bis heute findet dort an jedem Karfreitag eine Prozession „Du kennst und liebst sie als Tante” BILD: IFAW Ohne Schloss und Hofstaat: Der Prinz von nebenan E VON Fritz von Thurn und Taxis macht sich als Sportmoderator einen Namen KATHARINA STRODTKÖTTER in ganz normales Haus, eine ganz normale Wohnung. Alles in dieser Straße im Münchner Stadtteil Bogenhausen deutet auf ein ganz normales Leben hin. Höchstens das goldene Klingelschild an der Tür lässt erahnen, wer hinter den Mauern wohnt, obwohl hier nur ganz schlicht geschrieben steht: „Thurn und Taxis“. Fritz von Thurn und Taxis macht es sich in dem roten Sessel im Wohnzimmer bequem. Er zieht die Hosenbeine hoch und schlägt die Beine übereinander. Eigentlich wirkt auch er ganz normal, doch er ist das, wovon jedes kleine Kind träumt: Ein echter Prinz. 1950 wird Fritz von Thurn und Taxis in Linz an der Donau geboren. Er stammt aus der zweiten Linie des Fürstenhauses. „Wir standen immer im Schatten der Regensburger, weil die einfach mehr Geld hatten“, sagt der 56-Jährige, zieht an seiner Zigarette und taucht gedankenverloren in die Vergangenheit ab. Als Fritz fünf Jahre alt ist, bekommt sein Vater eine Stelle als Geschäftsführer in einer Firma in München und so zieht er zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern von Österreich nach Deutschland. Der Vater stirbt sehr früh und die Mutter hat es sehr schwer, alleine mit drei Kindern über die Runden zu kommen. „Meine Mutter hatte mehrere Jobs und Verwandte unterstützten uns noch.“ Als Fritz von Thurn und Taxis in die Schule kommt, muss er einiges über sich ergehen lassen. „Als Kind war mein Name für mich sehr belastend, weil jeder in Bayern wusste, wer ich war.“ Vor allem durch die er- verabschiedet sich dann mit einem ste Linie aus Regensburg ist sein Fa- liebevollen Kuss von ihrem Mann. milienname in Bayern vielen ein Die beiden haben vor 30 Jahren geBegriff. So ist es für seine Mitschüler heiratet. Bea stammt aus einer ungaunverständlich, dass ein Prinz in ei- rischen Adelsfamilie. Kennen gelernt ner ganz normalen Wohnung lebt. haben sie sich auf dem Standesher„Auf der einen Seite der Titel, auf der renball in München. Traditionell feianderen Seite die Realität. Das war ern einmal im Jahr alle deutschen schon eine große Diskrepanz, die da Fürstenhäuser zusammen. „Meine zum Tragen kam, aber da muss man Frau musste nicht aus dem gleichen halt durch.“ Und das musste er noch Stall sein, aber so waren wir direkt auf einer Wellenlänge“, besonders einige Jahre. In den 70ern kommt er nach dem was die Kleidung, das Benehmen Abitur durch einen Bekannten in die und die Sprache betrifft. „Wenn man Redaktion des Bayerischen Rund- in diesen Kreisen verkehrt, ist es sehr funks. Auch dort begegnen ihm Kol- wahrscheinlich, dass man da dann legen mit Misstrauen und Missgunst, auch seinen Partner trifft“, sagt er weil sie nicht verstehen, warum ein und beugt sich zum gläsernen Prinz arbeitet. „Es hieß, dass ich an- Couchtisch in der Mitte vor. Neben deren Leuten den Arbeitsplatz weg- einer goldumrandeten Gebäckschale nehmen würde. Das war für mich steht ein grün-goldenes Teeservice. völlig überraschend, weil für mich Er gießt sich etwas Tee ein und trinkt von Anfang an klar war, dass ich einen Schluck. Zu Beginn seiner journalistischen Geld verdienen muss, um leben zu Laufbahn intereskönnen. Es war nie sierte sich vor allem die Rede davon, zu die RegenbogenHause zu bleiben!“ „Als Kind war mein presse für den BlauBekannt wurde blüter. Viele Fritz von Thurn Name für mich sehr Homestorys wurund Taxis dann als den über ihn geSportmoderator im belastend.” schrieben und die Bayerischen FernReporter stellten in sehen. Seit 1993 arFrage, ob es nötig beitet er als sei, dass man einen FußballkommentaPrinzen als Moderator auch noch im tor bei dem Sender Premiere. Trotz aller Höhen und Tiefen ist er Fernsehen sah. „Im Grunde ist es so…“ Fritz von heute zufrieden mit seinem Namen und seinem Titel. Verleugnet habe er Thurn und Taxis räuspert sich, überbeides trotz vieler Probleme jedoch legt kurz und fängt noch einmal an. noch nie. „Ich habe ihn halt mit über- „Im Grunde vereinige ich zwei Welnommen und fühle mich mit ihm ten. Auf der einen Seite meinen Beruf und auf der anderen Seite den Adel. verbunden.“ Fritz von Thurn und Taxis` Frau Ich lebe also praktisch zwei Leben.“ Bea kommt ins Wohnzimmer und Nach kurzem Zögern fügt er hinzu: serviert den frisch aufgebrühten Tee, „Aber trotz der zwei Leben habe ich trinkt noch schnell eine Tasse und nur ein Gesicht.“ Blaues Blut HINTERGRUND Der Begriff „blaues Blut“ stammt aus Spanien, wo die Adligen meist viel hellhäutiger waren als die Bauern, die den ganzen Tag draußen in der Sonne arbeiteten. Die Adligen dagegen waren meist im Haus. Draußen schützten sie sich vor der Sonne, denn blass zu sein galt als vornehm. Durch die helle Haut adliger Leute sah man die Venen blau hindurch schimmern, als ob das Blut blau wäre. Das hinterließ den Irrglauben, dass durch die Adern des Adels blaues Blut fließt. Im deutschsprachigen Raum ist der Ausdruck seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt Bully statt Butler: Fritz von Thurn und Taxis macht es sich mit seiner französischen Bulldogge Kesbe auf der Couch bequem. BILD: KATHARINA STRODTKÖTTER statt, in der der christlichen Märtyrer gedacht wird. Das Kolosseum in seiner steinernen Form wurde im Jahr 80 nach Christus fertig gestellt, finanziert unter anderem durch die Plünderung des Tempels von Jerusalem. Erst im Jahr 523 fanden keine Spiele mehr statt. Während der Rückeroberungskriege verfiel das Kolosseum. An diesem Ort, an dem jeden Tag viel Blut vergossen wurde, erinnerte Papst Benedikt XVI. während des Kreuzwegs 2006 am Kolosseum nicht nur an die Leiden Christi, sondern auch an die Leiden, die Menschen in der ganzen Welt täglich erdulden müssen. Auch der Islam kennt so einen Gedenktag. Am zehnten Tag im Muharram gedenken die Schiiten des Märtyrertods des Prophetenenkels Hussain. Teils kommt es dabei zu blutigen Selbstkasteiungen. fb H VON Eva Maria Chwalek hat im Alter von 18 Jahren erfahren, dass ihre Tante Heidel eigentlich ihre leibliche Mutter ist MARIE-CAROLINE CHLEBOSCH astig öffnet Eva die Tür der Kommode im Schlafzimmer ihrer Mutter. Sie nimmt die Metallbox heraus, in der die Eltern alle wichtigen Dokumente aufbewahren, und öffnet sie. Das Abiturzeugnis, das sie sucht, liegt oben auf. Schnell die Box wieder zu und ab zum Bewerbungsgespräch bei der „Vereinigten Industriegesellschaft Oberschlesien“. Doch etwas blockiert den Verschluss des Metallkästchens: ein vergilbtes Blatt Papier. Eva nimmt den Zettel und faltet ihn auseinander: „Adoptionsschein von Eva Maria Chwalek. Die Minderjährige Eva wird in Pflege gegeben bei Gerhard und Rosalie Chwalek…“ „Eva, komm wir sind spät dran“, schallt der Ruf der Mutter ins Schlafzimmer. Schnell faltet Eva das Papier zusammen und steckt es zurück. Die Gedanken rasen ihr durch den Kopf: „Wie ist das möglich? Wie kann das sein? Adoptionsschein? Was hat das zu bedeuten? Warum steht da mein Na- me?“ Es ist der 13. Juli 1970. Eva ist achtzehn Jahre alt. Am 26. November 1951 kommt Eva in einem Krankenwagen in Hindenburg in Oberschlesien zur Welt. Drei Monate später gibt die Mutter das Baby ihrem Bruder. Die junge, alleinstehende Frau ist nicht in der Lage, sich um ihr Neugeborenes zu kümmern. Sie ist krank. Der Vater des Kindes hat sie verlassen. Erst eine Woche später erfährt Eva, wer ihre leibliche Mutter ist „Ich habe an dem Tag, als ich die Adoptionspapiere gefunden habe, den Namen meiner leiblichen Mutter noch nicht gelesen. Erst eine Woche später, als ich allein zu Hause war, habe ich mir die Unterlagen genauer angesehen und gemerkt, dass meine Mutter Adelheid Chwalek heißt — meine Tante Heidel. Es ist bitter, wenn du erfährst, dass deine Tante deine Mutter ist. Du kennst sie und du liebst sie als Tante. Ich bin ja mit ihr aufgewachsen. Ich habe mit ihren Söhnen gespielt, ohne zu wissen, dass es meine Brüder sind. In den Sommerferien war ich immer zwei Wochen bei ihr. Sie ist ja meine Tante, wir sind eine Familie.“ Evas braune Augen werden glasig. Sie nimmt die Brille ab und fährt mit der Hand an den Lidern entlang. Dann rührt sie den Zucker vom Boden der fast leeren Kaffeetasse. „Ich habe meine Entdeckung für mich behalten. Ich hätte nie etwas gesagt. Aber zwei Jahre später komme ich nachts nach Hause und höre meine Mutter im Schlafzimmer weinen. Als ich sie frage, was los ist, sagt sie, dass sie mir etwas gestehen muss, seit zwanzig Jahren schon. Ich falle ihr ins Wort: `Wenn du mir sagen willst, dass du nicht meine Mutter bist, das weiß ich schon längst. Es ist mir nicht wichtig. Du bist doch meine Mama. Du bist es und warst es immer.´ Da hab ich zum ersten Mal darüber geredet und auch erfahren, warum ich weggegeben wurde.“ Eva starrt aus dem Fenster, hält kurz inne und erzählt weiter: „Für Tante Heidel war es schwer. Sie war krank und erst zwanzig Jahre alt, als sie das Kind bekam. Sie und ihre drei Geschwi- Bluttaufe eines Restaurators: Ochsen machen Farbe streichzart VON ANGELIKA BECK Wer einmal durch einen Ort mit Fachwerkhäusern gegangen ist, dem sind bestimmt schon die roten oder rötlich-braunen Balken aufgefallen, von denen es heißt, sie seien in Ochsenblut getränkt. Dirk Knüpfer, Restaurator vom Freilandmuseum in Bad Windsheim hat getestet, ob Ochsenblut tatsächlich für das Streichen von Fachwerkbalken geeignet ist. „Jetzt müssen wir das irgendwie zusammenrühren.“ Dirk Knüpfer geht an Metalldosen, Bürsten und Pinseln vorbei zu einem Stahlschrank und holt eine alte Weinflasche mit Leinöl für die Ochsenblutfarbe hervor. „Wenn ich’s im Außenbereich anwenden will, habe ich so eine bessere Wetterresistenz.“ Knüpfer, der sich tagtäglich mit dem Fachwerk beschäftigt, bezweifelt, dass der Versuch gelingen wird: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Blut genug bindet.“ Bad Windsheimer Passanten haben da keine Bedenken. Sie teilen die weit verbreitete Auffassung, dass Fachwerkbalken über Jahrhunderte hinweg mit Ochsenblut bestrichen wurden und so ihren rotbraunen Farbton bekommen haben: „Heutzutage wird mit Farbe ge- Also, man nehme zuerst den Kalk…“ Er strichen, aber früher ist Rinderblut ver- greift nach einem Spachtel und mischt wendet worden“ oder „Rinderblut war den Kalk erst mal in einem großen Eidas früher, da hat es die Chemie noch mer durch. Nach ein paar Sekunden nicht so gegeben“ ist da zu hören. Auch gießt er vorsichtig das Blut in den Kalk. der Maler Erwin Sieund ist sich sicher: Dann rührt er die rote, quarkartige „Früher haben die nur mit Ölfarbe oder Masse kräftig mit einem Pinsel um und lächelt dabei verschmitzt. „Mhh… das mit Ochsenblut gestrichen.“ Bauforscher sind sich dagegen einig, ist schon ganz schön eklig.“ Für die alten Germanen bedeutete dass Blut nie als Farbe diente, sondern nur als organisches Bindemittel. Die Ochsenblut nicht Ekel, sondern Stärke, vorhandenen Proteine machen es mög- Leben und Schutz: In manchen Gegenlich. Zusammen mit Kalk ergeben die den Deutschlands war es vor rund 1500 Proteine eine nahezu unlösliche Verbin- Jahren üblich, dass zur Hochzeitsfeier ein Ochse geschlachtet und anschliedung. In der Werkstatt von Restaurator ßend die Türpfosten und die Schwelle Dirk Knüpfer, die mitten im Freiland- mit dessen Blut eingestrichen wurden. Nach der Feier trug museum steht, der Bräutigam seine herrscht für AußenBraut durch diese stehende ein heillo„Mhh... das ist schon Tür zum Vollzug der ses Durcheinander. Ehe. Der sparsam eingeganz schön eklig.” Dirk Knüpfer legt richtete Raum steht den Pinsel, mit dem voll mit alten Gurer eben noch gerührt kengläsern, Gehat, zur Seite und wichten, Farbpigmenten in Säckchen auf Stahlre- kippt nun die eigentliche Farbe, das so galen und Ordnern mit Bildern von al- genannte Eisenoxid in den Eimer. Daten Fassaden. Dazwischen liegt Dirk nach verdünnt er die rote Brühe mit eiKnüpfers Werkzeug: Hammer, Lappen, nem Schuss Wasser: „Jetzt haben wir eine Staubmaske und Wattebäusche. eine streichbare Farbe.“ Der blumige, Der 30-Jährige stellt Rinderblut, Nel- heuartige, aber gleichzeitig auch bittere kenöl, Sumpfkalk, Eisenoxid, Kalkwas- Geruch des Leinöls überdeckt inzwiser und Leinölfirnis auf den Tisch und schen den metallischen Geruch des Bluwiegt alles ab: „Soll ich mal loslegen? tes. ster, also auch mein Papa, waren Vollwaisen. `Bevor das Kind zu einem Fremden kommt, nehme ich es´, soll ihr Bruder damals gesagt haben.“ Wieder füllen sich ihre Augen mit Tränen. „Meine leibliche Mutter habe ich aber niemals auf das Thema angesprochen. Tante Heidel wollte mal mit mir darüber reden, aber ich konnte das nicht. Ich hab doch Eltern gehabt und war glücklich gewesen.“ Die Wut steigt in Eva auf, als sie sieht, wie liebevoll ihre Mutter das Neugeborene wiegt Eva nimmt einen Kugelschreiber in die Hand und beginnt damit Kreise auf ein leeres Blatt Papier zu zeichnen. „Ich denke der Mensch wird so, wie er erzogen wird. Wird er in einer liebenden Familie groß, mit einem christlichen Hintergrund, dann ist es doch egal, wer die Eltern sind. Das Kind braucht nicht zu wissen, dass es adoptiert ist, denn es dauert Jahre, bis man mit dem Schmerz fertig wird. Es gab nur einen Moment, da hat es mir fast das Herz zerrissen. Einer meiner Brüder, Adrian, hatte seine erste Tochter bekommen. Die ganze Familie war versammelt und Tante Heidel hielt das Kind den ganzen Tag in ihrem Arm. Sie sang ihm vor, wiegte es in den Schlaf und legte es liebevoll und behutsam in die Wiege. Da hab ich mir gedacht: So klein war auch ich damals und du hast mich einfach weggegeben und jetzt kümmerst du dich, als wärst du die Mutter. Da war ich wütend und enttäuscht, wollte sie anschreien, aber das ist deine Mutter und du kannst es dann nicht.“ Seit damals hat Eva kaum noch Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter. Das Blatt vor ihr ist halb gefüllt mit Kreisen und Sternen. Eva legt den Stift beiseite und atmet einmal tief ein: „Trotz all dem Schmerz habe ich Tante Heidel verziehen. Ich möchte auch nochmal mit ihr sprechen. In diesem Jahr wird sie 77 Jahre alt, das wäre vielleicht eine gute Gelegenheit. Ich will es versuchen — wer weiß, wie viel Zeit uns noch bleibt.“ Restaurator Dirk Knüpfer streicht das Fachwerk eines alten Hauses mit Ochsenblut. Zuvor hat er die Farbe an einem Balken getestet. BILD: ISABELLE MODLER Vor allem in ländlichen Gegenden Süddeutschlands und der deutschen Schweiz wurde bis ins 19. Jahrhundert Ochsenblutfarbe benutzt. In fast jedem Bauernhof war im Keller Kalk gelagert, zum Beispiel zum Streichen des Stalles, denn Kalk hat eine desinfizierende Wirkung. Das Blut fiel beim Schlachten an, aber nicht nur von Ochsen, denn jedes beliebige Blut kann als Bindemittel benutzt werden. Das farbgebende Eisenoxid war als Abfallprodukt aus dem Lehmabbau günstig zu beschaffen. Dieser Rostton wurde vor allem in Franken gerne verwendet. Mit dem Eimer voller Farbe in der Hand geht Dirk Knüpfer aus seiner Werkstatt in den Innenhof des benachbarten Fachwerkbaus, der um das Jahr 1600 errichtet wurde und heute als Sitz der Museumsverwaltung dient. An einer Mauer gelehnt steht bereits der gut einen Meter lange, alte Holzbalken zum Anstreichen bereit. Knüpfer geht in die Knie, taucht seinen Pinsel in die Farbe, und beginnt eine Seite des Balkens zu streichen. „Das macht jetzt schon einen sehr roten Eindruck, ziemlich deckend. Rot ist es aber nicht durch Blut, sondern durch das Eisenoxid, das Pigment, was wir mit reingegeben haben.“ Das Bindemittel aus Blut und Kalk würde sich ohne das Pigment stark ins Bräunliche verfärben. „Man kann es leicht aufstreichen, es fließt leicht vom Pinsel… sehr angenehm.“ Sein Fazit: „Sehr einfach herzustellen und sehr gut zu verwenden. Das war jetzt meine Bluttaufe.“ 8 MEDIEN „Es bockt schon mehr, wenn Blut spritzt“ CONTAINER Gegner töten, Kriege führen: Reizt den Computerspieler das intensive Spielerlebnis oder doch das Pixelblut? E VON UND FABIAN BEHRENDS CHRISTIAN ROMAN r folgt dem Lichtkegel seiner Taschenlampe, der durch den Korridor tanzt. Schritte. In den Händen hält er ein Schrotgewehr. Er weiß: Hinter der nächsten Ecke lauert ein bewaffneter Wachmann. Er stürmt um die Ecke und noch ehe der Wachmann die Möglichkeit hat zu reagieren, klickt der Abzug. Eine Blutwolke füllt den Bildschirm. Der Spieler hat keine Zeit über den Tod des Gegners nachzudenken, denn schon stürmt der nächste Wachmann auf ihn zu. Blitzschnell zieht der Spieler zwei Pistolen und zielt: Zwei Kugeln in die Brust und der Wachmann geht zu Boden. Hinter ihm tropft Blut von der Wand. Bernhard lacht und verdreht die Augen: „Das ist so vollkommen überzogen, dass es schon wieder witzig ist.“ Der 18-jährige Schüler sitzt mit vier Auszubildenden auf einer Parkbank. Soeben haben die Jugendlichen einen Ausschnitt aus dem Computerspiel F.E.A.R. gesehen. Über den Bildschirm des Laptops lief erst eine blutige Version des FirstPerson-Shooters dann eine zensierte Version, in der die Gegner unter Beschuss verschwinden und kein Blut verlieren. „Also wenn ich zwischen den Versionen wählen sollte, würde ich mich für die unzensierte entscheiden. Die finde ich lustiger. Es ist doch nur ein Spiel und nicht echt“, sagt Johannes, 16 Jahre alt und rollt ein Zigarettenpapier gedankenverloren zwischen den Fingern. Schließlich fügt er hinzu: „Ich würde mich aber wahrscheinlich auch an die zensierte Version gewöhnen und es wäre mir dann irgendwann egal, ob Blut fließt oder nicht.“ Der 15-jährige Florian schüttelt ungläubig den Kopf: „Mir ist die ungeschnittene Fassung einfach zu krass. Das viele Blut wirkt absolut unnormal. Ich mag eher realistische Spiele wie Fußball-Simulationen.“ Der 16-jährige Stefan findet, dass ein Actionspiel nicht vom Blut, sondern von glaubwürdigen Charakteren und einer packenden Geschichte lebt. Er drückt die Wiedergabetaste und sieht sich erneut die unzensierte Version an: „Aber es bockt schon mehr, wenn ordentlich Blut spritzt.“ Die Ansichten zum Pixelblut in Computerspielen gehen in Spielerkreisen weit auseinander. Wenige reagieren mit Unverständnis, für die Mehrheit gehört es schlichtweg dazu. D VON LENA WILDE Adrenalinstoß mit blutigen Folgen: Im Computerspiel F.E.A.R. erschießt der Spieler einen gegnerischen Wachmann. Diese Spieler beschwören immer wieder, dass die Blutdarstellung sie nicht berührt, doch Wissenschaftler halten dagegen. „Rot ist eine Signalfarbe, der Mensch reagiert also sehr stark auf Blut. Es löst zum Beispiel Angstzustände aus“, erklärt Dr. Bert te Wildt, Oberarzt an der Medizinischen Hochschule Hannover. Seit Ende seines Medizinstudiums beschäftigt sich der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit den Wirkungen der Medien auf den Menschen. „Im Gegensatz zu Filmen agiert der Spieler in Computerspielen selbst“, erläutert Dr. te Wildt. Beson-ders intensiv erlebt der Spieler das Geschehen dabei in den so genann-ten First-Person-Shootern, in denen der Spieler die virtuelle Welt aus der Ich-Perspektive betrachtet und die Waffe in den unteren Bildschirmaus-schnitt hineinragt. Der Blutdruck steigt — die Atmung wird schneller Das populärste Spiel dieser Art ist Counter-Strike, eine Art virtuelles Räuber-und-Gendarm-Spiel. Spezialkräfte der Polizei müssen Geiseln befreien und Bomben entschärfen. Die Terroristen hindern sie daran. Counter-Strike-Spieler behaupten häufig, dass Blut nicht wichtig ist und stattdessen die Taktik im Vordergrund steht“, sagt Dr. te Wildt. Diese Argumente seien nur vorgeschoben, in Wahrheit treibe den Spieler der Blutrausch, ein niederer Instinkt, an. Gerät der Spieler in einen heftigen Schusswechsel, erhöhen sich Puls und Blutdruck, die Pupillen weiten sich und die Atmung wird schneller. Der Adrenalinausstoß sei vergleichbar mit der Wirkung einer Droge. Fabian Siegismund sieht das anders. Der Redakteur der Computerspiele-Zeitschrift GameStar und Experte für Actionspiele und TaktikShooter entgegnet: „Für den Außenstehenden stellt sich ein blutiger Shooter ganz anders dar als für den Spieler selbst.“ Im Eifer des Gefechts konzentriert sich der Spieler auf verschiedene Faktoren: Er sucht nach Deckung, nimmt den Gegner unter Beschuss und behält dabei die Munitionsanzeige im Auge. Wer da zu sehr auf die Darstellung des Blutes achtet, läuft Gefahr, nach kurzer Zeit den virtuellen Tod zu sterben. Der Aspekt der Verletzbarkeit ist laut Aussage des Psychiaters nicht zu unterschätzen. „Wenn die eigene Spielfigur verletzt wird, wühlt es den Spieler mehr auf“, erläutert er. Allerdings spielt sich dieser Vorgang im Unterbewusstsein ab. Dr. Bert te BILD: VIVENDI GAMES Wildt vergleicht die unbewusste Reaktion auf das Blut mit der Blutabnahme: „Da ich stark konzentriert bin, fällt es mir leicht.“ Den natürlichen Ekel vor dem Blut verbannt er dabei in sein Unterbewusstsein. Ähnlich konzentriert sich der Spieler, wenn er die Computergegner tötet. Er wird ebenso unbewusst emotional berührt. Hier sieht der Facharzt die Gefahr, dass Spieler von First-Person-Shootern verrohen könnten. Auch die immer realistischeren Bilder eines Computerspieles und die damit verbundene Darstellung des Pixelblutes werden häufig kritisiert. Ein Verzicht auf fotorealistische Grafik hält Redakteur Fabian Siegismund jedoch für unsinnig: „Man würde der Autoindustrie auch nicht untersagen, leistungsfähigere Fahrzeuge zu entwickeln, nur weil damit eventuell mehr Unfälle passieren.“ Doch es gibt auch Grenzen: Im Jahr 2002 löste ein Actionspiel heftige Diskussionen in der Spieleszene aus. In dem First-Person-Shooter Soldier of Fortune 2 legten die Entwickler besonderen Wert auf explizite Gewaltdarstellung und vernachlässigten den Level-Aufbau sowie jegliche StoryElemente. Den Entwicklern schien es wichtiger, jeden Gegner in verschiedene Trefferzonen einzuteilen. Warf Krieg als Abenteuer für’s Auge der Spieler etwa eine Handgranate nach dem Gegner, so riss ihm die Explosion ganze Körperteile ab. „Geschmackloses Gesplatter“, findet Siegismund. Um einer Indizierung durch die Bundesprüfstelle für Jugendgefährdende Medien zu entgehen, modifizieren viele Entwickler ihre Spiele für den deutschen Markt. Manchmal mit kuriosen Folgen: So verlegten die Entwickler des Strategiespiels Command & Conquer das Szenario in ein Paralleluniversum. Statt Soldaten bekämpfen hier Roboter einander, die nach einigen Treffern Ölflecken hinterlassen und entsprechend nicht nach dem Sanitäter, sondern nach einem Mechaniker rufen. Der deutschen Version von Soldier of Fortune 2 begegnete die Spielgemeinde mit Unverständnis. Die Entwickler hatten die menschlichen Gegner in Roboter mit albernen Schweißnähten und Nieten im Gesicht verwandelt. Treffer werden nicht mehr durch eine Blutfontäne angezeigt, sondern durch Funken. Außer den Splattereffekten wies Soldier of Fortune 2 jedoch keinerlei Besonderheiten auf. Folglich schenkte niemand der entschärften Fassung Aufmerksamkeit. Grüne Spritzer statt rotem Blut: Augenwischerei der Entwickler? „Letztendlich sind diese Änderungen doch nur Augenwischerei um einer Indizierung zu entgehen“, wirft der Psychiater Bert te Wildt den Entwicklern vor: Bei dem Spieler stelle sich lediglich ein Verfremdungseffekt ein. „Der Spieler, der über einen längeren Zeitraum grünes Blut im Spiel betrachtet, gewöhnt sich und stört sich irgendwann nicht mehr daran“, erläutert Dr. te Wildt. Ähnlich sieht das auch Fabian Siegismund: „Natürlich versteht man auch grünes Blut als Blut — als Zeichen dafür, dass offensichtlich etwas mit der strukturellen Integrität des Körpers nicht so recht in Ordnung ist.“ Allerdings ist der Redakteur der Meinung, dass diese simple Umfärbung dem Spieler hilft, sich leichter von Gewaltszenen zu distanzieren. In der Eröffnungsszene des Kinofilms Men in Black beispielsweise schießt der Schauspieler Tommy Lee Jones auf einen Außerirdischen, der daraufhin zerplatzt und alle Umstehenden von Kopf bis Fuß mit blauem Schleim bedeckt. Fabian Siegismund ist sich sicher: „Das blaue Blut wirkt ungewohnt und deshalb komisch. Mit rotem Blut würden wir die Szene sicher anders aufnehmen.“ Die Würde des Menschen im Sucher — Kriegsberichterstattung im deutschen Fernsehen as Bild der 9-jährigen Kim Phuc ist weltweit bekannt: Auf der Flucht vor Napalmbomben rannte das vietnamesische Mädchen um ihr Leben, ihre brennenden Kleider hatte sie in ihrer Not abgeworfen. Der Vietnamkrieg war der erste Krieg, der sich in aller Grausamkeit direkt vor den Kameras und damit vor den Augen der Welt abgespielt hat. Heute laufen die Kameras in Kriegsgebieten rund um die Uhr mit, bei Bombeneinschlägen, Überfällen und Hinrichtungen. Doch was davon darf gesendet werden? Katrin Sandmann, Korrespondentin für den Nachrichtensender N24, zeigt die Grenzen der Kriegsberichterstattung auf: „Es gibt geschriebene Regeln wie den Jugendschutz, aber auch ungeschriebene Regeln, bei denen steht die Menschenwürde im Vordergrund. Wir zeigen in der Regel keine Gesichter von Toten und wir zeigen keine Menschen im Moment ihre Todes.“ Auch Leichenteile werden bei N24 in der Regel nicht gezeigt, versichert Sandmann: „Stattdessen zeigen wir Symbole, wie einen liegen gebliebe- nen Schuh oder ein Spielzeug.“ Die Entscheidungen für oder gegen eine Aufnahme trifft sie dabei selber: „Zwischen Redaktion und Reporter vor Ort besteht ein Vertrauensverhältnis. Was und wie ich berichte, überlässt mein Sender weitestgehend mir.“ Auch Ariane Vuckovic, Korrespondentin für das ZDF Heute Journal hat bei der Auswahl der Bilder freie Hand. Da das Militär in der Regel ohnehin in den Medien präsent ist, geht es ihr vor allem darum, der unter dem Krieg leidenden Zivilbevölkerung eine Stimme zu verleihen: „Ich glaube, Eines der bekanntesten Kriegsbilder: Kim Phuc auf der Flucht vor dem Feuer der Napalmbombe 1972 in Vietnam. BILD: NICK ÙT (AP) wenn der Krieg nicht über Schicksale transportiert wird, verliert der Zuschauer das Interesse.“ Im Libanon, so berichtet Vuckovic, traf sie auf eine Flüchtlingsfamilie, die auf ihrer Flucht von Hubschraubern und Kampffliegern beschossen worden war. Von 26 Familienmitgliedern waren 21 auf der Flucht gestorben. „Die kleine Tochter war völlig traumatisiert“, erinnert sie sich. Verständlich, dass eine solche Geschichte auch den Zuschauer nicht unberührt lässt. Auch wenn dies kein Fall für den Jugendschutz ist, empfiehlt Vuckovic dennoch: „Das Heute Journal ist nicht dafür gedacht, dass Kinder es sehen.“ Trotz der Allgegenwärtigkeit von Kamerateams in Kriegsgebieten sei die Kriegsberichterstattung in den letzten Jahren nicht brutaler und blutiger geworden, betont Vuckovic. Die Medienforscher Christian Büttner und Magdalena Kladzinski von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung beobachten eine ganz andere Entwicklung. „Heute wird der Krieg in den Fernsehnachrichten als ‚Abenteuer für’s Auge’ inszeniert und das trifft auf alle Sender zu“, bringt Kladzinski den gegenwärtigen Trend der Berichterstattung auf den Punkt. „Nur die Emotionalisierung des Zuschauers schafft Quote“, ergänzt Büttner. Vor allem seit das Kriegsgeschehen nicht nur auf die Nachrichten beschränkt ist, sondern als Unterhaltungselement in Filmen und PC-Spielen stattfindet, stehe die Kriegsberichterstattung im Zugzwang, spektakuläre Bilder zu zeigen. Die Gefahr, dass einige Zuschauer auch die Nachrichten als Unterhaltung missverstehen könnten, sieht Büttner allerdings nicht. „Ich glaube schon, dass Kriegsbilder auch heute eine abschreckende Wirkung haben, weil es immer noch viele Menschen gibt, die Fiktion und Realität unterscheiden können.“ Dem kann auch die Reporterin Sandmann nur zustimmen: „Die Realität ist selbst mit den heutigen Mitteln der Filmemacher schwer nachstellbar. Ein echtes Gewaltopfer hat eine schrecklichere Wirkung als ein Kino-Toter.“ Das erklärt auch die heutige Bekanntheit von Kim Phucs Foto, obwohl es vor über dreißig Jahren entstanden ist. „Bilder haben Symbolkraft“, stellt Vuckovic fest: „An das verbrannte Mädchen aus Vietnam erinnert sich auch heute noch jeder.“ ESSEN & TRINKEN CONTAINER Schnitzeljagd Eine Blutfontäne schießt in die Metallschüssel: Gerade hat der Metzger das Schwein angestochen. J VON BILDER (2): PHILIPP OBERGASSNER Drei Metzgern beim Schlachten über die Schulter geschaut PHILIPP OBERGASSNER e weiter das Messer nach unten wandert, desto mehr Darm quillt heraus. Ein drückender Gestank verbreitet sich. Mit zusammengepressten Lippen greift Jochen Döß tief in die Bauchhöhle, schneidet die Blase ab und wirft sie auf den Boden, wo sich Gallen, Borsten und Hufnägel in einer Blutlache häufen. Das Schwein baumelt träge am Haken. Noch vor einer halben Stunde ist es zusammen mit neun Artgenossen munter über die Fliesen im Schlachtraum der Metzgerei Zweygart in Aidlingen gewuselt. Aber dann — es ist sechs Uhr am Morgen — stapfen die Metzger mit ihren Gummistiefeln in den Raum, in dem es nach Dung, Fett und Stroh riecht. Da werden die Tiere nervös und pressen sich quiekend in eine Ecke. Erst dumpf und tief, steigt der kehlige Aufschrei der Schweine schließlich in Tonhöhen, die Mitleid erregen — aber nicht bei einem Metzger. „Die Tiere sind ja nicht dazu da, auf Gottes Erde spazieren zu gehen. Die sind dazu da, gegessen zu werden“, sagt Metzgermeister Walter Zweygart. Klingt hart. Aber das Töten gehört nun mal zu seinem Beruf. Damit die Schweine geschlachtet werden können, muss Metzgergeselle Marcus Assmann sie erst einmal betäuben. Er packt die Schweine mit der großen roten Stromzange am Hals. Die Tiere hüpfen ruckartig nach oben, dann fallen sie steif wie Plastikpuppen um. Die meisten zucken und zittern noch, einige haben sogar Schaum vorm Mund. Sie sind jetzt hirntot und bekommen nicht mehr mit, wie Metzgergeselle Olaf Sutter sie am Fuß festkettet und mit einer elektrischen Hebevorrichtung an die Fleischerstange lupft. Inseln in einem aufgeschäumten Meer aus Rottönen Döß sticht zu. Direkt in die Halsschlagader. Wie Wein aus einem Fass strömt das Blut in die Schüssel. Das Schweineherz schlägt noch und pumpt den Körper in weniger als einer Minute leer. Der Schwall flaut ab. Jetzt hebt und senkt der Metzger einen Vorderlauf des Schweins wie einen Brunnenschwengel und pumpt so das restliche Blut aus dem Körper. Schwarz und glibberig, fast wie Kaviar, sieht das geronnene Blut am Boden aus. Wie kleine Inseln schwimmt es in einem aufgeschäumten Meer aus Rottönen. Die Eisenstange, an der die Schweine hängen, ist am Ende nach unten gekrümmt. Als Döß den Tieren nach dem Ausbluten einen kleinen Stoß versetzt, landen sie direkt in der Brühmaschine. In diesem großen Aluminiumsarg löst sich die Oberhaut der Schweine in 60 Grad heißem Wasser ab. Das Tier wird in der Maschine von pedalartigen Hebeln herumgewirbelt. Nach zwei Minuten öffnet Sutter den Deckel der Brühmaschine und hievt zusammen mit Assmann das gehäutete Tier aus der braunen schaumigen Suppe auf den Tisch. Mit kurzen, zackigen Bewegungen entfernt Sutter die Hufnägel. Dazu nimmt er eine Art kleinen Gartenrechen, rammt die gekrümmten Spitzen in die Hufansätze des Schweins und zieht. Dann schabt Sutter die übrig gebliebenen Borsten von der Haut. Die Stoppeln kokelt Assmann mit einem Gasbrenner ab. Sofort mischt sich der beißende Gestank von verbranntem Haar unter den dunstigen Schweinegeruch. Wieder am Fuß angekettet und kopfüber aufgehängt, wird das Schwein jetzt von Döß ausgenom- Metzgermeister Jochen Döß bereitet derweil alles für das Ausbluten vor. Auf einen kopfüber gestellten Eimer legt er eine Metallschüssel, in die später das Blut der Schweine hineinfließen soll. Er wetzt das Messer. Immer einmal rechts, einmal links fährt er in einer Halbkreisbewegung am Wetzstein entlang. In seinem Gesicht finden sich keine Anzeichen von Unruhe oder Anspannung. Er macht diesen Job schon seit 21 Jahren. Unser tägliches Blut gib uns heute 9 men. Das Messer, mit dem er zwischen den Hinterläufen ansetzt, ist kaum länger als ein Küchenmesser und leicht nach vorne gebogen. Sobald er ein kleines Loch geschnitten hat, greift er mit dem Messerrücken hinein und schlitzt das Schwein von innen nach außen auf, damit er die inneren Organe und vor allem den Darm nicht verletzt: „Sonst würde ja die ganze Scheiße rauslaufen.“ Der Dickdarm quillt als erstes aus dem Körper. Die beinahe faustgroßen, glibberigen Knollen erinnern an ein riesiges Knoblauchbündel. Nach der Blase nimmt Döß den gesamten Verdauungskomplex mit Magen und Gedärmen am Stück heraus und legt ihn auf einen separaten Tisch. An der armlangen Speise- und Atemröhre baumeln Lunge, Leber und Herz. Döß hat diesen Sack ungetrennt herausgeschnitten und mitsamt Zunge auf einen Haken gespießt. Jetzt muss er nur noch das Bauchfett aus dem Inneren reißen. Mit einem schmatzenden Geräusch zieht sich die wabbelige, weiße Masse lang und löst sich ungleichmäßig vom Körper. Mundwinkel nach unten, Blick geradeaus — der Schlag sitzt Nun kommt das Schwierigste: das Spalten. Dabei muss der Metzger mit einem armlangen Hackebeil das Schwein in zwei exakt gleich große Hälften teilen. Jochen Döß setzt zum ersten Mal an. Die Mundwinkel sind leicht nach unten gezogen, der Blick geht starr und konzentriert geradeaus. Der Schlag sitzt. Auf beiden Seiten lässt sich der gelbliche Knochen der Wirbelsäule erkennen. Mit zwölf Schlägen haut er das Schwein entzwei. Bei einigen Treffern blinzelt er nicht einmal, wenn sich das Beil ein paar Zentimeter weiter in den Knochen senkt. Die fertigen Schweinehälften schiebt Assmann an der Stange entlang in den Fleischerraum. Dort hängen sie in einer Reihe. Die abgetrennten und halbierten Köpfe liegen auf dem Tisch daneben. Was vor einer Stunde noch mit durchschnittlich 110 Kilo Lebendgewicht durch den Schlachtraum trottete, hängt jetzt als 70 Kilo verwertbares Fleisch am Haken. Ob in Wienern, Fruchtsäften, Fertigtorten oder Bonbons – Blut findet in vielen Lebensmitteln Verwendung VON MELANIE MITTERMEIER Es steckt in Erdbeermarmelade, im Frühstücksdrink oder in roten Smarties. Es erhöht den Eiweißgehalt in Joghurt und gibt Gummibärchen ihre Form. Manchmal macht es sogar die Schokolade streichzart: Blut. Seine Verarbeitung ist in Deutschland nicht nur in Wienern oder Gulasch erlaubt: Verborgen hinter E-Nummern, Farbstoffen und anderen Zutaten findet die proteinreiche und fetthaltige Flüssigkeit auch in vielen anderen Lebensmitteln Verwendung. Relativ einfach erkennt der Verbraucher bluthaltige Produkte noch im Fleischbereich, da hier Blutreste ohnehin nicht auszuschließen sind. Zusätzlich wird es in getrockneter Form oder als Blutplasma und Blutserum Brüh- und Leberwürsten, aber auch tafelfertigen Fleischgerichten wie Pasteten beigefügt. „Durch das Blut erhöhen sich die Bindungseigenschaft und der Eiweißgehalt des Produkts, außerdem verhindert der Blutanteil einen Fett- und Geleeabsatz bei Dosenware“, erklärt Dr. Doris Kugler vom Bayerischen Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Mit Blut in Wienern oder Gulasch muss man also rechnen. Aber auch wenn man sich morgens sein Marmeladenbrot schmiert, kann es sein, dass Blut auf dem Teller landet: Viele Fruchtzubereitungen – beispielsweise die Erdbeerkonfitüre der Firma Natreen – enthalten den Zusatzstoff E 120: Echtes Karmin. Dieser rote Farbstoff wird aus dem Blut der weiblichen Scharlach-Schildlaus gewonnen und findet außerdem in rot geädertem Käse, Wurst, Fertigtorten, Frühstücksdrinks, Fruchtsäften, Weinen und Campari, sowie in Smarties und Campinos Verwendung. Und auch in anderen Süßigkeiten ist Blut enthalten: „Bei der GelatineHerstellung gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder vermengt man das Aspik mit Eiklar und erhält eine klare Gelatine, oder aber man verwendet Blut, was zu einer leicht goldenen Gelatine führt. Beides wird auf den Produkten nur als Gelatine vermerkt“, erklärt Hermann Jakob von der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung. Und Gelatine ist fast überall enthalten. Ob man also beim Genuss von gelatinehaltigen Milchprodukten oder Desserts auch eine gewisse Menge Blut verzehrt, kann man nicht mit Sicherheit erkennen. Dass Blut aber auch in Schokolade enthalten sein soll, hält Brigitte Grothe vom Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde für ein Gerücht: „Mir ist nicht bekannt, dass deutsche Schokoladenhersteller diese Zutat verarbeiten.“ Verboten ist die Verwendung von Blut aber nicht. Sein hoher Fettgehalt würde Schokolade sogar zarter und cremiger machen, wie der bluthaltige Schokoladenbrotaufstrich des Gastronomen Aniello Farracchio aus Düsseldorf zeigt: „Mein Aufstrich schmeckt wie Nutella, nur dass eben Blut mit dabei ist. So kann man ihn besser streichen und er wird im Kühlschrank nicht so schnell hart.“ Das Patentamt lehnte sein Produkt jedoch ab. „Da kam die BSE-Krise dazwischen und man wurde plötzlich sehr vorsichtig. Verboten ist es aber nicht“, erzählt Farracchio. Blut-Schokolade darf also verkauft werden — solange sie als solche gekennzeichnet ist. Anders ist es bei Desserts, in denen Schokolade nur einen geringen Teil des Gesamtprodukts ausmacht. „Schokoladenerzeugnisse, die nur als Füllung oder Verzierung dienen, können mit Blut hergestellt werden, ohne dass es in der Zutatenliste angegeben werden muss“, erklärt Brigitte Grothe. Auch in Gasthäusern muss Blut als Bindemittel nicht angegeben werden. „Bei dunklen Soßen wird der Laie nicht erkennen, ob Blut verwendet wurde. Schließlich ist es kein Geschmacksträger“, erklärt Andreas Mattern, Küchenchef im Restaurant Sonnenschein in der mittelalterlichen Stadt Blankenberg in der Nähe von Köln. „Deshalb sollte man es angeben. Blut ist ja nicht jedermanns Sache.“ Mattern serviert in seinem gutbürgerlichen Restaurant die „Schwarze Suppe“, die in Schweden und Griechenland als Spezialität gilt und aus Fleisch, Blut und Essig besteht. „Wir bereiten sie aber ohne Blut zu, da würden uns sonst die Leute weglaufen, die ekeln sich ja“, meint Mattern. Und das, obwohl Blut eigentlich ein Lebensmittel wie alle anderen auch ist. Tierisch zwar, aber nicht tierischer als Fleisch oder Innereien. Wegen seines hohen Eiweiß- und Eisengehalts wird es besonders in südlichen Ländern gerne verarbeitet. Hierzulande reduziert man seine offene Verwendung auf ein Minimum. Wer Blut aber restlos von seiner Speisekarte streichen möchte, sollte sich beim Hersteller über sämtliche Inhaltsstoffe informieren. Anzeige 10 G VON GESUNDHEIT Assistenzarzt Egel Vier Bisse und ein Tag Dauerbluten: Ein Erfahrungsbericht JASMIN WONTROBA litschig und eklig hatte ich sie mir vorgestellt, aber eigentlich sind die kleinen, wurmartigen Wesen ganz niedlich, so braun und runzelig, wie sie in ihrer Wasserschale umherschwimmen. Jedes hat eine rötliche Musterung, ähnlich der einer Schlange und ist ungefähr vier Zentimeter lang. Während ich die Blutegel beobachte, befragt mich Heilpraktikerin Kirstin Fossgreen zu meiner Krankengeschichte und erklärt dann, wo sie die Egel ansetzen wird: Zwei am oberen Rücken gegen Kopfschmerzen und Verspannungen und zwei im Nierenbereich. Zusammen mit ihrem Mann Thomas Franke, mit dem sie in Hannover eine Praxis hat, bereitet Fossgreen alles vor. Damit der Blutegel punktgenau anbeißt, legt sie ihn in eine Blutige Sache: Links saugen noch zwei der ursprünglich vier Egel. BILD: C. HEINE abgeschnittene Spritze, bevor sie ihn an meiner Haut aufsetzt. Nachdem er sich angesaugt hat, sägen sich seine drei winzigen Zahnleisten langsam in meine Haut. Mein erster Gedanke: „Autsch!“ Mein zweiter: „Ist ja gar nicht so schlimm.“ Es zwickt und piekst, als sich die Zähne der vier Egel in meine Haut bohren, aber Blutabnehmen find’ ich schlimmer. Es zieht, als die Egel beginnen Blut zu saugen und gleichzeitig ihre heilende Speichelmischung in mich pumpen. Unter anderem führt der Egel meinem Körper Entzündungshemmer und Schmerzstiller zu, verdünnt das Blut und pumpt Gerinnungshemmer in die Blutbahn, weshalb die kleinen Bisswunden später noch stundenlang nachbluten werden. Diesem Blutverlust von 30 bis 50 Millilitern pro Biss spricht man ebenfalls eine heilende Wirkung zu. Ich verliere heute insgesamt circa 200 Milliliter Blut, nicht mal halb so viel wie bei einer Blutspende. Zwischen 45 Minuten und zwei Stunden bleiben die Egel nun an mir haften, bis sie satt sind und von allein abfallen. Ein vollgesaugter Egel kann sich bis auf das Zweieinhalbfache seiner Ursprungsgröße ausdehnen und das Zehnfache seines Ursprungsgewichtes wiegen. Die Blutegeltherapie ist in Europa vermutlich knapp 200 Jahre vor Christus bekannt geworden. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde der Egel missbräuchlich bei allen möglichen Diagnosen eingesetzt. Bis zu hundert Egel wurden pro Behandlung angesetzt. Die Entdeckung von Bakterien um 1850, die die Angst vor Anstekkung durch mehrfach verwendete Egel aufkommen ließ, bedeutete das Aus für die Blutegeltherapie. Kurz nach dem ersten Weltkrieg entdeckte man die gerinnungshemmende Wirkung der Blutegel und setzte sie langsam wieder ein. Heute werden sie hauptsächlich bei Entzündungen und Rheuma, aber auch bei Krampfadern, sowie in der plastischen und rekonstruktiven Chirurgie verwendet. Nur rund 15 der cirka 600 Blutegelarten werden medizinisch genutzt. Am besten geeignet ist der Hirudo medicinalis, der Medizinische Blutegel, der gezüchtet wird und gerade auf meinem Rücken seinen Hunger stillt. Nach einer guten Stunde fällt der erste satte Egel ab, die anderen drei etwas später. Die Egel haben ihre Arbeit getan. Fossgreen wird sie nun einfrieren, da dies die sanfteste Art ist, sie zu töten. Vorher verbindet sie meine winzigen, blutenden Wunden mit mehreren Schichten Mull und wickelt Alufolie darüber, damit das Blut nicht in meine Kleidung laufen kann. Schließlich gibt sie mir noch eine Menge Verbandszeug und homöopathische Tropfen mit, falls ich die Blutung vorzeitig stoppen möchte. Dann darf ich nach Hause. Drei Stunden später der erste Verbandswechsel: Die dicken Verbände sind durchgeblutet. Zum Glück hatte Fossgreen mich vorgewarnt, sonst bekäme ich jetzt Angst. Ich bin erschöpft und gehe früh schlafen. In der Nacht ist der zweite Verband durchgeblutet, auch am nächsten Morgen blutet es noch etwas. Erneuter Verbandswechsel. Eine Woche später habe ich vier kleine sternförmige Wunden, die gut verheilen. Seit der Behandlung fühle ich mich insgesamt etwas besser. Ob es an den Blutegeln liegt? Sicher ist: Ich würde es wieder machen, wenn es medizinisch erforderlich wäre. „Beschneidung ist ein Mordversuch“ Fadumo Korn kämpft in Deutschland seit Jahren gegen die Verstümmelung von Frauen VON CONTAINER DOROTHÉE SCHOENE Die Somalierin Fadumo Korn über ihren Kampf gegen die genitale Beschneidung von Frauen und ihr Engagement im Verein Forward Germany. Frau Korn, ist es schwer, mit afrikanischen Frauen über Beschneidung zu reden? Schon, aber ich habe den großen Vorteil, dass ich eine von ihnen bin. Ich bin selbst Afrikanerin, und da ist die Basis eine ganz andere. Meist fangen die Frauen von allein an, darüber zu reden. Aber nicht alle Frauen sind so offen. Beschneidung HINTERGRUND Unter genitaler Beschneidung versteht man, dass die Klitoris teilweise oder mit den Schamlippen zusammen entfernt wird. Nach dem Eingriff wird die Wunde oft unter primitivsten hygienischen Bedingungen zusammengenäht häufig unter hohem Blutverlust. Entzündungen sind die Folge. Fünf bis zehn Prozent der Mädchen und Frauen sterben durch den Eingriff, jede fünfte Frau an den Spätfolgen.Beschneidung wird aus traditionellen und religiösen Gründen vollzogen. Eine unbeschnittene Frau gilt in vielen Gegenden Afrikas als unrein. Es ist deshalb für die Familien schwer, ihre Tochter zu verheiraten, wenn sie unbeschnitten ist. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation werden pro Jahr etwa 130 Millionen Frauen beschnitten. Weitere Informationen: www.faduma-korn.de www.forward-germany.de Woran liegt das? Das liegt daran, dass schwere Fehler gemacht wurden. Es wurden blutige Bilder von verstümmelten Frauen gezeigt. Oft werden beschnittene Frauen deshalb als nicht vollwertig angesehen. Alles reduziert sich auf den Genitalbereich. Die Europäer haben vieles falsch verstanden. Sie haben über Beschneidung gesprochen, ohne sich ausreichend darüber zu informieren. Sie sind im Alter von 7 Jahren in Somalia selbst beschnitten worden und haben gesundheitliche Schäden davon getragen. Ich kann von Glück reden, dass ich an gute Ärzte gekommen bin. In Somalia und Europa haben mir gute Mediziner geholfen. Trotzdem leide ich noch heute an gesundheitlichen Problemen wie Rheuma, die mit der Beschneidung zu tun haben. Haben alle beschnittenen Frauen diese gesundheitlichen Probleme? Man kann es nicht verallgemeinern. Es kommt auf die Entwicklung der Frau drauf an, wie sie beschnitten wurde, ob sie in einem Dorf oder in einer Stadt beschnitten wurde. In der Stadt sind die hygienischen Bedingungen besser als auf dem Land. Da sind auch Ärzte und Hebammen vor Ort. In der Wüste oder im Dorf steht es mit den Instrumenten, der Hygiene und den medizinischen Möglichkeiten oft schlechter. Sie arbeiten seit Januar 2000 ehrenamtlich bei dem Verein Forward Germany mit und sind zweite Vorsitzende. Welche Ziele und Aufgaben hat der Verein? Forward will aufklären und gegen die Beschneidung kämpfen. Wir veranstalten Wochenendseminare, bei denen sich junge afrikanische Mädchen in Frankfurt und München treffen können. Mit Hilfe von Sozialpädagogen arbeiten wir Theaterstücke aus, die dann aufgeführt werden. Die Stücke thematisieren die genitale Beschneidung an Frauen. Menschen, die Beratung suchen, können jederzeit zu uns kommen. Auch mit Gynäkologen stehen wir in Kontakt. Wir gehen mit den Frauen zum Arzt, wenn sie sich allein nicht trauen. Außerdem begleite ich Flüchtlinge aus Somalia von ihrer Ankunft in Deutschland bis zur vollendeten Integration. Als Dolmetscherin für Somalisch-Deutsch vermittle ich zwischen den Behörden und den Teenagern, die ohne Eltern hierher kommen. Neben den Jugendlichen betreue ich auch noch afrikanische Familien, die in Deutschland leben. Welche Schwierigkeiten hat der Verein bei seiner Arbeit? Unser Verein ist auf Spendengelder angewiesen. Wir wollen Politiker aufmerksam machen und politische Unterstützung erreichen. Konkret möchte ich ein Gesetz in Deutschland, dass die vorsätzliche Beschneidung als Mordversuch unter Strafe stellt. Beschneidung ist Folter und eine Menschenrechtsverletzung. Mein ganzes Anliegen ist, diese Menschenrechtsverletzung zu stoppen. Was wünschen Sie sich für die afrikanischen Frauen in Zukunft? Ich wünsche mir, dass wir gesehen werden. Gesehen werden heißt akzeptiert werden. Fadumo Korn BILD: PRIVAT Wenn etwas fehlt: Männer, die mit Impotenz leben, müssen lernen über ihre Sexualität zu sprechen. BILD: ISABELLE MODLER Impotenz: Das Schweigen der Männer S „Viele lernen hier, zum ersten Mal über das Thema zu sprechen, manche kommen immer wieder, da die andetefan ist impotent. „Medizinisch ren Männer schon viele Erfahrungen korrekt heißt es erektile Dys- gemacht haben und oft hilfreiche funktion. Doch ändern tut das Tipps geben können“, sagt Günther, auch nichts“, erklärt er lächelnd. Vor der die Gruppe 1998 gegründet hat. knapp einem Jahr wurde bei ihm Pro- Viele Betroffene wüssten zum Beistata-Krebs diagnostiziert. „Einen spiel nicht, welche Leistungen die Monat später wurde ich operiert und Krankenkassen erbringen müssen. jetzt geht bei mir von alleine nichts Manche Ärzte stellen private Rechmehr im Bett.“ Der 54-Jährige hat die nungen, obwohl die Suche nach Arme vor dem Oberkörper ver- Gründen für eine Erektionsstörung schränkt und die Beine übereinander beim Vorliegen eines Krankheitsvergeschlagen. Er blickt angespannt auf dachts von den gesetzlichen Kassen das Wasserglas vor ihm. Nur selten gedeckt werden müsse, erklärt der schaut er auf. Wenn er spricht, wan- 58-Jährige. Aber auch alltägliche Fradert sein Blick zur Uhr, die über der gen im Umgang mit ErektionsstörunTür des Gruppenraums „G3“ im gen spielen eine wichtige Rolle. „Im Bett wird einiges anders“, erMünchner Selbsthilfezentrum hängt. „Es fällt mir immer noch nicht zählt Heinz, der schon länger in der leicht, darüber zu sprechen, doch ich Gruppe ist, „ich komme relativ gut merke, dass es mir hilft“, erzählt er mit der Penispumpe zurecht“. Die den anderen Männern der Selbsthil- Atmosphäre wird allerdings eine anfegruppe „Erektile Dysfunktion“, die dere, findet Heinz. Sex ist nichts sich an jedem zweiten Montag des Spontanes mehr, sondern wird geMonats hier treffen. „Man fühlt sich plant: Entweder müssen potenzsteieinfach nicht mehr wie ein ganzer gernde Präparate eingenommen Mann, man kann die eigenen Erwar- werden, oder das Blut wird mit Hilfe tungen nicht mehr erfüllen und man einer Vakuumpumpe in den Penis hat Angst, darüber zu sprechen.“ So gepumpt. Ein Ring, der über die Peschildert Stefan seine Situation, bevor niswurzel gestülpt wird, verhindert, er es geschafft hat, in der Selbsthilfe- dass das Blut zurückfließt. „Eine halgruppe und dann mit einem Arzt be Stunde bleibt der Penis dann eridarüber zu sprechen. Damit ist er giert“, erzählt Heinz, dann müsse kein Einzelfall: „Rund fünf Millionen man den Ring wieder abstreifen. Doch längst nicht alle Männer Männer in Deutschland leben mit Erektionsstörungen, aber nur jeder kommen mit der Vakuumpumpe zurecht, erklärt Dr. fünfte traut sich Hackl, denn der damit zum Arzt“, Penis läuft oft blau sagt Dr. Kornelia „Dieses Thema ist bei an und wird Hackl, Urologin aus München. vielen Männern noch schnell kalt. Deshalb muss für je„Dieses Thema ist den Mann das bei vielen Mänein absolutes Tabu.” richtige Mittel genern noch ein abfunden werden. solutes Tabu.“ Erektionsspritzen Wohl nur daoder eine Penisdurch lässt sich auch erklären, dass es in ganz prothese können Männern helfen, die Deutschland nur eine Selbsthilfe- aufgrund organischer Ursachen ungruppe gibt. Männer müssten endlich ter Erektionsstörungen leiden, erklärt lernen, darüber zu sprechen, meint die Urologin. Wenn die Ursachen dadie Urologin, denn gerade bei Erekti- gegen psychischer Natur sind, helfen onsstörungen seien die Ursachen oft auch potenzsteigernde Präparate vielfältig und könnten nur im Ge- wie Viagra oder Tsialis. Gerade junspräch ermittelt werden. Während gen Männern sei es wichtig, zu zeiErektionsstörungen bei älteren Män- gen, dass sie eine dauerhafte und für nern oft organische Ursachen haben, den Geschlechtsverkehr ausreichenseien es bei jüngeren häufig psychi- de Erektion bekommen können, erklärt die Ärztin. Aus diesem sche Gründe, erklärt Dr. Hackl. Nicht nur Stefan fällt es schwer, positiven Erlebnis erwächst oft eine über seine Erfahrungen zu sprechen. Selbstsicherheit, die den psychischen Bernhard, der schon seit über einem Druck erheblich mindert. Stefan hat sich mittlerweile entJahr zur Gruppe gehört, ist heute Abend unsicher. Nach zwölf Jahren schlossen, regelmäßig an den Treffen Beziehung hat ihn seine Freundin der Gruppe teilzunehmen und dabei verlassen: „Sie meinte, ich hätte ja zu helfen, neue Gruppen aufzubaunun genug Sex gehabt“, sagt Bern- en. In Köln, Stuttgart und Berlin soll hard bitter. Er ist sich sicher, dass die es bald regelmäßige Treffen geben. Beziehung wegen seiner Erektions- Zudem hat die Gruppe ihr Internetstörungen gescheitert ist. Seitdem angebot erweitert. Um den Zugang kämpft er mit dem Gefühl, ein für Betroffene zu erleichtern, können Schlappschwanz zu sein, der seinen die Fragen an Experten nun auch anMann nicht mehr stehen kann. „Nach onym gestellt werden. Es sei zwar meiner Operation vor einem Jahr hat leicht, Witze über Erektionsstörunsie gesagt, dass sie keine Lust auf Sex gen zu machen, aber nicht, jemanden mehr hätte, vor zwei Wochen dann zu finden, mit dem man darüber hat sie sich von mir getrennt und er- ernsthaft sprechen könne, schreiben zählt, dass sie schon mit einem ande- die Männer auf ihrer Homepage. ren zusammen ist. Sie wollte mit mir „Trotzdem kennen wir natürlich die einfach nie über meine Impotenz besten Witze darüber und unsere sprechen“, erzählt Bernhard. Es fällt Treffen sind oft auch lustig“, sagt den anderen schwer, ihn wieder auf- Heinz schmunzelnd. „Viele haben zubauen. Viele kennen diese Ängste, ein falsches Bild von uns: Wir sind so stehen aber wieder fest im Leben und normal wie alle Männer und leben wollen den anderen Kraft geben, da- unser Leben, ohne dass sich alles mit auch sie ihre Ängste überwinden. ständig um unsere Probleme dreht.“ VON SIMON WODITSCH Treten, schlagen, würgen CONTAINER VON RALF FISCHER Der knallharte Kampfsport Free-Fight ist in Deutschland umstritten: Unsportlich und brutal für Beobachter. Die ultimative Herausforderung für die Kämpfer. André Balschmieter ist der beste Deutsche in einem Sport, der immer mehr Anhänger findet. Tsssu, Tsssu, Tsssu — eine Serie von Faustschlägen hämmert auf den taumelnden Sandsack ein. Tritt. Kniekick. Ellbogen-Check. Tritt. Schnaufend presst André Balschmieter seine nasse Stirn gegen den Boxsack, dann stößt er sich ab — rechts, links, rechts: Tsssu, Tsssu, Tsssu. Bei jedem Faustschlag peitscht er die Luft aus seiner Lunge. Kampfsport bestimmt das Leben des 24-Jährigen, der nach seinem Abitur ein Fitnessstudio in seiner Heimatstadt Eschwege gepachtet hat. Sechs Tage die Woche trainiert er sich und ein Dutzend Schüler, übt Schlagkombinationen und Bodenkampf. Sein Ehrgeiz macht sich bezahlt: André Balschmieter ist der beste Deutsche im FreeFight — einer Kampfsportart, bei der fast alles erlaubt ist. Die Kämpfer treten, schlagen und schnüren dem Gegner im Schwitzkasten die Luft ab. Wer gewinnen will, muss seinen Gegner k.o. schlagen oder zur Aufgabe zwingen. Die Regeln der Free-Fight-Association (FFA), des einzigen deutschen Amateurverbands, verbieten nur lebensgefährliche Attacken auf Wirbelsäule, Kehlkopf, Augen, Mund, Nacken und Genitalien. Auch wenn der Gegner am Boden liegt, darf er geschlagen und getreten werden. Das unterscheidet Free-Fight von anderen Kampfsportarten. „Shake hands“, die beiden Kämpfer schütteln sich etwas staksig die Hände, dann ist der Kampf freigegeben. Wie ein Rugbyspieler versucht S VON der eine Kämpfer seinen Gegner mit der Schulter zu Boden zu rammen. Doch die beiden verhaken sich, ein kurzer Schlagabtausch, das Publikum johlt. Eine schnelle Rechte trifft den Kämpfer in der kurzen Hose am Kopf, er sackt an den Ringseilen zusammen. Der Kampf ist bereits nach Sekunden vorbei. Verhaltenes Klatschen, enttäuschte Pfiffe. Ringrichter und Sanitäter knien beim bewusstlosen Gegner. „Ich muss sagen, das sieht nicht gut aus“, hallt die Stimme des Ringsprechers aus dem Off. Videos von deutschen Free-Fights wie dieses sind im Internet selten. Dagegen gibt es eine Fülle von Videos der amerikanischen und japanischen Ligen, die Free-Fight als Showspektakel mit 60 000 Zuschauern am Ring inszenieren. In Deutschland reagiert die Öffentlichkeit verhalten: Zwischen 500 und 2000 Zuschauer beobachten regelmäßig das Spektakel. Und dennoch wird auch hier FreeFight immer beliebter. 1994 begann der Verband mit einer Hand voll Kampfsportler — heute umfasst die Rangliste der FFA knapp 240 Kämpfer aus Deutschland. Platzwunden, Gehirnerschütterungen und ein Bewusstloser André Balschmieter führt diese Rangliste an. Seitdem er 16 Jahre alt ist, kämpft er: Zuerst Judo, dann Taekwondo, Boxen, Kickboxen und die Kung-Fu-Form WingTzun. Angefangen hatte alles mit den Action-Filmen der Kampfsport-Ikone Bruce Lee: „Ich habe seine Filme geguckt und fand seine Bewegungen cool, wie er mit seinen schnellen Schlägen die Gegner schachmatt gesetzt hat.“ Sein Trainer fragte ihn schließlich, ob er nicht auch mal beim Free-Fight in den Ring steigen würde. 2003 gewann er seinen ersten Free-Fight in Berlin. Inzwischen hat er von 26 Kämpfen 15 gewonnen – 12 davon durch k.o., seiner „Favoritenlösung“, wie er sagt. SPORT 11 Immer feste drauf: Free-Fighter André Balschmieter tritt in seinem Fitnessstudio auf den Sandsack ein. Mit seinem Gegner im Ring ist er ebenso wenig zimperlich: Zwölf Mal hat er durch k.o. gewonnen. BILD: RALF FISCHER Für André Balschmieter ist Free-Fight wie ein Schachspiel: Präzise Taktik und Vorbereitung bestimmen den Sieger. Dr. Angelika Eichner, Notärztin aus Dresden, empfindet Free-Fight dagegen als „unsportlichen GewaltVoyeurismus“: „Leben zu retten ist das eine, aber wenn sich einer freiwillig zusammenschlagen lässt, will ich nicht dabei sein.“ Einmal musste sie dennoch hin: Im November 2005 war sie als Ringärztin bei einem FreeFight-Turnier eingeteilt. Die Notfallbilanz des Abends: Ein Bewusstloser nach einem Würgegriff, ein geschwollenes Ohr, Gehirnerschütterungen und Platzwunden. Damit ist Free-Fight ihrem Eindruck nach nicht blutiger als Boxen. Auch eine medizinische Studie aus den USA attestiert dem Sport, dass die Verletzungsrate nicht wesentlich höher sei als in anderen Kampfsportarten. Im Gegensatz zum Boxen oder Thaiboxen, können die Gegner mit Hebelgriffen zur Aufgabe gezwungen werden. Deshalb gebe es weniger Schläge an den Kopf und damit weniger langfristige Kopfverletzungen. Ein Restrisiko bleibt dennoch: Der Amerikaner Douglas Dedge starb 2003 nach einem Kampf Leg den Gegner flach! in Kiew an seinen Kopfverletzungen. Er ist bisher das einzige Todesopfer in der Geschichte des Free-Fights. André Balschmieter sind schwere Verletzungen bisher erspart geblieben: „Ich mache mir keine Gedanken darüber. Wenn man solche Sachen befürchtet, treten sie ein.“ Er selber hat einem Gegner den Kiefer gebrochen – das sei jedoch Berufsrisiko. „Es tut mir zwar Leid, aber es hätte mir genauso passieren können.“ Das klingt hart von einem, der für seine Schüler im Training der „Sihing“, der große Bruder ist. Von einem, von dem die Schüler sagen: „Er ist ruhig, fair und ein guter Mensch.“ Genervt vom Image der Ex-Knackis und Gladiatoren Andreas Stockmann, Vorsitzender der deutschen Free-Fight-Association (FFA), beantwortet etwas genervt die Fragen nach der Brutalität seines Sports: „Wir würden nie so schwere Verletzungen zulassen wie im Boxen.“ Jeder sei freiwillig beim FreeFight und der Kampf werde durch ein sportlich-faires Regelwerk gesichert. Mit Benefizkämpfen und ge- BLUTSPRITZER Von vorne, hinten, links und rechts: Die Blutgrätsche kommt zum Einsatz, wenn es eng wird MIRIAM WEBER tellen Sie sich mal folgende Szene vor: Zwei Fußballer kämpfen um den Ball. Nichts Außergewöhnliches. Eigentlich. Plötzlich ein Pfiff: Blutgrätsche. Blutgrätsche? Kennen Sie nicht? Dann könnte vielleicht diese Definition für Sie hilfreich sein: „Wenn der Gegner im Ballbesitz ist und man ihm in die Füße rutscht, damit er umfällt.“ So erklärt es Alexander, 16 Jahre alt. „Blutgrätsche ist, wenn der Stürmer der gegnerischen Mannschaft allein vor das Tor läuft, und ihm dann ein Abwehrspieler von hinten in die Beine grätscht“, behauptet Erkan, 15-jähriger Fußballer und fügt hinzu: „Mit einer Blutgrätsche kann man den Gegner verletzen.“ So weit, so gut. Nun wissen wir immerhin schon mal, dass es sich um ein grobes und unsportliches Foul beim Fußball handelt, denn egal, ob von hinten, links oder rechts — bei einer Blutgrätsche hat der Spieler nie und nimmer die Chance, an den Ball zu kommen. Dafür ist die Wahrscheinlichkeit relativ groß, den Gegner zu verletzen. So auch am 14. August 1981. Werder Bremen gegen Arminia Bielefeld: Ewald Lienen stürmt für Bielefeld, für den Bremer Verteidiger Siegmann aber leider zu schnell. Der sieht in Anbetracht des nahenden Unheils keinen anderen Ausweg mehr und grätscht mit beiden Beinen gestreckt in den Oberschenkel von Lienen. Ein Schrei, ein Riss. Beides lang und schmerzhaft. Auf Lienens Oberschenkel klafft eine 25 Zentimeter lange Wunde. Das Wort Blutgrätsche ist er- funden und sorgt gleich für Wirbel. Wochenlang dürfen die Fans Lienens Wunde in den Medien bestaunen. Doch damit nicht genug. „Pack ihn dir“, soll der Bremer Trainer Otto Rehhagel vor dem Foul Siegmann zugerufen haben. Morddrohungen gegen Rehhagel waren die Folge — der setzte sich im Rückspiel deshalb lieber mit kugelsicherer Weste auf die Bank. Trotzdem wurde die Blutgrätsche immer beliebter. „Wenn mich ein Spieler aufregt und provoziert, mache ich schon mal eine“, bestätigt Nico, 12 Jahre. Und auch Thomas, ebenfalls 12 Jahre alt, sieht kein Problem: „Also ich mache das entweder als Revanche-Foul oder wenn ich provoziert werde.“ Es wird also gegrätscht, was das Zeug hält, auch wenn der Duden die Blutgrätsche ignoriert: Zum großen Unverständnis aller Fußballfreunde ist das Wort dort nicht zu finden. Aber einem wahren Fan ist das schnurzegal — schließlich stehen ja Lattenknaller, Schwalbenkönig oder Elfmeterkiller auch nicht drin. Dafür kann man Blutgrätschen schon für zwei Euro kaufen (Fanmagazin der Kölner), auf ihr chatten (blutgraet- BILD: SPONHOLZ schulten Ringrichtern will er den Sport in Deutschland etablieren. Er weiß, dass er dabei gegen ein Negativ-Image kämpfen muss, das nicht von ungefähr kommt: „Die Szene kokettiert mit dem Image des BadBoys.“ Free-Fighter der ersten Generation hätten sich als Ex-Knackis und Legionäre dargestellt. „Kampf der Gladiatoren. Das Härteste, was Kampfsport zu bieten hat“, wirbt eine Website, „Blutrausch zum Feierabend“ betitelt ein Organisator eine Veranstaltung in Köthen. Im sächsischen Wurzen fielen Rechtsradikale auf, die sich als Free-Fighter bezeichneten. In Chemnitz skandierten Zuschauergruppen „hoo-na-ra“, eine Abkürzung für Hooligans, Nazis und Rassisten. Stockmann und die FFA distanzieren sich unter anderem in der Aktion „Mut gegen rechte Gewalt“ von den Rechtsradikalen. Trotz seiner Aktionen glaubt Stockmann dennoch nicht, dass sich Free-Fight zum Massensport in Deutschland entwickeln kann. Aus diesem Grund versuchen Sportler wie André Balschmieter, Verträge der populären Ligen in den USA und Japan zu bekommen, wo sich pro Kampf bis zu 400 000 Dollar verdienen lassen. sche.de) oder über sie Krimis lesen („Blutgrätsche. Weltmeisterkrimis“). Auch ein Fußballclub hat sich dem brutalen Foul verschrieben: Dem Verein „Dynamo Blutgrätsche“ schlagen Siege mit 16:1 oder 12:2 gegen „Coole Wampe“ zu Buche. Der Torwart der Spielvereinigung Unterhaching wäre in dem Verein jedenfalls gut aufgehoben, hatte er doch beim Spiel gegen den FC Ismaning den Stürmer übersehen und war frontal auf ihn aufgelaufen. Der Torwart wurde vorzeitig zum Duschen geschickt, der Stürmer ins Krankenhaus — Unterschenkelbruch. Und wenn man glaubt, es geht nimmer, kommt ein Franzose und macht alles noch viel schlimmer: Eric Cantona von Manchester United sprang 1995 mit gestreckten Beinen in einen Fan. Die Strafe: Neun Monate Sperre und zwei Wochen Gefängnis, die schließlich in 120 Tage Sozialdienst umgewandelt wurden. Alles halb so wild wird sich wohl die nigerianische Stürmerin Chiejine denken: Sie musste nach der Blutgrätsche einer Kamerunerin wiederbelebt werden. Also: Kämpfen bis der Gegner blutet! Das schreckt Fatih, 16 Jahre, nicht weiter ab: Er würde sich mit einer Blutgrätsche für sein Team opfern. „Wenn ich der letzte Mann bin und keine andere Möglichkeit mehr habe, oder bevor wir bei einem Turnier ausscheiden.“ Es ist eben doch so, wie Bill Shankly, einst Trainer bei Liverpool, sagt: „Manche Leute meinen, Fußball sei ein Spiel auf Leben und Tod. Aber ich versichere Ihnen: es ist viel, viel wichtiger.“ Ruckedigu, Blut ist im Schuh Der erste Tanz auf Zehenspitzen und schon ist es passiert: Die ungeübte Ballerina leidet beim harten Training schnell an Blasen an den Zehen. Platzen diese beim Tanz auf, färbt sich der zarte Stoff der rosa Spitzenschuhe bald blutrot. Bandagen und Druckverbände beugen schmerzenden Füßen zwar vor, einer echten Tänzerin bleiben blutige Zehen aber nicht erspart. Schließlich bildet sich nach und nach auf der Wunde eine starke Hornhaut, die fortan Blasen, Blut und Schmerzen beim Spitzentanz ganz natürlich vorbeugt. mm Dem Stress davonlaufen In der Mittagspause raus zum Joggen? Das ist wirksamer, als die Zeit über am Kaffeeautomaten zu hängen. Denn Sport ist nach den Erkenntnissen der Wissenschaft das beste Mittel gegen beruflichen Stress. Bewegung reduziert unter anderem das Stresshormon Adrenalin im Blut und fördert gleichzeitig die Bildung von Glückshormonen. Zehn Minuten hüpfen und laufen auf der Stelle und ein paar Stretching-Übungen sind mindestens erforderlich, damit das Glückshormon wachgekitzelt wird. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa bekämpfen schon 46 Prozent aller Deutschen Job-Stress mit Sport. ch 12 Vampire auf Joghurt-Diät INTERVIEW CONTAINER Horror-Regisseur Michael Rösch vergießt Blut, speist mit Zombies und hat Angst vorm Zahnarzt Nach etlichen Versuchen bekomme ich ihn in seinem Stuttgarter Büro endlich an den Hörer: Michael Rösch kommt gerade aus Hollywood zurück, wo er seinen neuesten Film „Brotherhood of Blood“ fertig gedreht hat. „Das ist ja eine ganz andere Herangehensweise an das Thema Blut“, sagt Rösch und lacht. Mit hoher, schneller Stimme bietet er mir kurzfristig einen Termin an – und das „Du“. Du kommst gerade vom Mittagessen... Ja, eine gute Pasta gab's. Essen Vampire auch Nudeln? Das Problem bei einem Film-Vampir ist, dass er oft gar nicht mehr richtig essen kann: Er müsste sich sonst seine Zahnprothese rausnehmen lassen, die manchmal auch angeklebt ist. Er kann oft nur flüssiges Essen zu sich nehmen, weil er den Mund gar nicht richtig aufkriegt. Dann nuckelt er eben Joghurts. Du drehst seit sieben Jahren in Hollywood. Wie sieht eine typische Mittagspause am Horror-Set aus? Rohes Fleisch und düstere Stimmung? Nee, nee. Es geht eher lustig zu. Das Kuriose ist, dass tatsächlich Zombies und Vampire in der Warteschlange stehen – in vollem Kostüm, weil's Ausziehen eben stundenlang dauern würde. Du schmunzelst… Na ja, Horrorfilme zu drehen ist halt der größte Spaß: In Hollywood gibt es den Spruch: An Comedy-Sets ist es eher trist, bei Horror-Sets sehr lustig. Man steht am Set, überall laufen Monster vorbei, man hat das viele Blut – ein Abenteuerspielplatz für Erwachsene. Und wie viel Blut fließt auf dem Abenteuerspielplatz? Viel. Wir bestellen das Kunstblut galonenweise. Ein Riesenspaß: Mit dem großen Container voll Blut herumzulaufen und es zu verspritzen. Da kann man schon sagen, dass man in der Nacht hundert Liter verbraucht. Uns ist um 8 Uhr abends mal das Blut ausgegangen. Aber das ist das Schöne an Hollywood: Die Ecke runter ist ein Laden mit Blut, wir haben dann schnell neues gekauft. Weil seine Monster erfolgreich mit den Zähnen fletschen, hat Michael Rösch gut lachen. Der 32-Jährige dreht seit sieben Jahren in Hollywood Horror-Filme. BILDER (3): MARTIN WIMÖSTERER nien selbst, hab' ich gehört, funktioniert Horror nicht richtig, auch im Nahen Osten nicht: Wenn man den alltäglichen Horror erlebt, braucht man ihn nicht mehr im Kino. Horrorfilme sind was für Junge in Wohlstandsgesellschaften mit Freude am Nervenkitzel. Wer wischt die ganze Sauerei wieder weg? (lacht) Das Blut ist in der Tat ein großes Problem. Man versucht, es so zu verteilen, dass die Wege, auf denen die Schauspieler laufen, immer frei bleiben, sonst schmatzen die Schuhe. Bei dem Film „House of the Dead 2“, für den wir das Drehbuch geschrieben haben, wurde so viel Blut am Set verteilt, dass es in das unterliegende Stockwerk durchgetropft ist. Warum sind Monster überhaupt so wild auf Menschenblut? Vampire sind ja mutiert und können kein normales Essen mehr zu sich nehmen und sich nur noch von Menschenblut ernähren. Und wer will schon gerne sein Blut hergeben? Es liegt also daran, dass Blut für jeden Menschen ein kostbares Gut ist? Das ist der Punkt. Blut ist nicht umsonst rot – das ist ja auch ein Warnsignal, dass man sich verletzt hat und etwas dagegen unternehmen muss. Es ist eine Metapher für Sterben, natürlich eine besonders schöne, denn was für einen grausameren Tod gäbe es, als von einem Vampir leer gesaugt zu werden... (grinst) Warst du schon mal in Transsylvanien, der Heimat der Vampire? Ja, wir haben dort den Film „Blood Rayne“ mit Kristanna Loken und Michelle Rodriguez gedreht. In Rumä- Horror-Messen, da zahlen die Leute 70 Dollar Eintritt für das Wochenende – trotzdem strömen immer Massen an Leuten herein, um ihre Stars zu treffen, Monster zu sehen und den vollen Horror zu erleben. Hast du als Kind selbst Gruselfilme geguckt? Nee, meine Eltern hatten mir verboten, sie anzusehen. Man kann schon Schaden nehmen, wenn man solche Filme zu früh sieht. Mit 15 Jahren hab' ich mich dann aber in Filme reingeschlichen, die ab 16 sind, später auch in Filme ab 18. Es ist schön, wenn es einen richtig gruselt. Bekommst du heute noch eine Gänsehaut bei Horrorfilmen? Selten. Wenn man in etwa weiß, wie es gemacht wird, schockt es nicht mehr so. Man ist eher begeistert von bestimmten Special Effects. Ist das deutsche Publikum blutrünstiger als das amerikanische? Nein, Deutsche gehören zu denen, die am wenigsten Gewalt in Filmen goutieren. Amerikaner lieben Horror, wobei es da nicht ganz so blutig zugehen darf wie bei den Asiaten. In Amerika sind wir oft auf großen Wann steigt dein Blutdruck? Nicht bei so vielen Sachen, aber zum Beispiel in großen Höhen ohne Geländer. Grundsätzlich auch beim Zahnarzt. In „Brotherhood of Blood“ ziehen wir einem Vampir die Zähne. Die abgebrühtesten Manager von Firmen, die Horror produzieren, haben Hollywood-Regisseur Michael Rösch ZUR PERSON Michael Rösch, 32, ist in Heilbronn in Baden-Württemberg aufgewachsen. Mit einer Super-8-Kamera drehte er in seiner Jugendzeit erste Filme. Filmrezensionen für Zeitungen brachten ihn zum Drehbuchschreiben und schließlich mit seinem Partner am Set, Peter Scheerer, nach Hollywood. Als Regisseur, Produzent und Drehbuchautor für Filme wie „House of the Dead“, „Alone in the Dark“ und „Blood Rayne“ hat er sich mittlerweile einen Namen gemacht. Sein neuester Film „Brotherhood of Blood“ kommt im Sommer 2007 in die deutschen Kinos. sich die Hände vor’s Gesicht gehalten. Horror ist immer dann schlimm, wenn man eine Relation dazu hat, ihn nachvollziehen kann. Wieso bist du nicht Künstler oder Chirurg geworden, wenn du so gerne Blut spritzen siehst? Es ist ein ganz großer Unterschied, ob man mit einer echten Sache zu tun hat oder mit einer falschen. Ich könnte nicht Chirurg werden und operieren – ich weiß nicht, ob ich da nicht in Ohnmacht fallen würde. Ein Arzt hat uns mal am Set besucht und war ganz verwirrt, da Blut für ihn normalerweise bedeutet, dass er sofort eingreifen muss, helfen muss — und es am Set zwar viel Blut, aber für ihn nichts zu tun gab. Für uns ist es normal, dass wir mit dem Kunstblut herumtoben. Sind Horrorfilmer ausgeflippte Typen? Das ist bei den meisten HorrorfilmRegisseuren nicht der Fall. Geschichten wie man sie manchmal im Internet liest, würde ich nie machen, zum Beispiel, dass Leute echtes Blut trinken. Wir sind eigentlich ruhige Leute, bisschen zurückhaltend, die dann genau deshalb anfangen, zu Hause Geschichten zu entwickeln. Wenn man, wie du, aus Heilbronn als blutiger Anfänger nach Hollywood kommt, wird man da überhaupt ernst genommen? Man wird schon ernst genommen, weil die Leute nie wissen, was aus einem wird. Wir wurden von großen Firmen zu Meetings eingeladen, einfach, um sich mal vorzustellen. Man muss sich aber schon auch hart durchkämpfen, wenn’s um’s Geld für die Produktion geht. INTERVIEW: MARTIN WIMÖSTERER Katrin Krauß Martin Wimösterer Isabelle Modler Marie Chlebosch Ralf Fischer Petra Hemmelmann Martin Kliemank Matthias Fleischer Karin Janker Johanna Kempter V.i.S.d.P. 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