I. Strafen
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I. Strafen
Strafen als Erziehungsmittel polarisieren! Zu Recht? Elternforum Homberg 12. November 2013 Franz Ziegler! www.stoppkindesmisshandlung.ch www.stoppkindesmisshandlung.ch Johann Jakob Haeberle, Collega jubilaeus einer kleinen schwäbischen Stadt, hatte während seiner 51 jährigen und 7monatigen Amtsführung nach einer mässigen Berechnung an die ihm anvertraute Schuljugend ausgeteilt: 911'517 Stockschläge 24'010 Rutenhiebe 20'989 Pfötchen und Klapse mit dem Lineal 136'715 Handschmisse 10'235 Maulschellen 7'905 Ohrfeigen 1'115'800 Kopfnüsse 12'763 Notabenes mit Bibel, Katechismus, Gesang- u. Grammatikbuch 777 Knaben auf Erbsen knien lassen 613 auf einem Stück Holz knien lassen 5001 den Esel tragen 1707 die Rute hoch halten www.stoppkindesmisshandlung.ch Der sogleich aus dem Stegreif verfügten Strafen nicht zu gedenken. Unter den Stockschlägen waren 800'000 für nicht erlernte lateinische Vokabeln und unter den Rutenhieben 36'000 für nicht erlernte Bibelsprüche und Liederverse. Unter seinen 3'000 Schimpfwörtern war ein Drittel eigene Erfindungen. Alle zwei Jahre brauchte er eine Bibel, die er stets zur schnellen Handhabung der Disziplin in den Händen trug. (Stephani, Heinrich: Nachweisung, wie unsere bisherige unvernünftige und zum Teil barbarische Schulzucht endlich einmal in eine vernünftige und menschenfreundliche umgeschaffen werden könne und müsse. 1827) www.stoppkindesmisshandlung.ch Graz, 1885 www.stoppkindesmisshandlung.ch 5/2013 www.stoppkindesmisshandlung.ch Inhalt 1. Teil: Grundlagen • Was bezeichnet man als Strafe? • Strafformen • Funktionen und Ziele von Strafen • Wirkungen und Nebenwirkungen von Strafen • Argumente gegen das Strafen 2. Teil: Ausweg „Grenzen setzen • Voraussetzungen • Hinweise, insbes. zum ‚richtigen Grenzen setzen www.stoppkindesmisshandlung.ch I. Strafen Grundlagen (Begriff, Formen, Abhängigkeit der Wirkungen sowie Nebenwirkungen) www.stoppkindesmisshandlung.ch Begriff Strafen im juristischen Sinn: • die rechtlich fixierten, staatlich vollzogenen Sanktionen bei schuldhaften Rechtsnormverletzungen. oder: • Strafen sind jenes „... Mittel, von dessen gesetzlicher Androhung und justizmässiger Anwendung die Durchsetzung der Rechtsordnung ... erwartet wird. www.stoppkindesmisshandlung.ch Begriff In der Pychologie werden unter Strafe jene Folgen auf ein Verhalten verstanden, die deutlich unangenehmer Natur – "aversiv" – sind Strafen – erziehungswissenschaftlich: „das Zufügen eines seelischen oder (bzw. und) körperlichen Leidens bzw. der Entzug eines Gutes (Wörterbuch für Erziehung und Unterricht, 1997) www.stoppkindesmisshandlung.ch Begriff Strafen: ... das Zufügen eines fühlbaren Nachteils, weil etwas getan oder unterlassen wurde. (Peter Krasemann) ... „absichtlich herbeigeführte Ereignisse, die zu unangenehmen inneren Zuständen führen, die die Betroffenen im allgemeinen vermeiden möchten (Rudolf Sponsel) www.stoppkindesmisshandlung.ch Arten/Formen • materiell: Geldstrafen, Entzug von Taschengeld, Nahrung, Spielzeug, Geräte und Instrumente etc. • körperlich: Schläge, Ohrfeigen, Tritte, Verbrennungen, Schütteln etc. • psychisch: Isolieren, Ablehnen (Zuwendung und Sicherheit verwehren), Demütigen (lächerlich machen, Blossstellen, etc.), Terrorisieren (in Angst und Schrecken versetzen, drohen), Ignorieren www.stoppkindesmisshandlung.ch Merkmal Strafen kann (fast) immer nur der / die ‚Stärkere / Überlegene www.stoppkindesmisshandlung.ch Funktionen und Ziele 1. Mit Strafe soll unerwünschtes Verhalten geschwächt, unwahrscheinlicher gemacht werden; erwünschtes, nicht gezeigtes Verhalten wahrscheinlicher gemacht werden (Verhaltensänderung). 2. Mit Strafe soll vorgebeugt werden (Abschreckung, Besserung). 3. Mit Strafe soll Schuld gesühnt werden (Vergeltung). 4. Mit Strafe soll Einsicht in die Unrechtmässigkeit des Handelns geweckt und Gewissen aufgebaut werden. www.stoppkindesmisshandlung.ch Wie wird gestraft? Kinder und Jugendliche! focus online www.stoppkindesmisshandlung.ch ... zumal Sanktionserfahrungen von Kindern und Jugendlichen N=2468; 11-16 Jährige haben mindestens einmal erlebt: 66,7% 64,2% 34,5% 46,9% 52% Fernsehverbot Ausgehverbot Taschengeldkürzung Schweigen Niederbrüllen 81,2% Ohrfeigen Bussmann, K.-D. & Horn, W.: Elternstrafen – Lehrerstrafen. Eine Untersuchung zur Strafpraxis in Schule und Familie. In: Bastian, J. (Hrsg.), 1995. www.stoppkindesmisshandlung.ch Wirkung ... ist abhängig 1. von der Intensität der Strafe 2. von der zeitlichen Relation zwischen Verhalten und Strafe 3. von der Art des bestraften Verhaltens 4. von der konsequenten Bestrafung 5. von der Häufigkeit des Strafens 6. von der Beziehung zwischen Bestrafenden und Bestraften 7. von der Art des Strafens www.stoppkindesmisshandlung.ch Das heisst: Unter natürlichen Bedingungen lassen sich die für die erfolgreiche Verhaltensveränderung erforderlichen Randbedingungen kaum realisieren. Es ist nur selten möglich, unerwünschtes Verhalten jedes Mal, sofort und intensiv zu bestrafen. www.stoppkindesmisshandlung.ch Ergebnisse der Wirkungsforschung - und Erfahrung Kinder und Jugendliche Führt Strafen wenigstens zum gewünschten Erfolg? „Nö , sagten uns Kinder und Jugendliche freimütig: „Wir lassen uns bloss nicht mehr erwischen! focus online Müsste tatsächlich so häufig gestraft werden, wenn Strafen ein effizientes Mittel wären?! www.stoppkindesmisshandlung.ch Ergebnisse der Wirkungsforschung - und Erfahrung Kriminologie Dank der in den letzten Jahrzehnten unternommenen umfassenden Forschungsarbeiten über die Abschreckung wissen wir heute, dass die Kriminalitäts- und Gewaltraten in einer Gesellschaft aus Gründen nach oben oder unten schwanken, die in keinerlei Zusammenhang mit dem von den Strafgerichten ausgesprochenen Strafmass oder der Schärfe der von der betreffenden Gesellschaft verhängten Sanktionen stehen. Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden, 2002. www.stoppkindesmisshandlung.ch Eine große Metaevaluation an der Universität Heidelberg (Dölling et al. 2011) kommt zum Ergebnis: „ … es scheint, dass Abschreckungseffekte abhängig sind vom Risiko entdeckt zu werden und nicht von der Schwere einer Strafe sowie eher bei leichten Normverletzungen. „Es gibt Fälle, in denen die Abschreckung das Verhalten beeinflusst – die Todesstrafe scheint jedoch nicht zu diesen Massnahmen zu gehören . ! „Mehr Strafe - weniger Kriminalität: Wirken (härtere) Strafen? Prof. Dr. Helmut Kury, Kriminologe, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht www.stoppkindesmisshandlung.ch www.stoppkindesmisshandlung.ch Fazit Strafen sind pädagogisch wenig effizient, nutzlos bildung schweiz 10/2008 www.stoppkindesmisshandlung.ch heisst das, dass ... ... oft Ausdruck von Hilflosigkeit und Überforderung bzw. als Reaktion auf Enttäuschungen und Frustrationen: Erwachsene reagieren ihren Ärger, ihre Wut und ihre Aggressionen an den Kindern ab www.stoppkindesmisshandlung.ch Körperstrafen Wo hört erzieherische Strenge und wo beginnt Gewalt / Misshandlung? Die Erziehung von Kindern von 0 bis 2,5 Jahren ist in der Schweiz begleitet von: • gelegentlichen bis sehr häufigen Ohrfeigen bei ca. 38'700 Kleinkindern • Schlägen bei ca. 21'800 Kleinkindern • Schlägen mit Gegenständen bei ca. 4'800 Kleinkindern (Aus: "Kindesmisshandlungen in der Schweiz", 1992, S.29 und 54) ! www.stoppkindesmisshandlung.ch Körperstrafen sind ... • pädagogisch sinnlos bzw. widersinnig • ethisch-moralisch nicht verantwortbar • rechtlich zumindest fragwürdig • psychologisch und medizinisch nicht folgenlos: was lernt ein Kind, wenn es geschlagen wird? www.stoppkindesmisshandlung.ch StGB Art. 126 Tätlichkeiten 1 Wer gegen jemanden Tätlichkeiten verübt, die keine Schädigung des Körpers oder der Gesundheit zur Folge haben, wird, auf Antrag, mit Busse bestraft. 2 Der Täter wird von Amtes wegen verfolgt, wenn er die Tat wiederholt begeht: a. an einer Person, die unter seiner Obhut steht oder für die er zusorgen hat, namentlich an einem Kind; b. www.stoppkindesmisshandlung.ch BGE 129 IV 216 … dass „der Täter, der die Kinder seiner Freundin im Zeitraum von drei Jahren etwa zehn Mal schlägt und sie regelmässig an den Ohren zieht, wiederholte Tätlichkeiten im Sinne von Art. 126 Abs. 2 StGB und damit die Grenze eines allfälligen Züchtigungsrechts überschreitet.“ www.stoppkindesmisshandlung.ch Vorsicht Denkfehler! Erziehung ohne (Körper-)Strafen ist ≠ antiautoritäre Erziehung ≠ sog. Kuschelpädagogik Dabei ist klar, dass man ein Kind nur dann bestrafen kann, wenn der Regelverstoss vorab definiert wird. www.hallofamilie.de www.stoppkindesmisshandlung.ch Nebenwirkungen unmittelbare Reaktionen Trotz, Negativismus, Widerstand, Rebellieren, Ungehorsam, Vergeltung, Zerstören, Angreifen, Lügen, Täuschen, Rückzug, Rivalität, Flucht, Aufgeben/Resignation, usw. www.stoppkindesmisshandlung.ch Nebenwirkungen • • • • • • • • • Lernen von Angst (emotionale Begleiterscheinung) Lernen von Aggression (Lernen am Modell) negatives Vorbild Störungen des Selbstwertgefühls (Unsicherheit, Gehemmtheit) Störungen der Eltern-Kind-Beziehung, des Vertrauens Lernen, etwas nicht zu tun, solange die Strafbedingungen präsent sind Reaktanz (genau das nicht tun, zu dem man gezwungen wird) unerwünschtes Verhalten gewinnt an Attraktivität ... www.stoppkindesmisshandlung.ch Körperstrafen ➜ kein Erziehungsmittel, sondern Gewalt www.stoppkindesmisshandlung.ch Strafen: Verhältnis zur Gewalt „Strafen bedeutet aggressive Leidzufügung Gottfried Lischke (S.69) „Wer eine Bestrafung durchsetzen will, muss selbst Gewalt ausüben (Spittler, Rechtssoziologe) Landesjugendamt Brandenburg: Respektvoller Umgang mit Kindern. Erziehungsmittel unter der Lupe. Eine Handreichung für die pädagogische Praxis. 2009 www.stoppkindesmisshandlung.ch Strafen - Gewalt Udo Rauchfleisch (S.73f.): „ ... haben wir es beim ‚Strafen mit einer speziellen Form von Gewalt zu tun. Wie vielfach bei Gewalthandlungen begründen und rechtfertigen Täterinnen und Täter ihr Verhalten in diesem Falle als sinnvolle und notwendige Erziehungsmassnahme und leugnen damit das Faktum der Gewaltausübung. Dennoch lässt eine genauere Untersuchung solcher angeblicher ‚Erziehungsmassnahmen schnell erkennen, dass es sich eindeutig um Gewalt handelt, da die beiden Hauptmerkmale der Gewalt vorliegen, die Machtdifferenz (hier die mächtigen Täter, dort die hilflosen Opfer) und die Schädigung der Opfer . www.stoppkindesmisshandlung.ch falls doch, dann ... Bestrafen Sie Ihr Kind nur dann, wenn es die Regeln, gegen die es verstösst, auch kennt. Strafen sollen in einem logischen Zusammenhang mit dem Vergehen stehen. (bedenken, dass Kinder erst ab ca. 8 Jahren die sozialen Regeln so weit verinnerlicht haben, dass sie sich weitgehend eigenverantwortlich daran halten können!) Unterscheiden sie zwischen dem Kind und seinem Verhalten. www.stoppkindesmisshandlung.ch Fazit Was spricht für die Anwendung von Strafen in der Erziehung? Nicht das Strafen ‚perfektionieren , sondern nach Alternativen Ausschau halten! www.stoppkindesmisshandlung.ch II. Ausweg www.stoppkindesmisshandlung.ch Grenzen setzen: aber wie? Kinder brauchen Grenzen • Grenzen bieten Schutz • Grenzen bieten Halt und Orientierung • Grenzen bieten Geborgenheit www.stoppkindesmisshandlung.ch Grenzen setzen Voraussetzungen / Bedingungen • Kinder brauchen Liebe • Kinder brauchen Respekt • Die perfekte Erziehung gibt es nicht! • Die Frage ist nicht ‚ob‘, sondern ‚wie‘ www.stoppkindesmisshandlung.ch Merkmale sinnvoller Grenzen • konstruktive Handlungsanleitungen: Wegweiser, nicht Verbotsschilder! • orientieren sich an der Frage: „Wie möchte ich behandelt werden?“ nicht: „Wie wurde ich als Kind behandelt?“ www.stoppkindesmisshandlung.ch d.h. • • • • klare, konkrete und eindeutige Sprache nicht zu viel auf einmal keine ‚Relativierer‘ (z.B. eigentlich) Übereinstimmung zwischen Haltung/ Ausdruck und Inhalt • direkte Kontaktaufnahme – auch mit den Augen • Vorbild sein www.stoppkindesmisshandlung.ch www.stoppkindesmisshandlung.ch www.stoppkindesmisshandlung.ch Erziehungsbeziehung heisst aber auch: • • • • • • Zeit nehmen / haben Alternativen bieten Ablenken und anregen die Umgebung ändern, nicht das Kind Bewertungen überdenken konstruktive Konflikt- / Problemlösung • Phantasie, Kreativität und Humor www.stoppkindesmisshandlung.ch Freiheit in Grenzen www.freiheit-in-grenzen.org www.stoppkindesmisshandlung.ch herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit www.stoppkindesmisshandlung.ch Zwicky, 2004, 38-44: Herkömmliches Strafen geht davon aus: • dass der Strafende eine Autoritätsperson darstellt oder eine entsprechende Autorität vertritt • dass durch die Bestrafung geahndete Normverletzungen generell akzeptiert und nicht Gegenstand der Diskussion sind • dass der oder die Strafende mit der Strafhandlung keine spezifischen Eigeninteressen vertritt • dass die Strafe einen übergeordneten – pädagogischen – Zweck erfüllt und beim Bestraften zur einer Verhaltensänderung aus Einsicht beiträgt www.stoppkindesmisshandlung.ch Ist das heute noch so? 1. Autoritätsverlust 2. Werte- und Normenpluralismus 3. Funktionsanforderungen zunehmend bürokratischer Organisationssysteme 4. eher in Frage stellen der strafenden Person bzw. institutioneller Regeln als Verhaltensänderung Heinrich Zwicky: Ignorieren oder Nachsitzen. Formen, Dimensionen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen des Strafens in der Schule. In: Frey, K. et al.: Strafen. Die unangenehme Pflicht. Texte und Materialien für Pädagoginnen und Pädagogen. Pestalozzianum, Zürich, 2004, 38-44. www.stoppkindesmisshandlung.ch Tschöpe-Scheffler! www.stoppkindesmisshandlung.ch Unverbesserlich Eine wegen Schwarzfahrens vorgeladene Deutsche ist sogar zu ihrer Vernehmung bei der Polizei ohne Ticket mit der U-Bahn gefahren. Nach Behördenangaben in Bochum vom Dienstag gab die polizeibekannte 19-Jährige die dreiste Schwarzfahrt zur Wache selbst zu. Der Beamte war stutzig geworden, weil die Kleidung trotz strömendem Regen trocken war. (sda)! Der Bund, 23.November 2005 www.stoppkindesmisshandlung.ch und die Realität? www.stoppkindesmisshandlung.ch Strafen – ja oder nein? Ein Rundgang durch ein unlösbares Problem Ursula Ruthemann / PHZ Tatsache: 100 Bücher und keine befriedigenden Antworten Tatsache: seit 1 000 Jahren praktiziert und kein Patentrezept in Sicht Tatsache: bei 10 000 Lehrpersonen verpönt und von ebenso vielen praktiziert www.stoppkindesmisshandlung.ch