Jenseits des Materiellen
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Jenseits des Materiellen
SPECTRUM Porträt Marie-Louise Ries Jenseits des Materiellen Marie-Louise Ries hat die Berufsberatung gleich mehrmals neu erfunden. Gruppenberatung, die feministische Beratung, Erwachsenenberatung oder Altersberatung sind Bereiche, die sie entscheidend vorangebracht hat. Nun zieht sich die Doyenne der Schweizer Berufsberatung aus dem Berufsleben zurück. Roy Stähelin, NZZ Daniel Fleischmann Marie-Louise Ries hat es nicht mehr eilig. Um 18.30 erst hat sie ihren nächsten Ter min, einen Kurs in Silberschmieden. Sie lernt dort das Löten und wird dann ver schiedene Dinge, Schmuck und Silberwa ren, reparieren können. Vor einem Jahr wollte sie einen Rosenbogen für ihr Haus im Tessin schmieden und hat schweissen gelernt, erzählt sie. Auch mauern kann sie, verputzen und malen, und der Garten ist sowieso eine ihrer Leidenschaften. Marie-Louise Ries hat sich, wie sie selber sagt, schon immer für die Grundfertig keiten des Handwerks interessiert, doch erst jetzt, im Gnadenstand der allmäh lichen Pensionierung, hat sie genügend Zeit dafür. Diese Neigung mag man see lenkundlich deuten: Erwin Leibundgut, der Astrologe unter den Berufsberatern, sagte einmal, Marie-Louise Ries schwebe auf einer Wolke über der Erde, und von dort rufe sie zuweilen herunter und ver künde, was sich weit vorne, in der Zu kunft, entwickle. Eine Frau mit Visionen, die als Ausgleich das Gewicht der Erde, das Handfeste sucht – sicher kein unpas sendes Bild für Marie-Louise Ries. Marie-Louise Ries, 66: Kein leichter Abschied. Die Formulierung vom «Gnadenstand der allmählichen Pensionierung» aller dings ist zu harmlos. Marie-Louise Ries erzählt, sie habe zu lange gezögert, sich aus dem Berufsleben zurückzuziehen, und man spürt den Grund: Der Abschied fällt ihr nicht leicht. Ries muss sich in diesen Monaten nicht einfach von einem Beruf lösen, sondern von einer Berufung. Ihre berufskundliche Dokumentation und die Spuren von Dutzenden von Seminaren oder Zeitungsartikeln füllen PANORAMA 1/2004 ganze 60-Liter-Säcke. Ries war von 1979 bis 1987 beim Kanton Zürich zuständig für die Entwicklung von Methoden der Erwachsenen- und der Gruppenberatung – «eine tolle Zeit», wie sie sich erinnert, in der sie auch Beatrice Stoffel kennen lernte.1 Danach gründete sie das Institut BALance, eine Institution der Frauenförde rung, die zeitweise mit 40 Kursleiterin nen arbeitete. «Wir waren unglaublich breit», sagt Ries, «Standortbestimmun51 gen, Sprache, Zeit, Biografie und Füh rung, Stress, Supervisionen – ich kann mir wenige Themen vorstellen, mit de nen wir uns nicht aus feministischer Sicht 1 Mit Beatrice Stoffel entwickelte Marie-Louise Ries den 4-semestrigen SVB-Nachdiplomlehrgang in Erwachsenenberatung und schrieb das SVB-Lehrmittel «Unterwegs als Interessen-Detektivin». Seit 2001 ist Ries zudem am EuropaProjekt «Equal» beteiligt, das Beatrice Stoffel leitet. «Equal» ist ein innovatives Personalent wicklungs- und Weiterbildungsprogramm für Beschäftigte im Aufgabenfeld Arbeitsmarkt. SPECTRUM Porträt Marie-Louise Ries beschäftigt hätten.» – Wie soll man sich davon leicht trennen? «Indem man neue Verbindungen eingeht», antwortet Ries. Aber noch ist es nicht so weit, noch befindet sich Marie-Louise Ries in der Phase des Übergangs. Sie führt sechs Be ratungen pro Woche durch, engagiert sich beim European Women’s College (www.ewc.ch) und hält bei der ABB und den SBB Kurse zum Übergang in die nachberufliche Zeit ab. Mit diesem Ge genstand sei sie ein erstes Mal bei der Swissair aktiv geworden, die schon in den 70er-Jahren Pensionierungskurse anbot, erzählt Ries, um dann einen Satz zu sa gen, der nach Wolkenweitsicht klingt: «Die Berufsberatung zeigt den Menschen den Weg in den Beruf. Sie sollte sie ver mehrt auch wieder hinaus begleiten.» Wenn man Marie-Louise Ries heute nach dem Wichtigen in ihrer Berufsbiografie fragt, erhält man eine überraschende Ant wort. Sie rückt nicht etwa die Arbeit mit Frauen ins Rampenlicht oder das Grup pensetting, sondern ihre Tätigkeit in der Industrie. Seit sie sich 1962, unmittelbar nach ihrer Ausbildung in Berufsberatung und Arbeits- und Betriebspsychologie, selbständig machte, habe sie Mandate in der Privatindustrie gehabt, sagt sie. Die ser Kontakt zur Arbeitswirklichkeit sei ihr immer wichtig gewesen. «Wie wählt man unter einer Gruppe von Italienern die Persönlichkeit aus, die führen kann?» – so lautete eine Frage, die sie einst beschäftig te. Später: «Wie geschieht es, dass in Be trieben einzelne Menschen Karriere ma chen, andere, besonders Frauen, nicht?» Marie-Louise Ries war während vieler Jahre für die Swissair tätig. Sie erlebte, wie 200 Flight Engineers umgeschult werden mussten, weil in den Cockpits nur noch zwei Personen nötig waren, oder führte Standortbestimmungen mit den durch Auslagerung überflüssig ge wordenen Mitarbeitenden der Verkehrs buchhaltung durch. Ries: «Die Verände rungen – nicht selten sehr frühzeitige Pensionierungen – lösten zumeist Wut und Widerspruch aus. Je länger aber un sere Seminare dauerten, desto öfter mel deten sich die Menschen freiwillig, weil sie im Weggang von ihrer Arbeit eine neue Chance sahen.» Ries hat beobachtet, PANORAMA 1/2004 dass heute viele Menschen den Druck am Arbeitsplatz kaum mehr aushalten. Der Zwang zur ständigen Veränderung führe dazu, dass die Leute sich kaum mehr vor stellen können, bis 65 zu arbeiten. Und düster meint sie: «Ich glaube, wir sind sehr blauäugig in die Globalisierung mar schiert. Unser Wohlstand wird sich im globalen Dorf nach unten anpassen.» Marie-Louise Ries hat sich immer als «po litische» Berufsberaterin verstanden. La chend erzählt sie, wie sie während ihrer Ausbildung Ende der 50er-Jahre für ihre Stelle in die Migros einkaufen ging – für die ansässigen, gewerbeabhängigen Berufs beratenden war das politisch zu heikel. Seit den 70er-Jahren hat sie sich auf Frauenfra gen spezialisiert und erste Wie dereinstiegsgruppen organisiert. Am Frau enkongress von 1975 forderte sie in einem viel beachteten Referat die vermehrte För derung des «live long learning», die Durchlässigkeit und Modularisierung von Ausbildungsgängen. Schliesslich wurde Ries 1980, anlässlich der Jugendunruhen, Mitglied der SP, in deren «AG Alter» sie sich heute engagiert. Und wieder sagt sie einen Satz mit Wolkenweitsicht (und es klingt wie eine Antwort auf den drohen den Wohlstandsverlust): «Im Moment be fassen wir uns mit dem Thema Armut. Verrückt ist: Die Männer definieren Ar mut immer nur materiell. Ich habe jetzt Interviews mit einer Reihe von materiell armen, aber zufriedenen Frauen gemacht. Eine hat herausgefunden, dass sie Billette ersteigern kann, mit denen sie fast gratis nach Shanghai kommt. Dort kostet das Hotel pro Tag 5 Franken. Mir gefallen schräge, kreative Menschen.» Was macht den Menschen reich, jenseits des Materiellen? Vielleicht ist das die Fra ge, die Marie-Louise Ries hinter allem be wegt, hinter ihrem beruflichen und per sönlichen Engagement, hinter ihrer ak tuellen Lektüre. Seit neustem erlaube sie sich viel Belletristik, erzählt Ries, die Ella Maillarts «Geliebte Samtpfote» erwähnt und Monika Marons «Endmoränen». Es ist die Bilanz einer älter gewordenen Frau aus der ehemaligen DDR, der es materiell zwar besser geht als vor 1989. Der wider ständige Lebenssinn aber ging verloren. 52 Portrait de Marie-Louise Ries Marie-Louise Ries, 66 ans, se retire ces mois de la vie professionnelle. Elle compte parmi les représentantes les plus importantes de l’orientation profession nelle en Suisse ces 30 dernières années. Son nom est associé à des innovations importantes dans les domaines de la consultation en groupe, de la consulta tion féministe, ainsi que de la consulta tion des adultes et de celle des aîné-e-s. De 1979 à 1987, Ries a occupé dans le canton de Zurich un poste à mi-temps et était responsable du développement de la méthodologie de l’orientation des adultes et en groupe. Durant cette période, elle a fait la connaissance de Beatrice Stoffel, avec laquelle elle a développé la forma tion post-garde de l’ASOSP en 4 semes tres consacrée à l’orientation des adultes et a écrit le manuel de l’ASOSP intitulé «Unterwegs als Interessen-Detektivin». A la fin de son activité pour le canton de Zurich, Marie-Louise Ries a créé l’institut zurichois BALance, une institution pour la promotion des femmes, qui a compté jusqu’à 40 responsables de cours. Aujourd’hui, Marie-Louise Ries donne encore souvent des cours sur le passage à la retraite. Elle s’est occupée pour la pre mière fois activement de cet objet dans les années septante avec la création de cours de préparation à la retraite chez Swissair. Ries est convaincue: «L’orientation professionnelle montre aux indi vidus le chemin vers la profession. Elle devrait les accompagner davantage aussi vers la sortie.» Il ne s’agit pas seulement du domaine professionnel, mais aussi de ce qui enrichit les êtres au-delà des aspects matériels. DF/RA INFO Marie-Louise Ries, Adresse: Mühlehalde 9, 8032 Zürich [email protected] Internet: Die wichtigsten Berufsdaten von Marie-Louise Ries finden sich unter www.panorama.ch/files/3377.pdf