Rüdiger Siebert, Heinz Kotte: Vietnam hautnah. Ein
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Rüdiger Siebert, Heinz Kotte: Vietnam hautnah. Ein
Rüdiger Siebert, Heinz Kotte: Vietnam hautnah. Ein Land im Umbruch. Bad Honnef: Horlemann Verlag. 206 Seiten, € 12,90, ISBN 3-89502-214-4. eine Besprechung von Werner Pfennig Das Foto auf dem Buchdeckel zeigt eine Vietnamesin: aufmerksamer Blick, Kopf im Halbprofil; durch leichte Drehung kann sie schnell von Vorausschau auf Rückblick wechseln. Das Foto symbolisiert die Programmatik des Buches. Goethe lässt Iphigenie auf Thauris, fern der Heimat, „das Land der Griechen mit der Seele“ suchen. Heinz Kotte brauchte das Land der Vietnamesen nicht zu suchen. Er kannte es und hatte es im Herzen, was ihn nicht hinderte, es mit kritischprüfendem Blick zu betrachten. Hatte und kannte sind Vergangenheitsformen, denn Heinz Kotte starb bevor dieses Buch erschein. Zusammen mit Rüdiger Siebert, einem profunden Kenner Südund Südostasiens, hat er Vietnam beschrieben und analysiert: Vergangenheit, Gegenwart, Details und grandiose Überblicke. Fünf der Beiträge konnte Heinz Kotte noch schreiben, die anderen 18 stammen von Rüdiger Siebert. Es gibt drei Landkarten, die besonders hilfreich sind bei dem Kapitel „Im Mekong-Delta alles in der Schwebe.“ Bereichert wird der Band zusätzlich durch 33 Illustrationen von Peter Berkenkopf, die es LeserInnen ermöglichen, sich ein Bild zu machen, sich in den Text hinein zu versetzen, das Beschriebene quasi mitzuerleben, um „im Detail das Ganze zu entdecken.“ (S. 23) Geschrieben wurde über ein Land, dessen lange Geschichte gekennzeichnet ist von Kampf, Siegen, Entbehrungen und Aufopferungen, ein Land, das sich stark und schnell verändert: „Erstmals seit so vielen Generationen mit Schwertern in kampfbereiten Händen hat die junge Generation die kostbare, einzigartige, hoffnungsvolle Chance: bereit zu sein, fürs Vaterland zu leben.“ (S. 37) Dieses Leben wird anschaulich, wird hautnah beschrieben: Vergangenheitsbewältigung, Heldenverehrung, Konsumrausch, Autorin Pham Thi Hoai, Soziologin Prof. Nguyen Thi Oanh, Pater Chan Tin, Verlierer des Friedens, Umweltzerstörung, Überlebenskunst, Konsumrausch, Bettler, dümmlich-arrogante Kader, Raffgier, Wassertheater, Halong-Bucht, Mekong-Delta, Schlachtfeld Keh Sanh, Kaiserstadt Hue, Tunnelsysteme, Tempel, Pagoden, … Der Text besteht fast durchgängig aus kurzen Sätzen und griffigen Formulierungen, teilweise geschrieben wie das schnelle Sprechtempo einer Reportage. Die Essenz von Buddhismus und Konfuzianismus wird meisterlich in wenigen Sätzen kompakt dargeboten. Rüdiger Siebert schreibt stellenweise Staccato-Prosa. Im Text untergebracht sind aussagekräftige statistische Angaben zur sozialen Situation des Landes. Atmosphäre, scharf und detailreich beobachtet, wird fast miterlebbar vermittelt. Heinz Kotte bietet beides, farbige Milieubeschreibung und gesellschaftspolitische Reflexion sowie Bezug auf historische Bestimmungsfaktoren. 2 Bei Rüdiger Siebert gibt es oft einprägsame, bilderreich-wertende Ausdrücke: Hanoi, eine würdige alte Dame – selbstbewusst und mit verhalten konservativem Gehabe (S. 40); Ho Chih Minh im eigenen Mausoleum als Denkmal in Goldbronze: „ein jovialer Hausherr mit scharfkantigen Bügelfalten.“ (S. 56) „Der Mann stammt aus der Gegend von Cu Chi. Als 15-Jähriger, als 18-Jähriger war er dabei. Er hat erlebt, worüber er spricht; er hat überlebt, was er vorführt. Aber wie er das macht, ist bühnenreif und eine Lachnummer der Verwandlung. Er verkündet Vietcong-Mythos in der Pose eines GI. Aus Kampf wird Krampf. Wie sich die Zeiten ändern. So schnell. Die Spanne eines halben Lebens reicht.“ (S. 170) Wann immer möglich, werden der mörderische Diktator Ngo Dinh Diem und der hasserfüllte Kardinal Spellmann verbal abgeurteilt Die Kritik scheint, so zumindest mein subjektiver Leseeindruck, kommt zwar nicht aufdringlich-rechthaberisch daher, wirkt stellenweise aber etwas aufgesetzt. Die Autoren besuchten Orte und sprachen mit Personen, die anderen Besuchern schwer oder kaum zugänglich sind. Vietnam ist in diesem Buch hautnah zu erleben, mit seiner großen Spannweite. Über drastische Veränderungen aber auch über Kontinuitäten ist zu lesen. Eine der gegenwärtigen Bestandsaufnahmen lautet: „Vietnam in seiner konsumorientierten Fortschrittsgläubigkeit ist vernetzt worden.“ (S. 85) Pater Chan Tin war in den 60er und 70er Jahren ein bekannter Vertreter der „Dritten Kraft.“ Seine Einsichten, entnommen aus Publikationen, Predigten und Gesprächen, werden in längeren Passagen als wörtliche Zitate abgedruckt. „Es besteht ein Bedürfnis, das Land äußeren Einflüssen zu öffnen. Das geht jedoch nicht ohne Demokratie. Man muss auf zwei Füßen gehen: Politik und Wirtschaft. Und politische Öffnung bedeutet Demokratie. In der Diktatur gibt es keinen Fortschritt.“ (S. 190f) Der mutige, ungebeugte Pater meint zwar, die „Zeit für die Einlösung von Träumen ist noch nicht gekommen“, doch es „gibt hier eine Bewegung für mehr Demokratie. Aber die Angst verhindert, dass sich diese Bewegung ausbreitet, dass man mit lauter Stimme spricht. … Die Ideen der Demokratie finden ihren Weg und verbreiten sich im Volk, aber auch unter den Kommunisten.“ (S. 191) Am Ende des Buches wird den LeserInnen keine Zusammenfassung serviert, es gibt kein abgerundetes Fazit, keinen erfahrungsgesättigten Ausblick. Die vielen geschilderten Impressionen, Beobachtungen und Bewertungen bieten eine Fülle von Material, um selbst eine Zwischenbilanz zu ziehen, kein Endergebnis, denn „Vietnam hautnah – eine Fortsetzungsgeschichte.“ (S. 204) Wer bereits dort war, wird vieles wieder erkennen, manchen damaligen Eindruck neu bedenken; andere könnte die Lektüre zu Reiseplanungen motivieren. Asienhaus, 12.4.2006 - 2 von 2 -