Die Studentin und der Mörder
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Die Studentin und der Mörder
Home E-Paper Tarife Vertrieb Disclaimer Kontakt E-Paper Das ganze Tagblatt am Computer lesen Donnerstag, 14. FEBRUAR 2013, 20:36 Aktuell Liebe Ausgang Tagblatt TV Leserbilder News Reportage Interview Stadtratskolumne Album Stadtratskolumne Leserbriefe Stichwort-Suche Das Tagblatt App Das ganze Tagblatt auf dem iPad oder dem iPhone lesen Su Wetter in Zürich: -2°C Porträt Lifestyle Was macht eigentlich Gut zu wissen Gegessen Porträt Nicht entscheiden ist der grösste Fehler Als Finanzvorstand ist man immer wieder mit Überraschungen konfrontiert. Zum Beispiel beim... mehr ... Martin Vollenwyder Tagblatt TV Anzeige Die Studentin und der Mörder Von: Clarissa Rohrbach Valentina Suter korrespondiert mit einem US-Häftling. Die Brieffreundschaft vermittelte die Organisation Lifespark. Sie feiert das 20-Jahr-Jubiläum. Irgendwann, da wird auch er auf dieser Liege landen. Wo sie ihm vor den Augen der Zuschauer die tödliche Spritze verabreichen werden. Es wird nicht lange dauern, bis sein angeschnallter Körper regungslos im Exekutionsraum liegen wird. Doch zurzeit ist der Tod für Kevin D. etwas Abstraktes, Ungreifbares, obwohl er dazu verurteilt wurde. Seit fünf Jahren wartet er auf eine Hinrichtung, die nicht kommt. Das Einzige, worauf er sich verlassen kann, sind Valentina Suters Briefe. Sie kommen alle zwei Wochen aus Zürich nach Kalifornien und erzählen ihm von einer Welt ausserhalb der Gefängnismauern. «Ich habe kein Mitleid mit ihm, das ist nicht der Grund, wieso ich schreibe», sagt Valentina Suter. Sie sitzt in einem Café, auf dem Tisch liegen Dutzende von handgeschriebenen Seiten. 14 Briefe haben sie und Kevin D. sich seit letztem April geschickt. Daran haften Fotos: Ein junger, schwarzer Mann lächelt in die Kamera, er sieht eigentlich ganz harmlos aus. «Es kann nicht angehen, dass man von einem Mörder behauptet: ‹Eigentlich ist er ein ganz guter.› Wer Menschen umbringt, muss bestraft werden, das ist keine Frage.» Doch es sei falsch, einem Mörder mit gleicher Münze heimzuzahlen. Denn über Leben und Tod sollen Menschen nicht entscheiden. Suter hatte sich zuvor nicht gross mit der Todesstrafe auseinandergesetzt. Sie war letzten Frühling auf der Heimfahrt im Zug, als sie einen Artikel über Lifespark in der Zeitung las. Die schweizerische Organisation wurde 1993 gegründet, setzt sich für amerikanische Häftlinge im Todestrakt ein und vermittelt Brieffreunde für sie. «Die Idee fand ich herausfordernd. Wir wissen zwar, dass es im Leben Schlimmes gibt, doch konfrontiert sind wir selten damit. Ich wollte meinen Horizont erweitern.» Die 21-Jährige meldete sich an und bekam Unterlagen, danach folgte ein Telefongespräch. Suter: «Für eine solche Korrespondenz muss man stabil sein, mit beiden Beinen im Leben stehen. Wer noch nicht reif ist oder selber Probleme hat, kann nicht mit einer solchen Situation konfrontiert werden.» "Nur die Worte sollten zählen" Der Germanistikstudentin traute Lifespark das aber zu: Eine Woche später bekam sie Kevins Adresse und Informationen, wie sie den ersten Brief verfassen könnte. Dazu die Hausregeln des San Quentin State Prison. Maximal zehn Fotos, keine Pakete und einen Hinweis, dass jeder Brief von den Wächtern durchgelesen wird. Das älteste Gefängnis Kaliforniens ist das einzige im Staat mit einem Todestrakt. Seit 1852 wurden dort 422 Menschen hingerichtet. Anfangs erhängt, dann in einer Gaskammer und seit 1996 mit einer Giftinjektion. Weil das für 3317 Insassen konzipierte Gefängnis chronisch überfüllt ist, gilt es als besonders brutal. Für Kevin D. muss Suters erstes Schreiben eine freudige Überraschung gewesen sein. Denn die Warteliste von Häftlingen, die eine Brieffreundschaft suchen, ist lang. Er las, wohl in seiner Zelle, von Valentinas Reiseplänen, ihrem Freund und ihrer Kindheit. «Ich habe mich nur oberflächlich vorgestellt, wollte nicht zu zugänglich sein.» Auch ein Bild schickte sie erst in späteren Briefen mit. «Nur die Worte sollten zählen, jeder von uns sollte eine Chance haben, sich neu zu präsentieren.» Zwei Wochen später lag ein Couvert in ihrem Briefkasten, vom U.S. Postal Service abgestempelt. Sie zögerte, musste sich ins Zimmer zurückziehen, um die Zeilen zu lesen. Kevins Neugier war überwältigend. Er stellt sich zwar vor, wollte aber vielmehr alles über sie wissen: was Valentinas Sternzeichen sei, wie viele Sprachen sie spreche, ob sie mit dem Tram an die Uni fahre? Das alles in ungrammatikalischem Slang. «Die Banalität der Fragen erstaunte mich. Dann wurde mir aber klar, wie anders mein privilegiertes Leben von seinem ist.» Der 32-Jährige hatte nie etwas anderes als Kalifornien gesehen, er saugte jede Erzählung wie ein Lebenselixier auf. Erst beim sechsten Brief fragte Suter nach seinem Delikt. Die Anklage laute Doppelmord mit Raub, antwortete er. Kevin D. informierte sie spärlich über das, was geschehen war. Er wuchs zwischen sich bekriegenden Gangs auf, arbeitete sich dann als Jugendarbeiter hoch, fiel aber wieder ins Milieu zurück. Es sei um die Ehre der Gang gegangen, doch er sei unschuldig, behauptete er. Valentina Suter liess das so stehen. «Es liegt nicht an mir, über ihn zu urteilen.» Doch als sie ihn googelte, fand sie heraus, dass er neunmal auf einen Familienvater geschossen hatte. «Ich versuche ihn nur als Menschen zu sehen, ohne seine Handlungen, aber natürlich auch ohne naiv zu sein.» Mit der Zeit wurden die Briefe etwas tiefgründiger. Die beiden erzählten sich, was sie beschäftigte. «Er erzählte, wie schwierig es sei, stark zu bleiben, nicht zusammenzubrechen.» Denn sein einziges Highlight ist ein viertelstündiger Spaziergang im Hof alle vier Wochen, sowie das Kartenspielen mit den Gefangenen. Sonst schaut er bloss Fernsehen. Er muss auch aufpassen, wen er von den Insassen anredet, denn die Lage kann im Gefängnis schnell eskalieren. Doch das Schlimmste sei die Ungewissheit. Unter Umständen wird das Verfahren erst in Jahrzehnten abgeschlossen, er muss warten, ohne zu wissen, was passieren wird. Valentina Suter hat Kevin D. nie gesagt, dass er ihr leidtue. Er hat sich auch nie beklagt. Dass ihn die Familie besuchen kommt, beruhigt sie aber. «Die einzige Bezugsperson zu sein, würde mich belasten.» Der Häftling sei zwar ein Freund, aber diese Bekanntschaft habe mir ihrem Alltagsleben nichts zu tun. Sie versteht nicht, wie gewisse Frauen sich in die Kriminellen verlieben können. «Das Risiko, jemanden zu idealisieren, gibt es natürlich, eine Brieffreundin bietet eine grosse Projektionsfläche. Deswegen habe ich sofort klargestellt, dass ich einen Freund habe.» Wäre Kevin D. anzüglich, würde Suter ihm klar machen, dass sie das nicht will. «Klar helfe ich ihm, aber ich habe kein Helfersyndrom.» Ihr Freund versteht den Austausch nicht so ganz, ihre Mutter meint sogar, das gebe schlechte Energie. Die Studentin erzählt selten davon. «Die Leute schlucken erst mal und schweigen dann.» In Kevin sieht sie eine Person, mit der sie sich austauschen kann. Vielleicht gibt es im Leben kein Böses, sondern nur Menschlichkeit. Mit all ihren Mängeln. zurück zu Porträt Artikel bewerten Noch nicht bewertet. Gefällt mir 1 Kommentar schreiben · Leserkommentare Keine Kommentare Kommentar schreiben 4 Gefällt mir 0 0