08 Krankheit, Schmerz und Tod Munchs innere Schreckensbilder

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08 Krankheit, Schmerz und Tod Munchs innere Schreckensbilder
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Krankheit, Schmerz und Tod – Munchs innere Schreckensbilder
Für den 5-jährigen Edvard Munch war der frühe Tod der Mutter ein folgenschweres Ereignis. Zu seiner
ein Jahr älteren Schwester Sophie entwickelte er eine starke Bindung. Als Junge erlebte er nun das
Dahinsiechen seiner Lieblingsschwester, die schließlich mit 15 Jahren, wie die Mutter an Tuberkulose*
starb. Die wichtigsten Bezugspersonen, die ihm das Gefühl von Geborgenheit gaben, hatte er verloren.
Es waren diese frühen Erfahrungen von Verlassenwerden und Abschiednehmen, die seine Einstellung zu
Leben und Tod prägten und die wir später in seinen Bildern wiederfinden werden. In seinem Tagebuch
vermerkte er:
„Mein Zuhause war ein Zuhause der Krankheit und des Todes. Wahrscheinlich bin ich über das Unheil
dort niemals hinweggekommen. Es hat auch meine Kunst geprägt“.
Die Malerei half ihm bei der Verarbeitung der persönlichen Erlebnisse. Die Erfahrungen von Leid und
Schmerz durch den Verlust der geliebten Menschen setzte er in Themen wie Die tote Mutter oder Das
kranke Kind um. In zahlreichen Variationen bearbeitete er die Motive auch in ganz unterschiedlichen
Techniken.
Wer sich mit diesen Bildern auseinandersetzt aktiviert seine eigenen Wunsch- und Angstbilder. Die
Frage: „und wie würde ich damit umgehen?“ begleitet uns in seinen Werken. Das Leiden bannte er auf
die Leinwand, doch er klagt nicht an. Seine Botschaft an den Betrachter lautet: lieben, leiden, weiter
leben.
Das Kind und der Tod, 1899
In mehreren voneinander abweichenden Varianten schuf Munch eine ganze Werkgruppe um die
Motive Krankheit und Tod. Im Bremer Bild Das Kind und der Tod konzentrierte er sich ganz auf das
Kind und die tote Mutter. Nichts soll vom Wesentlichen ablenken,
von dem furchtbaren Ereignis. Haltung und Gestik des Mädchens
erklären sich durch die tote Mutter im fahlen Licht des
Hintergrundes. Und doch wirkt der Gesichtsausdruck des
Mädchens zu vage, um seine Gefühle eindeutig zu benennen. Das
zeichnet das Bremer Bild aus, da auf anderen Werken zu diesem
Thema das Kind einen Ausdruck erhält, der das unfassbare
Geschehen eindeutig in Mimik und Gestik spiegelt. Während sich
also Gestik und Ausdruck in den anderen Werken von selbst
erklären, ist in dem Bremer Bild eine Stimmung eingefangen, die
vielschichtig ist. Das Mädchen hat die Augen weit aufgerissen, aber
in ihnen spiegelt sich nicht das Entsetzen. Das Unfassbare, der Tod der Mutter, kommt in Andeutungen
daher. Auch hier hat Munch eine sehr bewegende Szene dargestellt, die eine spürbare Spannung erzeugt.
In schonungsloser Offenheit zeigt Munch, was für das Auge unsichtbar ist: ein Empfinden für das es
keine Worte gibt, keinen Schrei – nur Stille.
Wie in so vielen anderen Bildern wird der Betrachter auch hier aufgefordert, Stellung zu beziehen. In
der Stille des Todes bleibt der ruhige, aber intensive Ausdruck des Mädchens offen für verschiedenste
innere Gefühle. Noch scheint das kleine Mädchen das konkrete Ereignis – den Tod der Mutter – nicht
zu begreifen. Der innere Aufruhr findet noch nicht statt. Das Unfassbare, der Schock hat eine andere
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Gestalt als das Entsetzen, die Trauer, der Schmerz. Das grundlegende menschliche Empfinden findet mit
der stummen Geste in der bedrückenden Todesstille eine unglaubliche Ausdruckskraft.
Vier Lebensalter, 1902
In mehreren Menschenbildern greift Munch das Thema der unterschiedlichen Lebensalter auf. Das Bild
Vier Lebensalter von 1902 zeigt drei Frauen und ein Mädchen auf einer Straße. In einer räumlichen
Staffelung von vorn nach hinten werden die Lebensalter dargestellt: Ganz vorne und dem Betrachter
direkt zugewandt steht das kleine Mädchen. Etwas nach hinten versetzt
steht still eine junge Frau. Auch sie schaut den Betrachter direkt an.
Auf dem in die Tiefe führenden Weg folgt dann eine alte Frau mit
knochigen Gesichtszügen im Profil. In gebeugter Haltung erscheint
zum Schluss vor der gelben Hauswand mit weißem Haar eine Greisin.
Bewirkt Munch damit einen direkten Vergleich des Alters?
Die Reise des kleinen Mädchens auf der Suche nach ihrer Zukunft
endet in der Gestalt der Greisin. Wie schon in anderen Figurenbildern
sind auch hier die drei Frauen und das Mädchen als Gruppe aufgefasst.
Auch wenn sie untereinander keine Beziehung aufnehmen und somit
der Eindruck entsteht, dass sich jede von den anderen abwendet, schafft
Munch in dieser Komposition auch verbindende Elemente. Sichtbar ist das schon am Äußeren. Alle
tragen eine dunkle Kleidung, die sich nur durch die Mode voneinander abhebt. Ausgrenzung sieht
anders aus. Die junge Frau verkörpert Fortschritt, der sich durch den modischen Hut ausdrückt. Aber
ihre starre Haltung und der eher teilnahmslose und leere Blick auf den Betrachter spiegelt nicht die
Lebensenergie wieder, die man von ihr erwartet. Die alte Frau ist nicht nur abgearbeitet und geht ihren
eigenen Weg, sie hat ihr Leben lang zugepackt. Der Gegensatz jung, schön und reich gegen alt, hässlich
und arm will bei Munch nicht aufkommen.
Munch bezeichnet in seinen Gemälde Vier Lebensalter einen Zustand, der nicht nur einen
Lebensabschnitt beschreibt, sondern eine Geisteshaltung zum Ausdruck bringt. Man wird nicht alt, weil
man eine gewisse Anzahl Jahre gelebt hat. Man wird alt, wenn man seine Ideale aufgibt. Die Jahre
zeichnen zwar die Haut – Ideale aufgeben aber zeichnet die Seele. Vorurteile, Zweifel, Befürchtungen,
Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit machen uns alt.
Jung ist, wer noch staunen und sich begeistern kann, wer die Ereignisse herausfordert und sich freut am
Spiel des Lebens.
Pubertät, 1894
Das Motiv des heranwachsenden nackten Mädchens, in dem die Frau erwacht,
wagte man erst am Ende des 19. Jahrhunderts zu malen. Unter dem Titel
Pubertät hat Munch diesen kritischen Lebensabschnitt, der bestimmt ist durch
Neugier und Angst, Ahnung und Begehren festgehalten. Die Kreidelithografie
von 1894 zeigt ein nacktes junges Mädchen, das verschüchtert und wie erstarrt
auf der Bettkante sitzt. Der eng aufgefasste Raum unterstützt die verstörende
Situation des noch kindlichen Mädchens. Der noch junge Körper der
Heranwachsenden ist knochig dargestellt. Mit ihren gekreuzten überlangen
Armen, die scheu und befangen die Scham bedecken, und den weit
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aufgerissenen Augen bringt Munch die jugendliche Unsicherheit der Pubertierenden zum Ausdruck.
Mit der Veränderung im Körper und ihren Gefühlen scheint das Mädchen allein und überfordert zu
sein. Ihre Gedanken tummeln sich in einem eigenen Kosmos, in dem sich nicht nur sexuelle Wünsche
entwickeln. Durch den bedrohlich wirkenden Schatten hinter dem Mädchen wird eine Stimmung der
Angst erzeugt. Einfühlsam versetzt Munch sich in die Psyche des jungen Mädchens und verweist damit
auf die erwachende Sexualität und die vielfältige Problematik des Erwachsenenwerdens.
Melancholie III, 1902
Die Themen Eifersucht und Einsamkeit zählen zu den Grundmotiven in Munchs Werk zu der auch die
Melancholie gehört. In dem Holzschnitt Melancholie III beschäftigt sich Munch mit einem besonders
schmerzhaften und zermürbenden Liebesdrama, dem
Dreiecksverhältnis. An einer einsamen Küste sitzt im
Vordergrund ein Mann. Den Kopf hat er auf die
rechte Hand gestützt. Die großen dunklen Augen,
aber auch die dunkle Stimmung der
Küstenlandschaft, illustrieren seine nachdenkliche
melancholische Gedankenwelt. Auf dem Bootssteg
im Hintergrund sind drei weitere Personen
angedeutet. Sind sie der Grund für seine Traurigkeit?
Symbolisieren sie die Welt seiner Gedanken? Das
Größenverhältnis zwischen der Figurengruppe und
dem Mann vorn bringt nicht nur die räumliche Distanz zum Ausdruck. Mit der abgelegenen Landschaft
und der extremen Perspektive findet Munch sinnbildlich eine Form der Vereinsamung und des
Verlassenen. Die flächige Konzeption und die radikale Vereinfachung der Formen betonen das
Wesentliche. Ufer mit Steg, Boot und Figuren erzählen eine Geschichte, die eine Spannung zwischen
Wunschbild und Wirklichkeit erzeugt. Für den, der sie durchleidet, ist es ein quälendes,
herzzerreißendes Geschehen.
*Tuberkulose – Was ist das?
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Tuberkulose stark verbreitet. Allein auf dem Gebiet
des Deutschen Reiches starben jährlich bis zu 120000 Menschen an dieser Krankheit, und sehr viel
mehr waren daran erkrankt. Zu Munchs Kinderzeit glaubte man noch, das dies eine erbliche
Krankheit war. Im Volksmund hatte man diese Krankheit auch Schwindsucht, oder weiße Pest
genannt. Da man die genauen Bezeichnungen nicht kannte, beschrieb man einfach bestimmte
Merkmale der Krankheit. Schwindsucht lässt sich auf den gravierenden Gewichtsverlust
zurückführen, weiße Pest auf das bleiche Aussehen der Erkrankten. Erst 1882 entdeckte Robert Koch
den Krankheitserreger und konnte nachweisen, was die Tuberkulose verursachte: eine durch
Bakterien hervorgerufene Infektionskrankheit, die sehr ansteckend war. Früherkennung und eine
umfangreiche Aufklärungskampagne, die über die Entstehung der Krankheit informiert, sollten die
Ausbreitung der Tuberkulose eindämmen. In den Industrieländern ist die Tuberkuloseerkrankung
deutlich zurückgegangen. Neue Infektionen treten vor allem bei Menschen auf, die an einer
Abwehrschwäche leiden und unter schlechten hygienischen Bedingungen leben. Obwohl es
inzwischen wirksame Medikamente gibt, sterben immer noch etwa 2 Millionen Menschen im Jahr an
den Folgen der Krankheit. Besonders in Afrika, wo es über sieben Millionen HIV-Infizierte gibt, ist der
Anstieg der Tuberkulose erschreckend.
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Was im Unterricht angesprochen werden kann:
Schüler sprechen über ihre Erfahrungen mit Schmerz und Krankheit
Der kraftlose Körper, Kinderkrankheiten,
Was tut mir weh? - Du tust mir weh!
Mit Behinderungen leben
Gefühlschaos rund um Tod, Abschied, Trauer
Enttäuschungen und Misserfolge
Vorstellungen vom Glück und vom Leid
Leid erfahren: Wie kann ich mit Leid und Kummer umgehen? Was lindert die Seelenschmerzen? Wer
kann mir helfen?
Was kann man gegen Einsamkeit tun?
Wut und Empörung
Gewalt und Aggression – Was kann man gegen Gewalt tun?
Sich schämen – etwas bereuen
Die dunkle und die helle Seite - Depressionen
Orte der Sehnsucht – Orte des Grauens./ Himmel und Hölle
Wie kann man mit dem Gefühlschaos rund um Tod, Abschied und Trauer mit Jugendlichen behutsam
umgehen?
Wann fühlen wir uns ohnmächtig, wann hilflos, wann enttäuscht?
Das brennt mir auf der Seele
Die Trennung/Scheidung der Eltern
Wie gehe ich mit Schuldgefühlen um?
Über Bedürfnisse nachdenken – Was braucht ein Kind? Was braucht ein Mensch?
Warum möchten junge Menschen älter, und alte Menschen jünger erscheinen?
Möchtest du älter sein? Warum?
Wie gehen wir mit alten Menschen um? Und wie mit jungen?
Arbeitsanregungen:
Hintergründe bestimmen das Bild (Vorlage 8 und 9)
Schau dir die Folie Das Kind und der Tod an. In der Silhouette erkennst du ein kleines Mädchen. Hält
es sich die Ohren oder die Augen zu? Wann halten wir uns die Ohren zu, wann die Augen? In welche
Richtung schaut das Kind? Sehen wir das Kind von vorn oder von hinten? Wo steht es deiner
Meinung nach? Vervollständige das Bild: Was könnte im Hintergrund zu sehen sein?
Pubertät
Schaut euch in 2er-Gruppen das Gemälde Mädchen und drei Männerköpfe und die Lithografie
Pubertät an. Beschreibt eure Gefühle zu dem Mädchen und was die drei Männerköpfe bedeuten.
Dann tauscht ihr eure Beschreibungen aus und gebt der Geschichte eine neue Wendung. Kann aus
dem Bedrohlichen etwas Vertrautes und Angenehmes werden?
Male ein Bild, indem das Erwachen unterschiedliche Gefühle (z.B. Neugier, Sehnsucht, Angst)
ausgedrückt wird.
Male den Ort deiner Träume.
Welcher Farbklang? Wie erzeugt man eine traumhafte Stimmung?
Gefühle-Pantomime / Gefühle darstellen
Gefühls-Gegensätze / Gegensatzpaare finden
Gefühls-Geschichten / Zu Bildern erzählen und schreiben
Rollenspiele / Gefühle in Szene setzen
Erzählen – Malen - Vertonen/Gefühle zum Ausdruck bringen
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Expertenrunde
Die Expertenrunde besteht aus Fachleuten, die über ein bestimmtes Fachgebiet Auskünfte erteilen
können. Anlass für das Zusammenkommen ist ein Munchbild. Fünf bis sechs Experten sind
eingeladen, die sich den Fragen aus dem Publikum (= der Rest der Klasse) stellen. In einem ersten
Durchlauf machen sich Schüler in Expertengruppen jeweils zu ganz bestimmten Fragen im Umgang
mit dem Munchbild kundig (Symbolik, Farbe, Form, Licht, Schatten, Blickwinkel, Farbauftrag usw.). Zu
dem Bild Pubertät könnten z. B. folgende Experten eingeladen werden: Eine Ernährungsberaterin,
eine Modedesignerin, eine Psychologin, eine Schriftstellerin, eine Ärztin, eine Sportpädagogin.
Zu dem Bild Melancholie III dagegen könnten folgende Experten eingeladen werden: Ein Pastor, ein
Umweltaktivist, ein Immobilienmakler, eine Hellseherin, eine Partnervermittlungsagentin.
Untersucht in den Printmedien, wie junge und alte Menschen dargestellt werden. Wird ein Ideal der
Jugend und Schönheit vermittelt? Und die Alten - sind sie auf der Suche nach der unvergänglichen
Jugend? Welche Bilder von Jugend und Alter trage ich in mir? Inszeniert Fotoserien oder gestaltet
eigene zeichnerische Ideen dazu.
Bilder lösen Gefühle aus
Schaut euch das Bild Melancholie III an. Welches Gefühl stellt sich ein und warum? Was muss sich im
Bild ändern, damit wir eine hoffnungsvolle Stimmung erzielen?
Erinnerungen festhalten
Versuche dich an Momente zu erinnern, in denen Selbstzweifel, Verletzlichkeit, Schuldgefühle und
Enttäuschung, aber auch Zuneigung und Geborgenheit hervorgerufen wurden. Schreibe diese
Erinnerungen auf und suche nach einem bildhaften Ausdruck.
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