Erinnerungen an Ostpreußen, 2003
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Erinnerungen an Ostpreußen, 2003
Elvira Ludwig ERINNERUNGEN AN OSTPREUSSEN Zusammengestellt von Günter Ludwig Villingen, im April 2003 Vorwort m Frühjahr 1998 habe ich meine Mutter gebeten, ihre Erinnerungen an die Kindheit in Ostpreußen und die Flucht im Winter 1945 doch einmal aufzuschreiben, damit diese Dinge nicht eines Tages ganz in Vergessenheit geraten und verlorengehen könnten. Meine Mutter war damals 65 Jahre alt, und es war über ein halbes Jahrhundert her, seit sie sich an einem kalten Freitagnachmittag mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in den Flüchtlingstreck eingereiht hatte, der vor der herannahenden Roten Armee überstürzt nach Westen zog. Neben ihr hat aus der engeren Familie nur der Vater den Krieg und die Nachkriegszeit überlebt – er war inzwischen 92 Jahre alt, hatte aber einige Jahre zuvor einen Schlaganfall erlitten und konnte sich an viele Einzelheiten seiner ostpreußischen Jahre nicht mehr erinnern. Weder er noch meine Mutter noch irgendeiner der Verwandten, die nach dem Krieg über ganz Deutschland verstreut wurden, hatte bis dahin – soweit mir bekannt war – zusammenhängende Notizen über die Familiengeschichte oder das Leben in Ostpreußen hinterlassen. Auch meine Mutter glaubte zunächst nicht viel Mitteilenswertes festhalten zu können, da zu viel Zeit vergangen sei und sie wenig Neigung verspürte, ihre Erinnerungen zusammenfassend in eine schriftliche Form zu bringen. Außerdem war sie beim Abschied von dem elterlichen Hof gerade erst elf Jahre alt gewesen und konnte viele Dinge, nach denen ich sie jetzt fragte, natürlich nicht wissen. Trotzdem wollte sie mir den Gefallen tun, und während sie dann ein paar erste Sätze aufschrieb, kam die eine oder andere Erinnerung wieder hoch… und ganz allmählich entstand so in einfachen Worten das Bild einer früh zuendegegangenen Kindheit und einer fernen Lebensweise, die sich in vielem von dem unterschied, was meiner Mutter inzwischen selbstverständlich geworden war und was ich nie anders kennengelernt habe. Ich begann mich näher mit dieser ostpreußischen Welt zu beschäftigen: Ich besorgte mir historische Landkarten und kaufte eine Reihe Bücher, und ich sah, daß vieles, was meine Mutter aus ihrer Kindheit beschrieb und von dem sie mir erzählte, ebenso in anderen Lebenserinnerungen und Aufzeichnungen vorkam. Auch die dramatischen Schilderungen der Flucht tauchen in ähnlichen Bildern oder Beschreibungen immer wieder auf. So sind diese knappen Erinnerungen also kein besonderes Dokument einer einzigartigen Geschichte – sie zeigen nur, wie ein kleines Mädchen damals in Ostpreußen gelebt hat, und was es in jungen Jahren, wie viele Andere, auf der Flucht erdulden mußte. Und doch ist es eine individuelle, einmalige Geschichte, wie ja auch all’ die anderen Schilderungen jeweils ihren eigenen Mittelpunkt haben. Das darf man nicht vergessen, wenn man das Einzelschicksal – den Verlust der Heimat und der nächsten Angehörigen – im Zusammenhang mit millionenfachem anderen Leid sieht, wo die ungeheure Zahl der Flüchtlinge und der Toten jedes Einzelschicksal zu relativieren scheint. Andererseits gibt gerade diese Dimension den Erinnerungen das Prädikat eines Zeitdokuments, das über manche andere biografische Notizen hinausgeht. Denn der Zweite Weltkrieg als Ganzes stellt sich im Rückblick immer mehr als weltgeschichtliche Zäsur dar, als möglicherweise größte von Menschen verursachte Katastrophe, die es auf der Erde jemals gege- I 2 ben haben wird. Und neben dem Holocaust, der singulär bleibt, sind die Verbrechen der Roten Armee beim Einmarsch in Ostpreußen für sich eine einmalige Tat, auch mit den Gräueln anderer Kriege oder früheren (und späteren) Exzessen anderer Völker in ihrer Komplexität und Abgründigkeit nicht zu vergleichen. Sechs Millionen Menschen sind damals aus den Ostgebieten geflohen – die größte Siedlungsbewegung in der Geschichte der Menschheit. Mehr als zwei Millionen Menschen starben insgesamt auf der Flucht, 218.000 Zivilpersonen (meist junge Frauen) wurden in russische Arbeitslager verschleppt, fast 10.000 Menschen starben in einer einzigen Nacht beim Untergang der „Wilhelm Gustloff“ (der größten Seefahrtskatastrophe aller Zeiten); die Zahl der vergewaltigten Frauen wird von Historikern auf 1,4 Millionen geschätzt, Zehntausende nahmen sich selbst das Leben –: Zahlen, die das Ausmaß einer Tragödie von kaum vorstellbaren Dimensionen andeuten, die aber von dem Einzelnen, der daran beteiligt war, zunächst kaum verinnerlicht werden konnten, weil er eben jeweils „seine“ Mutter oder „seinen“ Sohn verloren hatte, und weil alle Schicksalsverbundenheit den individuellen Verlust nicht zu lindern vermochte. Auch meine Mutter hat damals nahe Angehörige verloren, und bei der Niederschrift dieser Notizen wurde manche Erinnerung wieder wach. Es fiel ihr auch nach über 50 Jahren sichtlich schwer, von den letzten gemeinsamen Tagen und Stunden mit ihrem Bruder zu reden, und sie hat gerade diese Dinge, die ihr besonders eindringlich in Erinnerung geblieben sind, erst aufgeschrieben, nachdem alles andere fertig war und ich sie noch einmal darum gebeten hatte. Trotzdem hat es ihr zuletzt gut getan, nach so langer Zeit noch einmal davon reden zu können und abschließend das Erinnerte aufzuschreiben. In der vorliegenden Reinschrift werden die knappen Notizen meiner Mutter durch einige Passagen und Zitate aus Büchern ergänzt, damit bestimmte Ereignisse verständlicher werden oder anschaulicher nachempfunden werden können. Ein paar Anmerkungen finden sich im Anhang –sie stammen aus einer kleinen Dokumentation, die ich parallel zu den Aufzeichnungen meiner Mutter angelegt habe und die nähere Angaben zu den hier erwähnten Orten und Landschaften enthält, sowie Anmerkungen zu einzelnen Detailfragen, genealogische Notizen usw. (von all dem habe ich hier nur dasjenige aufgenommen, was unmittelbar zum Verständnis der Erinnerungen beitragen oder dazu anregen kann, den Familienhintergrund durch neue Hinweise zu vervollständigen). Die Aufzeichnungen waren ursprünglich nicht zur „Veröffentlichung“ gedacht. Daß sie jetzt in dieser Reinform vorliegen, hat seinen Grund darin, daß sie anderen Mitgliedern der Familie und deren Nachkommen zugänglich gemacht werden sollen und auf diese Weise als familiengeschichtliches Dokument erhalten bleiben können. Schriftliche Erinnerungsstützen (wie Stammbäume oder andere Familiendokumente) standen meiner Mutter nicht zur Verfügung. Wo immer sich also Fehler oder Ungenauigkeiten eingeschlichen haben, muß um Nachsicht gebeten werden. Korrekturen und Ergänzungen sind willkommen, vielleicht kann so einmal eine erweiterte oder verbesserte Fassung dieser Aufzeichnungen entstehen. Günter Ludwig 3 ERINNERUNGEN AN OSTPREUSSEN 4 Herkunft und Kindheit Vor dem Elternhaus der Mutter in Albrechtsdorf (v.l.n.r.): Berta Prang, die stets freundliche Großmutter; Martha, älteste Schwester der Mutter; der Großvater und Ella, die Jüngste. Die mittlere Schwester, Lisa, fehlt auf diesem Foto aus dem Jahr 1922 – möglicherweise war sie die Fotografin. on meinem Urgroßvater väterlicherseits weiß ich nur, daß er Gustav Scheffler hieß und wahrscheinlich aus dem Salzburger Land stammt. Mein Großvater Heinrich Erdmann Scheffler und seine Frau Anna, geb. Rohmund, lebten zunächst in der Ukraine. Sie zogen wegen politischer Unruhen 1905 nach Krone an der Brahe in Westpreußen – das ist auch der Geburtsort meines Vaters. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden sie vor die Wahl gestellt: Entweder mußten sie „polnisch optieren“ (d.h. für die Abtretung Westpreußens an Polen stimmen), oder sie wurden ausgewiesen. So kam es, daß sie von dort nach Schleswig-Holstein in ein Lager übersiedelten. Dort hat mein Vater auf einem Bauernhof gearbeitet. Als mein Opa nach zwei Jahren eine Abfindung bekam, wollte er mit dem Geld im „Reich“ einen Hof erwerben, da das aber zu teuer war, siedelte er sich schließlich in Saagen in Ostpreußen an (1921). Mein Vater ist später nachgekommen. Dort wohnte Großvater bis 1933, dann mußte er wegen der Errichtung eines Truppenübungsplatzes sein Haus räumen. Mein Vater hatte drei Jahre zuvor bereits geheiratet und seinen eigenen Hof, etwa 15 Kilometer entfernt, erworben. Bis zur Flucht (1945) wohnte Großvater dann in Ringels, in der Nähe von Königsberg. Die Geschwister meines Vaters haben dadurch verschiedenen Geburtsorte, die ich nicht genau einordnen kann. Die älteste war Alwine, dann kam Olga, dann mein Vater, danach Otto, dann Lydia, die als Kind verstorben ist, und schließlich Anna, bei deren Geburt meine Großmutter starb (1914). Mein Vater war zu der Zeit acht Jahre alt. Als mein Großvater noch einmal heiratete, kam dann noch der Halbbruder Heinz dazu. Unter der Stiefmutter müssen die fünf Kinder aus erster Ehe Unglaubliches durchgemacht haben! Sie hat ihren Mann aufgehetzt, die Kinder auch bei den kleinsten Vergehen zu prügeln, die Kinder bekamen nicht satt zu essen, während ihr leiblicher Sohn oft die besten Bissen zugesteckt bekam, die der aber, war die Mutter außer Sichtweite, mit seinen V 5 Die Urgroßeltern von Elvira Scheffler: Mathilde Scheffler, geb. Klang, und Gustav Scheffler (Lebensdaten unbekannt). Geschwistern teilte. Ich habe auch erzählen hören, daß sie meinen Vater einmal im Winter eine ganze Nacht lang ausgesperrt hatte, weil ihm irgendeine Kleinigkeit abhanden gekommen war, die er dann nachts suchen sollte. So oft man mir auch von meinem Großvater – den ich nicht mehr kennengelernt habe – erzählte, was für ein gütiger und herzensguter Mensch er war: ich habe ihn als Kind schon fast gehaßt, weil er es duldete, daß seine Frau so mit seinen Kindern umging. Helene Scheffler ist 1947 auf einer Kolchose in Rußland gestorben. Kurz vor ihrem Tod hat sie dann noch meine Tante Anna um Vergebung gebeten. – Mein Großvater ist auf der Flucht gestorben. Er wurde, in einer Wolldecke eingewickelt, am Straßenrand begraben. Wann und wo das genau war, weiß niemand mehr. Die Eltern meiner Mutter hatten einen schon etwas größeren Hof in Albrechtsdorf. Der Hof lag in einigem Abstand vom Dorf entfernt, nahe am Waldrand. Mein Großvater ist schon früh verstorben, und so übernahm die älteste Tochter Martha und ihr Mann Gustav Babbel den Hof. Ich habe meine Großmutter in Erinnerung, wie sie in ihrem Auszugsstübchen am Fenster saß und dem Treiben auf dem Hof zusah. Dieses Haus – strohgedeckt, ohne Wasser- und Stromleitung – hat immer einen ganz besonderen Zauber auf mich ausgeübt. Meine Mutter war die Jüngste von drei Geschwistern. Martha, die älteste, bekam den Hof. Ihr Mann, Onkel Gustav, hat uns später noch einmal hier in Kassel und Besse besucht. Tante Martha sowie ihre Jungen Herbert und Gerhard sind auf der Flucht gestorben. Die Ältesten, Erwin und Elsbeth, leben heute in Amerika. Der Jüngste, Siegfried, lebt in der Nähe von Köln. Dann kam die Mittlere, Tante Lisa; sie hat in die Stadt Bartenstein geheiratet. Ihre beiden Jungen Helmut und Georg sind nach dem Krieg, noch ziemlich jung, verstorben. Sie lebte mit Traute, ihrer Tochter, in der damaligen DDR, wo sie auch relativ früh starb. Dann kam meine Mutter, das etwas verwöhnte Nesthäkchen, wie ich von Onkel Erich gehört habe, einem Cousin meiner Mutter, der uns nach dem Krieg noch oft besucht hat. Mein Vater und meine Mutter lernten sich durch einen Bekannten kennen, der das Treffen arrangiert hat. Da beide den elterlichen Hof nicht bekommen konnten, mein Vater aber mit Leib und Seele Bauer war, haben sie 1930 nach der Hochzeit in Worienen gesiedelt, einem kleinen Dorf zwischen den elterlichen Höfen in Saagen und Albrechtsdorf. Dort bin ich am 21. August 1933 geboren. Die Eltern Mein Vater (Artur Scheffler) ist 1906 in Krone a.d. Brahe (Westpreußen) geboren. Von der Kindheit meines Vaters weiß ich wenig; er hat selten darüber gesprochen. Ich weiß nur, daß er unter der Stiefmutter sehr gelitten hat, daß er ein gutes Verhältnis zu seinem Halbbruder Heinz hatte, und daß Olga, als die Älteste, ihre Geschwister umsorgt hat, so gut sie’s konnte. Den elterlichen, ihm zustehenden Hof in Saagen, den Großvater nach dem Tod seiner ersten Frau und dem vorübergehenden Aufenthalt im Reichsgebiet erworben hatte, konnte er nicht übernehmen, da seine Stiefmutter den Hof lieber in den Händen ihres leiblichen Sohnes (Onkel Heinz) wissen wollte. So hat mein Vater mit 24 Jahren in Worienen „gesiedelt“, nur wenige Kilometer von dem heimatlichen Hof entfernt. In Worienen war ein großes Gut aufgelöst worden, und das umliegende Land des ehemaligen Gutsbesitzes wurde zu relativ günstigen Bedingungen an siedlungswillige Bauern abgegeben. Meine Eltern haben 1930 geheiratet, im Jahr darauf (1931) ist ein Mädchen tot zur Welt gekommen; 1933 bin ich geboren, 1938 kam ein Junge tot zur Welt und am 9. Januar 1941 ist Günter geboren. Mein Vater ist erst 1942 eingezogen worden, weil er als Bauer, der seinen Hof bewirtschaften mußte, zunächst zurückgestellt wurde. Später wurde dann jeder Mann gebraucht. 6 Die Großeltern väterlicherseits: Heinrich August Scheffler mit seiner zweiten Frau während der Hochzeitsfeier der Tochter Olga (aus erster Ehe) im Jahr 1943. Die Großeltern mütterlicherseits mit ihren drei Töchtern (v.l.n.r.): Berta Prang und ihr Mann, Ella, Lisa und Martha. Das Hochzeitspaar Ella Prang und Artur Scheffler im Jahr 1930. Zwölf Jahre lebten sie gemeinsam auf dem kleinen Hof bei Worienen. Die Ehe war nicht sehr harmonisch. Kurze Zeit nach seiner Einberufung wurde meine Mutter so schwer nervenkrank, daß unser Hof vorübergehend von einem polnischen Gefangenen und einer unverheirateten Nachbarin (Martha Kirstein) geführt wurde. Meinen Vater habe ich als Kind kaum wahrgenommen – er war einfach da. Fleißig war er und mit Leib und Seele Bauer. Das habe ich sogar schon als Kind so empfunden, wenn ich sah, wie er zum Beispiel mit seinen Tieren, vor allem den Pferden, umging. Manchmal mußte ich ihn zum Mittagessen vom Feld abholen, und dann durfte ich auf einem Pferd, das besonders „fromm“ war, heimreiten. Das hat mir immer viel Spaß gemacht. Meine Mutter, Ella-Hulda Prang, ist am 20. Februar 1905 in Albrechtsdorf geboren. Schon als junges Mädchen litt sie oft unter Depressionen, die sich nach ihrer Heirat aber vorübergehend besserten. Zwischen den depressiven Phasen soll sie ein lebenslustiger und fröhlicher Mensch gewesen sein. Lebenslustig vielleicht, aber nicht sehr lebenstüchtig. Als mein Vater eingezogen wurde, hat sie sich oft bei Ihrer Freundin (Tante Hertha) Rat geholt. In dieser Zeit, verschlechterte sich ihr Zustand so sehr, daß ich nachts den Haustürschlüssel versteckte, weil sie immer wieder Selbstmordabsichten äußerte. Sie war auch nicht mehr fähig, einen Brief an meinen Vater zu schreiben – es war nur ein wirres Gestammel. Einmal hat sie von Albrechtsdorf aus versucht, meinem Vater ein paar Zeilen zu schreiben, aber es war so konfus, daß ich noch etwas dazu geschrieben habe, bevor ich ihn abgeschickt habe. Sie lag die meiste Zeit im Bett. Ihr schallendes Lachen, das dann in haltloses Weinen überging, hat mir immer große Angst gemacht. Mein Vater kam in dieser Zeit einmal auf Urlaub – er ist sicher sehr besorgt wieder an die Front gefahren! Besonders schlimm für mich war, daß ich eine Zeit lang mit meiner Mutter in einem Bett schlafen mußte und sie mir oft am Abend sagte, sie wolle in dieser Nacht sterben und mich mitnehmen. Das war in der Zeit, als meine Mutter nicht mehr in der Lage war, den Hof zu bewirtschaften und Tante Martha und Onkel Gustav in Albrechtsdorf uns vorübergehend bei sich aufnahmen. Es wurde dort in das Zimmer meiner Großmutter noch ein Bett gestellt, wahrscheinlich auch ein Kinderbett für Günter, aber ich mußte dann eben mit meiner Mutter zusammen schlafen. Abgesehen von der Krankheit meiner Mutter war das allerdings eine schöne Zeit für mich: Bei so einer großen Familie war immer etwas los; da ging ich mit meinen beiden etwa gleichaltrigen Cousins jeden Nachmittag Hasenfutter holen, oder ich durfte mit meiner Cousine mitgehen, wenn sie ältere, alleinstehende oder kranke Menschen besuchte und ihnen Kuchen oder Ähnliches brachte. Und wie gemütlich waren die Abende, wenn die Petroleumlampe angezündet wurde! Trotz allem war ich dann aber doch froh, als meine Mutter wieder so genesen war, daß wir zurück auf unseren Hof konnten. – Zu Günter hatte sie, wohl durch ihre Krankheit bedingt, keine so enge Bindung. Durch starke Medikamente war Mutter dann auf der Flucht wieder ganz klar, und gestorben ist sie an Herzschwäche; sie hatte Wasser in den Beinen, das Wasser drückte zuletzt das Herz ab (so hat man es mir erklärt). Vom Nazi-Regime hielten meine Eltern herzlich wenig! Meine Mutter grüßte z.B. immer nur mit dem Wort „Heil“, sie brachte das Wort Hitler in dem Zusammenhang nicht über die Lippen. Unser Pole saß natürlich auch beim Essen mit an unserem Tisch, was streng verboten war und auch manchmal kontrolliert wurde. Dieser Pole hat sich dann später bei den Russen für meine Mutter eingesetzt. Der Hof Mein Vater hatte erfahren, daß in Worienen das dortige Gut aufgeteilt wurde und er die Möglichkeit hatte, im Rahmen eines Siedlungsprogramms der damaligen Reichsregierung einen Hof zu erwerben. Allerdings wurde ihm zur Bedingung gemacht, daß er ver- 7 Die Mutter Ella Prang (rechts) im Kreis ihrer Schwaestern. Lisa (links) wohnte später mit ihren Kindern in Bartenstein; Martha erbte den Hof. Ihr Mann, Gustav Babbel, überlebte das Kriegsende und hielt den Familienkontakt auch nach dem Krieg noch lange aufrecht (Aufnahme 1918). Eine späte Aufnahme von Ella Scheffler aus dem Jahr 1943. In den letzten Jahren war sie gekennzeichnet von schweren Depressionen, die sie immer öfter heimsuchten. heiratet sein sollte. So haben meine Eltern ziemlich schnell geheiratet; mein Vater war damals 24 Jahre alt, meine Mutter war ein Jahr älter. Als sie im selben Jahr (1930) eingezogen sind, war das Wohnhaus bis auf die Treppe fertig. Papa mußte 2.000,- DM Anzahlung und dann 300,- DM vierteljährlich aufbringen. Wegen der Abzahlungsraten waren meine Eltern in der ersten Zeit noch gezwungen, recht spartanisch zu leben. Mein Großvater hat meinem Vater als Grundstock eine Kuh geschenkt, und als mein Onkel Gustav einmal zu Besuch war und sah, daß die aus der Molkerei zurückgeschickte Molke weggeschüttet wurde, hat er meinem Vater noch zwei Ferkel geschenkt, an die die Molke verfüttert werden konnte. So fing es in ganz bescheidenen Verhältnissen an. Aber als mein Vater zwölf Jahre später zur Wehrmacht eingezogen wurde, hatten sich die Verhältnisse so weit gebessert, daß er sich nach dem Krieg einen Volkswagen kaufen wollte. Er ahnte nicht, daß alles anders kommen sollte und er als Knecht auf fremden Höfen arbeiten würde! Meine Mutter hatte in ihrem Elternhaus einen Hund, den sie sehr gern hatte. Tiras, so hieß er, ist ihr beim Auszug aus Albrechtsdorf nach Worienen unbemerkt gefolgt. Er ging meiner Mutter nicht von der Seite, und so ist das unser erster Hund geworden. Später ist er von einem Jagdpächter versehentlich erschossen worden. Das sogenannte Schloß in Worienen war vor der Aufteilung der Ländereien das Gutshaus gewesen; später ging ich dort zur Schule. Von unserem Hof führte ein Weg in’s Feld, und zu beiden Seiten dieses Weges lagen unsere Äcker. Den Abschluss bildete eine Weide; auch rechts und links vom Hof lagen Weiden. Außerdem gehörte noch ein Torfbruch zu unserem Anwesen. Im Frühjahr fuhren wir früh morgens mit Pferd und Wagen los. Mein Vater stach den Torf mit einem Torfstecher ab, meine Mutter stapelte ihn kreisförmig auf und ich half ihr dabei. Ich freute mich immer darauf; das war mal eine willkommene Abwechslung. Im Herbst wurde der Torf dann nach Hause geholt. Angebaut hat mein Vater Roggen, Weizen, Gerste, Kartoffeln, Rüben und Klee. Er hatte 27 Morgen „unter dem Pflug“, wie er das nannte, außerdem drei Morgen Weiden; vier Morgen groß war die Waldwiese. Zusammen waren es also 34 Morgen, die zu dem Hof gehörten (das sind 8,5 Hektar). Wir hatten drei Kühe und zwei Pferde: Fuchs und Lotte. Und im allgemeinen zog mein Vater ein, manchmal auch zwei Fohlen groß. Außerdem hatten wir natürlich noch Hühner und Gänse, die das Gras auf dem Hof abfraßen; daher war’s auch problematisch, barfuß über den Hof zu gehen. An eine Katze kann ich mich nicht erinnern. Umso mehr ist mir Rolf, unser Hund, in guter Erinnerung. Aber obwohl er sonst ein guter Wachhund war, hat er’s nicht verhindern können, daß eines Nachts unser Fahrrad aus der Scheune gestohlen wurde. Mein Vater schlachtete mit Hilfe eines Nachbarn selber. Wurst wurde nicht gemacht, es gab nur Fleisch und Schinken. Da ist dann auch einmal für uns etwas Lustiges passiert: Eine Sau ist aus dem Brühtrog wieder „lebendig“ geworden und weggelaufen. Da gab es dann eine wilde Jagd auf dem Hof! Ursprünglich haben meine Eltern das Wasser aus dem Brunnen auf dem Hof geholt, später hat Papa im Stall eine Pumpe angebracht, von wo wir dann das Wasser in die Küche geholt haben. Elektrisches Licht hatten wir schon lange, sogar einen Elektroherd und im Stall einen elektrischen Rübenschneider. Dagegen wurde bei meiner Oma in Albrechtsdorf abends noch die Petroleumlampe angezündet. Ich fand das immer so anheimelnd, noch dazu, wenn mein Cousin Erwin auf dem Harmonium spielte und dazu sang. Es gab noch zwei andere Cousins, Herbert und Gerhard, ein Jahr älter und ein Jahr jünger als ich. Ich erinnere mich, wie wir an einem Sommertag hinter der Scheune saßen und sie mich aufklärten, wie und wo die Babys herkommen. Wer hätte mir das sonst auch zu dieser Zeit sagen können oder wollen. Unser Haus war folgendermaßen aufgeteilt: Vom Flur ging man in die Küche, von dort in’s Schlafzimmer, wo wir Kinder zusammen mit den Eltern schliefen, von dort in’s 8 Das ehemaligen Gutsgelände des Schloßes in Worinen wurde 1930 unter mehreren Siedlern aufgeteilt, und so kam auch Artur Scheffler im selben Jahr zu einem eigenen Hof. Das Siedlerhaus an der Chausse von Landsberg nach Preußisch Eylau war klein, aber es reichte zuletzt für eine vierköpfige Familie – nach dem Krieg sollte der obere Teil ausgebaut werden. Wohnzimmer, und von da führte wieder eine Tür zum Flur. Neben der Küche war auch noch eine Kammer, zuerst Abstellraum, später schlief der Pole, der bei uns als Kriegsgefangener arbeiten mußte, darin (seinen Namen weiß ich nicht mehr). In der Küche hatten wir einen großen gemauerten Herd stehen, und mein größtes Glück war es, wenn ich einen Fußschemel nehmen und mich damit an die hinterste Ecke des Herdes setzen durfte. – Nach dem Krieg wollte Papa die obere Hälfte des Hauses ausbauen. Die Nachbarn Der Hof lag an der Chaussee von Landsberg nach Preußisch Eylau, unserer damaligen Kreisstadt, und gehörte zum sogenannten „Abbau“ von Worienen – das waren sechs kleine Höfe zu beiden Seiten der Straße, die zu gleicher Zeit und in gleicher Bauweise auf dem Land des ehemaligen Gutshofs errichtet worden waren. Da waren auf der einen Seite der Gutsbesitzer Grunewald in Zipperken, auf der anderen Seite neben uns das kinderlose Ehepaar Emil Kroll, danach kam das Ehepaar Goldau mit Tochter Dorothea; die war älter als ich. Ich hatte keinen Kontakt zu ihr. Schräg gegenüber von uns wohnten Kirstein’s, auch kinderlos, mit einer unverheirateten Schwester. Daneben das Ehepaar Jeske mit zwei Jungen, Ulrich und Harri. Daneben wohnten Meyer’s, das waren die, zu denen wir den meisten Kontakt hatten. Sie hatten zwei Kinder: Friedel, etwas älter als ich, und Siegfried, etwas jünger als ich – das waren meine Spielkameraden. Die sechs Nachbarn haben sich gegenseitig bei der Arbeit geholfen, hatten eine Dreschmaschine gemeinsam, aber zum Dreschen haben sie sich noch Leute vom Gut Zipperken ausgeliehen. Diese Leute, die sogenannten „Scharwerker“, hatten keinen guten Ruf (wegen ihrer geringen Schulbildung und ihrer Armut, aber auch, weil sie oft gestohlen haben). Unser Nachbar Meyer ist als einziger 1945 in Ostpreußen geblieben. Seine Kinder haben polnische Ehepartner, aber er selbst ist später doch noch nach Deutschland gekommen und hat vor etwa 20 Jahren einmal meinen Vater besucht. Er sagte, es wäre ein „erbärmliches“ Leben, daß er zuletzt in Ostpreußen geführt hätte. In unserer Gegend waren die meisten Leute evangelisch, nur unser Gutsnachbar Grunewald fuhr am Sonntagmorgen immer im Landauer an uns vorbei nach Landsberg in die katholische Kirche. Auch meine Eltern fuhren oft – aber nicht jeden Sonntag – mit einer etwas bescheideneren Kutsche nach Landsberg zur Baptistengemeinde. Außerdem hielt Opa in Worienen bei einer Familie Drebert die Sonntagsschule ab (Kindergottesdienst). Meine Urgroßeltern, Großeltern und Eltern gehörten alle der Baptistengemeinde an, und da auch ich in diesem eher strengen Glauben erzogen wurde, bereitete mir der Gedanke, in die Hölle zu kommen, oft Angst. Verwandtschaft Die Verwandten meines Vaters haben wir – ich weiß nicht warum – nie besucht. Aber wir bekamen schon mal Besuch. Da kamen zum Beispiel Onkel Alfred oder Tante Olga aus Königsberg; das war dann etwas ganz Besonderes. Wir saßen im Wohnzimmer auf den Polstermöbeln und tranken Kaffee. Das gab es sonst nie. Nach Albrechtsdorf sind wir öfter gefahren. In der kalten Jahreszeit bekam ich dann einen warmen Ziegelstein an die Füße, und – warm in eine Pelzdecke gehüllt – fuhren wir los. Hinterm Dorf ging es zuerst am Armenhaus, dann am Friedhof und gleich danach an einer Mühle vorbei, wo sich vor Jahren der Müller aufgehängt hatte, der seitdem dort spuken sollte. Man erzählte sich, daß nachts die Pferde dort stehen blieben und nicht zum Weitergehen zu bewegen waren. Aber unseren Pferden hat das wohl nichts ausgemacht, sie trabten immer treu und brav an der Mühle vorbei. Von Zeit zu Zeit erschien der „Babbel Karl“ auf unserem Hof. Er war der Bruder von Onkel Gustav aus Albrechtsdorf und war das, was man heute einen Aussteiger nennen 9 Zwischen den einzelnen Häusern entlang der Chaussee lagen Gärten und Obstwiesen. Hier der Blick zum Nachbarn Kroll. Emil Kroll auf seinem Hof. Die Liebe zu Pferden war bei den Ostpreußen sprichwörtlich – nirgends im deutschen Reich gab es mehr Pferde pro Einwohner, als in der östlichsten Provinz. würde. Welchen Beruf er mal erlernt und ausgeübt hatte, weiß ich nicht, aber zu meiner Zeit lebte er von gelegentlichen Arbeiten auf verschiedenen Höfen. Bei uns übernahm er das Holzhacken. Ich erinnere mich, daß ich ihm immer erstaunt beim Essen zusah, wie gierig er aß, wie ihm das Fett am Kinn runter tropfte. War das Holz klein, verschwand er wieder. Kindheit Mit meiner Kindheit verbinde ich vor allem die Erinnerung an unseren Hof – das Haus, den Garten, die Scheune und die Wiese dahinter. Ich war am Anfang viel allein, und so habe ich mich dann natürlich umso mehr gefreut, als ich hörte, daß ich ein Geschwisterchen bekommen sollte! An den Tag von Günters Geburt habe ich eine der ersten konkreten Erinnerungen: Ich bekam in der Scheune ein Lager aus Stroh gemacht und mußte dort schlafen, weil ich bei der Geburt nicht stören sollte (wahrscheinlich sollte ich die Schreie meiner Mutter nicht hören). Als Günter dann da war, war ich überglücklich! Vom zehnten Lebensjahr an mußte ich einmal in der Woche abends zum Jung-Mädchen-Treffen nach Worienen gehen. Da war ich mit Begeisterung dabei, wenn mit der Jungscharleiterin gesungen oder vorgelesen wurde. Spät im Dunkeln bin ich dann querfeldein nach Hause gelaufen: Wie erlöst war ich jedesmal, wenn ich endlich den Lichtschein aus unserem Fenster sah! Da ich außerhalb der Schule wenig mit anderen Kindern zusammen kam, war unser Hof mein Spielplatz. Ich erinnere mich, daß das Wetter dabei eine wichtige Rolle spielte: Schien die Sonne vor dem Haus, saß ich mit Vorliebe auf dem kleinen Mäuerchen an der Treppe, las oder spielte mit selbst gemachten Puppen, denen ich dann Kleidchen„nähte“; wurde es mir dort zu warm, kletterte ich in den Fliederbaum, der direkt neben dem Haus stand und wo ich mich auch oft versteckte, wenn meine Mutter nach mir rief. Ein anderer Lieblingsplatz war hinter der Scheune ein kleiner windgeschützter Hang, wo ich auf meinem Spielzeugherd aus Gräsern und Blättern für meine Puppen die tollsten Gerichte „kochte“. Auch ein großer Strohhaufen nebenan (für das Stroh hatte mein Vater nach dem Dreschen keinen Platz mehr in der Scheune) bot immer wieder Gelegenheit zum Spielen: Hinaufklettern und wieder herunterrutschen! Ja, und als dann mein kleiner Bruder geboren wurde, war meine liebste Beschäftigung, ihn in einem monströsen Kinderwagen spazieren zu fahren, wobei ich immer aufpassen mußte, daß er nicht umkippte, was aber dann doch schon mal vorgekommen ist. Später war unser liebstes Spiel: Verstecken. Noch heute tut es mir leid, wenn ich daran denke, wie oft ich Günter neckte, mich so versteckte, daß er mich nicht finden konnte und er dann schimpfend und weinend seine „Effa“ suchte. Im Winter hab ich meinen Schlitten hervorgeholt, und da ich keine Gelegenheit hatte, einen richtigen Abhang hinunter zu fahren, mußte ich mich mit einem kleinen Hügel in Nachbars Weide zufrieden geben. An den Winter habe ich weit weniger Erinnerungen, als an den Sommer. Aber am Heiligabend, ich weiß, da kam der Weihnachtsmann – ich hörte nur sein Glöckchen – immer gerade dann, wenn mein Vater noch einmal in den Stall gegangen war, um nach den Pferden zu sehen. An einige Geschenke kann ich mich auch noch erinnern: bunte Griffel, weiße, blaue oder rote Haarschleifen, schon mal eine Puppe oder gar ein Puppenwagen, und immer etwas Hübsches zum Anziehen. Da im Winter vor allem der Schulweg für mich durch die oft hohen Schneewehen recht beschwerlich war – außerdem war’s morgens ja auch noch stockdunkel – freute ich mich immer sehr auf Frühling und Sommer. Da ging’s mit dem Leiterwagen hinaus in den Torfbruch zum Torfstechen oder zur Waldwiese, wobei das Schönste daran die Fahrten waren, denn wenn meine Eltern stundenlang mit der Sense das Gras mähten, konnte es schon passieren, daß es mir langweilig wurde. Auch gab’s da immer wieder Ringelnattern, vor denen ich mich gefürchtet habe, da half es auch nicht, daß meine 10 Arthur Scheffler wurde erst im Herbst 1942 zur Wehrmacht eingezogen, weil er als Landwirt zunächst unabkömmlich war. Aus Frankreich kehrte er noch zweimal für einen kurzen Heimaturlaub zurück auf den Hof, auf dem er seine Frau und die zwei Kinder zurückgelassen hatte. Viel zu spielen gab es nicht damals – aber es war schön, im Sommer auf der Treppe in der Sonne zu sitzen, zu lesen oder den Tieren zuzusehen… Eltern mir erklärten, daß sie ungiftig sind. Ich war jedenfalls froh, wenn es abends wieder zurück ging. Helfen mußte ich draußen wenig, eigentlich nur „Blätter machen“, da wurden die unteren Rübenblätter abgemacht, gebündelt und zum Verfüttern in den Stall gebracht. Meiner Mutter mußte ich im Haushalt schon mehr zur Hand gehen, und als sie dann krank wurde, habe ich viele Arbeiten übernehmen müssen, für die ich eigentlich noch zu jung war. Schulzeit Ich bin vier Jahre in Worienen (etwa zwei Kilometer von unserem Hof entfernt) zur Volksschule und ein Jahr in Landsberg (fünf Kilometer von uns) zur Mittelschule gegangen. Preußisch Eylau war etwa zehn Kilometer von uns entfernt; ich war nie dort. In der Volksschule in Worienen gab es nur zwei Klassen, eine vom ersten bis zum vierten Schuljahr, und eine vom fünften bis zum achten Jahr. Da es nur zwei Lehrer gab und der ältere davon öfter krank war, mußte ich diesen dann oft vertreten, indem ich vorne am Pult saß, lesen lies oder Aufgaben nachsah. Mir machte es Spaß, aber die Lehrer meinten, daß ich so doch nicht genügend gefordert würde, und so kam ich, zusammen mit meiner Freundin Irmgard Ebert, eigentlich gegen den Willen meiner Mutter, zur Mittelschule nach Landsberg. Das Lernen an dieser Schule machte mir Spaß, vor allem die Englischstunden; mir fallen heute noch Wörter und Sätze ein, die ich damals gelernt habe. In weniger guter Erinnerung habe ich die Rechenstunden, wie es damals hieß. Das Rechnen fiel mir schwer, trotz des intensiven Übens in der letzten Volksschulzeit. Wenn ich meine gesamte Schulzeit zusammenzähle, kommen höchstens sechs Jahre dabei heraus. Meinen Schulweg habe ich in keiner guten Erinnerung! Im Winter, morgens noch im Stockdunkeln, durch Felder und Buschwerk, ganz alleine (warum ich nicht mit Meyer’s Kindern zusammen gegangen bin, weiß ich nicht mehr), oftmals bis unter die Arme im Schnee versunken – das hat mir immer nur Angst gemacht. Manchmal hat mich aber auch mein Vater, als er noch nicht im Krieg war, mit dem Pferdeschlitten abgeholt, da bin ich dann, in eine Pelzdecke warm eingepackt, stolz an den anderen Kindern vorbeigefahren. Im Sommer hat mich öfter Rolf, unser Hund, abgeholt. Später wurde der auch eingezogen, stand dann aber irgendwann einmal halbverhungert und mit wunden Pfoten wieder vor unserer Tür. Zur Mittelschule in Landsberg bin ich früh mit dem Milchwagen gefahren, nach Hause dann die fünf Kilometer zu Fuß gegangen. Ich hätte ja mit dem Fahrrad fahren können, aber das wurde uns aus der Scheune gestohlen. Zum Schluß bin ich noch einmal ein paar Wochen in Worienen zur Schule gegangen, weil in Landsberg nachts ständig Fliegeralarm war und dann die Schule ausfiel. Aber auch ohne Fliegeralarm konnte ich oft nicht zum Unterricht gehen, weil meine Mutter sehr krank wurde und ich meinen kleinen Bruder nicht alleine lassen konnte. 11 Die Mittelschule war ein stattliches Gebäude an der Hauptstraße in Landsberg. Nur zwei Mädchen aus der Volksschulklasse in Worienen hatten es geschafft, auf diese Schule gehen zu dürfen. Sommer 1944 Auszug aus: „Ostpreußisches Tagebuch“ von Hans Graf von Lehndorff (1961) » Noch einmal, ehe die Kriegswalze darüber hinging, entfaltete sich meine ostpreußische Heimat in ihrer ganzen rätselvollen Pracht. Wer die letzten Monate mit offenen Sinnen erlebte, dem schien es, als sei noch nie vorher das Licht so stark, der Himmel so hoch, die Ferne so mächtig gewesen. Und all das Ungreifbare, das aus der Landschaft heraus die Seele zum Schwingen bringt, nahm in einer Weise Gestalt an, wie es nur in der Abschiedsstunde Ereignis zu werden vermag. Die Vorboten der Katastrophe machten sich bereits in den letzten Junitagen 1944 bemerkbar – leichte, kaum ins Bewußtsein dringende Stöße, die das sonnendurchglühte Land wie von fernem Erdbeben erzittern ließen. Und dann waren die Straßen auf einmal überfüllt mit Flüchtlingen aus Litauen, und herrenloses Vieh streifte quer durch die erntereifen Felder, dem gleichen unwiderstehlichen Drang nach Westen folgend. Noch war es schwer zu begreifen, was da geschah, und niemand durfte es wagen, seinen geheimen Befürchtungen offen Ausdruck zu geben. Aber als der Sommer ging und die Störche zum Abflug rüsteten, ließ sich das bessere Wissen von dem, was bevorstand, nicht länger verborgen halten. Überall in den Dörfern sah man Menschen stehen und zum Himmel starren, wo die großen vertrauten Vögel ihre Kreise zogen, so als sollte es diesmal der letzte Abschied sein. Und jeder mochte bei ihrem Anblick etwa das gleiche empfinden: „Ja, ihr fliegt nun fort! Und wir? Was soll aus uns und unserem Land werden?“ Nicht lange danach kamen riesige Viehherden an den Flußläufen entlang und sammelten sich in dem flachen Tal, das vom Pregel in vielen Windungen durchflossen wird. Sie waren aus dem östlichen Teil der Provinz abgetrieben worden und standen nun, einen überwältigenden Anblick bietend, zu Tausenden in den weiten Wiesen. Dort gab es zunächst noch Futter genug. Wer aber näher heranging und die Tiere im einzelnen be- 12 obachtete, dem krampfte sich jetzt schon das Herz zusammen. Ohne Beziehung zueinander, den Menschen als Feind ansehend, so stolperten sie durch das Land, traten die Zäune nieder, brachen hemmungslos in Koppeln und Gärten ein und fraßen Büsche und Bäume kahl. Sie schienen aus einem Lande zu kommen, in dem es keine Ordnung gab. Dabei konnte man es vielen noch ansehen, dass sie aus hervorragenden Zuchten stammten. Aber das Schützende, das sie zur Herde machte, war schon von ihnen gewichen. In den Nächten sah man zu dieser Zeit die östlichen Grenzstädte wie auf der Landkarte vor sich aufgereiht. Memel, Tilsit, Schirwindt, Eydtkuhnen – das waren die hellsten, wieder und wieder unter Bombeneinschlägen aufzuckenden Punkte im Verlauf einer im Bogen von Norden nach Süden ziehenden Feuerlinie. Und eines Tages wurde bekannt, daß die Landesgrenze preisgegeben worden sei. Zwanzig, dreißig Kilometer war der Feind schon darüber hinaus, dann kam die Front noch einmal zum Stehen. Wie es dahinter aussah, wußte niemand zu sagen. Man konnte nur hoffen, daß keiner zurückgeblieben sei, denn was aus einigen vorgeschobenen Orten berichtet wurde, die der Feind nach kurzer Besetzung wieder aufgegeben hatte, ließ das Blut erstarren. Ein paar Tage noch unermeßliches Flüchtlingselend auf allen Straßen – dann trat auf einmal Ruhe ein, eine fast unbegreifliche Ruhe. Das Dröhnen der Front verstummte, die Feuer erloschen, sogar die nächtlichen Störflugzeuge blieben aus. Wie verzaubert lag das verlassene Land mit seinen Höfen und Dörfern im Glanze eines unvergleichlichen Herbstes da, Erlebnisse von unergründlicher Tiefe den wenigen bietend, die aus weiter westlich gelegenen Kreisen wiederkehrten, um noch etwas aus ihrem Hause zu holen oder um zurückgelassenes Vieh zu versorgen. Unheimlich still blieb es auch dann noch, als die Novemberstürme das Land schon kahlgefegt hatten und der Frost das letzte Gras auf den Wiesen erstarren ließ. Meilenweit über die Felder verteilt, an den Straßen und Bahnstrecken sah man jetzt, einzeln oder in kleinen Gruppen, all die verwilderten Kühe stehen, kaum einer Bewegung mehr fähig, mit vertrocknetem Euter und hochgezogenem Rücken, drohend und anklagend. Und als der erste Schnee fiel, sanken sie, eine nach der anderen, lautlos in sich zusammen. Weihnachten kam und konnte von allen, die noch in ihren eigenen Häusern saßen, fast wie im Frieden gefeiert werden. Sogar Jagden wurden veranstaltet, und Menschen trafen sich, um noch einmal in altgewohnter Weise das Jahr miteinander zu beschließen. Vierzehn Tage später war alles vorbei. Drei Monate hatte der Russe sich Zeit gelassen, den letzten Sturm vorzubereiten – nun brach er mit voller Gewalt herein. « 13 Die Flucht inige Zeit vor unserer Flucht kamen tagelang Flüchtlingstrecks von Litauen in Richtung Landsberg vorbei. Meine Mutter hat oft selbstgebackenes Brot und Speck an die Leute verteilt. Wenig später war sie dann sehr unschlüssig, ob wir noch bleiben oder auch fliehen sollten. Sie schickte unseren Polen zu meinem Onkel Gustav nach Albrechtsdorf, um sich dort Rat zu holen, der kam aber unverrichteter Dinge zurück. Er hatte dort niemanden mehr angetroffen. So sind wir auf’s Geratewohl los gefahren. Es war ein frostklarer Tag, es lag Schnee. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich Angst hatte; meine Mutter weinte, aber ich hatte mit meinen elf Jahren noch keine Ahnung, was auf uns zukommen würde. Es war zwar verboten, ohne Befehl Haus und Hof zu verlassen, aber als der Kanonendonner immer näher kam, haben wir dann doch den Leiterwagen mit Heu, Hafer, Lebensmitteln und Bettzeug beladen. Die Kühe wurden losgebunden, aber im Stall vor vollen Krippen gelassen. Der Hund wurde dazu gesperrt, denn er wäre uns sonst gefolgt. Und dann haben wir uns in die endlos lange Schlange des Trecks eingereiht… E Aufbruch Wir sind am Freitag, dem 2. Februar 1945, aufgebrochen. Ich erinnere mich, daß wir am frühen Nachmittag weg wollten, aber lange Zeit in unserer Einfahrt standen, weil die Wagen im Treck auf der Chaussee dicht hintereinander fuhren und uns niemand dazwischen ließ. Ich höre noch meine Mutter sagen: „Ob das ein Zeichen ist, daß wir zu Hause bleiben sollen?“ Es war schon später, als es uns gelang, auf die Straße zu kommen und im Treck mitzufahren. Wir hatten nicht – wie die meisten anderen – einen Aufbau auf unserem Leiterwagen, der uns vor Schnee und Regen geschützt hätte. Ich kann mich erinnern: Immer, wenn wir in eine brenzlige Situation kamen, habe ich 14 mir im Wagen die Bettdecke über den Kopf gezogen und erst wieder hervorgeguckt, wenn die Gefahr vorbei war. Seltsam, an Günter kann ich mich während der Flucht mit dem Wagen nur ganz vage erinnern, der muss wohl die meiste Zeit in dem mehr oder weniger feuchten Bettzeug gelegen haben, so daß ich ihn kaum wahrnahm. Da war die ständige Angst vor dem herannahenden Kanonendonner, den Tieffliegern, die Angst, daß an dem Wagen etwas kaputt geht, daß die Pferde durchgehen, die Sorge um die nächste Mahlzeit, und ständig Wind und Wetter ausgesetzt! Es war unglaublich kalt, und alles war tief verschneit. Heute weiß ich nicht mehr, wie lange es gedauert hat, bis wir zum Frischen Haff kamen. Für uns existierten keine Wochentage und keine Daten. Was unseren Fluchtweg betrifft, erinnere ich mich, daß wir in Richtung Zipperken/Stablak losgefahren sind. Die Orte danach sind mir entfallen. Die erste Nacht haben wir in einem Gebäude übernachtet, in dem Schwerverwundete untergebracht waren. Das Schreien und Stöhnen hat mich noch lange verfolgt. Dann ging’s weiter auf vereisten, verschneiten und verstopften Straßen. Oft genug mussten wir mit unseren Pferden aushelfen, wenn andere Wagen in den Chausseegraben gerutscht waren oder einen steilen Berg nicht hinauf kamen. Übernachtet haben wir schon mal draußen auf dem Wagen, aber auch in Schulen, Scheunen oder in großen Ställen bei den Pferden. Nachts wurde auch geplündert – meine Mutter kam mal dazu, als ein Mann gerade unser Federkissen mitgehen lassen wollte. Unser Essen bekamen wir meistens aus Notküchen, die wahrscheinlich das Rote Kreuz überall eingerichtet hatte, aber ich entsinne mich auch, daß wir uns manchmal eine provisorische Feuerstelle gebaut haben; ob es zum Kochen oder nur zum Wärmen sein sollte, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich daran, wie es war, wenn wir auf großen Flüchtlingssammelplätzen waren, wenn dann die Menschen vor den Latrinen Schlange standen und ich mit Günter, der einen ruhrähnlichen Durchfall hatte und sehr schwach war, immer wieder die Leute bat: „Lassen sie uns doch bitte vor, mein Bruder ist sehr krank.“ Aber oft war es dann doch schon zu spät. Woran ich mich auch noch erinnere, ist das unheimliche Gefühl, das wir hatten, wenn Tiefflieger über unseren Treck hinweg flogen. Waren keine deutschen Soldaten in der Nähe, war es nicht so gefährlich, andernfalls gab es oft genug Tote dabei. Wir haben dann unter unserem Wagen Schutz gesucht, immer in der Angst, die Pferde würden durchgehen. Auch das Pfeifen der Stalinorgel flößte uns Angst ein. Wie lange es gedauert hat, bis wir zum Frischen Haff gekommen sind, weiß ich nicht mehr. Zuvor mußten wir aber in Heiligenbeil alles Entbehrliche von unserem Wagen entfernen, damit er leichter wurde, denn die Eisdecke vom Haff war schon bedenklich dünn geworden. Wir mußten das Haff nachts überqueren, weil es tagsüber unter starkem Beschuß lag. Es war wie in einem Gruselfilm: Rechts und links des markierten Fahrweges standen verlassene Wagen mit toten Pferden davor, in einem Wagen saß ein altes, totes Ehepaar, wir sahen im Eis festgefrorene Pferderücken, oder eine Deichsel ragte im Dunkeln aus dem Eis herauf… Auf der Nehrung sah es dann nicht besser aus; überall lagen tote Soldaten oder von Tieffliegern getötete Flüchtlinge. Ich kann mich dann an die Orte Volgelsang – wo wir übernachtet haben – und Stutthof erinnern. Dann ging es weiter durch Danzig bis zu einem Ort, dessen Namen ich nicht mehr weiß; dort wurden wir einquartiert. Pferde und Wagen waren von Grantasplittern getroffen (ich habe unseren Wagen nach dem Beschuß nicht mehr gesehen, habe aber gehört, daß er und die Pferde von Granatsplitter getroffen seien). Ein Pferd war tot, das andere wurde wahrscheinlich für die Feldküche, von der wir unser Essen bekamen, verwendet; man hat aber auch das Fleisch von verendeten Tieren genommen. 15 Auf spiegelglatten Straßen rutschten die Wagen immer wieder in die Gräben. Oft waren es gerade die ausländischen Kriegsgefangenen, die den Flüchtenden in dieser Notlage halfen. Überall am Wegrand lagen zerstörte Wagen und durch Fliegerangriffe getötete Menschen oder Pferde. Ein endloser Zug flüchtender Menschen zog über das Eis – immer wieder angegriffen von russischen Flugzeugen und ständig der Gefahr ausgesetzt, in Spalten des aufgerissenen Eises oder in Bombenlöchern zu versinken. Wenn die Nehrung erreicht war, keimte wieder ein wenig Hoffnung auf. Oft mußten die Trecks aber tagelang warten, ehe es über die schmale Nehrungsstraße weiter Richtung Westen ging. Dort haben uns dann auch die Russen eingeholt. Wir saßen mit mehreren Frauen und Kindern in einem Bunker. Wann genau der erste Russe die Stufen zu unserem Bunker hinunter kam, kann ich nicht mehr sagen; es kamen dann immer mehr. Ihre Sprache konnten wir ja nicht verstehen, aber wir wußten auch so, was sie wollten. Sie gingen zielstrebig auf die Frauen zu, packten sie am Handgelenk und holten so eine nach der anderen heraus. So auch ein zwölfjähriges Mädchen, daß sie so schwer verletzten, daß es nur noch unter Schmerzen mit den anderen zum Brunnen gehen konnte, von dem wir unser Wasser bekamen. Und dann war auch meine Mutter an der Reihe, und ich hatte entsetzliche Angst, daß sie nicht wiederkommen würde! Ich habe nicht erlebt, daß sich eine Frau gewehrt hat, aber einmal ist meine Mutter aus einem Fenster gesprungen und so dem Russen entkommen. Später brachte man uns mit einem Lastwagen nach Gotenhafen (Gdingen), wo wir in einem Raum untergebracht wurden, in dem auch die Russen nachts aus und ein gingen. Meine Mutter versteckte mich unter der Matratze und alten Lumpen, um wenigstens mir das zu ersparen, was sie immer wieder ertragen mußte. Essen bekamen wir von provisorisch eingerichteten Küchen für Flüchtlinge. Es war gerade so viel, daß wir nicht verhungerten (Kartoffeln, Rüben und Fleisch von verendeten Pferden). Ich bin am Tage durch die zerbombte Stadt gelaufen, auf der Suche nach etwas Eßbarem. Über ein Stück hartes, verschimmeltes Brot war ich glücklich. Einmal wurden Frauen und halbwüchsige Kinder mit Lastwagen weggefahren; sie mußten aufgedunsene Pferdekadaver vergraben. Wer nicht mehr arbeiten konnte, bekam auch nichts zu essen. So ist auch meine Mutter, die eigentlich schon nicht mehr die Kraft dazu hatte, mitgefahren, um das Stückchen Brot, das sie bekam, mit uns zu teilen. – Die Tage waren erträglich, aber nachts haben wir vor Angst kein Auge zugetan, schon deswegen, weil wir in der näheren Umgebung immer wieder Schüsse hörten. Wenn ich nach einem „guten Russen“ gefragt würde: Ja, die Offiziere waren oft in Ordnung; bestialisch benahmen sich vor allem die einfachen Soldaten, wenn kein Offizier in der Nähe war. Im Allgemeinen waren die Russen nur auf zwei Dinge aus: Frauen und Uhren, aber gelegentlich tat es auch ein Ehering, wenn keine Uhr mehr übrig geblieben war. Und die Polen, die in dieser Region lebten und zuvor unter dem Hitlerregime gelitten hatten, waren uns Deutschen auch nicht gerade gut gesonnen. Selten hat sich ein Pole erbarmt, wenn ich in der zerstörten Stadt um ein Stückchen Brot gebettelt habe. Mir blieb oft nichts anderes übrig, als in den Trümmern nach etwas Eßbarem zu suchen. 16 Gdingen, zu Beginn des Jahrhunderts noch ein kleines Fischerdorf, wurde nach dem Ersten Weltkrieg Polen zugesprochen und kehrte 1939 als „Gotenhafen“ zum Reich zurück. Hier endete zunächst die Flucht… Inferno Auszüge aus: „Die Flucht“ von Edgar Günther Lass (1964). » Meine Volkssturmkompanie erhielt dann den Befehl, in Nemmersdorf aufzuräumen. Schon kurz vor Nemmersdorf (Richtung Sodehnen-Nemmersdorf) fanden wir zerstörtes Flüchtlingsgepäck und umgeworfene Wagen. In Nemmersdorf selbst fanden wir den abgeschlossenen Flüchtlingstreck. Alle Wagen waren durch die Panzer vollständig zerstört und lagen am Straßenrand oder im Graben. Das Gepäck war geplündert, zerschlagen oder zerrissen, also vollständig vernichtet. Dieser Flüchtlingstreck war aus der Gegend Ebenrode und Gumbinnen. Ich stellte dieses beim Aufräumen fest… Am Dorfrand in Richtung Sodehnen-Nemmersdorf steht auf der linken Straßenseite ein großes Gasthaus „Weißer Krug“, rechts davon geht eine Straße ab, die zu den umliegenden Gehöften führt. An dem ersten Gehöft, links von dieser Straße, stand ein Leiterwagen. An diesen waren vier nackte Frauen in gekreuzigter Stellung durch die Hände genagelt. Hinter dem „Weißen Krug“ in Richtung Gumbinnen ist ein freier Platz mit dem Denkmal des Unbekannten Soldaten. Hinter diesem freien Platz steht wiederum ein großes Gasthaus „Roter Krug“. An diesem Gasthaus stand längs der Straße eine Scheune. An die beiden Scheunentüren war je eine Frau, nackt in gekreuzigter Stellung, durch die Hände genagelt. Weiter fanden wir darin in den Wohnungen insgesamt 72 Frauen, einschließlich Kinder und einen alten Mann von 74 Jahren, die sämtlich tot waren, fast ausschließlich bestialisch ermordet, bis auf nur wenige, die Genickschüsse aufwiesen. Unter den Toten befanden sich auch Kinder im Windelalter, denen mit einem harten Gegenstand der Schädel eingeschlagen war, in einer Stube fanden wir auf einem Sofa in sitzender Stellung eine alte Frau von über 80 Jahren vor, auch bereits tot. Dieser Toten fehlte der halbe Kopf, der anscheinend mit einer Axt oder Spaten von oben nach dem Halse weggespalten war. 17 Diese Leichen mußten wir auf den Dorffriedhof tragen, wo sie dann liegenblieben, weil eine ausländische Ärztekommission sich zur Besichtigung der Leichen angemeldet hatte. Es wurden Scheunentore und Böcke herbeigeschafft, um die Leichen aufzubahren, damit die Kommission sie untersuchen konnte. Einstimmig wurde dann festgestellt, daß sämtliche Frauen ebenso wie Mädchen von acht bis zwölf Jahren vergewaltigt waren. Auch die alte blinde Frau von 84 Jahren verschonten sie nicht.“ DER VOLKSSTURM-MANN K.P. Die Russen kommen „Als wir gestern mittag gerade den Tisch deckten, kamen 3 Russen. Sie lachten, holten eine Flasche Schnaps aus der Tasche und forderten Herrn Biallas auf, in das danebenliegende Zimmer zu gehen. Erst war es ganz still, dann fiel plötzlich ein Schuß. Die Russen kamen mit lachenden Gesichtern wieder herein. Herr Biallas war nicht dabei, er war erschossen. Dann fragte ein Russe meinen Vater: ‚Würdest du mich erschießen?‘ Darauf antwortete mein Vatchen: ‚Nein, du hast mir doch nichts getan.‘ Worauf der Russe höhnisch lächelnd sagte: ‚Und wenn ich schieße?‘ Und schon schoß er mit seiner Maschinenpistole mitten in uns hinein. Liesbeth Biallas, Herta Biallas, meine Schwester und ich versuchten, uns ins Freie zu retten, aber schon wurden wir verfolgt. Ich wurde getroffen und blieb im Garten liegen. Vielleicht glaubten die Russen, ich sei tot, denn sie verfolgten nun die drei anderen bis in den Weidegarten. Ich hörte drei Schüsse, dann war alles still. Ich wartete noch, es blieb still, ich begann im Schnee zu frieren, die Wunden schmerzten. Ich schleppte mich mühsam ins Haus. Mir war alles gleich. In der Küche fand ich mein Muttchen. Sie war völlig verstört, aber noch unverletzt. Vater lag im Nebenzimmer mit einem Rückenschuß im Bett, er lebte noch. In der Tür zum Eßzimmer lag Frau Biallas auf dem Gesicht und wimmerte. Sie konnte nicht sterben. Im Eßzimmer hockten auf Stühlen Frau Dombrowski aus Bittkau, Kreis Treuburg, mit ihren drei Kindern Hilde, Erika und Rainer, der erst sechs Monate alt war, und Frau Stachel mit ihren zwei Kindern aus Legenquell, Kreis Treuburg. Tot. Keiner lebte mehr. Sie hatten erst gestern auf ihrer Flucht hier haltgemacht. Meine Mutter wollte mir helfen; sie zog mir meine Schuhe aus und die Trainingshose. Alles war voll Blut. Da hörten wir die Russen wiederkommen. Meine Mutter lief zu Vater und warf sich neben ihn ins Bett. Ich blieb in meinem Blut auf dem Fußboden reglos liegen. Die Russen traten über mich hinweg, töteten Frau Biallas, die noch immer stöhnte, durch einen Kopfschuß und gingen dann in das Zimmer meiner Eltern. Ich hörte zwei Schüsse, gleich darauf kamen die drei Russen wieder an mir vorbei und gingen fort. Als alles still blieb, schleppte ich mich zu meinen Eltern. Sie waren beide tot. Sie hatten Schüsse in der linken Schläfe. Ich kletterte über meinen toten Vater und blieb zwischen meinen Eltern liegen“. URSEL LESZINSKI Der Kreis Preußisch Eylau Am 2. Februar besetzen sie [die Russen] Landsberg. Obschon deutsche Verbände zum Gegenstoß ansetzten und die Russen in mehrtägigen harten Kämpfen bis in den Raum Dixen-Grünwalde-Hanshagen zurückwerfen, gelingt es nicht, Landsberg zurückzuerobern… So wird zwischen dem 9., an dem die Russen in Preußisch-Eylau eindringen, und 12. Februar das mittlere Kreisgebiet fast kampflos aufgegeben, am 18. folgte dann der Rest. … Nur einzelne Bewohner können bei dem überraschenden Vorstoß sowjetischer Panzer im südlichen Kreis in letzter Stunde flüchten. Helene Hermann aus Hanshagen, die nach der Zurückeroberung ihres Heimatortes noch einmal zurückgekehrt war, dorthin, wo die deutschen Truppen 400 aus Landsberg Verschleppte befreien und weg- 18 schaffen können, wird dann bei der zweiten Fluht im Kirchforf Buchholz mit 30 anderen Frauen überrollt: „Wir ‚kriegsgefangenen‘ Frauen werden dann eingesetzt, um die Zufahrtsstraßen nach Landsberg vom Schnee freizuhalten. Erschossen werden in meinem Heimatort Richard Neumann, Frieda Langhans, Dorothea Kirstien, zwei Frauen Sprinter (Mutter erschossen, Töchter vergewaltigt), Adolf Woider (im Saal vor den Augend der Frau), Frau des Gustav Tolkmitt, Schneider Steinke, Ilse Wolter, nach Vergewaltigung ermordet. Kantor Kerwien ist mit seiner Ehefrau und drei Kindern freiwillig aus dem Leben geschieden. Was an Vergewaltigungen und Gewaltmaßnahmen und Quälereien an Frauen und Mädchen erfolgte, läßt sich in wenigen Zeilen nicht beschreiben.“… 3.120 Einwohner zählt die kleine Stadt Landsberg, bevor sie am 2. Februar, 10.00 Uhr morgens, von den aus Richtung Heilsberg und Bartenstein sich herankämpfenden Russen erobert wird ... trotz des verzweifelten und erbitterten Widerstandes der deutschen Soldaten gegenüber einer vielfachen Übermacht. 24 Stunden vorher hatte Bürgermeister Blaedtke die Räumung befohlen. Ein Kurier überbrachte den Befehl dazu. „Von wem er kam, weiß ich nicht mehr“, sagt der heute in Glessen bei Köln wohnende Ostpreuße. „Vielleicht vom Landratsamt in Preußisch-Eylau“… Gefangene deutsche Frauen, die später, nach der Besetzung durch die Sowjets, das im Stadtschulgebäude untergebracht gewesene Militärlazarett reinigen müssen, finden nur noch leere Räume und blutige Uniform- und Wäschestücke. Mit diesen müssen sie die Räume aufwischen. Zeugen berichten eidesstattlich, was der 23 Jahre alten Hausgehilfin des Bürgermeisters von Landsberg geschah: „Nachdem sie 10 bis 12 sowjetische Soldaten über sich ergehen lassen mußte, verrichteten diese ihre Notdurft über ihrem Opfer und ließen es kotbedeckt liegen." Eva von der Heyden, zur Stunde der Flucht 79 Jahre alt, die ihr 394 Hektar großes Gut Nerfken mit ihren Angehörigen, Gutsarbeitern und zehn Kriegsgefangenen verläßt: „Ringsum brannten bereits die Ortschaften, die Güter und Gehöfte; herrenloses Vieh, das niemand fütterte, trieb sich umher, lag zum Teil halbverhungert und verendet am Straßenrand. Wir gerieten bei Hanshagen in das Hin und Her der Fronten und erlebten Landsberg unter den Russen. Es herrschten grauenhafte Zustände. Die Russen wüteten fürchterlich. In der Hauptsache suchten sie verborgene deutsche Soldaten und Frauen und Mädchen. Letztere wurden in den Nächten laufend vergewaltigt. Leider ist es vorgekommen, daß deutsche Flüchtlinge, hauptsächlich aus den Grenzkreisen, Frauen und Mädchen gegen Zigaretten an den Russen verrieten. Ich habe mich dann drei Tage allein in einem Walde nahe der Chaussee aufgehalten. In meiner Verzweiflung versuchte ich, mir die Pulsadern aufzuschneiden… Vorbeikommende Russen verbanden mir wieder die Wunde, nahmen aber die Gelegenheit gleich wahr und plünderten meinen Rucksack und nahmen mir die wenigen letzten Habseligkeiten auch noch weg.“ … In Petershagen erlebt Frau Erna S. mit ihren beiden kleinen Kindern Brigitte und Christiane und ihren Schwiegereltern die ersten Russen. Gewarnt hatten Soldaten und Flüchtlinge, die Nemmersdorf erlebten, sie oft: „Einige Tage zuvor sind noch meine Mutter und meine Schwester mit ihrer kleinen Töchter aus Königsberg und Allenstein zu uns gekommen. Um mit uns zusammen zu sein. Um mit uns alles gemeinsam zu tragen. Die ersten Russen, die zur Kampftruppe gehören, verhalten sich zurückhaltend und anständig. Sie warnen vor ihren eigenen Männern, die nach ihnen kommen.“ Frau Erna S. Leidensweg nimmt damit seinen Anfang, daß alle binnen zehn Minuten das Pfarrhaus räumen müssen. Wohin in dieser Not mit der kranken Schwiegermutter? Der russische Kommissar, ein Jude, findet in höflichster Manier schnell einen Ausweg: ‚Totschießen – sowieso sterben!‘ Und so geschieht es. …“ 19 Flucht über das Eis „Endlich liegt die riesige, endlose Eisfläche vor uns… So weit der Blick reicht, nichts als eine spiegelnde Fläche. Darüber windet sich die endlose Schlage der Menschen und Wagen. Vor uns Flüchtlinge, neben uns Flüchtlinge, hinter uns Flüchtlinge. Und über uns der ewige Himmel, von ihm erflehen wir immer wieder im stummen Gebet eine gute Überfahrt. Aus Angst, daß die Wagen einbrechen und versinken könnte, gehen wir alle – außer den Kutschern – in angemessenem Abstand hinterher. Anfangs baumelt an jedem Arm eine Handtasche mit dem Allernötigsten, Wichtigsten. Doch als die erste Furcht überwunden ist, als nichts geschieht, ruht sie bald wieder auf ihrem alten Platz. Wir rücken wortlos wieder dichter neben die Wagen. Sie bieten wenigstens etwas Schutz gegen den beißenden, pfeifenden Eiswind. Die ersten Kilometer kommen wir gut voran, und wir machen uns schon Hoffnungen, am Abend wieder an Land und ich Sicherheit zu sein – weit gefehlt. Als es dunkel wird, stehen die Wagen mehr, als daß sie noch rollen, und der heulende Sturm zeigt seine Macht: Trotz Decken und Pelzen frieren wir so erbärmlich wie nie zuvor im Leben. Ich bete im Stillen, auch die anderen ringsum, die sonst nichts weiter tun können. Nicht vorwärts, nicht zurück, nicht einmal weglaufen. Dann endlich, wieder ein paar Meter weiter. Ein Spalt im Eis, so groß, daß die Hinterräder mit dem Wagenheck so schwanken, daß wir die Augen schließen, um das Einbrechen des Wagens nicht mit ansehen zu müssen. Aber es geht gut. Wieder einmal. Kurze Zeit später, als es ganz dunkel geworden ist, dieselbe Bescherung wieder, nur noch gefährlicher. Durch die vielen Wagen ist das Eis mürbe geworden, grobe Bohlen dienen als Brücke über einen klaffenden Spalt. (Dieses ist, das weiß Frau Neuber nicht, eine inzwischen fest eingefrorene Brücke über die Torpedoboot-Fahrrinne.) Drei Soldaten bewachen die Stelle. Sie lotsen uns hinüber. Wir müssen von unseren drei Pferden eins ausspannen und mit zweien über die Notbrücke. Axel Rahn, der Sohn unseres Verwalters, auf der Flucht 16 geworden, führt den Schimmel voran. Ich folge mit ‚Olga’ und ‚Paulette’, während Roger, unser belgischer Kutscher, vom Bock aus die Tiere antreibt. Wir schaffen es glatt, aber hier sehen wir die ersten eingebrochenen Wagen, vor denen vielfach die Pferde noch angespannt sind. An einem Fuhrwerk ragen Ochsenfüße aus unheimlichem, dunklem Wasser. Diesem Gefährt sind wir noch am Vortag im Wald begegnet. Entsetzt starren wir hinüber. Und immer wieder liegen Wäsche und Schuhzeug auf dem Eis. Aufgetrieben aus abgesunkenen Wagen … « IRMA NEUBER 20 Von Gotenhafen nach Bordesholm rgendwann hat meine Mutter von einem Barackenlager in Gotenhafen erfahren. Wir sind dort hingegangen und man hat uns auch aufgenommen. Die Monate oder Wochen danach waren die schlimmsten für mich! Der Raum, in dem wir lagen, war vollgestopft mit kranken oder sterbenden Menschen. Jeden Morgen wurden die Leichen an mir vorbeigeschleppt – ich lag auf dem Boden neben dem Gang. Nachts traute ich mich nicht auf den Kübel im Dunkeln, weil der gerade neben einem Sterbenden stand. So kam es, daß ich mit elf Jahren nochmal unter mich machte. Die Haare waren mittlerweile so verlaust, daß sie bis zur Glatze abgeschnitten wurden. Soweit ich mich erinnern kann, kam nur sehr selten ein Russe in dieses Lager, wir hatten hier weniger zu befürchten. Die Frauen und Mädchen waren halb verhungert und todkrank und mittlerweile dermaßen verlaust, daß selbst die Russen davor zurückschreckten. Russen waren es auch, die uns die Köpfe der Läuse wegen kahl schoren; etwas anderes hätte nicht mehr geholfen. I Im Lager Obwohl uns die Russen im Lager zufrieden ließen, hatten wir Angst, wenn wir in der Nähe Schüsse hörten, oder auch, wenn ich spät abends mit den anderen mitgegangen bin, um von den abgestellten Waggongs am Bahnhof Kohlen zu stehlen (denn die Baracke wurde nie richtig warm). Wenn ich am Tage auf dem Barackenhof stand – es waren drei Baracken hufeisenförmig aufgebaut –, konnte ich durch die Fenster der anderen Baracken sehen, wie Männer mit langen Stangen Tote aus den oberen Betten herunterholten und diese auf Lastwagen luden. Da stand dann so ein ganzes Lastauto voller Leichen, zwar etwas abgedeckt – aber hier hing ein Bein raus, dort ein Arm, dort ein Kopf mit aufgerissenen 21 Augen und struppigem Haar! Ich habe vieles von der Flucht schon vergessen, aber diese Bilder sehe ich auch heute nach so vielen Jahren noch ganz deutlich vor mir. Ein andermal ging ich an einer offenen Barackentür vorbei und sah dort in dem Raum Leichen aufgestapelt. Man konnte wohl nicht so viele wegschaffen, wie hinzu kamen. Wie es kam, daß zum Schluß nur noch meine Mutter, Günter, ich und eine Frau mit ihrer Tochter Hilde übriggeblieben waren, weiß ich nicht mehr; ob alle gestorben sind oder ob man einige abtransportiert hat, kann ich nicht mehr sagen. Aber dann ging es uns besser. Wir hatten einen sauberen Raum, das Essen bekamen wir vom nahegelegenen Krankenhaus und es gab auch einen schwedischen Pfarrer, der sich ab und zu um uns kümmerte. Wären nur meine Mutter und mein Bruder nicht so krank gewesen! Ich weiß das Datum nicht, aber meine Mutter ist dann in dieser Baracke gestorben, im Sommer 1945. Sie ist vierzig Jahre alt geworden. Der Pfarrer hat es möglich gemacht, daß sie nicht im Massengrab beigesetzt wurde, sondern einen einfachen Sarg bekam (am Anfang, als die Baracken noch voll belegt waren, starben so viele Menschen, daß es unmöglich gewesen wäre, für all’ diese Toten einen Sarg zu bekommen, aber wir waren die Letzten; außerdem hatten wir das wohl auch dem schwedischen Pfarrer zu verdanken). Ich weiß nicht, wie ich zu Blumen gekommen bin, aber ich bin mit einem Blumenstrauß in’s nahegelegene Krankenaus gegangen, wo meine Mutter im Leichenschauhaus aufgebahrt war, und hab’ sie im Sarg geschmückt. Sie ist dann in einem Waldfriedhof begraben worden. Zur Beerdigung ging ich alleine hinter dem Leichenwagen, der von einem Pferd gezogen wurde, ohne Günter, der war zu diesem Zeitpunkt schon zu krank und schwach, als daß er den weiten Weg zum Waldfriedhof noch geschafft hätte. Vermutlich war aber auch der schwedische Pfarrer dabei. Ich bin danach nie wieder am Grab meiner Mutter gewesen. Reise in den Westen Irgend jemand hat mir eines Tages, im Sommer 1945, gesagt, es führen wieder Züge „ins Reich“ und man könne da mitfahren. Das habe ich dann auch gemacht. Günter ging es zu dieser Zeit immer schlechter. Er war auf der Flucht mit dem Pferdewagen durch Hunger und Kälte sehr geschwächt. Als er einmal richtig krank wurde, hat meine Mutter abends vergebens versucht, ihn wenigstens für die Nacht in einem Haus unterzubringen. Aber an welche Tür sie auch klopfte, sie wurde abgewiesen. Die Menschen waren wohl selbst so verängstigt und in Sorge, so daß sie sich nicht noch mit fremdem Leid befassen wollten. Das kalte und nasse Bettzeug, in dem Günter liegen musste, hat wahrscheinlich die Hauptschuld an seiner Krankheit gehabt. Kein Arzt, keine Medizin – so hat sich dann sein Zustand, während wir in der Baracke lebten, immer mehr verschlechtert. Er war schwach, nahm ab und aß kaum noch etwas. Nun saßen wir mit mehreren Leuten in einem Viehwaggon, der mit der Zeit immer leerer wurde – nur wir hatten ja kein Ziel! In Bordesholm (Schleswig Holstein) holte man uns aus dem Zug und benachrichtigte irgend jemanden. Dann wurden wir abgeholt und in ein Waisenheim gebracht. Dort gab es richtige Betten, fast genug zu essen und keine Angst mehr vor Polen oder Russen! Aber Günter ging es so schlecht, daß er nach kurzer Zeit ins Krankenhaus nach Rendsburg kam. Dort hat man dann Lungen- und Knochentuberkolose festgestellt. Ich bin später mit dem Zug alleine von Bordesholm nach Rendsburg gefahren, habe dort das Krankenhaus gesucht und gefunden und habe ihn besucht. Ich fand meinen Bruder in einem Zehnbettzimmer als einziges Kind unter lauter Männern und hab’ ihn auf Anhieb gar nicht gleich erkannt. War er vorher durch die Flucht total abgemagert, so war er jetzt unnatürlich dick geworden, vielleicht durch die vielen Medikamente, die er nehmen mußte. Als die Besuchszeit zu Ende war, hat er sich 22 Viele Opfer unter der Zivilbevölkerung starben nicht unmittelbar bei der Flucht oder während der Kampfhandlungen, sondern als Verschleppte auf den Transporten zu den russischen Arbeitslagern, bei der Fronarbeit in der Sowjetunion oder in den Flüchtlingslagern, wo sie Kälte, Mangelernährung und epidemischen Krankheiten zum Opfer fielen. Im Sommer 1945 begann die Ausweisung der meisten im Land gebliebenen Deutschen aus Ostpreußen und Polen. Mit einem der Züge fuhren auch Elvira und Günter Scheffler mit. an mich geklammert und gebettelt: „Nimm mich mit, Elvchen!“ Mir war ganz übel vor Hilflosigkeit, ich war ja auch gerade erst zwölf Jahre alt. Ich hatte meine Mutter beerdigt, von meinem Vater wußte ich nicht, ob er noch lebte, aber die Trennung von Günter war ungleich schwerer als alles andere. Ich habe ihm dann ab und zu ein Päckchen geschickt. Manchmal habe ich ein paar Süßigkeiten bekommen, von der Bahnhofsmission, der Schulspeisung oder vom Heim. Das habe ich alles aufgehoben, so daß ich ihm hin und wieder ein kleines Päckchen schicken konnte. Auch Malblock und Buntstifte habe ich mitgeschickt; die Heimleiterin half mir dabei. Als Günter aus dem Krankenhaus in Rendsburg zurück ins Heim kam, waren wir beide überglücklich, doch die Freude hielt nicht lange an. Nach einiger Zeit ging es ihm so schlecht, daß er nicht mehr aufstehen konnte; und wenn ich aus der Schule kam, setzte ich mich zu ihm ans Bett und las aus einem Bilderbuch Geschichten vor. Und schließlich kam der Tag, an dem ich mich wieder – und diesmal endgültig – von ihm verabschieden mußte: Um ihm etwas Linderung zu verschaffen, wurde Günter an die Nordsee in ein Sanatorium geschickt. An einem Vormittag sagte mir die Heimleiterin – ihr Name war Ingeborg Beckmann – daß Günter wieder ins Krankenhaus müßte und diesmal so weit weg, daß ich ihn nicht würde besuchen können. Als man ihn dann abholte, hat er geweint und gebettelt: Komm doch mit zum Auto! Aber ich war so furchtbar unglücklich und traurig, daß ich mich in eine Ecke verkrochen und nur geweint habe. Später hat mich der Gedanke gequält, daß ich ihm diese letzte Bitte nicht erfüllt hatte. Obwohl wir beide nicht wußten, daß es der letzte Abschied war, war es doch so schwer. In der Erinnerung sehe ich ihn noch immer vor mir: Blond, lieb, sehr anhänglich und so hilflos und traurig, wenn wir wieder mal getrennt wurden. Auch zu Hause hat er mich immer sehnlichst aus der Schule zurück erwartet, war ich doch wegen der Krankheit meiner Mutter so eine Art Mutterersatz für ihn. Da er den schwierigen Namen Elvira nicht aussprechen konnte, nannte er mich Effa. Im Waisenhaus Nun war ich also allein in dem Waisenhaus in Bordesholm. Wenn Günter gesund geblieben und bei mir gewesen wäre, hätte es mir dort gut gefallen. Das Haus lag am Ende eines großen Gartens, auch ein kleines Wäldchen gehörte dazu. Dort haben wir oft Frühsport oder Gruppenspiele gemacht. Das einzige, das den Heimaufenthalt manchmal ein bißchen unangenehm machte, waren die Spaziergänge in Reih und Glied, während andere Kinder neben uns herliefen, über uns lachten und dumme Sprüche hinter uns herriefen, zum Beispiel: „Kindergooren, lange Ohren“. Wir Älteren schämten uns dann. Und noch eine „weniger schöne“ Erinnerung habe ich an das Heim: Im Sommer sind wir des öfteren an den Bordeshomler See gegangen, natürlich auch im Gleichschritt. Die Kleinen durften dort plantschen… und ich sollte mit noch einigen Kindern das Schwimmen lernen! Ich bewundere noch heute den Schwimmlehrer, daß er bei mir nicht die Geduld verloren hat. Es war ein stetiger Kampf; er war der Meinung, daß man das „Sichüberwasserhalten“ lernen kann – und ich hab ihm immer wieder bewiesen, daß das nicht klappt! Am Ende habe ich mich dann aber doch ein paar Züge lang über Wasser halten können. Die Leiterin und auch die Helferinnen waren alle sehr nett, selten habe ich sie schimpfen hören. Da ich mit meinen zwölf Jahren das älteste Kind war, mußte – oder besser gesagt: durfte – ich schon mal eine „Tante“ bei den Kleinen vertreten. Das machte mir großen Spaß und die Leiterin war von meiner Art, mit kleinen Kindern umzugehen, so angetan, daß sie beschloß, mich ein Jahr später als Kindergärtnerin ausbilden zu lassen. Sogar Klavierunterricht bekam ich damals. 23 Elvira Ludwig mit 15 Jahren. Da lag die Zeit in Bordesholm schon eine Weile hinter ihr. Doch dann kam es anders. Ich fuhr in den Ferien nach Besse, um meinen Vater zu besuchen, und kam nicht mehr zurück. An der Art, wie die Leiterin mir noch einmal geschrieben hat, merkte ich, daß sie enttäuscht war. Wiedersehen mit dem Vater Irgendwann kam der Tag, an dem ich erfuhr, daß mein Vater lebt. Es wurde dem Heim vom Roten Kreuz mittgeteilt, dorthin hatten er und die Heimleiterin geschrieben. Und eines Tages stand Papa dann unverhofft vor mir, es war im Frühjahr 1947. Ich freute mich zwar sehr, merkte aber doch, wie fremd er mir geworden war, wie er da so dunkelbraun gebrannt von der italienischen Sonne im Zimmer stand. Auch als ich im Sommer 1947 nach Besse kam (wo er inzwischen wohnte), ist ein wirklich inniges Verhältnis zwischen uns nie so richtig aufgekommen. Am ersten Tag nach meiner Ankunft fand ich mich zum Beispiel morgens ganz allein in dem fremden Haus unter fremden Menschen; mein Vater war bereits zu seiner Freundin gegangen, das war ihm wichtiger, als mit mir – nach fünfjähriger Trennung – zusammenzusein, mit mir über Günter oder die Flucht zu sprechen oder mir in der neuen, fremden Umgebung ein bißchen zu helfen. Unser Verhältnis hat sich erst im Alter und noch mehr während seiner Krankheit ganz zuletzt geändert. Papa hat Günter nie wieder gesehen. Nach dem kurzem Zwischenaufenthalt im Heim kam Günter in ein Krankenhaus in Wyk auf Föhr und später von dort nach Neustadt in Schleswig-Holstein, wo er auch gestorben ist. Zu dieser Zeit lebte ich bereits in Besse. Daß mein Vater Günter im Krankenhaus nicht besucht hat, lag daran, daß der Arzt davon abgeraten hatte; die Aufregung könne dem schwerkranken Kind schaden. Auch ich habe ihn nur bei seinem ersten Krankenhausaufenthalt in Rendsburg besucht, später nicht mehr. Das Krankenhaus in Neustadt hat meinen Vater benachrichtigt, daß Günter am 29. November 1948 gestorben ist. Er ist sieben Jahre alt geworden. Schade, daß mein Vater diesen Bescheid nicht aufgehoben hat… Wie ich es aufgenommen habe? Ich kann ohne Übertreibung sagen, daß ich acht Jahre um ihn getrauert habe. Ich habe immer wieder, unzählige Male, seinen Namen geschrieben, in Deutsch, in Lateinisch, in Druckschrift, auf Zettel, den Zeitungsrand oder die beschlagene Fensterscheibe. Das hörte erst mit der Geburt meines eigenen Sohnes auf. Von da an konnte ich gelassener an ihn denken. 24 Artur Scheffler war nach dem Krieg ein begehrter Arbeiter auf den großen Höfen in Besse, auf denen Männer fehlten. Landwirt mit Leib und Seele, zupackend, gut aussehend und charmant – so lernten ihn die Menschen in seiner neuen Heimat kennen. Seiner Tochter gegenüber war er eher gleichgültig – er hat so gut wie nie in den ersten Jahren von Ostpreußen gesprochen und kaum jemals nach den Ereignissen während der Flucht oder der Zeit danach gefragt. Der Neuanfang in Besse Besse, im Norden Hessens am Rand des Habichtswaldes gelegen, zählt zu den ältesten und größten Dörfern der niederhessischen Landschaft. Im Jahr 1947 hatte es 2030 Einwohner. Im Vergleich zu Worienen mit seinen 700 Einwohnern wirkte es auf die Neuankömmlinge riesig. m Sommer 1947 habe ich meinen Vater in Besse besucht, ursprünglich nur für die Ferien – dann bin ich aber doch ganz geblieben und nicht mehr nach Bordesholm zurückgefahren. Was zu meinen unvergeßlichen Erinnerungen gehört, ist der Abend, an dem mich mein Vater vom Kasseler Bahnhof abholte, wie wir nachts bei der Familie Krug ankamen und diese mir zur Begrüßung einen großen Teller mit Streuselkuchen und einen Topf mit frischer Milch hinstellten, mit der Aufforderung, mich richtig satt zu essen. Nach zweieinhalb Jahren mehr oder weniger Hunger – auch im Heim sind wir nie richtig satt geworden – konnte ich nun essen so viel ich wollte! Außerdem war ich ja nun endlich wieder mit meinem Vater zusammen. Daß ich trotzdem nicht so glücklich war, lag daran, daß mir erst jetzt so richtig bewußt wurde, daß ich Günter wohl nie mehr würde sehen werden. Wie gerne hätte ich meinen Kuchen mit ihm geteilt! Die Trauer um ihn hielt so lange an, bis mir wieder ein kleiner Günter anvertraut wurde. I Vater Wie mein Vater Günter’s Tod aufgenommen hat, weiß ich nicht genau, aber er hatte ihn lange nicht gesehen und war außerdem so in seine junge Freundin verliebt, daß er, glaube ich, ganz gut darüber weggekommen ist. Er hat jedenfalls nie mit mir darüber gesprochen, auch von zu Hause nicht, und natürlich schon gar nicht von meiner Mutter. Heute ist das anders, er spricht gerne mit mir von früher und sieht Ostpreußen als seine eigentliche Heimat an, nicht Kassel oder Nordhessen. Während des Krieges war er in Frankreich, Belgien und in Italien. Er ist einmal leicht verwundet worden, hat auch für Tapferkeit das Eiserne Kreuz erhalten (er war im Herbst 1942 eingezogen worden). 1946 ist er ist aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen worden, und da er nicht mehr nach Hause konnte und auf dem Bahnhof in Bebra 25 Elvira Scheffler, im Sommer 1948, zwischen ihrem Vater und Elisabeth Rudolph, die ein Jahr später seine zweite Frau werden sollte. Zu dieser Zeit war Günter noch in einem Sanatorium in Neustadt. ein August Krug aus Besse einen Gespannführer für seinen Hof suchte, hat sich mein Vater gemeldet; so ist er nach Besse gekommen. Mein erster Eindruck von Besse? Fremd kam mir alles vor, die Sprache, die ich kaum verstand, die Leute sehr zurückhaltend, die Landschaft, die bewaldeten Hügel, wie z.B. der Odenberg, – so etwas hatte ich noch nie gesehen! Alles in allem hatte ich mich in Bordesholm schneller eingelebt als in Besse. Den ersten wirklich freundschaftlichen Kontakt hatte ich zu Annnechristel Klüttermann. Das erklärt vielleicht auch, warum mir viele Jahre später unser Zerwürfnis so zu schaffen machte, als wir uns eine Zeitlang aus dem Weg gingen. Sie war der erste Mensch in Besse, der mir herzlich entgegenkam. Karl Ludwig Im Sommer 1947 habe ich dann meinen späteren Mann näher kennengelernt. Flüchtig kannten wir uns schon eine Weile, denn er wohnte nur zwei Häuser von meinem damaligen „Arbeitsplatz“ entfernt: Da ich durch den Krieg nicht den Beruf erlernen konnte, der mir Spaß gemacht hätte – ich wäre gerne Kindergärtnerin geworden – habe ich auf einem Bauernhof gearbeitet, wo ich neben der Stall- und Feldarbeit auch das Kochen erlernen durfte. Karl Ludwig war mir durch sein Äußeres, aber auch durch seine ruhige und zuverlässige Art aufgefallen, und bei einem Tanzfest kamen wir uns dann näher. Damals war ich 15 Jahre alt. Wir gingen zusammen aus, wir trafen uns mit Freunden oder Bekannten… und ganz allmählich verblaßte die Erinnerung an Ostpreußen ein bißchen, an die Flucht und die Zeit danach. Da mein Mann ganz allein dastand – sein Vater war im Krieg gefallen, sein Bruder tödlich verunglückt und seine Mutter in einer Nervenheilanstalt – haben wir früh geheiratet; mein Mann war zwanzig, ich neunzehn Jahre alt. In den ersten Jahren hatten wir es schwer! Meine Schwiegermutter war schwer nervenkrank und mußte zwischendurch immer wieder in eine Heilanstalt gebracht werden (wobei wir uns auch zum Teil an den Kosten beteiligen mußten). Durch die Krankheit war auf dem Hof vieles vernachlässigt worden, und da mein Mann auch keinen Beruf erlernt hatte – er mußte das Gymnasium frühzeitig verlassen, damit er sich um die kleine Landwirtschaft kümmern konnte – und ich bis dahin auch noch sehr wenig verdient hatte, standen wir vor dem Nichts. Erschwerend kam hinzu, daß wir ständig in Angst lebten, meine Schwiegermutter würde Selbstmord begehen; ein paar Mal waren wir gerade noch rechtzeitig dazugekommen, um das Schlimmste zu verhindern. Außerdem mußte ich viele Beschimpfungen und Demütigungen hinnehmen, für die ich sie ja noch nicht einmal verantwortlich machen konnte. Es war eine schlimme Zeit! Ich denke da zum Beispiel an den Tag, als sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte und nach und nach die Möbel aus dem Fenster auf die Straße warf. Das Schlimmste für mich war, daß in dem Jahr vor der Ehe – ich hab’ schon nach der Verlobung meinem Mann den Haushalt geführt, heiraten durften wir ja mit achtzehn und neunzehn Jahren noch nicht – mit meiner Schwiegermutter in einem Zimmer schlafen mußte, und wenn sich ihre Gedanken dann wieder verwirrten und sie von Selbstmord und Töten sprach, war meine Angst riesengroß. Sie starb im Juli 1957, erst fünfundfünfzig Jahr alt, an Lungenentzündung. Die ersten Jahre in Besse waren also kaum weniger bedrückend, als die Zeit davor. Aber 1956 bekam ich mein erstes Kind, einen Jungen, den ich Günter nannte – von da ab hatte ich wieder einen inneren Halt, nun ging es mir besser. Später wurde noch eine Tochter, Agnes, geboren, und so begann ein neuer Lebensabschnitt… 26 Als Siebzehnjährige, frisch verliebt, an einem Sonntag im Jahr 1951. Durch das Zusammensein mit Karl Ludwig erschien das fremde Leben in dem nordhessischen Dorf erträglicher. Mit der Geburt des Sohnes, der den Namen des geliebten Bruders erhielt, begann elf Jahre nach der Flucht aus der Heimat ein „zweites Leben“. Heimweh Aus „Gedichte und Prosa“ von Agnes Miegel (1977) » Ich hörte heute morgen am Klippenhang die Stare schon. Sie sangen wie daheim, – Und doch war es ein andrer Ton. Und blaue Veilchen blühten Auf allen Hügeln bis zur See. In meiner Heimat Feldern Liegt in den Furchen noch der Schnee. In meiner Stadt im Norden Stehn sieben Brücken grau und greis, An ihre morschen Pfähle Treibt dumpf und schütternd jetzt das Eis. Und über grauen Wolken Es fein und engelslieblich klingt, – Und meiner Heimat Kinder Verstehen, was die erste Lerche singt. « 27 Wiedersehen nach zweiundvierzig Jahren Der erste Moment der Begegnung nach einem halben Menschenleben. Der Fliederbaum steht nicht mehr, Haus und Garten wirken etwas verwahrlost… aber sonst hat sich kaum etwas verändert; selbst die Hundehütte steht am gleichen Platz wie damals. or 14 Jahren haben meine zwei Schwestern (aus der zweiten Ehe meines Vaters), mein Schwager, mein Mann, mein Vater – schon achtzigjährig – seine zweite Frau und ich beschlossen, noch einmal nach Ostpreußen zu reisen. Die nötigen Papiere dazu waren relativ schnell besorgt, und so sind wir am 26. Mai 1987 losgefahren. Die Entfernung beträgt etwa 1.100 km und wir sind fast einmal rund um die Uhr gefahren, bis wir in Masuren ankamen. An den Grenzübergängen hatten wir keine Schwierigkeiten, wir mußten uns nur in Geduld fassen. In Pisz (dem früheren Johannisburg), wo wir unser Quartier hatten, wurden wir von einer deutschen Frau, die einen Polen geheiratet hat und deren Adresse wir von Bekannten erhalten hatten, bestens bewirtet. Nur war die Entfernung zu Worienen sehr groß, so daß wir in dieser Woche nur zweimal dorthin fahren konnten. Nachdem wir uns die nähere Umgebung von Pisz angesehen und unsere ersten Erfahrungen mit den Polen und ihrem Alkoholproblem gemacht hatten (die Gasthäuser schließen dort zwar abends schon um 21 Uhr, aber ich hatte bis dahin noch nie so viele Betrunkene in so kurzer Zeit gesehen), fuhren wir am dritten Tag früh in Richtung Landsberg los. Es ging durch eine schöne Landschaft, wir fuhren meist auf einer jener endlos scheinenden Alleen, wie sie typisch für Ostpreußen waren und auch heute noch überall zu finden sind. In Landsberg angekommen, habe ich mich sofort auf die Suche nach meiner Schule gemacht… und ich habe sie auch gefunden! Es ist immer noch eine Schule, und ein Mädchen – alle in einheitlicher Schultracht – rief gerade ein anderes mit „Elvira“ an. Das war ein eigenartiges Gefühl für mich. Als wir vor der ehemaligen Apotheke standen und berieten, wie es weitergehen soll, sprach uns eine Frau in deutscher Sprache an. Sie war im Krieg in Landsberg geblieben, hatte einen Polen geheiratet und freute sich jetzt, deutsche Stimmen zu hören. Sie bot V 28 Die alte Realschule in Landsberg an der Ausfallstraße nach Paustern/Kanditten. Sie wurde 1926/27 als „Neue Stadtschule“ erbaut und dient auch heute noch als Schule. sich an, zum Dolmetschen mit zu unserem Hof zu kommen, was dann auch, wie sich später herausstellte, eine große Hilfe war. Später haben wir „Oma Lenchen“, wie wir sie nannten, auch mal zu Hause besucht und haben gestaunt: Sie hatte ihren drei Töchtern deutsche Lieder beigebracht, obwohl das Deutschsprechen doch lange Zeit streng verboten war. Ja, und dann fuhren wir zusammen die Chaussee entlang … vorbei an der früheren Post in Woymanns… und endlich tauchte der Hof von Meyer’s auf. Ich habe unseren Fahrer angeschrien, doch langsamer zu fahren – ich mußte erst begreifen, daß das, was ich mir in meiner Phantasie unzählige Male vorgestellt hatte, nun Wirklichkeit war ! Zuhause An unserem Haus angekommen, bin ich allein langsam die Einfahrt zum Hof gegangen. Christa hat mir später erzählt, sie und Sigrid hätten geweint; ich nicht, mir kam nur alles so unwirklich vor, und eigentlich habe ich erst richtig begriffen, daß ich zu Hause war, als ich schon wieder weg war. Mein erster Gedanke war: Wie ist doch alles so viel kleiner, als ich es in Erinnerung habe! Das Haus, das Mäuerchen an der Treppe, auf dem ich so oft gesessen und angeblich auf alles hinunter geschaut habe – war das damals wirklich so niedrig gewesen? Oma Lenchen holte den jetzigen Besitzer unseres Hauses von Zipperken, wo er arbeitete. Wir wurden überschwenglich begrüßt und bewirtet und – was ich heute noch schade finde – man versuchte uns mit Wodka geradezu abzufüllen. Ich bin mit Papa dann aber doch noch die Chaussee entlang zurück zu Goldaus gegangen, habe auf unserem Hof vor dem verschütteten Brunnen unter der nun schon großen Linde gestanden, die Papa noch gepflanzt hat, bin durch den verwilderten Garten gegangen, habe mir alle Zimmer angesehen, wobei Papa und ich uns nicht einigen konnten, welches das Wohn- und welches das Schlafzimmer früher war; aber das kam daher, daß meine Mutter die Abwechslung liebte und alle Möbel öfter mal umstellte. Die Kammer, in der früher der Kriegsgefangene schlief, war jetzt zur Toilette umgebaut, die anderen Räume sauber und ordentlich; nur draußen sah noch alles sehr heruntergekommen aus. Stall und Scheune waren abgebrannt, und an deren Stelle war inzwischen ein Behelfsstall gebaut worden. Der jetzige Besitzer lebte mit seiner Frau und zwei kleinen Söhnen erst seit einigen Jahren auf unserem Hof und tat wirklich sein Bestes, um alles wieder ein bißchen in Ordnung zu bringen. Es mußte wohl vorher alles sehr verwahrlost gewesen sein. Das Haus gehörte ihm noch nicht, sondern dem polnischen Staat; er hoffte aber, daß er es eines Tages erwerben könnte. Zuvor hatte eine Familie darin gewohnt, von der man aber nicht wußte, warum sie wieder weggezogen ist. Über unsere Mitbringsel haben sie sich natürlich sehr gefreut, wie Kaffee, Seife, Perlonstrümpfe und noch einige Sachen, die es dort selten und nur in schlechterer Qualität zu kaufen gab. Daß wir später mal mit diesen Leuten eine Enttäuschung erleben würden, ahnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ein Jahr später, als sie uns in Kassel und Besse besuchten, waren sie von unserem „Reichtum“ so beeindruckt, daß sie ihre Wünsche (und später schon Forderungen) so hoch stellten, daß wir nach ein oder zwei Jahren Pakete und Briefe einstellten. Zunächst aber hieß es Abschied nehmen. Da kamen auch mir die Tränen – aber Sigrid, die sehr lustig sein kann, wenn sie ein wenig beschwipst ist, hat uns dann doch wieder zum Lachen gebracht. Worienen Am nächsten Tag sind wir nach Worienen gefahren; an unserem Hof vorbei (wir hatten in Landsberg wieder Oma Lenchen abgeholt) nach Zipperken und dann den Weg, auf dem ich auch zur Schule gehen konnte, es aber selten tat, weil er mir – vor allem morgens – unheimlich vorkam. Kurz vor Worienen führte ein Weg zu unserer Waldwiese, 29 Wie beim letzten Blick vor 42 Jahren zeigte sich der Ort der Kindheit für Elvira Ludwig am Dienstag, dem 26. Mai 1987. Nur der alte Stall war verschwunden, und die Linde, die der Vater 1930 neben dem Haus gepflanzt hatte, war inzwischen groß geworden. Artur Scheffler auf den Stufen vor seinem Haus, in das er vor mehr als einem halben Jahrhundert mit seiner ersten Frau einzog. und da gab es für Papa kein Halten mehr: Er ging, nein er lief fast zur Wiese, und dort war auch alles noch so, wie vor über 40 Jahren! Papa ging zur Mitte der Wiese, stand da und sprach kein Wort. Später zeigte er uns, wie weit die Wiese uns gehört hatte, denn jedem unserer Nachbarn waren vier Morgen Wiese zugeteilt worden. Mit Blick auf den spärlichen Grasbewuchs sagte er dann: „Hier müsste mal richtig gedüngt werden, so ernten die doch nichts!“ Ja, und dann ging es auch schon weiter. In Worienen hatte Papa wieder solche Eile, von einem bekannten Gebäude zum anderen zu kommen, daß ich gar nicht die Möglichkeit hatte, ihn nach diesem oder jenem zu fragen. Das Dorf selbst war ziemlich heruntergekommen, die Straßen waren in erbärmlichem Zustand. War Worienen auch früher schon ein sehr kleines Dorf gewesen, so gab es jetzt nur noch ganz wenige Häuser, und die waren in einem Zustand, daß man sich kaum vorstellen konnte, wie darin noch Menschen wohnten. Wir trafen eine ältere Polin auf der Straße, die uns erzählte (Oma Lenchen übersetzte), daß das Schloß, in das ich zur Volksschule gegangen bin, bis nach dem Krieg unzerstört geblieben war, und daß man vorübergehend Waisenkinder dort untergebracht hatte, daß es aber später von den Polen zerstört und regelrecht abgetragen wurde. Wenn jemand Steine oder Holz brauchte, hat er es sich dort geholt. Jetzt konnte man nur noch ein Stück vom Kellergewölbe erkennen – und ich erinnerte mich an die Zeit, als vor über 40 Jahren jeden Morgen vor dem Unterricht auf dem Schloßhof die Fahne gehißt wurde; ich dachte auch an den Spaß, den wir Kinder hatten, wenn ein Lehrer Jagd auf Ratten machte, die sich manchmal aus den Kellern in unsere Klassenzimmer verirrt hatten… Aber viel Zeit zum Überlegen blieb mir nicht, wir wollten ja noch weiter fahren. Zunächst bin ich noch zu den Trümmern des Hauses gegangen, in dem früher unten die Gastwirtschaft Seidel war. Darüber wohnte ein befreundetes Ehepaar meiner Eltern, Walter und Hertha Döring, zu denen mich meine Mutter oft schickte, wenn sie mal Rat oder Hilfe brauchte. Auch meine Lehrerin hatte dort ihre Wohnung, in die sie mich hin und wieder schickte, wenn sie etwas vergessen hatte; das war für mich damals ein großer Vertrauensbeweis. Es gab damals noch eine zweite Gastwirtschaft, Schröder, wohl auch mit einem Kaufmannsladen dabei – ich erinnerte mich, daß ich zum Beispiel Brot oder Käse von dort nach der Schule mit nach Hause nahm. Zum Großeinkauf fuhren wir allerdings immer nach Landsberg. Wenn eine Genossenschaftsversammlung war, wurde die auch im Gasthaus Schröder abgehalten. Da ging dann mein Vater mit unserem Nachbarn Meyer zusammen hin, und da es zum Schluß meist recht feuchtfröhlich zuging, hat mein Vater manche Anekdote vom Nachbar Meyer, der gerne mal ein Gläschen mehr trank, als er vertragen konnte, erzählt. Von da sind wir dann in Richtung Albrechtsdorf gefahren. Beim alten Woriener Friedhof, der vor dem Dorf an der Straße nach Albrechtsdorf liegt, machten wir Halt. Über dem Tor zum Friedhof war noch immer der Spruch „Friede sei mit Euch“ zu lesen. Auf einem der total überwucherten Gräber haben wir sogar den Namen unserer Nachbarin Christine Meyer gefunden. Mein erster Bruder, der tot geboren wurde, liegt möglicherweise auch hier; ich weiß aber nicht, ob er ein richtiges Grab bekommen hat. In Albrechtsdorf haben wir von dem Geburtshaus meiner Mutter, das idyllisch am Waldrand lag und von Fliederhecken umgeben war, nichts mehr gefunden. Aber an einer Stelle, an der ein Fliederbusch aus dem Gestrüpp herausragte, könnte es möglicherweise gestanden haben. Überall kann man heute in Ostpreußen Fliederhecken im Wald und an einsamen Wegen entdecken, die verraten, daß hier vor dem Krieg einmal Häuser standen (denn Flieder wächst nicht wild). Später hat Papa in Albrechtsdorf die Baptistenkirche entdeckt, in der er 1930, also vor damals 57 Jahren, mit meiner Mutter getraut wurde. 30 Am Ortsschild von Woryny. Der neue Name erinnert noch am ehesten an das alte Dorf Worinen – die meisten Häuser wurden zerstört oder sind inzwischen verfallen. Hier wohnten Tante Hertha und ihr Mann Walter Döring. Unten war die Gastwirtschaft Seidel untergebracht. Wie lange mag das Haus schon als Ruine stehen? Von dem alten Schloß, das nach der Auflösung des Guts als Volksschule diente, sind zwischen Brennesseln und Gestrüpp nur noch ein paar Kellergewölbe zu sehen. Der Eingang zum alten Woriener Friedhof. Es muß inzwischen noch einen zweiten Friedhof geben, denn neue Gräber sind nirgends zu sehen. Zweiter Abschied Nachdem ich zwei Tage lang noch einmal in meiner alten Heimat sein durfte, mußte ich am Mittwoch, dem 27. Mai 1987, zum zweiten Mal Abschied nehmen – und diesmal fiel es mir deutlich schwerer, als beim ersten Mal! Denn diesmal war mir ja viel mehr bewußt, was ich zurücklasse. Heute, nach 14 Jahren, kommt mir der Besuch in der alten Heimat vor, als hätte ich es nur geträumt, so wie ich unzählige Male in den Jahren zuvor davon geträumt hatte, ich stünde in unserem Garten oder ich ginge noch einmal meinen Schulweg entlang. Dieses Mal war es nun Wirklichkeit, aber alles war zu kurz und zu schnell! Wie gerne würde ich jetzt noch einmal dort hinfahren, um mir alles in Ruhe anzusehen und auf mich wirken zu lassen – die schöne, meist noch unberührte Natur mit den vielen Störchen auf den Wiesen, die Alleen, die Bauern (noch mit Pferdegespannen) auf den Feldern… Hätte ich die Wahl gehabt, ich glaube, ich hätte dort leben wollen; zwar mit weniger Luxus und Komfort, aber noch mehr naturverbunden als hier. Und es ist und bleibt – auch nach so langer Zeit – meine Heimat! Ich habe von Leuten gehört, die enttäuscht waren, als sie dort nicht mehr alles so fanden, wie sie es verlassen hatten. Enttäuscht war ich nicht, ich war froh und dankbar, daß ich das alles noch einmal sehen durfte. Auch für meine Halbschwestern, die das alles nur vom Erzählen kannten, war es ein großer Moment, auf Papas Hof zu stehen – unter der Linde, die unser Vater vor über 50 Jahren gepflanzt hatte. Bereits während der Rückfahrt hatten wir uns alle vorgenommen, später noch einmal nach Ostpreußen zu fahren. Aber dazu ist es dann leider nicht mehr gekommen. Letzte Begegnung Einige Zeit nach der Ostpreußenfahrt habe ich auch Bordesholm noch einmal wiedergesehen. Wir machten damals an den Wochenenden gelegentlich eine Tagesfahrt und hielten es meist so, daß ich beim Losfahren noch nicht wußte, wo es hinging; erst unterwegs habe ich dann das Ziel erraten. Umso größer war die Freude, als ich merkte, daß ich Bordesholm wiedersehen sollte! Aber ebenso groß war auch die Enttäuschung, als wir nach langem Suchen (wir fragten Passanten nach dem Heim, aber viele wußten nichts mehr davon) endlich die Stelle gefunden hatten, an der das Waisenhaus einmal stand: Es war nicht mehr da! An der Stelle des schönen großen Gartens um das Heim hatte sich jetzt ein Getränkemarkt niedergelassen. Wir haben dann noch den See gesucht und gefunden, zu dem wir damals immer in Dreierreihen gegangen sind und in dem ich auch das Schwimmen gelernt habe… das war ein wehmütiger Anblick, erinnerte er mich doch auch wieder an Günter. Auf der Heimfahrt sind wir durch Neumünster gefahren, wo ich einmal kurze Zeit im Krankenhaus gelegen habe (wegen Paratyphus), und dann ging’s wieder heimwärts. Im Nachhinein kann ich sagen, ich hätte das Heim lieber so in Erinnerung behalten, wie ich es damals verlassen habe. 31 Was in der Erinnerung ein ganzes Universum war, groß und weit – das zeigte sich beim Wiedersehen nach vielen Jahren als kleine überschaubare Welt. Der Bordesholmer See mit der Klosterkirche im Hintergrund. Die kleine Stadt in Schleswig-Holstein, wenige Kilometer südlich von Kiel, zählt heute 6.300 Einwohner. Abschied Auszug aus: „Wälder und Menschen“ von Ernst Wiechert (1936) » Vor drei Jahren habe ich mein Vaterhaus wiedergesehen, nach fünfundzwanzig Jahren. So lange Zeit hatte ich mich gefürchtet, mein Leben an seinen Anfang zurückzutragen und den kleinen Kreis des Ursprungs noch einmal auszuschreiten. Aber nun wollte ich weit fort von meiner Heimat, bis in das Alpenvorland, und das Tor zumachen hinter einem lauten Weg. Und da wollte ich sie noch einmal sehen, die Stille meines Anfangs, um das Bild mit hinüber zu nehmen und es aufzustellen über einem fremden Herd. Aber nun war es vielleicht doch nicht gut. Ich kam aus einer großen Stadt, aus vielen Städten. Ich hatte vorgelesen, es waren viele Menschen um mich gewesen, Lob, Tadel, Fragen, Schicksale. Und nun hatte ich eine Nacht in der Heimat geschlafen, in einem kleinen Haus am Cruttinnenfluß. Auf dem kleinen Friedhof hinter dem Gartenzaun schliefen meine Großeltern, und vor mir lag die weite Krümmung des Flusses, und hinter ihr lagen die weiten Wälder. Und alles war grau und winterlich und still, so totenstill. Und ich sah nun, daß es ein Gesetz war, nach dem ich angetreten und weitergegangen war, und es schauerte mich ein wenig vor der Größe und der Schwermut dieses Gesetzes. Am nächsten Morgen machte ich meinen Wagen fertig und fuhr in die Wälder. Nebel hing um die hohen Tannen. Kein Vogel sang, keine Blume blühte. Ich fand die Stelle, an der ich meinen ersten Adler geschossen hatte. Der Hochwald war fort, fremde Schonungen sahen mich an. Ich wußte nicht, wer sie gepflanzt hatte. Die Sonne kam über die Wipfel und beleuchtete ein fremdes Land. Was unwandelbar erschienen war, hatte sich gewandelt. Das Paradies, hatte ich geglaubt, könne sich nicht wandeln. An derselben Stelle müßten die Rehe stehen, unter demselben Baum müßte Gottvater ruhen. Hatte ich bedacht, daß ich selbst als ein anderer wiederkam? Je näher ich meinem Vaterhause kam, desto fremder wurde die Welt. Hier trug ich jeden Busch in meiner Seele, hier konnte ich die Augen schließen und sagen: »So muß es hier sein.« Aber es war nicht so. Alles Kleine der Kinderzeit war groß, erschreckend groß geworden, alles Große war fort. Auch hier war Geburt und Tod gewesen, aber ich hatte weder an den Wiegen noch an den Särgen gestanden. Ich stieg aus dem Wagen, um die Erde an meinen Sohlen zu spüren, ich blieb zwischen den Kiefern stehen und lauschte. Ich wußte, wie es gerauscht hatte zu meiner Kinderzeit, in den unvergeßlich großen Bögen der stillen Melodie, hinunter bis in die letzten Wurzeln meines jungen Lebensbaumes. Es rauschte auch jetzt, von Wipfel zu Wipfel, groß, gelassen und fern, aber es streifte mich wie ein fremder Mantel. Es hob sich auf wie von einem Irrtum und ging davon. Es ließ mich außer sich. Es war, als hätte es mich enterbt. Und dann sah ich das Haus. Das erste war die Tannenhecke am Weg mit den Ahornbäumen. Ich sah sie, aber sie war nicht da. Mein Vater hatte sie gepflanzt, und man hatte sie aus seinem Leben geschnitten, als sei er schon tot. Dort hatten die Hasen zur Winterzeit gelegen, und immer war ein leises Rauschen in dem Dunkel der Zweige gewesen, und die ersten Gestalten einer kindlichen Dichtung hatten dort gewohnt, im grünen Dämmerlicht, das immer über dem schmalen Wege stand. 32 Und da wußte ich, daß auch das andre so sein würde, alles andre. Es war eine freundliche Frau, die mich empfing, aber in ihrer Freundlichkeit lag die Sicherheit des Besitzes und die gütige Nachsicht für die Seltsamkeit eines Sonderlings. Die Oberstube? Nein, die Oberstube sei leider nicht mehr da. Es sei angebaut worden, und da habe sie leider verschwinden müssen. Aber ich könnte ruhig hinaufgehen. Nein, das wollte ich nun nicht mehr. Auch in einem Totenhaus geht man nicht umher, um Hausrat und Aussicht anzusehen. Und dieses war doch ein Totenhaus. Meine Kindheit lag dort aufgebahrt, ohne Anspruch und Feierlichkeit, und man hatte vergessen, ihr die Augen zuzudrücken, so daß sie mich ansah, wohin ich auch immer ging. Ich ging sehr leise, wie es sich gehörte, sehr scheu und so schnell, wie es erlaubt ist in einem Totenhaus. Ich ging auch in den Garten, wo die hohen Tannen gerauscht hatten, und wo ich mit meinem Kranich geschlafen hatte, sein Herz an meinem Herzen. Die Tannen waren nicht mehr da. Sie seien krank gewesen, hatte die Frau gesagt, und sie hätten auch zuviel Schatten geworfen. Auch die Kirschbäume waren fort und der alte Apfelbaum mit grünem Moos auf seinem gekrümmten Stamm. Nur die Esche am Giebel stand da, die mein Vater gepflanzt hatte, und ihr grauer Gipfel reichte hoch über das Dach. Eine Weile stand ich da, in meiner bitteren Verlorenheit, und starrte hinaus, nach dem Kreis der Wälder, der dies alles umschloß. Wie aus einer Schale tropften die Jahre des Gewesenen in mich hinein, alle Bitterkeit und alle Süße eines Kinderlebens, und plötzlich war mir, als sei mein Haar grau, als rühre die Hand der Geschlechter mich an, mit einer leisen Mahnung, daß das Unsterbliche in der Kette liege und nicht in ihren Gliedern. Da wendete ich den Wagen auf dem schmalen Hofe und fuhr davon. Und noch als er aus dem grauen Tor rollte, fiel mir ein, daß ich nun in einem glänzenden Wagen den Weg heraufgekommen sei, den ich sooft barfuß als Kind heruntergelaufen war, um die Kühe zu hüten oder den Frühstückskorb auf das Feld zu tragen. Es hätte ein Trost und vielleicht sogar ein Stolz in diesem Gedanken liegen können, aber ich war weit von allem Stolz entfernt. Sehr demütig fuhr ich nun aus meinem Kinderland. „Fremd ist dir alles geworden“, dachte ich, „aber vielleicht ist dieses alles hier geblieben wie am ersten Tag, und nur du selbst bist als ein Fremder eingekehrt in ein stilles, wartendes Haus. In einem großen Wagen bist du angekommen, sowie es in den Märchen steht, aber alle diese Dinge deiner Kindheit wollten das nicht. Sie wollten, daß du die Schuhe auszögest an der Schwelle eines heiligen Landes und wiederkehrtest, wie du einst gegangen warst: barfuß, demütig und arm.“ Und ich sah mich um in der schweigenden Runde, ob nicht ein Trost geblieben sei, an dem ich mich aufrichten könnte in meiner Verlassenheit. Und da, in diesem Augenblick, sah ich sie. Auf einem Heidekrauthügel, unweit des Weges. Weiß und schmal stieg ihr Stamm in die Höhe, und ein rötliches Licht hing über der schmalen Krone. Ich legte die Hände um ihren kühlen Schaft und sah zu ihr empor. Es war mein Eigentum, meines allein, denn ich hatte sie gepflanzt, am Tag vor Pfingsten, als ich sechs Jahre gewesen war. Niemand war bei mir gewesen als Tante Veronika, die immer da war, wenn ein Wunder geschah, die Stimmen hörte und Gespenster sah, deren Hand den Himmel öffnen konnte und deren leise Stimme bis zu den Toten drang. „Eine Birke mußt du pflanzen, Andreas“, hatte sie gesagt, „damit der Heilige Geist sich ausgießen kann über sie in der Pfingstnacht...“ Ich wußte nicht, was der Heilige Geist war, aber als ich die dünne Wurzel in die feuchte Erde senkte und die Kühle des Frühlingsbodens meine Hände berührte, floß etwas hinein in meine verzauberte Seele, was nicht unähnlich dem sein mochte, was Tante Veronika mit den Worten des Neuen Testamentes nannte. „Wenn du groß bist, Andreas“, sagte sie und sah mit ihren blauen Augen über die Wälder hin, „und du hast Angst in der Welt, dann mußt du unter 33 diese Birke treten und die Augen aufheben zu den Zweigen, von denen dir Hilfe kommt. Und Friede wird in deiner armen Seele sein...“ Und da stand ich nun unter meinem Kinderbaum, der so groß geworden war, daß er auf mich herabblickte, und hatte die Hände um seine Rinde gelegt und sah die vierzig Jahre in den rötlichen Zweigen und in der Haut meiner Hände, und hörte die Stimme, die lange versunken war, und wußte nun, daß alles gut so gewesen war. Daß ein Mensch nicht fremd sein kann auf seinen Wegen, weil die Spur seiner Geleise hinter ihm herläuft, rückwärts bis zu dem Beginn seiner Kinderträume. Daß das Sichtbare sich wandelt, aber niemals das Unsichtbare, und daß das Kind uns niemals verstößt, aus dem wir aufgewachsen sind zur gegenwärtigen Form… « 34 Erinnerungen enn ich heute überlege, was mir beim Gedanken an Ostpreußen zuerst einfällt, Kindheit oder Flucht oder Wiedersehen, so würde ich sagen: Die Kindheit. Die Flucht bringe ich nicht mehr unbedingt mit Ostpreußen, mit der Heimat, in Verbindung. Und das Wiedersehen war ja auch nur ein Anknüpfen an die elf Jahre, die ich als Kind in Ostpreußen gelebt habe. Als ich dann nach über vierzig Jahren wieder durch die Alleen gefahren bin und die Wiesen und Felder dort gesehen habe, ist mir klar geworden, daß die ostpreußische Landschaft mich mehr geprägt hat, als ich es mir bis dahin vorstellen konnte. Ich liebe zum Beispiel das ebene Land mit den einzelnen Höfen in Schleswig-Holstein, und ich liebe den Schwarzwald mit seinen dunklen Wäldern und den einsamen Höfen. Mein Mann wird nie verstehen, daß ich von der Landschaft in Nordhessen nicht genau so schwärmen kann, wie er – aber das weite Land, die dunklen Wälder, die einsamen Höfe erinnern mich an die Heimat. Hier, in Besse, bin ich „zu Hause“ – aber Ostpreußen ist und bleibt meine eigentliche Heimat. Das steht auch so ähnlich in einem Buch von Marion Dönhoff:„Jedes Mal, wenn ich die Alleen wiedersah, die einsamen Seen und stillen Wälder, meinte ich nach Hause zu kommen. Landschaft ist eben wichtiger und gewiß prägender als alles andere. Sie gehört im letzten und höheren Sinne ohnehin niemandem, allenfalls vielleicht dem, der imstande ist zu lieben ohne zu besitzen.“ W 35 ANHANG 36 Die geografische Situation Worienen Bordesholm Gotenhafen Besse Gotenhafen Worienen Albrechtsdorf Worienen gehörte zum Kreis PreußischEylau und zu dem altpreußischen Siedlungsgebiet „Natangen“. Es lag am Rand des relativ flachen, schwach bewaldeten Höhenzugs „Stablack“, wo in den dreißiger Jahren ein großer Truppenübungsplatz errichtet wurde (weshalb Heinrich Scheffler 1933 ins Samland umziehen mußte). Im Jahr 1933 hatte Worienen 702 Einwohner. Kreisstadt war Preußisch-Eylau; darüber berichtet das Lexikon: „Preußisch Eylau (russisch Bagrationowsk), Kreisstadt im Regierungsbezirk Königsberg, am Pasmar, im Stablackgebiet gelegen. Arnolph von Eylenstein erbaute unter Hochmeister Werner von Orseln um 1325 von Balga aus die Burg Yladia in einem Sumpfgebiet. Der Wortstamm Il hat im Slawischen die Bedeutung Schlamm. Die Burg erhielt einen Pfleger. 1455 mitsamt der umliegenden Lischke in Brand gesteckt. Hochmeister Albrecht verschrieb Schloß und Amt 1521 an Fabian von Lehndorff und 1547 an dessen Sohn Kaspar, 1551 bis 1575 Amtshauptmann von Eylau. Vom 16. bis 18. Jahrhundert war das Schloß Sitz von Amtshauptleuten, im 18. Jahrhundert von Generalpächtern. Domänenwerk und Schloß 1811 als Rittergut verkauft. Im Schutz der Burg lag die Lischke, der Ortolf von Trier, Komtur zu Balga, 1348 eine Handfeste gab, die den Handel mit Tuchen einschloß. 1335 bis 1350 Wehrkirche gebaut. 1514 erhielt die Lischke das Recht, einen Jahrmarkt abzuhalten. 1520 verwüsteten Polen den Flecken, der 1575 erstmals „Städtlein“ genannt, 1585 ein „gewöhnliches Stadtrecht“ erhielt, 1669 eine Willlkür. Das Stadtprivileg von 1585 verlieh dem Ort Herzog Georg Friedrich. Am 7. Und 8. Febraur 1807 schlug Scharnhorst die Franzosen; hielt sie damit erstmals in ihrem Siegeszug auf. Auf beiden Seiten gab es große Verluste. Die Schlacht bei Preußisch Eylau ging als das „erste Unentschieden“ in die Geschichte ein. Von der Napoleonfichte hat man einen schönen Überblick über Stadt und Umgebung. 1819 Kreisstadt, die von Tuchwebereien und Spinnereien lebte. 1835 erschien ein Kreisblatt. 1939 hatte Preußisch Eylau 7485 Einwohner.“ GEORG HERMANOWSKI: OSTPREUSSEN; WEGWEISER DURCH EIN UNVERGESSENES LAND. 1996. Der Hof 37 Worienen: Dorf und „Abbau“ Pr. Eylau Der Hof Waldwiese Nachbarn Wirtschaftsfläche Die Chaussee von Landsberg im Süden nach Preußisch Eylau im Norden war etwa 24 Kilometer lang. An ihr lagen (von Landsberg kommend) die Orte Woymanns, Zipperken, Gallehnen und Topprienen. Der Hof gehörte zu dem etwas abseits der Straße gelegenen Ort Worienen. Die örtliche Situation kann am besten anhand des Meßtischblattes für Preußisch Eylau aus dem Jahr 1937 (siehe links) dargestellt werden. Schulweg Landsberg Schule Post Die Häuser des Woriener „Abbaus“ (so bezeichnete man in Ostpreußen die Streusiedlungen außerhalb der geschlossenen Ortskerne) waren alle in gleicher Bauweise errichtet worden. Während der Schefflersche Hof beim Wiedersehen 1987 nicht mehr ganz den Originalzustand zeigte (die Scheune mit den Stallungen war bei Kriegsende abgebrannt und inzwischen durch einen moderneren Neubau ersetzt worden), bot der ehemalige Hof der Familie Jeske auf der anderen Straßenseite noch immer das ursprüngliche Bild einer kompletten Hofanlage, wie sie 1930 entstanden war. Die „Chaussee“ Fam. Kirstein Fam. Grunewald Fam. Jeske Fa. Meyer Fam. Scheffler Fam. Kroll Fam. Goldau 38 Der Abbau in Worienen bestand aus neun Höfen, die auf dem ehemaligen Gelände des Gutshofes nach dessen Auflösung errichtet worden waren. Die kleinen Höfe zu beiden Seiten der Chaussee waren jeweils mit etwa 34 Morgen Land ausgestattet. Mit den sechs nächstgelegenen Höfen hatte die Familie Scheffler (nach der Erinnerung von Elvira Scheffler) gelegentlich Kontakt. Heute endet die Chaussee als polnische Landstraße Nr. 511 wenige Kilometer nördlich von Woryny/Worienen vor der nicht passierbaren Grenze zum Oblast Kaliningrad (russisches Staatsgebiet). Der nächste größere Ort: Landsberg Schule Apotheke Rathaus Worienen Paustern Schule Worienen Rathaus „Landsberg (polnisch Górowo), Kreis Preußisch Eylau, mitten im Stablack. 1335 gründete der Komtur von Balga, Heinrich de Muro (von Muren), das „Gemeinwesen Landstraß oder Landsberg genannt“. 1414 legten die Polen die Stadt in Asche. Die 1335 erbaute Kirche und das 1367 erbaute Hospital zu Heiligen Geist wurden dabei schwer beschädigt. 1417 wird erstmals die Mühle erwähnt. 1440 trat Landsberg dem Preußischen Bund bei; 1456 wurde es zerstört. 1482 verlieh es der Orden dem Söldnerführer Nikolaus von Taubenheim. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sank der Ort zum „Flecken“ herab. 1535 kam er in die Lehnsherrschaft der Familie Truchseß von Waldburg, in der er 275 Jahre blieb. 1569 erwarb der Lehnsherr Hans Jakob Truchseß von Waldburg auch das Kirchenpatronat. Er gründete 1586 eine Schule. Bei dem großen Brand von 1655 blieben nur die Vorstadt und die Scheunen übrig. Die Kirche baute man von 1660 bis 1665 wieder auf. Verheerend wirkte sich die Pest aus: Sie forderte 767 Opfer. Ein Denkstein an einem der Strebepfeiler der Kirche verrät, daß nur wenige, darunter ein Andreas Tolksdorf, die Seuche überlebt haben. 1720 wurde das Heilig-Geist-Hospital neu aufgebaut. Russen plünderten 1807 die Stadt; am 17. und 18. Februar 1807 weilte Napoleon in ihr. 1812 zog die Große Armee durch. 1818 dem Kreis Zinten, 1819 dem Kreis Preußisch Eylau zugeteilt. Die Bewohner lebten im 19. und beginnenden 20. Jh. vorwiegend von der Verarbeitung selbst gewonnener Wolle. Eine Schützengilde bestand seit 1644, eine Garnison seit 1718. 1586 wurde die erste Schule gegründet. Das erste Wochenblatt erschien 1852. 1939 hatte die Stadt 3.120 Einwohner.“ GEORG HERMANOWSKI: OSTPREUSSEN; WEGWEISER DURCH EIN UNVERGESSENES LAND. 1996. Wangnick Hoofe Heilsberg Die „Stadtschule“ aus dem Jahr 1926/27, in die Elvira Scheffler ein Jahr lang gegangen ist, diente nach dem Einmarsch der Roten Armee vorübergehend als Lazarett. Heute wird sie wieder als Schule genutzt. 39 Die Urgroßeltern väterlicherseits Mathilde Scheffler, geb. Klang Lebensdaten unbekannt Über Mathilde Scheffler ist bislang nichts Näheres zu ermitteln gewesen. Auch wie und durch wen das Bild sich erhalten hat, weiß heute niemand mehr zu sagen. Gustav Scheffler Lebensdaten unbekannt Offenbar ist Gustav Scheffler irgendwann in die Ukraine gezogen (oder ist er dort geboren?), denn Elvira Scheffler glaubt sich zu erinnern, daß ihr Großvater Heinrich Erdmann ursprünglich von dort kam. Daß der Urgroßvater „aus dem Salzburger Land“ stammt, wie Elvira Ludwig es gehört hat, ist nicht sehr wahrscheinlich – der letzte Transport der Salzburger Emigranten kam 1733 an, lange vor der Geburt von Gustav Scheffler. Es ist eher anzunehmen, daß irgendein frührerer „Scheffler“ (den Namen gibt es im Salzburger Land) während jener berühmten Auswanderungswelle im 18. Jahrhundert nach Ostpreußen kam. 40 Die Familie des Vaters 1.Hochzeit von Artur Scheffler,1930. Das Brautpaar ist ohne die übliche Hochzeitsgesellschaft zu sehen, umringt von zahlreichen Kindern. Ella Prang, die Braut, ist in Hausschuhen erschienen – warum, bleibt rätselhaft. Besonders lustig scheint es nicht hergegangen zu sein. Das Bild ist vermutlich in Albrechtsdorf, dem Geburtsort der Braut, entstanden. Hinten rechts ist Erich Zipprick zu erkennen, ein Cousin von Ella Prang, der nach dem Krieg noch mehrmals in Hessen zu Besuch war (er blieb ehe- und kinderlos und starb in einem kleinen Dorf bei Heilbronn). Hochzeit von Olga Scheffler, 1943. Die zweitälteste Schwester von Artur Scheffler bei ihrer ersten Hochzeit im vierten Kriegsjahr. Ihr Mann Robert Priebe starb zwei Jahre später kurz vor der Flucht. Sie heiratete noch zweimal (Nisius, Möllmann), überlebte alle Männer und starb im Februar 1999 mit 95 Jahren. Artur Scheffler bekam für die Hochzeit offenbar Fronturlaub; er ist in Wehrmachtsuniform neben seiner Frau zu sehen (der es zu dieser Zeit bereits sehr schlecht ging). In vorderer Reihe sitzen, neben dem Brautpaar, der Vater (Heinrich Scheffler) und die Stiefmutter. Die Aufnahme wurde vermutlich in Ringels gemacht, einem kleinen Dorf, 20 Kilometer nördlich von Königsberg. Ausschnitt unten rechts: Helene Scheffler war die zweite Frau von Heinrich Scheffler. Sie war den fünf Kindern aus der ersten Ehe ihres Mannes keine gute Stiefmutter. Am Ende des Krieges wurde sie nach Rußland verschleppt, wo sie 1947 starb. Heinrich August Erdmann Scheffler wurde 1870 geboren. Aufgewachsen in der Ukraine („Rußlanddeutsche“), zog er später nach Krone an der Brahe in Westpreußen. Nach der „polnischen Option“ Übersiedelung nach Schleswig-Holstein, zwei Jahre später nach Saagen in Ostpreußen (Kreis Pr.Eylau);1933 zwanghafte Umsiedelung nach Ringels im Samland wegen der Errichtung des Truppenübungsplatzes „Stablack“; auf der Flucht 1945 gestorben. „Ein grundgütiger Mann, der sich gegen seine zweite Frau nicht durchsetzen konnte“ (Elvira Ludwig). Seine erste Frau war Anna Scheffler, geb. Rohmund (*1875). Sie starb am 1. 11. 1914 bei der Geburt des sechsten Kindes (ein Bild von ihr existiert nicht). 41 Die Familie der Mutter Lisa Prang Lebensdaten unbekannt Zog nach der Heirat in die Stadt Bartenstein. Zwei Söhne: Helmut und Georg (nach dem Krieg jung verstorben), eine Tochter: Traute. Lebte nach dem Krieg in der damaligen DDR. Martha Prang Lebensdaten unbekannt, † 1945 Erbte als älteste Tochter den Hof. Heiratete Gustav Babbel, der nach dem Krieg in Bruchsal lebte. Mit ihren Söhnen Herbert und Gerhard auf der Flucht gestorben. Die älteren Kinder Erwin und Elsbeth zogen später nach Kanada. Der jüngste Sohn, Siegfried, lebt in Engelskirchen. Ella Prang 20. 2. 1905 – Sommer 1945 Jüngste Tochter, wurde als „Nesthäkchen“ von den Eltern verwöhnt und zeigte früh Neigung zu depressiven Stimmungen. 1930 Heirat mit Artur Scheffler; zog im gleichen Jahr auf den neu errichteten Hof in Worienen, etwa 10 km nordwestlich von Albrechtsdorf. Vier Kinder, von denen nur zwei (Elvira und Günter) überlebten. Auf der Flucht in Gotenhafen mit 40 Jahren gestorben. „Großvater“ Prang Vorname u. Lebensdaten unbekannt Über den Großvater von Elvira Ludwig (mütterlicherseits) ist nichts Näheres mehr in Erfahrung zu bringen. Berta Prang, geb. Zipprick Lebensdaten unbekannt Auch über die Großmutter konnte nichts mehr ermittelt werden. Die Aufnahme mit der Aufschrift „Juli 1918“ zeigt die drei Schwestern: links Lisa, in der Mitte Martha und rechts Ella, die auf dieser Aufnahme 13 Jahre alt ist. 42 Nach dem Krieg 1 Erwin Babbel war der älteste Sohn von Martha Babbel, geb. Prang (also ein Cousin von Elvira Scheffler). Er wanderte nach dem Krieg nach Kanada aus, wo auch das Bild mit seiner Frau Lisel und den Kindern entstand. Sein jüngerer Bruder Siegfried lebt in Engelskirchen im Bergischen Land. 1 2 „Tante Lisa“, die ältere Schwester von Ella Prang, lebte nach dem Krieg in der damaligen DDR. Ihr erster Mann (Glaubitz) starb auf der Flucht; später heiratete sie noch einmal (Tietz). Nach dem Tod der beiden Söhne (Georg und Hellmut) lebte sie bei ihrer Tochter Traute. Auf der Bildrückseite des Fotos steht: „Da habe ich Georg seinen Ältesten auf dem Arm“. 2 3 3 Siegfried Meyer, ein Spielkamerad aus Kindertagen, blieb nach 1945 zunächst in Ostpreußen und heiratete eine Polin (?). Er schickte in den fünfziger Jahren dieses Foto mit der Aufschrift „Ein Bildchen von Siegfried an Ebels Garten in Wojmans“. Der Vater, Robert Meyer, siedelte in den 60er Jahren nach Datteln in Westfalen um, wo inzwischen auch Siegfried Meyer lebt. 4 Artur Scheffler arbeitete nach dem Krieg als „Gespannführer“ auf verschiedenen Höfen in Besse (Nordhessen); das Bild entstand während der „Elfhundertjahrfeier“ des Dorfes 1950. Im Jahr 1948 heiratete er ein zweites Mal; drei Töchter entstammen dieser Ehe (Christa, Sigrid und Claudia). 1960 zog er mit der Familie nach Kassel, wo er am 15. Juli 2000 im Alter von 94 Jahren starb. 4 43 Eine Bitte zum Schluß ie Geschichte der Familie meiner Mutter liegt immer noch weitgehend im Dunkeln. Außer den vorliegenden Aufzeichnungen gibt es, soweit ich weiß, keine Erinnerungen, keine genealogischen Notizen oder Hinweise. Mit einem eigenartigen Pragmatismus, der sich ganz den Tagesaufgaben verschrieb (und vielleicht typisch ostpreußisch war), hat sich offenbar niemand aus den Familien Scheffler, Prang, Zipprick oder Babbel damit aufgehalten, zurückzuschauen und das Vergangene festzuhalten. Bei den gelegentlichen Familientreffen, die es bis in die achtziger Jahre hinein noch gab, wurde selten über Ostpreußen gesprochen; Tagebücher oder Stammbäume zu hinterlassen, wäre wohl niemandem eingefallen. Inzwischen haben sich die Familien fast ganz aus den Augen verloren, der Faden der gemeinsamen Herkunft aus einer kleinen Region im Osten des alten Deutschen Reiches ist mehr oder weniger abgeschnitten. Die besonderen Umstände der Flucht und des Untergangs Ostpreußens haben es mit sich gebracht, daß man auch nicht einfach genealogische Nachforschungen im üblichen Sinn betreiben kann. Familiendokumente und Archive gingen verloren, die Geburtsorte der Vorfahren liegen heute in fremden Ländern. Meine Mutter war elf Jahre alt, als ihre Heimat unterging und die Familie auseinandergerissen wurde; sie konnte keine Dokumente retten, weder Familienpapiere oder Urkunden, noch Briefe, Fotografien oder Ähnliches. Viele Einzelheiten und Lebensläufe werden also für immer im Dunkeln verborgen bleiben. Wo die Vorfahren von Artur Scheffler und Ella Prang ursprünglich herkamen, wird sich ebensowenig mehr ermitteln lassen, wie die heutigen Aufenthaltsorte der meisten Nachfahren ihrer damaligen Familien. Und doch wäre es schön, wenn diese Aufzeichnungen dazu beitragen könnten, im einen oder anderen Fall ein klein wenig Licht in das Dunkel zu bringen. Wer immer also diese Blätter in Händen hält und weitere Angaben zu den Bildern oder zu den erwähnten Personen, Orten usw. machen kann, möge sich doch bitte an mich wenden – gern würde ich später einmal eine etwas vollständigere Fassung dieser Aufzeichnungen anlegen. Ich freue mich über Mitteilungen aller Art und bedanke mich für jeden Hinweis schon jetzt ganz herzlich! D Günter Ludwig Beim Hochgericht 1 78050 VS-Villingen Privat (abends): Tel. / Fax 0 77 21/ 50 89 25 [email protected] Geschäftlich (tagsüber): Tel. 0 77 21/ 91 71-14 g.ludwig@ was-werbeagentur.com 44 Die Dinge hören nicht auf zu existieren, nur weil wir sie hinter uns gelassen haben. PAUL CLAUDEL