SO Anatolien Mai 2010
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SO Anatolien Mai 2010
Türkei, Mai 2010 Antalya Als ich nach der Landung im Flughafen auf die Anzeigetafeln blickte, um herauszufinden, wo mein Koffer ankommen würde, sah ich überall nur kyrillische Buchstaben, auch das Wort München, das mich betraf, war so geschrieben. Später wechselte die Schrift in lateinische Buchstaben und wieder zurück. Dann las ich auch auf den Anzeigen für Abflug und Ankunft wenig vertraute Namen: Archangelsk, Krasnojarsk, Kasan, usw. Wenn du auf die Landkarte schaust, wird s dir klar: für sie ist es total nah! Sie müssen ja nur das Schwarze Meer überqueren! Bei der Besichtigung der Altstadt fällt mir das Wort „schnucklig“ ein, von dem ich nicht geglaubt hätte, dass es mir in Verbindung mit der Türkei in den Sinn kommen würde. Aber da ist vieles saniert, schöner alter Baubestand, sich über die schmalen Gassen wölbende Holzbalkone und Erker, sehr kleinteilig; hier eine Zeit zu wohnen, könnte man sich vorstellen, aber, wie bei uns, dürften diese Erinnerungshäuser für Normalos unerschwinglich sein. Am so genannten Hadriansbogen, einem stämmigen römischen Torklotz, wird gearbeitet. Männer graben das Gelände auf, vielleicht wird hier konserviert oder restauriert. Gegenüber hat es sich ein alter Mann zum Lesen auf einer römischen Steinbank bequem gemacht. Er hält eine Art Bildzeitung in der Hand, die nur aus vier Seiten besteht. Auf dem Titelblatt räkelte sich eine spärlich bekleidete Blondine. Was mich an Antalya allerdings noch viel mehr beeindruckt hat, ist zweierlei: a) Vom Flieger aus sah ich meine erste türkische Moschee aus einem Meer von weißen, das Sonnenlicht grell reflektierenden Plastikplanen ragen, die auf allen Seiten bis zum Horizont reichten. Darunter Exportgut. b) Auf der Fahrt von unserem Hotel in die Altstadt benötigte der Bus bei mäßigem Verkehr und zivilen Ampelschaltungen etwa eine halbe Stunde. Wir durchfuhren ein geschlossen mit mehrstöckigen Wohn- oder Geschäftshäusern und Hotels bebautes Gebiet. Da erkannte ich meinen Irrtum, Badesachen eingepackt zu haben und dachte: Bloß weg von hier! Und so geschah es. Aspendos Ein Tempel – einst der Kunst, der Versammlung, sicher auch der Hetze und Propaganda – ist dieser Bau noch heute, ein Tempel des Tourismus. Hier schließt eine gut erhaltene Bühnenrückwand das steil gegen den Himmel stehende Halbrund der Sitzreihen ab. Die Türken haben diesen römischen Bau als Karawanserei benutzt und daher gut in Stand gehalten. Vor dem Theater lässt sich ein als antiker Schwertkämpfer verkleideter Kraftmensch gegen Bezahlung bei seinen Spiegelfechtereien fotografieren. Vorher haben wir ein gewaltiges Aquädukt besichtigt – gewaltig auch noch als trostlose Ruine, deren endgültigen Einsturz man eigentlich ständig befürchten müsste, wenn man die Risse und die schon halb abgerutschten Steine genauer betrachtete. Auch eine römische Brücke besuchen wir, eine Brücke, die einen Haken schlägt, um sich der starken Strömung des Flusses Köprülü, der nach ihr benannt ist (früher hieß er Eurymedon so erklärt es Nuri, unser Reiseleiter), besser widersetzen zu können. Hier stehen wir vor einem dieser türkischen Friedhöfe, die nur spärlich oder gar nicht umfriedet sind, manchmal direkt an der Straße, im Wald oder gleich hinter dem Dorf - im Offenen - liegen. Die Gräber sind an der Vorder- wie an der Hinterseite von Stelen begrenzt, auf denen wie bei uns Namen und Zahlen stehen, manchmal in arabischer Schrift, der geheiligten Sprache des Korans. Vom exakten rechten Winkel und uniformer Grabpflege, die deutsche Friedhöfe meist auszeichnen, wissen diese Stätten nichts. Die Vegetation hat Raum, die Gräber gruppieren sich in freier Weise. Nuri erläutert weiter, dass die Türken den antiken Namen des nächsten Ortes, Belkis, Balkız gelesen haben, was Honig-Mädchen bedeutet. Sicher haben sie auch sofort eine passende Geschichte dazu erfunden – wie zur Mädchenburg, Kızkalesi, einem Piratenstützpunkt auf einer kleinen Insel, unmittelbar vor der Küste, an der wir wenig später vorbeifahren werden, von Pamphylien nach Kilikien. Anemurion Hohle Häuser, vernarbte Ruinen, zerrissene Mauern in mehreren Ringen, hinauf bis zur Spitze der Anhöhe, die steil abfällt zum Meer. Eine dieser toten Städte der Antike. Tot auch deswegen, weil nirgends ein Mensch zu sehen ist im Grau des frühen Abends, kein Aufseher, nicht einmal eine dieser kleinen Herden von Ziegen oder Schafen, nur ihr Kot ist überall verteilt. Man steigt über bröckelnde Mosaikböden, die niemandem schützenswert erschienen sind. Selbst die Vegetation wirkt schwach und kränkelnd, als hätte auch der Boden zwischen den Häuserleichen jede Kraft verloren. Wenn der Blick über die Trümmer hinweg nach Osten schweift, sieht er den eng mit Hotels bestückten, langen Strand und er findet ihn genau so tot wie diese alte, versunkene Stadt, totgebaut, tot gebaut. Lebendig ist nur das strahlende Licht der sinkenden Sonne. Kap Anamur ist die südliche Spitze der türkischen Mittelmeerküste zwischen Ost und West. Sie deutet auf das nahe Zypern, und steht für das nach ihr benannte Schiff, das Rupert Neudeck einst charterte und mit dem er seit 1979 über 10 000 vietnamesische boat people rettete. Zu jeder Zerstörung gibt es auch ein Gegenbild. Mamure Es wird langsam dunkel und wir gehen durch diese riesige Burg am Rand des Meeres mit ihren 36 Türmen, Zinnen, Schießscharten, Graben und Vorwerk – den Kreuzrittern ebenso dienlich wie den Osmanischen Kriegern. In einem ihrer vier sich ineinander bergenden Höfe steht eine kleine Moschee, die sich hier sehr seltsam ausnimmt: Was hat Gott hier verloren, kann man sich fragen: Kämpfen und Töten ist Menschensache. Der innerste der Höfe scheint die meisten Zerstörungen aufzuweisen. Da wollte ein Feind ganz sicher gehen. Die Schildkröten, die im Graben, der die Burg auf der Landseite umgibt, zum Luftholen kurz an die Wasseroberfläche kommen, bevor sie sich wieder in der trüben Tiefe verlieren, haben das Problem der Verteidigung jedenfalls weitaus eleganter gelöst. Silifke Der Name kommt von Seleukia, benannt nach dem Diadochenreich der Seleukiden, der Nachfolger Alexanders hier in Anatolien. Es gibt eine ganze Reihe von Städten, die so heißen, wir werden selbst später eine zweite besuchen, Seleukia Pieria bei Antakya. Mich fasziniert, dass solche alten Namen, wenn auch mehr oder weniger verändert, im Mund der später gekommenen Siedler, fortleben, mag auch die ursprüngliche Stadt – und sogar die Erinnerung an sie – längst vergessen sein. Bei Silifke mündet der Fluss Gök Su (was Himmlisches Wasser bedeutet). Sein alter Name ist Saleph – auch er leitet sich von der gleichen Wurzel her. Barbarossa soll auf dem Kreuzzug in ihm ertrunken sein. Na ja. Er war nur einer unter Zigtausenden, die in diesen fanatischen Kämpfen umkamen. Hier taucht der Name der Isaurier auf, angeblich ein Volk wilder Räuber und Krieger, hier ansässig, die Römer und Byzantiner auf Trab gehalten haben sollen. Cennem und Cehennet, Himmel und Hölle Das sind korykische Grotten. Klingt ein bisschen nach Odysseus und Kirke oder Kalypso, nach Nymphomanie und Hexerei, aber wir sind ja im strengen Reich des Islam. Ohnehin dürfen wir nur den Himmel besuchen, der ebenso unterirdisch liegt wie die Hölle, auf dem Grund einer eingestürzten Doline nämlich, ca 70 Meter tief. Schon beim Hinuntersteigen machen sich die vielen Stufen im Gefühlshaushalt unserer Muskeln bemerkbar, vom Heraufsteigen rede ich lieber nicht. Aber der weit aufgerissene Rachen der Grotte lohnt den Schweiß. Alles ist hier feucht, der Weg glitschig, die Perspektive eine einzige Düsternis. Im Innern der Grotte, wohin unsere Unentwegten sich wagen, murmelt ein unterirdischer Fluss. Klar, dass hier ein menschenfressendes Ungeheuer gehaust haben soll. Vor dem Eingang breitet sich der Rest eines alten Gebäudes aus, zwei Reihen Fensterarkaden. Für welche Geister wurden sie erbaut? Jetzt sind sie wieder Teil der wuchernden Natur geworden. Narlıkuyu (Granatapfelbrunnen) Ein Mosaik zeigt die drei Grazien, eng umschlungen wie zu einem Gruppentanz, Ihre schöne Nacktheit ist von vorne wie von hinten zu bewundern. Tarsus Keine Spur vom alten Paulus, der einmal Saulus geheißen hatte. Ein Brunnen im Park soll an ihn erinnern, aber er tut es mit wenig Überzeugung. Deswegen ist die Stadt praktisch touristenfrei. Doch es ist schön, unter den Wölbungen der Balkone zu schlendern. Çukurova heißt die weite Schwemmlandebene der Flusszwillinge Seyhan und Çeyhan. Nuri nennt uns Yasır Kemal, den Schriftsteller, der immer wieder diese seine Heimat beschrieben hat. Einmal glaubte ich vom Bus aus zu sehen, dass ein Mann auf dem Dach seines Hauses kniete und betete. Allerdings verdeckte ihn ein Baum ein bisschen und der Bus hielt nicht. Später machte ich mir bewusst, dass es unmöglich nach Mekka gewesen sein konnte, wohin er sich gewendet hatte. Verwechselt konnte er die Richtung doch auch nicht haben! Schade: Es wäre der einzige Beter außerhalb einer Moschee gewesen, den ich gesehen hätte. Adana Anderthalb Millionen Einwohner, fast vierzigtausend Studenten, dazu die alte Steinbrücke aus der Römerzeit. Es ist nur ein kurzer Aufenthalt. Wir fahren an der riesigen Moschee vorbei, die der legendäre Milliardär Sabancı erbauen ließ. Er stiftete auch Krankenhäuser und andere gemeinnützige Einrichtungen. „Weiter so!“ möchte man rufen und sich auch unsere Börsenabzocker als Wohltäter vorstellen. Kilikiens Hügel sind sanft. Hier spazierte Raoul Schrott und erfand sich – zum Entsetzen und zur Empörung aller gestandenen Altphilologen und Archäologen - ein neues Troja. Jenseits des Industriegürtels der fünftgrößten Stadt der Türkei breiten sich landwirtschaftliche Kulturen aus, so weit das Auge reicht. Wir dürfen reife Orangen, unreife Maulbeeren und knallgrüne, knackige, herbe Mirabellen kosten, so herb, dass manche von uns lieber sauer sagen und eine Grimasse schneiden.. Hierapolis Was ist von dieser heiligen Stadt geblieben? Ein paar versprengte Säulen zwischen wucherndem Gestrüpp, eine Strecke gekappter Arkaden. Und darüber ein gleichgültiger Himmel. Karatepe (Schwarzer Hügel), Nationalpark Erst gehen wir ein Stück am Stausee entlang, stören Schildkröten auf. Auch hier treffen wir, wie später immer wieder, auf kleine Herden von Haustieren, die von einem Kind oder einem meist älteren Erwachsenen gehütet werden. Ein freundlicher Mann leitet uns von einem Aussichtspunkt mit schönem Blick ins Tal weiter über eine Abkürzung durch seinen eigenen Garten. Wir dürfen zwischen trocknender Wäsche und einem spielenden Kind hindurch weiter gehen. Wenig später verwehrt uns ein anderer Mann den Weg. Es sei ein Umweg, es wäre kürzer, wieder umzukehren. Er macht es dringlich. Seltsamerweise gehorcht ihm Nuri aufs Wort. Da entdeckt einer ein Storchennest hoch auf einem Gabelbaum, bewacht vom Paar persönlich. Sind Jungvögel drin? Sicher ist, dass in einem viel niedrigeren Baum davor eine Schlange sich um den Stamm geringelt hat, auch sie hoch über den Köpfen der staunenden Gruppe. Was macht sie bloß da oben? Fluchtort oder Lauerversteck? So viele Dinge, die uns für immer verborgen bleiben werden. Von der riesigen Hethitersiedlung sehen wir zuerst die Mauer mit Wehrtürmen. Da, wo das Tor stand, sind zahlreiche sehr gut erhaltene (sie wurden erst in den fünfziger Jahren gefunden) Stelen aufgestellt, die Reliefs tragen. Ich bewundere vor allem die Tierdarstellungen, entdecke geschwänzte Krieger, Opferszenen, eine ihr Kind stillende Mutter, einen dieser berühmten hethitischen Streitwagen, den ägyptischen Gott Bes, den die Griechen viel später Priapos nannten. Löwen, wenig löwenähnlich, eher an Frankenstein’sche Monster erinnernd, sitzen aufrecht, sprungbereit, als Wächter. Inschriften – Hieroglyphen oder Keilschrift – sind in bildfreie Räume gesetzt. Wir haben im Park auch unser Wissen über die Fauna dieses Landes erweitert: Korallenbaum, Granatapfelstrauch, Rizinus, Aleppokiefer und Feige machen den Unterschied, obwohl die Wälder auf den ersten Blick oder aus Distanz nicht viel anders auszusehen scheinen als zuhause. Und alle bewundern die glatte glänzende Rinde des Erdbeerbaums, aus denen Schalen, Näpfe und Besteck geschnitzt und zum Verkauf angeboten werden. Issos Was für ein Zauberwort! Einer nur der zahllosen Zusammenstöße in der Geschichte Anatoliens zwischen zu allem entschlossenen Eroberern und ihren Gegnern, aber in unserem Gedächtnis haftend durch die Jahreszahl mit den drei Dreiern. Beide Seiten verteidigten nicht Familie, Land, nicht einmal Geld; allenfalls starben sie für ihren König und seinen Größenwahn. Siegte er, waren sie auf der richtigen Seiten gewesen und zu Helden avanciert, repräsentierten Recht und Gerechtigkeit. Wenn nicht, waren sie einfach nur tot. Eine weite Ebene dehnt sich hier vom Gebirge zum Meer. Allerdings wird sie nach Osten enger und enger. Bei Belen beginnt der Aufstieg zu einem Pass. Und wir wissen, dass der Gewinner, Alexander, damals von Westen kam. Wie viele der Besiegten, die flüchteten, mögen dem nachsetzenden Heer der Makedonier entkommen sein? Vor der besagten Engstelle erinnert uns der ausgedehnte Raffinerie-Komplex von Dörtyol (Vier Wege) daran, dass wir uns im Industriezeitalter befinden, an dem die moderne Türkei ihren angemessenen Anteil hat. Über so viel Historie hätten wir es fast vergessen. Antakya Im Museum sind die geretteten Schätze – es sind ja leider immer nur Reste – antiker Städte ausgestellt. Publikumsmagnet sind die Mosaiken. Neben immer wieder gesehenen Motiven aus der antiken Mythologie verblüfft mich ein junger Bursch mit verdrehtem Kopf und gebuckeltem Oberkörper, der rückwärts über die Schulter Ausschau zu halten scheint. Auf wen blickt er? Einer, der sich für Narziss hält, aber nie in einen Spiegel geblickt hat? Nett ist auch die Darstellung des Herakles, der als Baby zwei Schlangen würgt. Dieses Baby trägt den Kopf eines fünfzigjährigen Lebemanns. Seleukia Pieria Hier geht man ein Stück im Titus Tüneli, einem bis sieben Meter tiefen, senkrecht in den blanken Fels gehauener Tunnel oder Kanal, der bei Überschwemmungen das Wasser von der damals wichtigen Hafenstadt ablenken sollte. Man besucht eine kleine Nekropole, die, ähnlich den kappadokischen Kirchen, die wir später sehen werden, in den weichen Fels gegraben ist. Angesichts des Verhältnisses von Aufwand, Arbeit und raschem Zerfall würden die fetten Eidechsen, die sich hier in der prallen Sonne vergnügen, den eckigen Kopf schütteln – wenn das für sie einen Sinn ergäbe. Simeonskloster Vielfach gebrochen ist die Säule, auf der Old Simeon einst 45 Jahre lang dahinvegetierte, was ihm die Kraft gab, Wunder zu tun. Aber das größte Wunder war schließlich er selbst – falls die alten Geschichten stimmen. so schwindelfrei müsste man sein! Stylobaten nannte man diese Heiligen, die so verrückt waren, einer verrückten Welt eine totale Absage zu erteilen – wie die indischen Fakire. Er scheint mit diesem Sitzstreik mehr Erfolg gehabt zu haben als wir alten Achtundsechziger mit den Sit-ins. Nicht Christenfeinde haben seine steinerne Stütze umgeworfen, sondern ein Erdbeben hat hier ein Ruinenfeld erzeugt. (Mir ist zwar bewusst, dass die Türkei ein Gebiet häufiger Erdbeben ist, aber ein Bauchgefühl wird erst entstehen, wenn mir später Andreas und Cornelia geschildert haben, wie sie zwei Erdbeben in Bukarest glücklich überstanden) Das gesamte Plateau des Bergs wird mit Windkraftflüglern bestückt, alle Gipfel sind eingeebnet, die Natur zeigt hässliche Wunden. Bizarre Riesen haben jetzt hier oben das Sagen, doch Simeon auf seiner Säule muss noch viel seltsamer ausgesehen haben – er war ja lebendig! Heilig nennen wir, was wir nicht begreifen. Stünde er noch oben, würde er ein zweiter Don Quijote (noch ein Verrückter), angesichts dieser Windmühlenflügel? Nein, er würde es mit heiligem Stolz und heiligem Gleichmut ignorieren. Liebesschwüre sind mit kümmerlich dünner roter Farbe auf einige Wandflächen gekrakelt. Spillerige Buchstaben auf grauen Trümmerwänden – ob die Angebetete es je gelesen hat? Am Horizont der Mosesberg, nach dem Franz Werfel sein Buch Die vierzig Tage des Musa Dagh benannt hat, in dem er beispielhaft die Vertreibung der Armenier aus dem Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs schildert. Gazıantep Die Zitadelle wirkt fast verloren inmitten dieses grenzenlosen Häusermeers. Sechstgrößte Stadt der Türkei, etwa so viele Einwohner wie München. Das neue Mosaikenmuseum – größer als das in Antakya – bleibt uns leider verschlossen. Aber es gibt ja noch viel anderes zu sehen! Beobachtungen vom Fenster des Hotels aus: Im Café sitzen nur Männer, trinken ihren Tee, spielen Karten, Domino oder ein Brettspiel, diskutieren. (Es gibt auch, so erklärt Nuri, eine Art „Familiencafé“, in das Männer nur Zutritt in Begleitung von Frauen haben. Dort können sich auch die Frauen ungestört unterhalten.) Es scheint immer noch die Regel zu sein, dass der Mann als Familienoberhaupt in der Öffentlichkeit voraus geht, erst dahinter die Frau, die oft Einkäufe schleppt und die Kinder überwachen muss. Manchmal allerdings gerät diese Regel doch in Vergessenheit. Oder der Mann ist in Gedanken versunken. Wenn es dunkel wird, sehe ich nur mehr Frauen, die Taschen, Tüten oder andere Lasten transportieren, mit oder ohne ihren Mann, oft zu mehreren. Praktisch alle tragen Kopftuch. Schön und für uns leider so ungewohnt ist, dass Kinder auf der Straße spielen, manchmal bis spät abends. Auch in den großen Städten. Bireçik Was ist ein Waldrapp? Ach so, ein schwarzer Ibis. Hier hat er Station gemacht auf seinen Zügen von Nord nach Süd und zurück, hier werden noch immer einige wenige Exemplare betreut. Die in der senkrechten Felswand hängenden Brutkästen sind in lebhaftem Gebrauch. Ein Marktbummel ist eine schöne Abwechslung. Hier erregen wir – wie in so manchen kleineren Orten des türkischen Südostens – durchaus Aufsehen. Der Sesamkringel-Verkäufer balanciert seine Ware auf dem Kopf – auch während des Verkaufsgeschäfts. Hier fließt der Euphrat (Firat heißt er auf Türkisch). Die Wucht seines Strömens kann man an der Höhe und Steilheit des Prallhangs ablesen. Das ist seine Schrift auf der Kruste der Erde. Osmaniye Brotkauf in einem kleinen Laden. Ich bringe eine Frau zur Verzweiflung, weil ich kein Kleingeld geben kann. Oft habe ich es schon verleugnet, um Münzen für den Toilettengang parat zu haben, doch diesmal schwindle ich nicht, ich habe wirklich keine Münzen mehr. Da ich allein bin, kann auch kein Landsmann aushelfen. Die Frau versucht einige Zeit grimassierend mich als Heuchler zu entlarven, dann schreit sie plötzlich mit markerschütternder Stimme nach einem Mann draußen auf der Straße, es ist ein Nachbar, vielleicht auch nur ein bekannter Passant. Der ruft ebenso laut nach einem zweiten, weiter entfernt stehenden Mann. Doch beide scheinen ebenso wenig wie ich das Verlangen der Frau erfüllen zu können. Das Schreien geht weiter, langsam wird es mit unbehaglich zu Mute. Ein Störenfried, der protzig mit einem Schein wedelt und einen halben Volksaufstand auslöst. Schließlich kommen die Münzen, einer der Männer hat wohl in einem anderen Geschäft wechseln lassen. Ein Riesenspektakel für ein gewöhnliches Brot, das 40 Kurus kosten soll. Ich hatte schon erwogen, einfach noch mehr zu kaufen und den 5 Lira – Schein auszugeben, aber nichts Begehrenswertes hatte ich im Laden gesehen, kein Obst, kein Ayran, nichts außer diesem großen, schönen Brot. Nun ja, die Frau schien sich wieder einigermaßen beruhigt zu haben. Das Ritual des Zahlens und Wechselns vollzog sich. Ich nahm das Brot. Die Frau fasste mich schärfer ins Auge, fragte dann, ob ich aus Deutschland komme. Als ich bejahte, entstand eine kleine Pause. Die Frau holte tief Luft, bewegte prüfend die Lippen, strahlte plötzlich und brachte schließlich ein fast fehlerfrei artikuliertes „iklibedik“ hervor. Ich war paff, stand wahrscheinlich mit hängendem Unterkiefer in der Gegend herum. Die Frau genoss ihren Coup, gab mir grinsend die Hand. So ward ich nach solch schwierigem Handel gnädig verabschiedet. Dieses Brot konnte ich selbstverständlich mit niemandem teilen. Aus dem Bus beobachtete ich ein anders Brotkunststück. In einem Laden mit großem Ofen, ähnlich den Pizzaöfen arbeiteten drei Jungen. Zwei hantierten mit mindestens meterlangen Teigstücken, ähnlich den Wiener Meisterköchen, die Strudelteig ausziehen. Nur geschah das nicht auf einem Brett oder unter Zuhilfenahme des Knies, sondern in der Luft, als wären sie Jongleure. Wenn der Teig das rechte Maß bekommen hatte, wanderte er in den Ofen, aus dem der dritte Junge die fertigen Fladen herausholte, sie blitzschnell, doch exakt zusammenlegte und an Passanten verkaufte. Alle drei schienen bester Laune, scherzten und lachten; da wär ich gern Kunde gewesen! Göbekli Tepe (Nabelberg) Die älteste bisher gefundene Kultstätte der Menschheit: ein Hügel, der eine Reihe von Steinkreisen aus T-förmigen Stelen, gestützt durch niedrige Mäuerchen, birgt. In der Mitte der Kreise stehen sich zwei genau so geformte, etwas höhere Stelen gegenüber. Nur ein kleiner Teil der Anlage ist ausgegraben. Die Art des Kultes ist unbekannt, Totenkult wird vermutet. Die Stelen tragen Ritzzeichnungen von Tieren aller Art, auch von solchen Tieren, auf die gewöhnlich nicht Jagd gemacht wird (Spinne, Skorpion). Manche senkrechten Pfeilerelemente weisen eingravierte Arme und Hände auf. Vielleicht symbolisierten sie mithin aufrecht stehende Menschen. Auf der Spitze des Hügels – da wo eigentlich der Nabel sein müsste - steht ein einsamer Baum, vom Aberglauben der Umgebung zum Wunschbaum erhoben. Die in die Zweige eingeflochtenen Wunschzettel drehen sich im Wind. So drehen sich auch die Ausgeburten der Phantasie, die sich so gerne das Leben vor zehn- oder elftausend Jahren hier vorstellen würden: Prozessionen, rituelle Tänze, Gesang, Opferzeremonien inmitten einer großen Menschenmenge, die von weither gekommen ist ... Noch schwerer vorstellbar ist der gewaltige Arbeitsaufwand, der zur Erbauung einer solchen Anlage nötig – und in der Steinzeit, mit den Werkzeugen, deren Splitter überall herumliegen, tatsächlich möglich war! Eine solche ungeheure kollektive Leistung könnte – so die Theorie des deutschen Grabungsleiters, Klaus Schmidt, mit dazu beigetragen haben, den Menschen auf die Idee der Sesshaftigkeit zu bringen. Denn die zahlreichen Arbeiter mussten ja – zumindest vorübergehend - eine Bleibe finden und verpflegt werden. Şanlıurfa Das Hotel Assur ist alkoholfreie Zone, der Besitzer ist sittenstreng. Als ich an der Rezeption meinen Schlüssel holen will, werde ich sehr freundlich bedient, aber erst nachdem zwei Einheimische, die gerade ankommen, ihre Anmeldeformalitäten erledigt haben. – in einem langen, gestenreichen, sehr orientalischen Gespräch mit vielen Kunstpausen, wie sie etwa auch durch das Ausfüllen von Formularen entstehen. Das dauert und dauert – aber ich habe ja Zeit, zu schweigen, zu stehen, zu beobachten und mir meine Gedanken zu machen. Urfa hieß zur Zeit der Kreuzfahrer Edessa. Unterhalb der Zitadelle liegt ein großer Park, der an diesem Tag (einem Freitag) sehr bevölkert ist. Es wimmelt von Menschen, die die Geburtsgrotte Abrahams und die fetten Abrahamskarpfen (Abraham wurde vor dem Feuertod gerettet, indem Gott das Feuer in Wasser und die Glutstücke in Karpfen verwandelte, sagt eine Legende) besuchen und bewundern wollen. Die Fische schwimmen in einem großen Becken, das Teil eines bezaubernd eleganten Komplexes von Moscheen und anderen islamischen Stätten ist. Arkaden und Türmchen spiegeln sich im Wasser. Leider ist nur wenig Zeit für den Bazar, in dessen Labyrinth man sich leicht verlaufen kann. Harran Dieser seit undenklichen Zeiten besiedelte Ort, an dem noch die traurigen Ruinen der angeblich ältesten islamischen Medrese zu sehen sind, bietet heute ein Bild der Trostlosigkeit. Dicht an der syrischen Grenze liegt er in einer Ebene, so endlos, so flach, so heiß, dass in unserer Gruppe sogar von Luftspiegelungen berichtet wurde. Wie in vielen anderen Ruinenstätten kann man auch hier, nach Entrichtung eines Eintrittsgeldes, sich ohne Aufsicht frei bewegen. Es ist eine zerstörte und leer geplünderte Festung, in der wir herumklettern. Ein Mädchen soll (und möchte) die Geschichte dieses Ortes auf Englisch zum Besten geben. Sie erzählt phantastische Geschichten, aber kaum je auf Englisch. Aber es ist mir ohnehin gleichgültig, ob es die Seldschuken, die Kreuzfahrer oder die Mongolen waren, die als Eroberer und Zerstörer auf den Plan traten.. Andere bunt gekleidete, verwahrloste und schmutzige Kinder beobachten mit fachmännischem Blick unseren Weg aus der Ferne, bevor sie sich nähern, um mit unterdrückter Stimme zu betteln. Warum sind wir davor gewarnt worden, den Kindern Almosen zu geben? Der Koran schreibt doch gerade das vor! Die Häuser des Dorfes sind Lehmbauten mit kreisrund gewölbten Dächern, die Vorbild gewesen sein sollen für die Trulli in Apulien, was ich kaum glauben kann. Manchmal sieht man noch Betten auf Stelzen, in denen sommers geschlafen worden sein soll – außerhalb des Hauses. Atatürk-Damm Einen Kilometer lang und siebzig Meter dick liegt die Staumauer vor uns. Oberhalb der Turbinenschächte soll der damalige Staatschef Turgut Özal gesessen und die Fortschritte des Baus überwacht haben: Der thronende Herrscher sieht seine Idee allmählich und immer greifbarer Gestalt annehmen. So könnte auch Antiochos am Nemrut-Berg gesessen haben ... Ein Schwarm junger Mädchen ist mit einem Bus gekommen, um das technische Wunder zu bestaunen. Die Stimmen schwirren, die Gesichter lachen, die Handys klicken. Ich habe mir gedacht: Auch für uns im fernen Deutschland wird viel davon abhängen, wie diese jungen Frauen – teils tragen sie Kopftuch, teils nicht – die nächsten Jahrzehnte, ihre Zukunft, gestalten können (wollen) (dürfen). Der Damm staut den Euphrat zu einem 800 km2 großen See. Bei Trockenheit ragen aus ihm, so erzählt der Reiseleiter, die Minarette der versunkenen Dörfer – wie der berühmte Kirchturm aus dem Stausee am Reschenpass. Wir überqueren einen seitlichen Zufluss auf einer langen Brücke mit dem schönen Namen Karababa. Tiefgrün und klar ist das Wasser, über dem die Schwalben Mücken jagen. Wenig später: ein Aussichtspunkt an einem Friedhof. Vom Dorf herauf kommt eine ältere Frau mit mühsamen Schritten langsam herauf. Nuri spricht mit ihr, sagt danach, sie habe kein Türkisch verstanden, sei Kurdin. Drei blaue Schwertlilienblüten hat sie mitgebracht und ihm überreicht. Aber schwerlich hat sie diese unseretwegen gepflückt und unseretwegen wird sie sich kaum auf den beschwerlichen Weg nach oben gemacht haben. Nemrut-Berg Nie im Leben gehört: Komagene : ein kleines Reich zwischen Ost und West, Griechen und Persern, Römern und Parthern. Dort diese etwa 2000 m hohe Erhebung, wo noch im Mai kleine Schneefelder überdauert haben. Der Kleinbus erreicht eine Art Berghütte in Gipfelnähe. Von dort noch ein kurzer Marsch auf bequemem Weg. Wir begegnen einer großen Gruppe junger Leute, die Behinderte auf den Berg geführt oder getragen haben und nun zurückbringen. Sie schwatzen, lachen und singen. Mitleid und Mit-Freude erzeugen einen unvergesslichen Augenblick der Besinnung, der Bescheidung, des Glücks. Der Gipfel war ursprünglich ein Plateau, sicher teilweise künstlich begradigt. In der Mitte ein über dreißig Meter (ursprünglich doppelt so hoch) aufragender Aufschüttungskegel aus Kieseln und Schottersteinen, die aus den Tälern stammen müssen. Man vermutet darin oder darunter ein Grab. Auf der Ost- wie auf der Westseite eine große Plattform mit monumentalen, sitzenden Statuen, von Erdbeben zerstört. Die fast menschenhohen Köpfe der Figuren, die eine Vereinigung östlicher (persischer) und westlicher (hellenistischer) Göttervorstellungen symbolisieren sollten, sind wieder aufgerichtet, flankiert von Löwe und Adler, Beschützer der Macht. König Antiochos, der sich das alles ausdachte und die Ausführung vorantrieb hat, hat sich unter sie versetzt. Mit Zeus, Herakles, Apoll und den anderen (sogar eine Frau ist darunter, verloren zwischen all den Machos, aber schön, egal ob persisch oder griechisch) blickt er auf die felsig-schroffen Höhen des Gebirges, schaut hinab auf Täler und Pässe des Taurus, zu den Küstenebenen und hinüber nach Kurdistan und Iran. In einer der längsten erhaltenen Inschriften der Antike hat er seine Taten gerühmt und seine Gestaltung dieses Berges erläutert. Wie viele Menschenleben (Sklaven-Leben) mag das gekostet haben! Am Atatürk-Staudamm erinnert ein Denkmal an die Arbeiter, die Opfer ihrer Arbeit wurden. Hier stehen nur die Götzenbilder der Machtgier und des Größenwahns. Das macht einen Unterschied. Später passieren wir einen weiteren, kleineren Tumulus, ein Frauengrab. Der Abstieg führt nach Arsameia, wo ein prächtig erhaltenes Relief wiederum Antiochos zeigt, wie er dem nackten Herakles mit Handschlag auf Du und Du begegnet. Der König trägt eine Krone, hoch und spitz, die beinahe an indianischen Federputz erinnert. Stelen mit Inschriften auf der Rückseiten blicken ins Tal. Wir besuchen dann, vorbeifahrend an Yeni Kalesi, einer neuen Burg wie ein Adlerhorst, eine römische Brücke über den Cendere-Fluss. Von den je zwei Säulen, die beide Seiten der Brücke flankierten, stehen noch drei. Dafür gibt es einen schmusesüchtigen Brückenhund. Das Bauwerk steht am Ende eines wilden, düsteren Canyons, der in eine weite Ebene mündet. Kahta Wieder ein Hotel mit Prohibition. Zu dritt suchen wir nach einer Raki-Quelle. Gleich gegenüber ist ein gut besuchtes Etablissement. Tee trinkende Männer sitzen diskutierend draußen. Aus allen Augen trifft uns derselbe Blick, als wir ins Innere gehen, um das Terrain zu sondieren. Ein freundlicher junger Mann verweist uns auf ein Nachbarhaus. Im Fokus aller Augen gehen wir wieder hinaus. Das Haus, das uns gezeigt wurde, ist düster, sieht leer aus. Als wir einen Mann fragen, schickt er uns stumm, aber mit bestimmter Geste in den ersten Stock. Die Treppe gehört zu dem Teil des Hauses, das nach mitteleuropäischem Verständnis Baustelle ist. Oben auf der Terrasse sieht es ähnlich aus: nackter Estrich, grelles Neon, aber aus einer Pflanzwanne aus rohen Ziegeln rankt eine Blume in königlichem Rot. Der Raki kommt, er ist gut, und wir bleiben. Der Zufall schenkt uns sogar Bruchstücke eines Feuerwerks über der Stadt. Aus dem Lautsprecher windet sich orientalische Musik ununterbrochen um sich selbst. Wir haben es gut getroffen. Ein Männerpaar und ein gemischtes Pärchen sitzen noch hier oben, ziemlich im Dunklen. Es ist ein lauer, friedlicher Abend voller Gespräche. Als wir gehen, steht unten der Platzanweiser von vorhin wie ein Geist. Ich bekomme im Vorbeigehen einen Händedruck, wahrscheinlich weil ich unter uns dreien der Mann bin. Kahramanmaraş Hier besichtigen wir nur den Namen, der in einem Atemzug genannt wird mit Gazıantep und Şanlıurfa. Antep, Urfa und Maraş wurden mit ehrenvollen Zusätzen bedacht: Heldisches Maraş, Streitbares Antep, Glorreiches Urfa. Die drei Städte rebellierten, als die Franzosen den Südosten der Türkei nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches besetzten. Damals wollte sich jede Siegermacht ein Stück aus dem Kuchen schneiden. An der Südküste manövrierten die Italiener, in den äußersten Nordosten drangen die Russen ein und die griechische Invasion stieß fast bis Ankara vor. Doch schließlich behaupteten sich die Türken in einem Befreiungskrieg – in dem Kemal Atatürk zum Nationalhelden wurde - und ihr Land gewann und bewahrte die heutige Form. Kayseri Die Millionenstadt liegt zu Füßen eines Viertausenders, des Ercyes, eines Vulkans, der noch in der Antike aktiv waren (heute gibt es in der Türkei keine aktiven Vulkane mehr). Dieser Berg trägt auf seiner Nordseite bis weit herunter Schnee; da hier kurzfristig Regen aufgezogen ist, sehen wir ihn in seiner ganzen Pracht erst später, aus größerer Distanz; in Kappadokien sucht ihn ständig mein Blick als ferne Wegmarke am Horizont. Hier wird ein kurzer Spaziergang gemacht, der belebte Innenhof einer ehemaligen Medrese besichtigt. Wir gehen entlang einer wuchtigen byzantinischen Mauer, die aber nur Stückwerk ist, keine prächtige Altstadt zu schützen scheint und wie ein Potemkinsches Dorf wirkt. Ein alter Friedhof mit schönen Grabstelen ist Park geworden. Ein oktogonales Mausoleum (? – ich bin wieder mal als letzter an dem bewussten Ort angekommen und habe die Erklärung verpasst) trägt einen großen Graffito, den ich mir nachher übersetzen lasse: Sterben – das gibt es; aber umkehren, das gibt es nicht, meine Rose. Der Höhepunkt ist aber die Darbietung eines Straßenverkäufers, der an einem Stecken eine zähe weiße Masse, einen türkischen Plombenzieher, in Schleuderbewegungen versetzt. Ich beobachte die Szene aus großer Entfernung, weil mich das Zeug an diese unsäglichen Marshmellows erinnert, die ich unvorsichtigerweise einmal kostete. Die kecke Cornelia fordert den Mann heraus und erklärt, probieren zu wollen. Nun zeigt der Schleudermaxe seine Kunststückchen, indem er die weiße Paste anbietet und im letzten Moment wieder wegzieht oder –kippt. Cornelia revanchiert sich bravourös: sie hält zuletzt das Geld zum Bezahlen hin und – wutsch! hat sie es wieder in ihrer Hand in Sicherheit gebracht. Da vereinigen sich alle im Gelächter. Auch Nuri zeigt sich als frecher Trickser: Mit Günter hat er gewettet, am nächsten Tag nicht zu rauchen. Dann macht er aus dem Tag 24 Stunden und zündet sich um sechs Uhr abends die erste Fluppe an – 24 Stunden nach dem Versprechen. Wenn ich nur wüsste, worum sie gewettet haben! Kayseri ist eine moderne Stadt. Die Mietshausriesen wirken auf mich hier weniger eintönig als anderswo, eine schicke Tram rauscht vorbei. Kappadokien „Disneyland“ denke ich, als unser Reiseleiter verkündet, es habe wegen der anbrandenden Touristenströme für ihn keinen Platz mehr in unserem Hotel gegeben. Und gleichzeitig fällt mir Neuschwanstein ein, das eingerahmt im Hotel Inci (Einkehr)an der Wand meines Zimmers sich fand ... Doch weil Kappadokien vor allem anderen ein Naturwunder ist und wir als Wandergruppe häufig abseits von den touristischen Trampelpfaden verkehren, habe ich diesen ersten Gedanken schnell vergessen. Die steilen Hänge, die sich oft canyonartig verengen, sind durchlöchert. Zum Teil sind diese Löcher natürlich, zum Teil künstlich, der Unterschied ist nicht immer auf den ersten Blick auszumachen. Hier haben Menschen sich ins weichere Gestein gegraben, Wohnungen, Kirchen, ganze unterirdische Städte aus dem Tuff herausgekratzt. So konnte man Nahrungsmittel bei konstanter Temperatur lagern (wie die Kartoffeln in der Gegend von Soğanlı, Zwiebelland), der Hitze oder Kälte trotzen und sich bei Gefahr dorthin zurückziehen (man konnte die Eingänge mit mühlsteinähnlichen Felsscheiben verschließen). Das Baumaterial kostete nichts, es musste nicht herbei-, sondern nur weggeschafft werden. Die so entstandenen Behausungen waren auch unbegrenzt erweiterbar – bei ständiger Einsturzgefahr allerdings. Wir haben Kaymaklı (Alabasterstadt) besichtigt, ein Höhlensystem aus Halb- und Viertelstockwerken, das zu gebücktem Gang, zum Watscheln in der Hocke und beinahe zum Kriechen zwingt, aber durch Luftschächte (in die man keinesfalls hineinstolpern sollte) bewohnbar ist. Bad oder Toilette konnten wir dort nicht entdecken – da halfen nur Gefäße. Welch mühsame Arbeit! Und doch: Die Felder draußen, die Ernte war möglichen Feinden ausgeliefert. Diese hätten wahrscheinlich auch die in ihren Löchern verbarrikadierten Menschen ausräuchern können, alle Gefäße hätten ihnen nicht geholfen. Aber du kannst es dir nur sehr schwer vorstellen, wie die Menschen vor so langer Zeit miteinander umgegangen oder umgesprungen sind. Heute sind die Höhlenwohnungen verlassen. In frühchristlicher und byzantinischer Zeit entstanden hier zahlreiche Kirchen, deren Fresken allerdings sehr gelitten haben, sei es durch eindringendes Wasser, durch Vernachlässigung (warum sollten sich Moslems um christliche Kirchen kümmern) und - wohl vor allem in jüngster Zeit – durch unzählige eingeritzte Namen von Besuchern, die es für richtig hielten, sich hier zu verewigen. Der Mensch will eben Spuren hinterlassen – das wollten die Kirchenbauer und die Freskenmaler letztlich auch, doch die Wesensart dieser Spuren zeugt auch vom Geist ihrer Schöpfer. Vor allem die Gesichter brachte man zum Verschwinden. Bildersturm? Mit den Heiligen, den Kirchenpatronen, konnten die späteren Herren natürlich auch nichts anfangen, so heißt eine Kirche jetzt nicht mehr Georgs- sondern Schlangenkirche, eine Anspielung auf den vom Ritter bezwungenen Lindwurm. Wir stellen uns Mönchsgesänge vor in diesen stillen Tälern, in die der Gesang des Muezzin kaum dringen wird. Bemerkenswert durch ihre Steilheit und die Abwärtsneigung der Stufen sind die Treppen, die zu den Kirchen führen. Sie machen das Alter schwitzen und dienen der Jugend (etwa dem Busfahrer Nureddin oder der dauerhaft unterforderten Sonja) als Trainingsparcours. Oben, vor dem Eingang der Kirche, liegt oft noch ein Vorplatz, eine Art Terrasse oder Balkon, hoch über dem Tal. Schön ist auch der Blick aus den Höhlenfenstern hinaus ins Freie: auf den Horizont, auf ein Minarett, auf weit entfernte kleine Menschen oder die üppige Vegetation eines Bachgrundes. Vieles ist eingestürzt, vieles wird noch einstürzen. Wenn wir drin oder drunter stehen, haben wir das großzügig vergessen, absorbiert durch Schauen und Fotografieren. Für die Erosion sind hunderttausend Jahre wie ein Tag. Gelassen schaut sie uns von oben zu. Irgendwann oder jetzt gleich beginnt der Kopf einer Erdpyramide zu rollen, bricht eine von der unsichtbaren Feuchtigkeit zernagte Wand, knickt ein paar Pappeln und landet mit großem Getöse vor unserer Nase im Bach und bringt möglicherweise sogar jenen getigerten Frosch aus der Ruhe, dem unsere Fotografen Aug in Aug, ventre à terre, bildschöpferisch gehuldigt haben. So unterschiedlich sind die sich meist zu einem Kegelkopf verjüngenden Felsblöcke, so mannigfaltige menschen- und tierähnliche Formen entlocken sie unserer Phantasie, dass du angesichts solcher Fülle müde wirst zu schauen (und zu knipsen) und dich freust auf die Gartenwirtschaft, wo du es dir im Schatten gemütlich machst und das Essen, beim Abmarsch bestellt, gleich bei der Rückkehr auf den Tisch kommt. Oft geht dein Blick hinauf zu den Abbruchrändern der Hochebenen: Das sieht aus wie eine unüberschaubar lange Reihe von Stelen, auf denen Unentzifferbares steht, das du dennoch lesen kannst: Denn es gibt nichts zu verstehen. Stein bleibt Stein, bis er verwittert ist, dann gleitet er, fällt er, dafür gibt es Gesetze (eher: Vorgänge, die sich zu wiederholen scheinen), aber nichts ist wirklich vorhersehbar. Das weiß die Schildkröte, die vorsichtig hervorspäht unter ihrem Panzer. Und die Vögel müssen sich darum nicht bekümmern, ebenso wenig wie das kopulierende Krötenpaar, das in der Strömung des Bachs langsam dahintreibt. Die Landschaft ist das Ergebnis vulkanischer Aktivität, so wird uns erklärt, und der Ercyes, der immer wieder schemenhaft, fast wie eine Fata Morgana, am östlichen Horizont auftaucht, ist nicht allein dafür verantwortlich; im Südwesten Kappadokiens ragt der Hasan dağı auf, dessen zweigipflige Form mit einem Verbindungsgrat mich ein wenig an den Watzmann erinnert. Auch er ist hier auf der Nordseite schneebedeckt und überragt immerhin noch die Dreitausend Meter-Marke. Und weiter, nach Westen zu, setzt sich die Reihe der Vulkane fort. Alle sind erloschen, ihre niedrigeren, runden Rücken tun dem Auge wohl. Den Gegenpart spielt die ebenfalls schneebeladene, in der Sonne glitzernde Kette des Taurus im Süden. Einmal fahren wir über die Hochebenen im Abendlicht, wo die Gestalt dieser Landschaft besonders plastisch hervortritt. Die Helle des Steins strengt das Auge an, doch dessen Fläche löst sich auf in unzählige winzige Poren, und wenn Schatten darauf fällt, genießt du diesen elementaren Kontrast. Und immer wieder denkst du: Jetzt aufhören mit dem Knipsen, das ultimative Bild, die nackte Wahrheit Kappadokiens musst du doch schon längst erfasst haben ... aber nein: Kappadokien macht süchtig, und die Jagd nach nie gesehenen Formen der Erde geht weiter. Aber Kappadokien ist doch auch Neuschwanstein. Im Freilichtmuseum von Göreme stauen sich die Gruppen schaulustiger Touristen. Die Fresken sind in gutem Zustand oder restauriert. Gewisse Szenen kehren unablässig wieder: die Heiligen Georg und Theodor zu Pferd, Konstantin und seine überirdisch wie Mona Lisa lächelnde Mama Helena, der Pantokrator, Maria mit dem Kindl, Taufe und Verklärung, Versuchung durch Satan, Auferstehung und Himmelfahrt. Der Gipfel ist die Heilige Kümmernis, offiziell Sankt Onofrius, eine Frau, die sich mit langem Vollbart als Mann tarnt – vermutlich vor den üblichen Anfechtungen. Teppiche Mustafa Pascha heißt der Ort. Das Gebäude, eine ehemalige Karawanserei, zieht schon das Auge an, zieht mich, der ich gar nicht mitgehen wollte, hinein in die Vorhalle mit dem sorgfältig arrangierten alten Mobiliar, dann in den Hof, wo ein perfekt Deutsch sprechender Herr mit Karl Lagerfeld-Zöpfchen eine sprudelnde Rede hält, die Geschichte dieser Räumlichkeiten und seines Unternehmens ausbreitet. Es ist die Rede von alten Handwerkstraditionen, die, da im Aussterben begriffen, gerettet werden müssen, vom Knüpfen, vom Färben, vom Restaurieren. Man sieht die Bottiche mit Farbe, die Bündel von Pflanzen, aus denen die Farbe extrahiert wird, Muster gefärbter Fasern hängen an den Wänden. Auf kurze, sehr energische Befehle des Zopfmannes hin, schleppen Angestellte Teppiche herbei, die das Vorgetragene veranschaulichen. Doch das ist nur das Vorspiel. Ein anderer, jüngerer Mann erklärt uns nun in ebenfalls perfektem Deutsch die Gewinnung von Seide und das Prinzip der Zwirnbildung. In einer trüben Flüssigkeit dümpeln die Kokons einer unscheinbaren Raupe, daraus entsteht das Feinste vom Feinen. Wir können eine Frau beim Knüpfen beobachten und wollen gern glauben, dass man diese Tätigkeit nicht länger als vier Stunden pro Tag ausüben dürfe. Danach der Hauptteil der Darbietungen im Atrium der Karawanserei: das Ausrollen großer und kleiner Teppiche, wieder besorgt von diensteifrigen Angestellten. Nicht nur ist ein Teppich schöner als der andere, auch die Bewegung des Präsentierens ist elegant und schwungvoll. Dazu werden Getränke gereicht, eine perfekte Show. Der Schönheit und Vielfalt der Muster kannst du dich kaum entziehen, und schon wirst du von einem dritten sehr gut Deutsch sprechenden Herrn in ein Verkaufsgespräch verwickelt und gibst dich nach einer halben Stunde geschlagen. Der Mitläufer Ein kleiner Knirps, auf einer unserer Wanderungen nach dem Weg gefragt, läuft voraus und bleibt unser ständiger Begleiter. Bald ist er im Gestrüpp verschwunden, bald taucht er wieder auf, er genießt die Beachtung, die wir ihm zwangsläufig schenken. Nach einer gewissen Zeit wird selbst Nuri bedenklich und knöpft ihn sich vor. Doch der Bub lässt sich nicht abwimmeln. Wenn er mit Nuri spricht, geschieht das auf gleichem Niveau, von Mann zu Mann. Zwischendurch führt er uns kleine Kunststücke vor: er krabbelt eine fast senkrechte Böschung hoch, er kickt eine faule Orange in ein imaginäres Tor. Als wir nach langer Wanderung über Wiesen und Felder, hangaufwärts, hangabwärts, endlich am Ziel sind, in einer Dorfschänke (wo natürlich und zu unserem Besten nur Tee ausgeschänkt wird), setzt sich der Junge auf einen Plastikstuhl, etwas abseits von unseren Tischen, in zentraler Position, und sitzt dort wie ein Pascha, der unbedingt sofort bedient werden muss. Ein übers andere Mal kreuzt er die Beine, flüstert dann mit Nuri, sein Gesichtsausdruck ist geschäftsmäßig ernst. Nuri sagt, er lüge, er habe mehrere Wohnorte angegeben, wo wir ihn absetzen könnten, es mache nichts aus, dass er an diesem Tag die Schule nicht mit seiner Gegenwart beehre. Andererseits: Warum glauben wir ihm nicht einfach, dass in seiner Klasse lauter Blödiane sitzen außer ihm, dem Allerschlausten und noch drei anderen mäßig schlauen und er sich unseretwegen Urlaub genommen habe vom Unterricht, der ihm so wie so nichts Neues bringen könnte. Ja, warum nicht? Wir Erwachsenen schwindeln doch auch ziemlich oft. Feenkamine Die türkischen Feen wären Hexen gewesen (man müsste vergleichen, was in 1001 Nacht erzählt wird), wenn sie den Bewohnern dieser Felstürme solche ebenso bizarren wie unbequemen Heimstätten geschenkt hätten – Miete wurde immerhin nicht eingefordert. Auch äußerlich erinnern diese konischen Klötze an alles, nur nicht an Feen. An einen Phallus können sie nur den erinnern, der unbedingt daran erinnert werden will. Nein, es sind groteske Monster mit Wülsten, Falten und Spalten, alles Erdenkliche kannst du in sie hineingeheimnissen, menschliche, tierische, pflanzliche Formen, halbe und Dreiviertelgesichter, Masken und Fratzen. Schön sind diese unerbittlich verwitternden Steinriesen nicht, jede Fee würde sich für den Vergleich schönstens bedanken. Auch wie sie so gedrängt beieinander stehen, das stößt dich eher zurück, sie rücken vor dir zusammen, lassen nur schmale Durchstiege zu und selten bilden die kahlen Schädel ihrer schon gänzlich in der Erde versunkenen Vorgänger Terrassen mit Aussicht. Schmale Trittpfade führen durch die Wirrnis der Kamine, auf und ab und im Zickzack auf Geröll und Staub. Dazwischen, wie auch sonst, Kirchen und Wohnhöhlen, die in Zerve noch in den fünfziger Jahren bewohnt gewesen sein sollen. Dort ist kürzlich eine Kirche eingestürzt, beidseitig ist der Hang aufgerissen, riesige Brocken sind hinuntergerollt, tiefe Risse kündigen weiteren Zusammenbruch an. Das blendend weiße Gestein reflektiert das Licht der Sonne sehr stark, die Luft scheint mancherorts zu kochen. Kurze Erlösung bringt der stets kühle Wind, doch allzu selten lässt er sich spüren. Ivriz Ein gewaltiger Bach schießt aus den Tiefen des Kalkgebirges, eine nie versiegende Quelle: ein Heiligtum für die sesshaft gewordenen Menschen. Ein großes Reliefbild schaut auf uns herunter. In den Fels gemeißelt ist ein Herrscher, modisch elegant gekleidet, der dem Gott der Fruchtbarkeit, dem Gott auch dieser Quelle, huldigt und ihn um gute Erträge bittet. Der Gott ist ein gutes Stück größer als der königliche Mensch, der vor ihm steht. An seinem Gürtel hängen mit Trauben dicht bestückte Rebzweige. Schon zur Zeit der letzten Hethiter wuchsen hier diese prallen Früchte, lange vor dem Islam, der ihr Produkt, den Wein, irgendwann in seiner Geschichte ächtete. Offiziell. Seit bald dreitausend Jahren glänzt das Felsenbild in der Mittagssonne. Es scheint der Verwitterung nicht zu unterliegen Der breite Bach schäumt vorbei. Steppe Sandiger, bröseliger Boden und kleine Höcker harter, manchmal stacheliger Trockenpflanzen bestimmen das Bild. Das Gebirge ist weit weg an die Peripherie des Blickkreises gerückt. Durch so viele fruchtbare und intensiv kultivierte Ebenen sind wir gekommen, aber erst hier gelingt es meiner Phantasie, mir das Pferdegetrappel einer Horde mongolischer Invasoren vorzustellen, einer Phalanx zehntausender berittener Krieger, die die Dörfer plündern, dann niederbrennen. Zehntausende Tote lassen sie zurück. Aber ich will hier nicht einer Gelben Gefahr das Wort reden, denn auch die Heere, die von Europa kamen, werden nicht viel anders verfahren sein: Kelten, Alexanders Makedonier und Griechen, Römer, Byzantiner und nicht zuletzt die Kreuzritter. Alle haben rücksichtslos genommen, was sie kriegen konnten. Das zu dieser unermesslichen Weite passende Wetter: dunstig-diesig, fast wie Nebel, und schwülwarm. Meke gölü (Ringkratersee) Ein erloschener Vulkan von mäßiger Höhe. Im Zentrum ein nur spärlich bewachsener, schroff, fast senkrecht aufragender Block, der alte Schlot, und der Kraterrand, etwas niedriger, vielleicht fünfzig, sechzig Meter hoch und nach innen steil abfallend. Dazwischen Wasser, das nun am Beginn des Sommers langsam austrocknet und Furten freilegt. Doch von Wasser scheut man sich zu sprechen: es schimmert in verschiedenen Rot- und Brauntönen, andernorts dominieren gelbliche und weißliche Schattierungen. Etliche winzige „Kindl“, niedrige Nebenschlote, lagern dichtgedrängt in der Kratermulde, nahe an der zentralen Erhebung. Die Umgebung ist ein Ensemble sanft geschwungener Vulkankegelketten, zwischen denen hier und da ein stehen gebliebener Kamin aus grobem Basalt sich erhalten hat. Die Landschaftsformen erinnern mich an die Auvergne. Nur ist dort keine Steppe, sondern eine Mittelgebirgslandschaft mit intensiv grünem Bewuchs. Konya Drei Moscheen mit dem nach Mekka gerichteten Mihrab. der Gebetsnische, im Fokus aller Betenden, wo der Vorbeter seinen Platz hat, rechts davon die Kanzel für den Feiertagsprediger, links ein Podest für den gewöhnlichen Prediger. Rechts über dem Mihrab im Medaillon der Name Allahs, links drüber der des Propheten. Um die Kuppel gruppieren sich die Namen der ersten vier Kalifen (analog zu den vier Evangelisten oder den vier wichtigsten Kirchenvätern bei den Christen) : Abu Bakr, Omar, Osman und Ali. Die Frauen sind aus dem Hauptraum verbannt (früher durften sie, so wird uns erklärt, von einer Empore aus unmittelbar am Gebet teilnehmen) und müssen sich hinter einem Vorhang in einem Vorraum verstecken. Frauen bevölkern an diesem Tag Konya in hellen Scharen. Alle tragen Kopftuch. Die meisten strömen in die Mevlana-Moschee, heute Museum, die an den Gründer des Sufi-Ordens erinnert. Was für ein Gegensatz zum Vorabend, als wir durch die bunt beleuchtete und jugendlichsüdlich bevölkerte Stadt in den zentralen Park spazierten und dort Tee vom Samowar tranken, zu Live-Musik! Da habe ich eine Gala-Vorstellung erlebt! Niemand außer mir schien auf das junge Paar zu achten, das nahe bei unserem Tisch (doch außer Hörweite) saß und ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war. Es ist die archetypische Situation: die Frau, blond und ohne Kopftuch, redet und redet, der Mann schweigt meistens, wirft gelegentlich kurz etwas ein oder wiegt den Kopf, als verstünde er alles, macht hm hm. Aber die Frau steigert zusehends Nachdruck und Geschwindigkeit der Rede. Gelegentliche kurze Unterbrechungen erlauben ihr, an ihren Nägeln zu knabbern, so wie man rasch an einem halbleeren Glas nippt. Eine Vielfalt von Gesten kommt dazu, Handbewegungen meistens, der Gesichtsausdruck wechselt rasch, der schöne Kopf wogt hin und her. Der Mann kann vorerst nicht mithalten, er bleibt sich gleich, und das ist ihr auf die Dauer natürlich zu wenig. Plötzlich schimmert etwas unterhalb der Augen der Frau, rasch wird es weggetupft, jetzt dürfen ihre Blicke noch ungehemmter vorwurfsvoll sein, ein heftiges Reiben an der Nase gerät zur Drohung. Eine Schmerzensmadonna. Jetzt muss der Mann handeln. Körpereinsatz. Größtmögliche Annäherung an den Gegner, vertrauliches Flüstern. Aber die Miene der Frau hellt sich nur langsam auf, kontrolliert langsam, wie mir scheint. Jetzt entsteht fast so etwas wie ein Kuss, aber wahrscheinlich (gerade da ist mir die Sicht etwas verstellt) ist es nur Wunschdenken von mir, der ich gedacht habe: und das mitten in der heiligen Stadt Konya! Vive le progrès! Jedenfalls zeitigt das Aufweichen der vorher so starren männlichen Position Wirkung: Es vergeht zwar geraume Zeit, bis sich ihr Ausdruck beruhigt, doch dann entspannt sie sich, lächelt, lacht sogar. Jetzt eine Versöhnungszigarette. Gut gemacht, Mann! Sie entdecken gemeinsam, dass sie in einem Gartencafé sitzen und live Musik für sie spielt, der sie nun gemeinsam lauschen. Doch neue Rede hebt an. Die Szene scheint sich zu wiederholen. Vorsichtshalber schweigt der Mann wieder. Sie gerät erneut in Fahrt. Ihre Rede nimmt Tempo auf. Fast etwas wie Begeisterung legt sich in ihre Miene. Der Mann versucht es mit der alten Taktik: eben hat es ja noch geklappt. Das Zigarettenglück soll bestehen bleiben. Schließlich sagt er doch etwas. Es war wohl nicht das Rechte. Die Frau springt auf und tritt unerwartet an unseren Tisch. Auch jetzt verstehe ich kein Wort von dem, was sie sagt, später erfahre ich: Sie hat in makellosem Deutsch ihre Hilfe angeboten, falls unsere Gruppe solche benötige. Das nimmt ein, zwei Minuten in Anspruch, jemand aus der Gruppe hat ihr gedankt: ein derartiges Bedürfnis bestehe nicht. Ich denke, es ist ein Break gewesen. Der Mann sollte – wenn auch nur für Bruchteile von Sekunden – den Eindruck haben, sie ginge jetzt fort. Jetzt sitzt sie wieder. Jetzt kommen wieder ein paar Tränchen. Der Kopf kippt, die Nägel müssen herhalten. Doch sie beruhigt sich diesmal schneller als zuvor, der Mann muss weniger Einsatz zeigen. Am Ende scheint sie in euphorischer Stimmung, der Mann nickt, und ich denke: ergeben. Doch jetzt geschieht etwas für mich Unerwartetes: ein Kind, ein etwa zehnjähriger Junge tritt an den Tisch, bleibt neben dem Mann stehen. eine kurze Unterhaltung zu dritt mit anscheinend weiter entspannender Wirkung, ähnlich der Zigarettenpause vorher. Man folgt zu dritt der Musik. Dann: Alle ab. Eine starke schauspielerische Leistung (obwohl es sicher kein Schauspiel war)! Perge 150 000 Einwohner soll diese Stadt in der Antike gehabt haben! In der Tat ist das Gelände nicht zu überblicken. Oben auf dem Akropolis-Hügel scheinen die Ausgräber noch am Anfang zu stehen. Die riesige Anlage der Thermen, mehrstöckig, ruft ins Gedächtnis, dass die Römer die Badekultur entwickelten und die Hygiene schon recht ernst nahmen. Die Orientalen, Araber und dann auch Türken, haben es von ihnen gelernt und übernommen, während diese Tradition in Europa verloren ging. Von der breiten Hauptstraße könnte sich manche heutige Fußgängerzone ein Scheibchen abschneiden. In ihrer Mitte floss nämlich Wasser von Becken zu Becken. Dieses Wasser musste und konnte man auch ablassen, zu Reinigungszwecken: in einem der Becken sind ein Abflussgulli und ein riesiger antiker Stöpsel aus Stein zu bewundern. Lektüretipps, aufgeschnappt: Tröger, Bussmann, Türkei; Müller Verlag Lale Akgün, Türken sind anders – Deutsche aber auch! / Tante Semra im Leberkäsland Kamphövener erzählt .... Badisches Landesmuseum Karlsruhe, Die ältesten Monumente der Menschheit (Katalog der Ausstellung 2007) Reiseführer natur BLV Türkei (Kasparek) 1990 (Neuauflage?) Edgar Hilsenrath, Das Märchen vom letzten Gedanken (zum Thema Vertreibung der Armenier 1915) Helmuth von Moltke, Unter dem Halbmond Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei aus den Jahren 1835 bis 1839