Die Studentin und der Mörder

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Donnerstag, 14. FEBRUAR 2013, 20:36
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Die Studentin und der Mörder
Von: Clarissa Rohrbach
Valentina Suter korrespondiert mit einem US-Häftling. Die
Brieffreundschaft vermittelte die Organisation Lifespark. Sie feiert das
20-Jahr-Jubiläum.
Irgendwann, da wird auch er auf dieser Liege landen. Wo sie ihm vor den Augen
der Zuschauer die tödliche Spritze verabreichen werden. Es wird nicht lange
dauern, bis sein angeschnallter Körper regungslos im Exekutionsraum liegen wird.
Doch zurzeit ist der Tod für Kevin D. etwas Abstraktes, Ungreifbares, obwohl er
dazu verurteilt wurde. Seit fünf Jahren wartet er auf eine Hinrichtung, die nicht
kommt. Das Einzige, worauf er sich verlassen kann, sind Valentina Suters Briefe.
Sie kommen alle zwei Wochen aus Zürich nach Kalifornien und erzählen ihm von
einer Welt ausserhalb der Gefängnismauern.
«Ich habe kein Mitleid mit ihm, das ist nicht der Grund, wieso ich schreibe», sagt
Valentina Suter. Sie sitzt in einem Café, auf dem Tisch liegen Dutzende von
handgeschriebenen Seiten. 14 Briefe haben sie und Kevin D. sich seit letztem
April geschickt. Daran haften Fotos: Ein junger, schwarzer Mann lächelt in die
Kamera, er sieht eigentlich ganz harmlos aus. «Es kann nicht angehen, dass man
von einem Mörder behauptet: ‹Eigentlich ist er ein ganz guter.› Wer Menschen
umbringt, muss bestraft werden, das ist keine Frage.» Doch es sei falsch, einem
Mörder mit gleicher Münze heimzuzahlen. Denn über Leben und Tod sollen
Menschen nicht entscheiden.
Suter hatte sich zuvor nicht gross mit der Todesstrafe auseinandergesetzt. Sie
war letzten Frühling auf der Heimfahrt im Zug, als sie einen Artikel über Lifespark
in der Zeitung las. Die schweizerische Organisation wurde 1993 gegründet, setzt
sich für amerikanische Häftlinge im Todestrakt ein und vermittelt Brieffreunde für
sie. «Die Idee fand ich herausfordernd. Wir wissen zwar, dass es im Leben
Schlimmes gibt, doch konfrontiert sind wir selten damit. Ich wollte meinen Horizont
erweitern.» Die 21-Jährige meldete sich an und bekam Unterlagen, danach folgte
ein Telefongespräch. Suter: «Für eine solche Korrespondenz muss man stabil
sein, mit beiden Beinen im Leben stehen. Wer noch nicht reif ist oder selber
Probleme hat, kann nicht mit einer solchen Situation konfrontiert werden.»
"Nur die Worte sollten zählen"
Der Germanistikstudentin traute Lifespark das aber zu: Eine Woche später bekam
sie Kevins Adresse und Informationen, wie sie den ersten Brief verfassen könnte.
Dazu die Hausregeln des San Quentin State Prison. Maximal zehn Fotos, keine
Pakete und einen Hinweis, dass jeder Brief von den Wächtern durchgelesen wird.
Das älteste Gefängnis Kaliforniens ist das einzige im Staat mit einem Todestrakt.
Seit 1852 wurden dort 422 Menschen hingerichtet. Anfangs erhängt, dann in einer
Gaskammer und seit 1996 mit einer Giftinjektion. Weil das für 3317 Insassen
konzipierte Gefängnis chronisch überfüllt ist, gilt es als besonders brutal.
Für Kevin D. muss Suters erstes Schreiben eine freudige Überraschung gewesen
sein. Denn die Warteliste von Häftlingen, die eine Brieffreundschaft suchen, ist
lang. Er las, wohl in seiner Zelle, von Valentinas Reiseplänen, ihrem Freund und
ihrer Kindheit. «Ich habe mich nur oberflächlich vorgestellt, wollte nicht zu
zugänglich sein.» Auch ein Bild schickte sie erst in späteren Briefen mit. «Nur die
Worte sollten zählen, jeder von uns sollte eine Chance haben, sich neu zu
präsentieren.» Zwei Wochen später lag ein Couvert in ihrem Briefkasten, vom
U.S. Postal Service abgestempelt. Sie zögerte, musste sich ins Zimmer
zurückziehen, um die Zeilen zu lesen. Kevins Neugier war überwältigend. Er stellt
sich zwar vor, wollte aber vielmehr alles über sie wissen: was Valentinas
Sternzeichen sei, wie viele Sprachen sie spreche, ob sie mit dem Tram an die Uni
fahre? Das alles in ungrammatikalischem Slang. «Die Banalität der Fragen
erstaunte mich. Dann wurde mir aber klar, wie anders mein privilegiertes Leben
von seinem ist.» Der 32-Jährige hatte nie etwas anderes als Kalifornien gesehen,
er saugte jede Erzählung wie ein Lebenselixier auf.
Erst beim sechsten Brief fragte Suter nach seinem Delikt. Die Anklage laute
Doppelmord mit Raub, antwortete er. Kevin D. informierte sie spärlich über das,
was geschehen war. Er wuchs zwischen sich bekriegenden Gangs auf, arbeitete
sich dann als Jugendarbeiter hoch, fiel aber wieder ins Milieu zurück. Es sei um
die Ehre der Gang gegangen, doch er sei unschuldig, behauptete er. Valentina
Suter liess das so stehen. «Es liegt nicht an mir, über ihn zu urteilen.» Doch als
sie ihn googelte, fand sie heraus, dass er neunmal auf einen Familienvater
geschossen hatte. «Ich versuche ihn nur als Menschen zu sehen, ohne seine
Handlungen, aber natürlich auch ohne naiv zu sein.»
Mit der Zeit wurden die Briefe etwas tiefgründiger. Die beiden erzählten sich, was
sie beschäftigte. «Er erzählte, wie schwierig es sei, stark zu bleiben, nicht
zusammenzubrechen.» Denn sein einziges Highlight ist ein viertelstündiger
Spaziergang im Hof alle vier Wochen, sowie das Kartenspielen mit den
Gefangenen. Sonst schaut er bloss Fernsehen. Er muss auch aufpassen, wen er
von den Insassen anredet, denn die Lage kann im Gefängnis schnell eskalieren.
Doch das Schlimmste sei die Ungewissheit. Unter Umständen wird das Verfahren
erst in Jahrzehnten abgeschlossen, er muss warten, ohne zu wissen, was
passieren wird.
Valentina Suter hat Kevin D. nie gesagt, dass er ihr leidtue. Er hat sich auch nie
beklagt. Dass ihn die Familie besuchen kommt, beruhigt sie aber. «Die einzige
Bezugsperson zu sein, würde mich belasten.» Der Häftling sei zwar ein Freund,
aber diese Bekanntschaft habe mir ihrem Alltagsleben nichts zu tun. Sie versteht
nicht, wie gewisse Frauen sich in die Kriminellen verlieben können. «Das Risiko,
jemanden zu idealisieren, gibt es natürlich, eine Brieffreundin bietet eine grosse
Projektionsfläche. Deswegen habe ich sofort klargestellt, dass ich einen Freund
habe.» Wäre Kevin D. anzüglich, würde Suter ihm klar machen, dass sie das nicht
will. «Klar helfe ich ihm, aber ich habe kein Helfersyndrom.» Ihr Freund versteht
den Austausch nicht so ganz, ihre Mutter meint sogar, das gebe schlechte
Energie. Die Studentin erzählt selten davon. «Die Leute schlucken erst mal und
schweigen dann.» In Kevin sieht sie eine Person, mit der sie sich austauschen
kann. Vielleicht gibt es im Leben kein Böses, sondern nur Menschlichkeit. Mit all
ihren Mängeln.
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