Liebe Seminaristinnen und Seminaristen, anbei das Konvolut von

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Liebe Seminaristinnen und Seminaristen, anbei das Konvolut von
Liebe Seminaristinnen und Seminaristen,
anbei das Konvolut von Protokollen, wie gesagt: unzensiert und ohne Auswahl,
finden Sie Ihren Weg dadurch, formatieren Sie nach Herzenlust. Auch
Protokolle zur gestrigen Sitzung finden sich bereits.
Frohes Schaffen, RK
Menschenbilder. Vom vier-Säfte-Wesen zum Mechanisten
Andreas Blotko (18.4.07)
Medizinische Menschenbilder der Geschichte unterscheiden sich nicht unbedingt von
literarischen Menschenbildern. Denn beide Disziplinen, sowohl die medizinischen als auch
die literarischen, beschäftigen sich mit dem Menschen als Solches. Wenn man den Menschen
als Solches erkennt, baut man ein Bild von ihm. Ähnlich wie bei einem medizinischen
Menschenbild schafft auch ein literarisches Menschenbild ein Konzept des Lebewesens. Sie
werden einzig und allein unterschiedlich geformt. Man erfasst den Menschen somit nie in
seiner gesamten Folge, sondern immer nur ein Teil von ihm. Infolgedessen entsteht ein
„Kunstprodukt“.
Als das älteste Bild des Menschen gilt das antike Idealmodell, welches den Menschen als
vier-Säfte-Wesen sah (Humoralpathologie). Der Mensch wurde als Wesen gesehen, welches
mit vier Säften gefüllt war, die in unterschiedlichen Zusammenhängen zueinander standen.
Bei den vier Säften handelte es sich, nach der antiken Vorstellung, um Blut, weißen Schleim,
schwarze Galle und gelbe Galle. In diesem Menschenbild sind den vier Organen zudem noch
vier Organe zugeordnet (Leber, Herz, Milz und das Gehirn). Hinzu kamen vier Elemente
sodass folgende Zusammenhänge entstanden:
Blut
Herz
Luft
Weißer Schleim
Gehirn
Wasser
Schwarze Galle
Milz
Erde
Gelbe Galle
Leber
Feuer
Mit den vier Temperamenten (Sanguis, Phlegma, Melancholera, Cholera) wurde das antike
Menschenbild komplettiert. Sie stehen ebenfalls mit den vier Säften/Organen/Elementen im
Zusammenhang.
Die Gesundheitslehre der antiken Zeit berief sich somit darauf, dass alle vier Säfte im
Gleichgewicht sein müssten (Eukratsie). Das Geheimnis von Gesundheit liege demnach im
Gleichgewicht der vier Säfte und bei Krankheit scheinen die Säfte im Ungleichgewicht
(Dyskrasie) zu sein. Die dazugehörigen therapeutischen Mittel unterschieden sich ebenfalls
nach Homer und nach Hippokrates. Bei Homer vermutete man einen lebendigen Dämon, der
den Körper heimsuchte und ihn krank machte. Die Krankheit sah man zu Zeiten Homers als
Zustand, welches im Körper regelrecht sitzt. Zu Zeiten Hippokrates waren es die schlechten
Säfte, welche verantwortlich waren für Gesundheit oder Krankheit. Ein schlechter
Gesundheitszustand floss somit durch den Körper und saß nicht wie noch zu Homers Zeiten
im Körper. Die Therapie einer Krankheit erfolgte nach Homer noch durch die Hilfe der Götter
und Priester, bei Hippokrates jedoch durch die Hilfe von Ärzten und der Medizin.
In der Literatur ist dieser Zusammenhang in Aristoteles Poetik wiederzufinden. Katharsis
(Jammer und Schauder) dient als Reinigung des Körpers, und soll bei einem Theaterbesuch
hervorgerufen werden. Dadurch sollte der Säftekreislauf angeregt und die Säfte in Umlauf
gebracht werden.
Galenus (um 129-190 n.Chr.), der als der wichtigste Arzt der Antike gilt, unterstütze diese
Theorie. Er untermalte die Theorie des „vier-Säfte-Wesen“ und seine Methoden waren für das
Gleichgewicht der Säfte angelegt. Er benutze jedoch zum Sezieren Hunde, Affen und Katzen,
da er der Meinung war, dass die Anatomie mit der eines Menschen vergleichbar gewesen sein
musste. Galenus galt in vielen medizinischen Bereichen wie zum Beispiel in der Diätik /
Heilmittel als vorbildhaft und führend und veröffentlichte knapp 200 Bücher zu dieser
Thematik. Doch die Tatsache, dass die Sezierungen an Tieren durchgeführt wurden, machten
seine Ergebnisse fragwürdig. Die Meinung, den Menschen als Zusammenhang und als
Säftewesen zu sehen, blieb in der Wissenschaft jedoch bis zum 16.Jhd. bestehen.
Mit dem Anatom und Begründer der neuzeitlichen Anatomie Andreas Vesalius (1514- 1564)
beginnt ein neues Denken in der Idee des Menschenbildes. Zur Zeit der Renaissance wurde
das Menschenbild verändert, man kritisierte und hinterfragte das antike Menschenbild und
begann den Menschen als geometrische Form zu sehen und zu vermessen. Als das
berühmteste Beispiel hierbei gilt die Zeichnung von Leonardo da Vinci (Der vitruvianische
Mensch, 1492), in der der Mensch vermessen wird. Neu war ebenfalls der Bereich der
Sezierungen und mit Beginn des 15.Jhd. betrieb man Anatomie als wissenschaftliche
Methode. Vesalius schrieb ein siebenbändiges Buch namens „de Hamani Corporis Fabrica“
aus dem Jahre 1543, in dem er als erster Wissenschaftler überhaupt Sezierungen
vorgenommen hat (Wobei dies aus ethischen Gründen nur mit den toten Körpern von
Kriminellen geschah). Hieraus entwickelte sich ein neuer Teilbereich, der der öffentlichen
Sezierungen (oder auch anatomisches Theater). 1595 in Padua entstand an der dortigen
Universität eine Art Amphitheater, in dem man auch Eintritt zahlen musste. Die Prozedur der
öffentlichen Anatomie dauerte einige Tage. Da es sich um eine öffentliche Veranstaltung
handelte, mussten auch nicht- Wissenschaftler Eintritt zahlen. Um 1600 wurde Anatomie als
Pflichtfach zur Lehre am Menschen an den Universitäten eingeführt.
Man muss sich nun die Frage stellen, was diese Entwicklung für das Menschenbild gebracht
hatte? Konnte der Mensch nun als Maschine gesehen werden? Die verschiedenen Teile des
Menschen, die man durch die Anatomie und Sezierungen jetzt auch sehen konnte, standen in
einem Zusammenhang zueinander, doch wie funktionierte der Mensch wirklich, wie entstand
z.B. Bewegung? In einer Illustration von Descartes erkannte man den Menschen als Wesen,
welches aus mehreren Seilzügen bestand. Für Descartes waren physiologische
Modellvorstellungen integraler Bestandteil seiner Philosophie. Er reduzierte den lebenden
Organismus des Menschen auf dessen Mechanik und wurde damit zum Begründer der
neuzeitlichen Iatrophysik, in der Menschenmodelle und (versuchte oder gedachte)
Konstruktionen von Menschenautomaten eine wichtige Rolle spielten.1
Mit der Entdeckung des Blutkreislaufs gilt der Arzt und Anatom William Harvey (15781657) als Wegbereiter der modernen Physiologie. Seine Auffassung war, dass das Herz das
Blut durch den menschlichen Körper pumpt. Er sah den Menschen als „Brunnensystem“ durch
den neuzeitigen Gebrauch von technischen Hilfsmitteln, wie dem Mikroskop, wurde die
Forschung weiter ausgebaut. In diesem Zusammenhang entstand nun eine Mensch-MaschineKonzeption, in dem man immer tiefer in den Menschen eindrang und ihn mehr und mehr als
Produkt definierte.
Ab 1750 entstand, mitunter durch den Schweizer Mediziner und praktischen Arzt Albrecht
von Haller (1708-1777), ein moderneres Menschenbild, welches den Körper nun als
Nervensystem mit Zellstrukturen erkannte und nicht mehr als Anhäufung von Seilen oder
Ähnlichem. Der Mensch als Nervenwesen war auch immer eine interessante Wissenschaft.
Denn man fragte sich, wie dieses Nervensystem funktionierte und ob es reizbar war?
Nervenstränge galten als reizbar (Sensibilität) aber auch als verformbar (Irritabilität) und in
1
Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Descartes#Der_Mensch_als_Maschine
der Neurophysiologie gilt dieses sogar noch bis heute. Als Folge entwickelte sich eine
utopische Vorstellung, nämlich einen Menschen, welches man nun als Maschinenwesen sah,
künstlich erschaffen zu können (Beispiel Mary Shelleys Frankenstein, 1818).
Im späten 18.Jhd. entstand nun einen neue Form des Menschenbildes. Man ging davon aus,
dass die Seele den Menschen bestimme und forme. Die Animisten bildeten somit den
Gegensatz zu den Medizinern/Mechanisten. Denn Animisten glaubten, dass die Seele der
Körper war, wobei die Mechanisten den Menschen als Maschine sahen, und den Körper als
Basis für die Seele und das Denken interpretierten.
Ergebnisprotokoll zur Sitzung vom 18.4.2007
Rafael Rau
In der Sitzung vom 18. April 2007 ging es um die Menschenbilder (von) der Antike bis zur
Neuzeit aus medizinischer Sicht.
Im antiken Griechenland war Homer der Erste, der die Anatomie des Menschen zu verstehen
versuchte. In seinem Verständnis war ein Dämon, der an irgendeiner Stelle des Körpers saß,
Grund für die Krankheit des Menschen und dieser konnte nur mit Hilfe der Götter geheilt
werden.
Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. entstanden unter dem Einfluss des Hippokrates die Anfänge
der Humoralpathologie (Viersäftelehre). Dabei wurde der Körper beobachtet und mit
Einflussnahme auf seine Zusammensetzung versucht, seine Selbstheilung zu unterstützen.
Nach damaligem Verständnis durchflossen den Körper vier Säfte (Blut, Schleim,
Schwarzgalle, Gelbgalle), denen vier Organe (Herz, Gehirn, Milz, Leber), vier Temperamente
(Sanguiniker, Phlegmatiker, Melancholiker, Choleriker) und vier Elemente (Luft, Wasser,
Erde, Feuer) zugeordnet waren. Die Medizin musste diese Säfte im Gleichgewicht (Eukrasie)
halten, da das Ungleichgewicht (Diskrasie) den Menschen krank machte. Geheilt werden
konnte der Mensch von den im Körper fließenden schlechten Säften durch zwei Varianten:
Zum einen durch die Heilkraft der Natur, zum anderen durch die Behandlung von Ärzten mit
natürlichen Heilmitteln. In der Literatur findet sich diese Auffassung bei Aristoteles wieder,
der bei seiner Katharsis von einer Reinigung der Leidenshaften durch eleos und phobos
(Jammer/Schauder) spricht.
In der Spätantike revolutionierte Galenus, Leibarzt von Marc Aurel, die medizinische Sicht.
Er vertiefte die Humroalpathologie durch Beginn von Sektionen an Schweinen, Hunden und
Affen. Anhand deren anatomischen Aufbaus schloss er auf eine ähnliche Anatomie beim
Menschen. Seine Überlegungen reichen noch bis in die Renaissance und selbst heutige
Diätvorschriften sowie die Pharmakotherapie berufen sich auf ihn. Galen sah den Menschen
zudem als Ganzes und ging von der These aus, dass alle Körperteile eine eigene Funktion
haben und im Ganzen funktionieren, worin Gottes Plan deutlich würde.
Im Mittelalter wurde das Wissen der bestehenden Lehren auf Grund des Autoritätsgefüges
eigentlich nicht großartig weiterentwickelt, sondern nur weitergegeben.
Nachdem man über Jahrhunderte hinweg lediglich die alten Autoritäten (u.a. Hippokrates und
Galen) gelesen hatte, gewannen ab dem 15. und 16. Jahrhundert eigene Erkenntnisse und
Untersuchungen an Gewicht. Eigene Beobachtungen und Experimente stellten die Autoritäten
in Frage und führten zu neuen Entdeckungen besonders in der Anatomie und Physiologie.
Vesalius lernte die galenische Medizin und gebrauchte als erstes Sektionen zum Gewinn
neuer Erkenntnisse über die menschliche Anatomie, welche zuvor nur zur Illustration von
Galen-Texten gebraucht worden waren.
1595 gab es das erste anatomische Theater in Padua, das nach dem Bild der römischen
Amphitheater aufgebaut war. Dort konnten Studenten und Ärzte, gegen Geld auch
öffentliches Publikum, Sektionen beiwohnen. Anatomie wurde in der Folge (1600) zum
Pflichtfach und brachte Wissen über den Aufbau des Menschen mit sich, das wichtig für das
weitere Menschenbildverständnis war
.
Die aufkommende Frage nach dem Zusammenspiel im Menschen führt bei den Gelehrten zu
verschiednen Thesen, bei Descartes sitzt das Zentrum, welches alles koordiniert und alle
Vorgänge lenkt, beispielsweise in der von ihm entdeckten Zirbeldrüse. Der Mensch könnte
demnach als Maschine aufgefasst werden, als Wesen, das im Inneren aus Seilzügen besteht,
über die die Reizleitung läuft.
Im 17. Jahrhundert entdeckte William Harvey durch Experimente am lebenden Organismus
den Blutkreislauf und die Pumptätigkeit des Herzens. Die bisherige Annahme von mehreren
Kreisläufen wurde damit widerlegt.
Die Mensch-Maschine-Konzeption ging vorerst weiter und es wurden immer größere
Versuche unternommen, den Menschen bis in kleinste Detail zu erforschen. Eine wichtige
Erfindung für diese Forschung war das Mikroskop. Auch in die Literatur fand dieser
Fortschritt der Medizin Eintritt. Als Beispiel dafür kann Barthold Hinrich Brokes genannt
werden, der 1714 nach einer Mikroskopuntersuchung ein Gedicht über das Auge verfasste.
Im 18. und auch im beginnende 19. Jahrhundert waren verschiedenste medizinische
Deutungssysteme denkbar. Durch neue Erkenntnisse, wie z.B. die Entdeckung, dass
Nervenbahnen keine Seilzüge/Röhren sind, sondern eine eigene Zellstruktur aufweisen und
etwas Organisches haben, wurde die Säftelehre völlig aufgegeben. Die Reizleitung rückte in
den Fokus und der Mensch wurde als Nervenwesen angesehen.
Albrecht von Haller fand heraus, dass Nervenstränge reizbar (Sensibilität) und verformbar
(Irritabilität) sind, womit die Nervenreizleitung DAS neue Thema in der Medizin wird.
Luigi Galvani entdeckte, dass Strom in Kombination mit Reizen Bewegung erzeugte. Da er
die Entstehung allerdings nicht erklären konnte, stellte er die Hypothese auf, dass Menschen
und Tiere einen natürlichen Strom besitzen, die animalische Elektrizität, die durch äußere
Reize gesteuert ist.
Ende des 18. Jahrhunderts tritt die Vorstellung des Menschen als Maschinenwesen wieder in
den Vordergrund und die Utopie auf, dass der Bau eines Menschen möglich sein müsste, da
die Anleitungen von Anatomie, etc. vorhanden sind.
Aus dieser Vorstellung ergaben sich zwei Varianten von Medizinern: Zum einen die
Mechanisten, die den Menschen als Maschine sahen, dessen Körper die Seele und das Denken
bestimmt, und die Animisten, die davon ausgingen, dass die Seele den Körper bestimmte.
18.4.
Thomas Höffgen
Die Sitzung des germanistischen Hauptseminars „Poetologie /Pathologie“ am 18.04.
2007 begann mit der Thematisierung der antiken 4-Säfte-Lehre. Die altertümliche
Thumoralpathologie versteht den Menschen als Säftewesen, dessen jeweiliger Charakter oder
Gemütszustand sich auf ein Gleichgewicht (Eukrasie) bzw. Ungleichgewicht (Diskrasie) der
Säfteverteilung zurückführen lässt. Die vier Kardinalsäfte besagter Theorie sind Blut,
Schleim, Gelb- und Schwarzgalle, die den Elementen Luft, Wasser, Feuer und Erde
zugeordnet sind. Die Organe Herz, Gehirn, Leber und Milz produzieren jeweils die Säfte.
Eine Überproduktion der Schwarzgalle etwa resultiert in Melancholie, der Choleriker dagegen
leidet an gesteigerter Gelbgalle; während der Sanguiner an einer Diskrasie des Blutes leidet,
produziert der Phlegmatiker zu viel Wasser.
1.
2.
3.
4.
Herz – Sanguis/Blut – Luft
Gehirn – Phlegma/Schleim – Wasser
Milz – Melancholera/Schwarzgalle – Erde
Leber – Cholera/Gelbgalle – Feuer
Während Homer als Ursache einer Krankheit noch dämonische Besessenheit unterstellte,
führte der bis heute bedeutende Mediziner Hippokrates (vlg. „Hippokratischer Schwur“) die
Symptome auf ein Säfteungleichgewicht zurück. Dementsprechend sprach Homer nur der
Kraft der Götter heilende Funktion zu, Hippokrates hingegen berief sich auf die Heilkraft der
Natur; auch lokalisierte ersterer, im Gegensatz zu Hippokrates Theorie des Fließenden, die
Krankheit an einem Ort im Körper.
Im Folgenden sollen medizinische Menschenbilder seit der Antike dargestellt werden, wobei
der Fokus auf mechanistischen Anschauungen, also der Ansicht, dass der Körper die Seele
bzw. das Denken bestimmt, liegt. Das Gegenstück zum Mechanismus ist der Animismus, der
von einem wesentlichen Einfluss der Seele auf den Körper ausgeht.
Aristoteles thematisiert in seiner „Poetik“ die reinigende Wirkung der
s, wobei
er von einer Reinigung der Leidenschaften (nicht von den Leidenschaften) durch das
Durchleben von
s (Jammer) und
s (Schauder) ausgeht. Die Leidenschaften
sollen keineswegs negiert werden, sie sind unabdingbar für ein harmonisches Gleichgewicht,
für das die Seelensauna sorgen soll. Vielmehr werden die Leidenschaften gemildert oder
bestenfalls umgewandelt (vgl. Lessing: Umwandlung der Leidenschaften in „tugendhafte
Fertigkeiten“).
Der folgereichste Arzt der Antike war Galenus (129-190 n.Chr.); sein Einfluss reichte bis in
die Renaissance. Er vertiefte die Thumoralpathologie und initiierte besondere Heilmethoden
zur Herstellung des Gleichgewichts.
Nicht zuletzt aufgrund einer religiösen Scheu, waren Sektionen verboten. Galenus behalf sich
mit anatomischen Untersuchungen von Tierkörpern und schloss von diesen Erkenntnissen auf
den organischen Aufbau des Menschen; dementsprechend wenig ernst zu nehmen sind seine
Forschungen diesbezüglich. Ernst zu nehmen aber ist seine therapeutische Lehre mit
planzenmedizinischen Heilmitteln um die Säfte in Eukrasie zu bringen: Die heutige
Pharmakologie beruht auf Galenus.
Weiterhin war Galenus Vertreter der Korrespondenztheorie, dass alle Körperteile ihre
Funktion im Gesamtplan erfüllen und dieser auf den Gesamtplan Gottes schließen lässt.
Der nächste bedeutende Mediziner war Andreas Vesalius (1514-1564). Er nutze die
Aufhebung des Sektionsverbotes der Renaissance und veröffentliche seine Erkenntnisse in
dem Werk „De Humani Corpus Fabrica“ 1543. Er sezierte auch vor (universitäts-)
öffentlichem Publikum.
Nicht zuletzt Andreas Vesalius Öffentlichkeitsarbeit initiierte das erste anatomische Theater
um 1600, dem nicht nur Studenten, sondern die breite Öffentlichkeit beiwohnte; inklusive der
Entrichtung eines Eintrittsgeldes. Anatomie wurde nun zum Pflichtfach westlicher
Universitäten.
Mit Descartes fand die zeitgenössische Mensch-Maschine-Konzeption ihren vorläufigen
Höhepunkt; darüber hinaus verstand er die Zirbeldrüse - als einzig nicht zweifach im Gehirn
vorkommend – als Sitz der Seele, bzw. als den Ort im Menschen, an dem sich Körper und
Geist verbinden. Er differenzierte den Menschen in res cogitans (denkendes Ding) und res
extensa (ausgedehntes Ding).
Der Schotte William Harvey entdeckte den einen großen Blutkreislauf im Menschen. Sowohl
die Antike als auch die Renaissance gingen von mehreren kleinen Blutkreisläufen aus.
Um 1750 entdeckte Albrecht von Haller den Menschen als „Nervenswesen“: Moderne
Sektion und Mikroskopie erkannte die Nervenbahnen nicht als eine Ansammlung von Seilen
(Descartes), sondern als Nerven mit eigener Zellstruktur. Die altertümliche 4-Säfte-Lehre war
nun vollends als antiquiert entlarvt.
Damit einhergehende Erkenntnisse waren u.a. die Reizbarkeit der Nervenstränge (Sensibilität)
und die Verformbarkeit der Stränge (Irritabilität). Die Nervenreizleitung ist bis heute Thema
der Medizin.
Die Geschichte des Italieners Galvani könnte auch einem (schlechten) Film entspringen: Zu
anatomischen Zwecken spannte Galvani Frösche auf; als es blitze, fingen die Frösche an zu
zucken. Zunächst nahm er animalische Elektrizität als Lebensenergie in menschlichen und
tierischen Muskeln an. Offenbar geschieht die Reizleitung durch Stromweitergabe.
Nicht zuletzt Galvanis Erkenntnisse stütze die zeitgenössische Wissenschaft um 1780 in eine
tiefe Erkenntniskrise; repräsentativ hierfür steht Kants transzendentalphilosophischer Ansatz:
Das Ding an sich ist unerkennbar, dem Menschen bleibt bloß die Erscheinung.
Protokoll 18.4.
Elisabeth Schaddelee (Erasmusprogramm)
Thema
„Medizinische Menschenbilder ab der Antike“
Einleitung
Für den Leistungsnachweis, soll neben einer Klausur auch eine kurze schriftliche Arbeit
verfasst werden.
Hauptteil
Literatur und Medizin haben eine eigentümliche Affinität. Sie haben beide mit dem Menschen
zu tun. Es gibt/gab verschiedene Konzepte des Menschen, oft durch eine bestimmte Brille
gesehen. „Wir kreieren den Menschen“, nimm z.B. Scans. Die stellen ein künstliches Bild dar,
ein Körper sieht nicht wirklich so aus. Es sind die Bilder die wir uns machen, und das gilt
auch für frühere Zeiten. Es gibt Paradigmenwechsel: Das eine Menschenbild wird durch ein
anderes Menschenbild ersetzt.
Antike
In der Antike wurde der Mensch als Säftewesen gesehen: Humoralpathologie (humores –
Säfte).
Der Mensch besteht aus:
Vier Kardinalsäfte: Blut (Herz), Schleim (Gehirn), Gelbgalle (Leber) und Schwarzgalle
(Milz);
Vier Temperamente: Sanguis, Phlegma, Cholera und Melancholera;
Vier Elemente: Luft, Wasser, Feuer, Erde.
Der Zusammenhang sieht so aus:
Kardinalsäfte
Blut (Herz)
Schleim (Gehirn)
Gelbgalle (Leber)
Schwarzgalle (Milz)
Temperamente
Sanguis
Phlegma
Cholera
Melancholera
Elemente
Luft
Wasser
Feuer
Erde
Diese Daten wurden an Gemütsverfassungen verknüpft. So hatte der Sanguistiker zu viel
Blut, er war warm und temperamentvoll. Der Phlegmatiker hatte zu viel Schleim, er dacht zu
viel und war passiv. Der Choleriker hatte zu viel Gelbgalle und hatte sein Temperament nicht
in der Hand. Der Melancholiker sitzt einfach da, in sich gekehrt, brütet in sich, denn er hat zu
viel Schwarzgalle.
Es soll Eukrasie (Gleichgewicht) geben, also Harmonie. Im Gegensatz dazu steht Dyskrasie
(Ungleichgewicht).
Zwei Behandlungsmethoden:
Homer („altes Denken“)
Hippokrates („neues
Denken“)
Krankheit hervorgerufen
einen lebendigen Dämon
schlechte Säfte
durch…
Die Krankheit…
sitzt in einem Teil des
fließt durch den Körper
Körpers
Genesung durch…
Hilfe der Götter Æ Priester
Heilkraft der Natur Æ Ärzte
Aristoteles sah es als Aufgabe der Poetik eine Katharsis beim Publikum hervorzubringen.
Katharsis heißt Reinigung. Hierzu benutzte er eleos/phobos (also, Jammer/Schauder). Die
Säfte sollen im Umlauf kommen, das Publikum körperlich angesprochen werden. Wie wirkt
das eigentlich? Es wurde eine Reinigung der Leidenschaften angestrebt, sie sollten nicht ganz
ausgelöscht werden. Ein Überschuss an dessen wird abgesagt und die Säfte wieder in
Harmonie (auch geistlich) gebracht. Die Katharsis war ein wichtiges Wirkungsprinzip.
Galen(us) war Arzt der späteren Antike und lebte von ungefähr 129-190 n.Chr.. Er War
Leibarzt des Kaisers Marc Aurel. Seine Lehre behielt bis in der Renaissance dogmatischen
Wert. Er war Vertreter der Humorlehre. Er obduzierte Tiere, Menschen darf er nicht
obduzieren. Er setzte die Ergebnisse aber gleich: „Wenn es bei einem Tier so ist, wird das bei
einem Menschen auch so sein.“
Er sah Diätetik („wie ernähre ich mich“) als Heilmittel und war in diesem Gebiet führend; er
verfasste über 200 Bücher mit Rezepten. Diese reichen bis heute.
Laut Galenus war die Leber das zentrale Organ, es bildet Blut und das Blut bildet Fleisch. In
der Pharmakotherapie war Galenus stark.
Jedes Teil im Körper funktioniert mit den anderen: Gottes Plan wird daraus deutlich.
Menschen im Zusammenhang beurteilen, der Mensch als Ganzes.
16. Jahrhundert
Andreas Vesalius (1514-1564). Im Mittelalter wurden Autoritäten nicht angezweifelt. In der
Renaissance wurde das aber hinterfragt. Wir kennen aus dieser Zeit das bekannte Bild
DaVincis: der Mensch im Mittelpunkt. Es fanden mehr Obduktionen statt (Bild:
Aderlassmann), das Tabu wurde durchbrochen, aber nicht ohne Widerspruch von den
Kirchen. Man guckte sich die Anatomie genauer an.
Vesalius ~ „De Humani Corporis Fabrica“ 1543
Wissenschaftliche Sektionen an den Universitäten fanden jetzt statt und ab ungefähr 1600 gab
es die ersten anatomischen Theater (Padua 1595). Es war Amphitheater-artig, man musste
Eintritt bezahlen. Es war relativ teuer, und wurde sogar teuerer pro „interessanter Körperteil“.
Es waren also nicht nur Studenten und Dozenten anwesend.
Um 1600 wurde Anatomie Pflichtfach an den europäischen Universitäten.
Menschenbild: der Mensch als Maschine, Maschinenmetapher. Teil für Teil, wie wirkt das
alles zusammen. (Bild: Descartes, Zirbeldrüse – Sitz der Seele). Die Zirbeldrüse regelt alles.
Descartes ~ „Über den Menschen“ 1632
Im Menschen: Seitzüge, Räder usw.. Descartes verglich das Funktionieren der menschlichen
Maschine mit Fontänen und Pumpwerken.
William Harvey entdeckte 1628 der große Kreislauf. Damit kam die Idee der Antike, dass es
mehrere Kreisläufe gäbe, zu Ende. Das Herz als Pump für den ganzen Körper. Der Mensch
als Brunnensystem.
Um diese Zeit wurde die Mikroskope erfunden, sowie auch Teleskope. Das bedeutete eine
Erweiterung des medizinischen Wissens. (Gedicht: B.H. Brockes ~ „Die Fünf Sinne“)
Ab ca. 1750
Albrecht von Haller wies nach, dass das Nervensystem selbst Struktur aufweist, dass es also
etwas Organisches ist, das Reize durchgibt. Der Mensch als Nervenwesen. Wie passiert
Reizleitung, fragte von Haller sich.
Nerven:
- Reizbarkeit (Sensibilität) der Nervenstränge
- Verformbar (Irritabilität)
Nervenreizleitung ist bis heute Steckenpferd der Neuroforschung (Elektroministröme). So
genau wusste man das damals nicht, die Theorie war aber dann schon, dass es mit Strom zu
tun hatte.
Galvani (Italiener): Froschenexperiment. Tote Froschen bewegten sich im Gewitter, wenn es
also elektrostatische Luft gab. Galvani dachte sich die Hypothese der natürlichen Strom
(animalische Elektrizität) aus, eine Art Lebensenergie. Er machte mehrere ähnliche
Beobachtungen bei Froschen.
Die Literatur der Romantik beschäftigt sich damit, z.B. Schillers Geisterszene mit Strom. Man
sieht das oft während der Romantik (Jean Paul, E.T.A. Hoffmann).
Klasse-Experiment: Die Hände werden festgehalten und Druck wird durchgegeben. Mit
ungefähr 40 Studenten dauert das etwa 25 Sekunden. Also ca. 1 Sekunde pro Weitergabe, das
ist ziemlich langsam. Der Mensch hat offensichtlich langsame Nerven, eine lange Reizleitung.
Was kann auf diesem Weg nicht alles verloren gehen/geändert werden? Diese Frage sorgte für
eine Erkenntniskrise.
Kant: „Wir nehmen die Dinge war, wie sie uns erscheinen.“ Nicht wie sie sein, nicht die
Dinge an sich. Das war ein Problem im 18. Jahrhundert, was soll man damit.
Nochmals: der Mensch als Maschine. Die Utopie war, einen Menschen zu bauen. In der
Literatur: Mary Shelleys „Frankenstein“, im späten 18. Jahrhundert. Es entstand eine Flügel
der Mediziner die man ‚Mechanisten’ nennen kann. Körper Æ Seele, Denken.
Ab dem späten 18. Jahrhundert: ‚Animisten’. Seele Æ Körper, also umgekehrt. Die
Gesundheit wird von der Seele beeinflusst, nicht andersherum.
Protokoll der Sitzung vom 16.5.2007
Kathrin Fehrholz
Inhalt der Sitzung vom 16. Mai war ein Vergleich des Büchner-Fragments „Lenz“ mit dem
Originalprotokoll des Pfarrers Oberlin, auf dem Büchners Text basiert. Dabei lassen sich bei
einem Close-reading einige interessante Beobachtungen machen, die eine
Perspektivenverschiebung vom Protokoll zur Erzählung zeigen: So wird zum Beispiel ein
Gedanke Oberlins aus seinen eigenen Aufzeichnungen, dass er einige Dramen von Lenz
gelesen habe, bei Büchner zu wörtlicher Rede, da diesem wohl zwar der Gedanke an sich
erwähnenswert scheint, er aber ansonsten nicht die Absicht hegt, sich mit Oberlins Innenwelt
zu befassen. Stattdessen konzentriert er sich auf Lenz und betont dessen körperlichen
Ausdruck seines psychischen Zustands. Zudem markiert er im Unterschied zu Oberlin nur
dessen Redebeiträge durch Anführungszeichen. Diejenigen von Lenz bleiben unmarkiert und
signalisieren so eine größere Nähe des Erzählers zur Lenz Figur; Oberlin dagegen bleibt ein
„Außenstehender“. Bis auf diese Ausnahmen und den notwendigen Angleich der
Personalpronomen findet sich jedoch in der Erzählung an dieser Stelle eine fast wörtliche
Übernahme des Oberlin-Protokolls. Dies erhöht die Authentizität der Geschichte und folgt der
Maxime des dokumentarischen Schreibens von Karl Philipp Moritz, nach der Literatur sich an
echten Fällen orientieren soll. Ein solcher Dokumentarismus ist bei schreibenden Ärzten sehr
verbreitet.
Eine weitere Auffälligkeit findet sich auf den Seiten 26 und 27. Hier ist die wörtliche Rede
der beiden Hauptfiguren gar nicht markiert. Gleichzeitig spricht Lenz immer wieder von
Hieroglyphen, die in ihrer Funktion als geheime Schriftzeichen ebenso sehr Verwirrung
stiften können, wie es an dieser Stelle die unstrukturierte wörtliche Rede tut. Lenz liest diese
Hieroglyphen angeblich am Himmel, womit er sich in der Tradition der Romantiker bewegt,
die ebenfalls glaubten, aus Naturerscheinungen, Pflanzen und ähnlichem geheime Zeichen
lesen zu können.
Im Protokoll dokumentiert Oberlin die „gegenseitige Qual“, die sich Lenz und er bereiten,
womit er wohl in erster Linie seine eigene meint. Bei Büchner fällt der Aspekt, dass Oberlin
unter seinem „Patienten“ leidet, komplett weg, weil für Büchner Oberlins Gedanken und
Gefühle nicht wichtig sind. Ihm geht es allein um die Beschreibung der Lenz-Figur. Daher
orientiert er sich an dieser Stelle zwar stark am Protokoll, übernimmt jedoch für seine
Darstellung Belangloses dabei nicht.
Es gibt hingegen auch Textstellen, in denen sich ein sehr klarer eigener dichterischer Anteil
Büchners aufzeigen lässt, so z.B. Lenz´ Zusammenbruch nach seinem Besuch auf dem
Kirchhof (S 12 oben): Büchner beschreibt sehr deutlich, wie sich Lenz´ Verzweiflung
körperlich in Tränen äußert, die neben dem Blut die wichtigsten körperlichen Ausdrucksmittel
des Sturm und Drang waren.
Die Erzählperspektive wechselt durch eine Dopplung des Wortes „allein“, das zudem mit
einem Ausrufezeichen markiert wird, innerhalb eines Satzes vom Erzähler zu Lenz, was für
eine große Einfühlung des Erzählers in die Figur spricht.
Im weiteren Verlauf der Szene ist oft schwer zu entscheiden, wer einzelne Passagen spricht,
der Erzähler oder Lenz. Es gibt Tendenzen für beides: Lenz hätte nicht so klare Worte für
seine Gefühle, wie sie in dieser Szene zu finden sind, aber z.B. der Ausdruck er habe das
Gefühl, „sich auflösen“ zu müssen kann eindeutig ihm zugeschrieben werden, da dieser voll
und ganz seinem Sprachstil und seiner eigentümlichen Denkweise entspricht. Es handelt sich
hier also um einen gemischten Erzählstil, der Erzähler verdeutlicht seine Emphase in Bezug
auf die Lenz-Figur hier besonders stark indem er sich von deren Sprachstil beeinflussen lässt
und eine eindeutige Zuordnung der Passagen zu einem Sprecher beinahe unmöglich macht.
Diese doppelte Perspektivik von Erzähler und Protagonist ist noch heute ein modernes
Stilmittel des Erzählens. In Büchners Roman hat sie die spezielle Funktion, einen Bogen zum
Dokumentarismus zu schlagen, indem sie dem Leser Einblicke in Lenz´ Gedankenwelt
erlaubt. Der Rezipient entwickelt auf diese Weise eine größere Nähe zur Figur des Lenz und
wird aus seiner „kalten“ Außenposition in eine Art „Arztrolle“ versetzt, nimmt also stärker
am Geschehen teil.
Es handelt sich bei diesen Einblicken in den Kopf des Lenz jedoch nicht um innere
Monologe, denn diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie stets aus der Ich-Form und im
Präsens geschrieben sind. Sie tauchen in der Literatur erst gegen 1900 zum ersten Mal auf,
also etwa 60 Jahre nach Büchners Tod. In der besprochenen Szene liegt eine erlebte Rede vor,
die aus der Erzählerperspektive in der 3. Person Singular Präteritum über die Gefühle der
Figur berichtet. Sowohl der innere Monolog als auch die erlebte Rede sind noch heute
moderne Erzählmuster.
Guten Einblick in Lenz´ gestörte Wahrnehmung und sein Verständnis seiner Umwelt gibt
auch die „Erweckungsszene“, hinter der eine religiöse Erweckungsidee steht: Wie Jesus in der
Bibel glaubt Lenz in einem Anflug von Größenwahn ein totes Mädchen durch eine bloße
Aufforderung wiederbeleben zu können. Als dieser Versuch misslingt läuft er frustriert und
ungehalten davon und reagiert blasphemisch, indem er metaphorisch den Himmel als
„dummes blaues Aug“ bezeichnet in dem der Mond „ganz lächerlich“ aussehe. Sein
Größenwahn schlägt in Atheismus um, es scheint sich eine manisch-depressive Erkrankung
zu zeigen. Wieder sind die Redeübergänge zwischen dem Erzähler und Lenz dabei fließend.
Lenz´ Wunsch, das Mädchen zu erwecken wird zu Beginn der Szene als „fixe Idee“
beschrieben, ein Ausdruck, der zur damaligen Zeit noch nicht zur Umgangssprache gehörte
sondern zum medizinisch-psychologischen Fachvokabular. Die gesamte Szene ist in ihrer
Erzählweise stark psychologisch beobachtend aufgeladen und im Gegensatz zur
Protokollversion, die die Ereignisse nüchtern in fünf Zeilen beschreibt, bei Büchner auf zwei
Seiten Erzählung ausgeweitet.
Die Psychologie war zu Büchners Zeiten noch eine sehr junge Disziplin, und an einem Stich
von Wilhelm von Kaulbach aus dem Jahr 1834 lässt sich gut beobachten, wie man zur
damaligen Zeit den „Wahnsinn“, der auch in der Kunst ein Thema war, in Kategorien
einzuteilen versuchte. Dargestellt sind unterschiedliche Typen psychischer Erkrankungen in
vielfach überlieferter „typischer“ Körperhaltung. So sieht man zum Beispiel einen
Melancholiker, der in sitzender Pose, sein Gesicht auf seine Hand gestützt, nachdenklich ins
Leere schaut. Ein Grund für das große Interesse der Kunst am Thema Wahnsinn könnte die
weit verbreitete Theorie sein, dass Genie und Wahnsinn nah beieinander liegen und
psychische Krankheiten oft soziale Probleme wie Ausgrenzung zur Folge hatten und haben.
Zudem hatte Hegel in den 1820er Jahren die These formuliert, dass die Zeit der „schönen“
Kunst abgelaufen sei. An ihre Stelle trat eine Ästhetik des Daseins und Lebens in allen seinen
Formen und Ausprägungen. Dies deckt sich mit Lenz´ Kunstverständnis in der Erzählung: Er
erwartet nicht eine Neuschöpfung oder Verklärung der Welt, sondern die Nachahmung der
Realität. Hier zeigt sich die beginnende Ablösung einer idealistischen und klassischen Periode
durch den Realismus und später durch den Naturalismus.
23.5.: Georg Büchner „Woyzeck“
Sarah Pachtmann
An vielen Stellen bietet „Woyzeck“ von Georg Büchner auffällige Ähnlichkeit mit dem
historischen Vorbild. Sowohl die literarische Figur, als auch die historische Vorlage gehörten
zur unterprivilegierten Schicht. Frau Christiane Woost ist die reale Vorlage für Marie; beide
werden von Woyzeck ermordet. Sowohl die Wanderschaft, der Kriegsdienst, als auch das
uneheliche Kind stimmen mit dem realen Woyzeck überein.
Die Doktor Figur im „Woyzeck“ setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Die
medizinischen Hintergründe bestehen aus älteren und neu aufkommenden Medizinischen
Konzepten. Zunächst ist dabei das naturkundlich - klassifikatorische Interesse zu nennen. Man
versuchte Stammbäume von Arten und Spezies zu erstellen, was in das spekulative Interesse
der romantischen Philosophie hinein spielte, gegenwärtiges Wirken von Einzelteilen im
Gesamtsystem zu erkennen. Einer von Büchners Bekannten befasste sich mit diesem Thema.
Ein weiterer Ansatz im „Woyzeck“ stellt die chemische Analyse in der Medizin und
organischer Chemie dar, welche durchgeführt wurde, um physiologische Zusammenhänge zu
erstellen. Dafür wurden Ernährungsversuche an Tieren und Menschen durchgeführt, welche
den Zusammenhang von Störungen im Verdauungstrakt mit psychosomatischen
Auswirkungen dokumentierten. Büchner las wahrscheinlich Lektüren der medizinischen
Forschung und stieß dabei auf Liebig, Magendie und Tiedemann und Gmelin. Karl Justus
Liebig führte Experimente an Soldaten durch, welche im „Woyzeck“ aufgenommen werden.
Die Frage nach einer möglichst kostengünstigen Ernährung von weitern
Bevölkerungsschichten, waren dafür die Motivation. Eine Vorlage für die Figur des Doktors
im „Woyzeck“ lässt sich mit Dr. Johann Bernhard Wilbrand, welchen Büchner in seiner
Studienzeit in Gießen trifft, finden. Die Ähnlichkeit ist durch Zeitzeugen nachweisbar. Seine
gehetzte Wesensart ist ebenso in der Figur des Doktors wiederzufinden, wie seine Einstellung
gegenüber der spekulativen Naturphilosophie. Dass der Mensch durch die Kraft seines
Geistes über seinen Körper frei verfügt, ist eine These, welche die Doktorfigur gegenüber
Woyzeck zum Ausdruck bringt.
Wenn man diese historischen Fakten mit Büchners Woyzeck und dort vor allem mit der ersten
Doktorszene in Verbindung setzt, fällt Folgendes auf: Das Erbsenessen, zu dem der Doktor
Woyzeck anhält, stellt ein Experiment dar, wie es von Liebig hätte durchgeführt werden
können. Da auch Woyzeck ein Soldat ist, ist der Zusammenhang noch auffälliger. Der vom
Doktor erwähnte Musculus constrictor vesicae, also Blasenschließmuskel, ist dem Willen des
Menschen unterworfen, so wie er es erwähnt und spiegelt die Einstellung gegenüber der
spekulativen Naturphilosophie wieder. Dagegen ist das von ihm verwendete Wort
„Hyperoxydul“ nicht existent und daher ein Kunstwort.
Die Perspektive, in welcher der Doktor seinen Patienten betrachtet, ist die eines Subjekts. Er
nennt ihn das „Subjekt Woyzeck“, sieht ihn als Unterworfenen. Dabei ist die Sprache dem
Stand angemessen, indem Woyzeck die Umgangssprache, sein Gegenüber hingegen
hauptsächlich Fachjargon nutzt. Nicht nur der Doktor, sondern auch der Hauptmann wird von
Woyzeck nur mit dem jeweiligen Titel angesprochen. Sie besitzen keine Namen, was daher
ein Privileg der Unterprivilegierten – Franz Woyzeck und Marie – zu sein scheint.
Aus der Sicht des Lesers bewegen sich die moralischen Handlungen umgekehrt zu den
sozialen Schichten der Figuren. Während in den Schichten der Doktor und der Hauptmann
sich über Woyzeck befinden, scheint Woyzeck eine bessere Moral zu besitzen als jene. Dies
lässt sich vor allem an deren Verhalten ablesen. Sowohl der Doktor als auch der Hauptmann
sprechen Woyzeck nur in der dritten Person an. Dieser führt ohne Fragen ihre Befehle aus.
Der Doktor spricht gegenüber Woyzeck von Dingen, von denen er nichts wissen kann. Er
stellt ihm bedrohliche Fragen, die seinen Patienten entweder Antworten lassen, oder dazu
verleiten in den Wahnsinn zu fliehen. Dieses Verhalten klassifiziert der Doktor dann.
Woyzeck wird von ihm als Hund bezeichnet, als ein gehorsames Tier, das dem Menschen treu
ergeben ist. Dadurch wird die übergeordnete Position des Doktors weiter verstärkt. Das
Verhalten des Doktors ist nicht dadurch begründet, dass er Woyzeck heilen möchte, er sieht
ihn als bloßen Kasus, den es gilt zu untersuchen. Im gezeigten Theaterstück wird dieses
Verhalten durch die Körpersprache verdeutlicht. Wenn der Doktor im Fachjargon spricht,
Woyzeck also einschüchtert, befindet sich sein Körper in einer höheren Position als jener von
Woyzeck.
Die nüchterne Sichtweise des Doktors auf die Welt lässt sich nicht nur anhand Woyzecks
beobachten, sondern auch daran, wie er sich selbst klassifiziert. Er präsentiert sich als eine
entseelte Figur, die wie eine Maschine funktioniert und keinen eigenen Charakter besitzt.
Dem entgegen wurde Woyzeck konzipiert. Er besitzt Emotionen und scheint körperlich
wärmer. Das Wissenschaftsbild des Doktors steht in der Tradition des Stoffwechselkreises.
Die Materialisten des 18. Jahrhunderts waren der Ansicht, dass sich Stoffbeimengungen in der
Nahrung oder eine OP, auf die Psyche auswirkt. Dieses Bild lässt sich an Woyzeck wieder
entdecken, der unter Einfluss von bestimmten Stoffen zu phantasieren beginnt, während der
Doktor davon sehr fasziniert ist.
In der Mordszene begibt sich Woyzeck in die Rolle des Arztes. Er versucht das Sterben der
Marie zu analysieren und zu reflektieren. Woyzeck verändert seine Position in der
Gesellschaft. Während er in anderen Szene eine Position unter den anderen handelnden
Figuren einnimmt, erscheint er hier viel dominanter und wertet Marie ab, so wie er abgewertet
wurde. Er verliert seine warme Wesensart und erscheint kaltblütig. Seine innere, eifersüchtige
Stimme kann nicht ertragen, dass sie mit anderen schläft, daher erscheint ihm ein Mord an
Marie als einziger Ausweg. Da er zuvor das Messer erwirbt, kann nicht von einer
Affekthandlung ausgegangen werden. In seiner letzten Unterhaltung lässt er Anspielungen auf
seine kommende Tat fallen: „Wenn du kalt bist, frierst du nicht mehr!“
Zum Ende der Handlung nimmt der Wahnsinn des Woyzeck seinen Höhepunkt. Seine
ausweglose Situation legitimiert er durch die Stimmen in seinem Kopf, dieses spiegelt sich
durch den Satzbau wieder. Die Sätze werden elliptisch und er wirkt gehetzt und emotional. Er
scheint sich nicht mehr daran erinnern zu können, was er getan hat, scheint aber zu denken,
dass er Marie von ihren Sünden erlöst hat.
Dr. Clarus, der Gutachter des historischen Woyzeck, hat einige von dessen Aussagen
festgehalten, die Büchner in der Handlung mit verarbeitete. Woyzeck hat auf seinen Reisen
von den Freimaurern erfahren, wodurch er sie in seine Phantastereien mit aufnahm und sich
von ihnen verfolgt fühlte. Auch dieses wird in die Figur des Woyzeck mit einbezogen. Ein
weiterer Hinweis dafür, dass Büchner den Text des Dr. Clarus kannte, ist die Verwendung
der Worte „Immer zu, immer zu!“, die abgewandelt aus dem Gutachten „Immer drauf, immer
drauf!“ stammen. Viele der Abschnitten werden Original in der Handlung verwendet.
Martina Kitzbichler formuliert es in ihrem Buch „Aufbegehren der Natur“ wie folgt: „Der
Wahnsinn und der Mord Woyzecks erscheinen als Symptome der Niederlage des Ich in
diesem Konflikt, definiert als mißlungene, und darum pathologische Abwehrreaktion gegen
die Invasion äußerer Ansprüche in die Leibseele. Die Kontinuität des Leidens und der soziale
Ort im Klassengefüge heben die Macht des Gewissens auf. Das Phatologische erscheint dem
Mediziner Büchner somit auch hier als Gesellschaftlich verursachtes Phänomen, als
Konsequenz der wahnhaften Selbstinszenierung der Rationalität. Damit sind seine
tiefenpsychologischen Erkenntnisse unmittelbar an die Beobachtung der historisch
entstandenen Herrschaftsverhältnisse gebunden.“
In Georg Büchners „Schädelnerv“ stehen sich zwei Grundansichten gegenüber, zum einen die
teleologische, zum anderen die philosophische Ansicht. In der teleologischen setzt die
Wirkung einen Zweck voraus, so wie es im Verhältnis zwischen Auge und Tränendrüse zu
beobachten ist. Der Zweck der Wirkung ist dabei entscheidend und sein Nutzen wird
beobachtet. Diese Ansicht ist in der Figur des Doktors vertreten. In der philosophischen
Sichtweise besitzen die Organe keinen Zweck, sondern sind um ihrer selbst willen existent
und besitzen daher einen ästhetischen Wert. Daran ist abzulesen, dass Büchner eher ein
Dichter als ein Mediziner ist, wobei diese beiden hier miteinander verschmelzen, obwohl eine
Tendenz zur philosophischen Perspektive zu erkennen ist.
23.5.: Protokoll zu Georg Büchners Woyzeck
Thomas Steinherr
In dem Werk Woyzeck von Georg Büchner ist der Protagonist, welcher den gleichen Namen
wie der Titel trägt, ein Soldat, der sich für Ernährungsexperimente zur Verfügung stellt. Das
Drama ist als eine Art Dokumentarismus zu betrachten, da er an den historischen Woyzeck
angelehnt ist. Der Protagonist und der historische Woyzeck entstammen beide der unteren
Gesellschaftsschicht. Der historische Woyzeck soll Christiane Woost getötet haben,
woraufhin er direkt verhaftet wurde und am 27.08.1824 auf dem Leipziger Markt hingerichtet
wurde. Der Protagonist in Georg Büchners Werk ermordet Marie, welche als Anlehnung an
Christiane Woost zu sehen ist.
In dem Werk zeichnet sich ein Wirkungskreis ab, welcher eine Interdependenz zwischen
Physiologie, Somatik und Psychologie aufzeigt. Diesem liegt die Beobachtung der Natur, also
der Artenvielfalt und der Spezies an sich, zugrunde, was als ein Spiegel der historischen
medizinischen Konzepte in diesem Werk Einfluss findet. Zur damaligen Zeit war ein Trend
zur Ernährungspsychologie zu verzeichnen. Aus der damaligen Forschung sind einige Namen
zu nennen. Zum einen Karl Justuf Ließing, der durch Beobachtung des Ernährungsverhaltens
Fachliteratur erstellte. Tiedemann und Gneli beschäftigten sich im Wesentlichen mit den
Verdauungssäften und Karl Gotthilf Lehmann begründete seine Theorien auf die Analyse der
Konzentration im menschlichen Harn. In Büchners Werk treten genau diese zeitgenössischen
Überlegungen auf, da der Protagonist von dem gehetzt und unruhig wirkendem Doktor
Willband nur mit Erbsen gefüttert wird. Dieses Experiment geht aus der Überlegung hervor,
große Bevölkerungsgruppen, welches in der damaligen Zeit die niedrige Schicht war, mit
Erbsen ernähren zu können.
Der Filmbeitrag zu der Szene der Untersuchung durch Doktor Willband stellt auf skurrile Art
die Person des Woyzeck dar, welcher als Versuchsobjekt des Doktors zu beobachten ist. Es
soll geprüft werden, ob der Schließmuskel dem freien Willen unterworfen ist, was später
herausgestellt wird. Differenzen entstehen hier bereits in der Dialogführung, da die
Äußerungen des Doktors primär in Fachsprache getätigt werden, wohingegen Woyzeck in der
damaligen Alltagssprache zu antworten versucht. Der Doktor stellt fest, dass die Harnwerte
des Woyzeck zu niedrig seien (bei etwa 0,1) und er sich dadurch in einem schlechten Zustand
befindet. Hier finden die historischen Theorien der Medizin Anwendung (siehe Karl Gotthilf
Lehmann) und durch einen gewollt überspitztem Dialog zwischen dem Woyzeck und dem
Doktor fließt das Fachvokabular ein. Dort wird das vermeidliche Fachwort „Hyperoxidol“
von Woyzeck ausgesprochen, bei welchem es sich um ein Kunstwort handelt. Eine weitere
Differenz, welche durch die Sprache zum Ausdruck kommt, ist die Hierarchie zwischen den
beiden Personen. Der Doktor sieht Woyzeck lediglich als (Versuchs)Objekt, was er durch
„subjektum“ also „der Unterworfene“ zum Ausdruck bringt, ihn als Hund betitelt oder ihn
permanent in der dritten Person anspricht. Woyzeck hingegen ist abhängig vom Doktor, da
dieser seine Unschuld beweisen könnte, indem er ihm zugesteht, dass er keinen freien Willen
hat. Eine interessante Beobachtung an dieser Stelle ist, dass die Figuren im Woyzeck mit
ihren Berufen angesprochen werden. So gibt es den Hauptmann und Doktor Willband, der
lediglich als Doktor bezeichnet wird. Hierdurch wird der soziale Stand der Personen
herausgestellt, welcher sich über den Stand des Soldaten Woyzeck befindet. Blickt man
hingegen auf den moralischen Stand, also der Handlungsintention, so steht Woyzeck über
dem Doktor und dem Hauptmann.
Der Doktor hingegen stellt Selbstdiagnosen, was den Anschein erweckt, dass er wie eine
Maschine funktioniert, also keinen eigenen Charakter besitzt. Daraus lässt sich das
Wissenschaftsbild des Doktors ableiten, welches in diesem Fall das des Materialisten ist. Er
steht somit in der Tradition der „Lo Machine“, da er Körpersäfte untersucht.
In der Mordszene hingegen übernimmt Woyzeck die Rolle des Arztes, da er durch das
Beobachten des Hinscheidens der Marie über das Sterben reflektiert. Dies äußert sich durch
sein schnelles Nachfragen, ob Marie bereits tot ist. Doch es gibt noch weitere Auffälligkeiten
im sprachlichen Verhalten des Woyzeck innerhalb dieser Szene. Er wird nicht, wie gewohnt,
passiv dargestellt, sondern als dominant. Blickt man auf den Charakter des Woyzeck in dieser
Szene, so erscheint er kaltblütig, bedingt durch den Mord, und eifersüchtig durch
abschätzende Bemerkungen wie „Hurenatem“. Dies scheint Marie zu bemerken und versucht
sich Woyzeck zu entziehen indem sie sagt: „ich muss fort, der Nachttau fällt“. An dieser
Äußerung sind zwei Dinge zu beobachten. Zum Einen das Wort „Nachttau“, welches nicht
zufällig gewählt wurde, sondern das Böse in der damaligen Zeit repräsentierte, wohingegen
der Tag für die Vernunft stand. Zum Anderen „Nachttau“ als Kompositum, welches für das
Fließende steht und daher lebendig und leidenschaftlich wirkt. Dies ist adäquat zu Blut und
Tränen, welche man als Körpersekret des 18. Jahrhunderts angesehen hat.
Zuletzt kann man in Szene 23 einen langen Monolog von Woyzeck betrachten, der ebenfalls
durch seine sprachlichen Mittel auffällig ist. Durch den dominierenden parataktischen Aufbau
der Sätze und der häufigen Benutzung von Ellipsen, wirkt der Protagonist in dieser Szene
gehetzt und unruhig. Durch die Selbstlegitimation entsteht ein auswegloses Denken, welches
sich in den Sätzen wiederspiegelt. Hierdurch wird deutlich, dass Georg Büchner eine klare
Vorstellung vom Woyzeck hat, nämlich den historischen Woyzeck. Diese Beiden weisen
Parallelen auf, wie zum Thema „Freimaurer“. Der historische Woyzeck wird nach der Reise
durch Europa in seinen Träumen von den Freimaurern verfolgt. Im Drama Woyzeck sind
diese Phantasien ebenfalls aufgegriffen worden.
Durch den Nachweis des Fehlens des freien Willens, könnte Woyzeck vom Doktor
freigesprochen werden. Allerdings wird dies nicht gewährleistet, da der historische Woyzeck
keine Seelenstörung hat und somit wird er wegen Mordes zum Tode verurteilt. Büchner liefert
mit diesem Drama ein Gegengutachten, welches zeigen soll, dass durch die soziale
Determination und der gesellschaftlichen Hierarchie, Woyzeck nicht verurteilt werden durfte.
Abschließend gibt es noch zwei pathologische Grundgedanken zu nennen, welche im
Woyzeck dargestellt werden. Zum einen den theologischen Grundgedanke, welcher die
Wirkung der Organe als einen Zweck ansieht, woraus ein ewiger Zirkel entsteht. Zum anderen
ein philosophischer Grundgedanke, der aufzeigt, dass die Organe ihrer selbst Willen
existieren und einen ästhetischen Wert innehaben. Der theologische Grundgedanke äußert
sich im Verhalten und der Weltanschauung des Doktor Willband. Der philosophische
Grundgedanke hingegen wird durch den Dichter Büchner, also künstlerisch dargestellt. Als
Resümee sei festzuhalten, dass der Arzt Georg Büchner mit dem Dichter Büchner
verschwimmt, jedoch zum philosophischen Grundgedanken tendiert.
2.5.
Thomas Höffgen
Die Sitzung vom 02.05.2007 des germanistischen Hauptseminars „Poetologie/Pathologie“
thematisierte die 1780 veröffentlichte medizinische Dissertation „Philosophie der
Physiologie“ von Friedrich Schiller.
Der erste Paragraph besagter Schrift beschreibt das Universum als Werk unendlichen
Verstandes. Der ihm innewohnende Mensch ist ein mit Göttlichkeit geadelter Geist, dem es
gilt den Plan des Ganzen zu entdecken; Gottgleichheit sei die Bestimmung des Ganzen.
Die angesprochene „Vollkommenheit“ ist ein typisch klassizistischer Kunstgedanke.
Weiterhin wird der Grundgedanke des Mitleidens thematisiert, der seit Lessings Umdeutung
des aristotelischen Katharsiseffektes zeitgenössischer Konsens ist.
Die wohl auffälligste, weil ungewöhnlichste Stelle des ersten Paragraphen ist die Erwähnung
Schillers der „empfindenden Natur“ im Sinne des Stürmers und Drängers. Ungewöhnlich ist
dieser pantheistische Grundgedanke im Kontext einer medizinischen Dissertation; Schiller
weist hier deutliche literarische Tendenzen auf und spricht wie ein Dramatiker.
Im zweiten Paragraphen greift Schiller auf eine neuartige Wissenschaft vor; die Psychologie:
Er stellt „Innerlichkeit“ in direkten Zusammenhang besagter Wissenschaft und somit aus dem
Fokus der Physiologie. Seine Theorie der undurchdringlichen Materie und des
durchdringlichen Geistes, führt zu der Frage wie Materie auf den Geist wirkt. Schiller geht
hier von einer sg. Mittlerkraft aus, die ein Zusammenspiel zwischen Materialismus und
Idealismus ermöglicht. Dies sei undenkbar, aber philosophisch durchaus möglich.
Im dritten Paragraphen beschreibt Schiller unsere Wahrnehmung als bloßes Erfassen der
„Zeichen der Dinge“, anstatt ihres wesentlichen Kerns, und unterstreicht somit Emanuel
Kants These des Vorenthaltenseins objektiver Erkenntnis des Dinges an sich; dem Menschen
sei nur die Erscheinung erkennbar.
Paragraph sechs greift die moderne wissenschaftliche Erkenntnis des Menschen als
Nervenwesen auf, hebt jedoch gleichzeitig die daraus resultierende Erkenntniskrise hervor:
Schiller führt hier die Idee eines Nervengeistes auf, der bereits angesprochenen Mittelkraft
zwischen den grundverschiedenen Komponenten Materie und Geist. Der Nervengeist sei
immateriell und elementar unvergleichlich. Alternativmodelle zeitgenössischer Mediziner
sind Nervensäfte oder Nervenkügelchen; auch Descartes Seilzug ist nach wie vor nicht aus
der Mode. Im Kontext der Lehrstuhl- bzw. Wissenschaftskonkurenz ist Schillers
Nervengeistthese dennoch eher gewagt.
Der neunte Paragraph lässt Schillers empiristisches Gedankengut gewahr werden: Er
beschreibt wie Sinnesreize als sinnliche Idee auf die Seele treffen und dort Vorstellungen,
Erinnerungen oder Assoziationen hervorrufen, beschreibt die Wahrnehmung von
Sinneseindrücken also im Rahmen eines Kettensystems als Netzwerkknüpfung.
Paragraph zehn beschreibt die materielle Assoziation als Grund auf dem das Denken ruht und
trägt somit deutlich deterministischen Charakter; jedoch hat die Seele tätigen Einfluss auf das
Denken und kann Sinnesreize stärken oder schwächen. Die Seele als innere Instanz wird hier
mit deutlicher Wirkung nach außen beschrieben. Dennoch sind die Handlungen unfrei: Ein
jeweiliger Außeneinfluss resultiert in einer Handlung.
Die Instanz der Seele allerdings lenkt die Aufmerksamkeit ihrer selbst, steuert also ihre
Wahrnehmung und beschreibt somit absolute Freiheit.
Resümierend beschreibt Schiller also eine Verknüpfungskette aus Seele-Geist-MittelkraftMaterieller Welt.
9.5.
Thomas Höffgen
Die Sitzung des germanistischen Hauptseminars „Poetologie/Pathologie“ am 09.05.2007
behandelte die psychatrische/antipsychatrische Thematik des „Lenz“ von Georg Büchner.
Im Gegensatz zum mechanistischen Weltbild (der Körper produziert das Bewusstsein), spricht
eine animistische Anschauung von dem Einfluss der Seele auf den Körper; allgemeine
Terminologie der Leib Seele Wechselwirkung ist „Influxionismus“.
Der deutsche Universalgelehrte Christian Wolff (1679 – 1754) vermutete bereits 1750
(seelische) Kräfte unterhalb der rationalen Bewusstseinsebene und gilt als Aufklärer dunkler
Erkenntniskräfte. Ihm folgte etwa Lessings Aufgreifen des Unbewussten in den 1760ern oder
Karl Phillip Moritz’ „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ 1781 – 1791. Letzteres gilt als
Einstieg in die Psychopathologie. Moritz bediente sich erstmals, ganz in empiristischer
Manier, keinen fiktiven Fällen und griff somit erstmals das Unbewusste als
Wissenschaftsgegenstand auf.
In seinen „Aussichten zu einer Experimentallehre“ fordert er eine explizite Selbstbetrachtung
zur Beobachtung des Menschen und legt den Fokus auf die „Geschichte seines [jeweils]
eigenen Herzens“; die Aufmerksamkeit soll dem gegenwärtigen, wirklichen Leben geschenkt
werden. Dies impliziert kein zwingendes Entziehen der eigenen Leidenschaften, ganz im
Gegenteil, immerhin sind sie selber (auch) im Kern der Betrachtung, aber die Möglichkeit der
sachlich-objektiven Distanz des „kalten Beobachters“. Das Betrachten des fremden Menschen
hätte nur ein oberflächliches Erkennen zur Konsequenz. Moritz vergleicht diese Problematik
mit dem Betrachten eines Uhrzeigers, der viel preisgibt, nichts jedoch über das innere
Uhrwerk; im Kontext des Menschen: Die Seele.
Diese wissenschaftliche Aufforderung begründet die moderne Psychologie.
Literaturgeschichtlich wird um diese Zeit erstmalig auch die innere Geschichte des
Protagonisten thematisiert; vorherige Helden handeln zwar, weisen aber keine psychologische
Tiefe auf. Nun wird auf die Innenschau literarisch verarbeitet.
Mit Karl Phillip Moritz entsteht sowohl das literarische Interesse an der Psychologie, als auch
die moderne Psychologie im Allgemeinen.
Georg Büchners Erzählung „Lenz“ – erstmals im Jahre 1839 erschienen – greift exakt dieses
literarische Interesse an Psychologie auf. Der Autor beruft sich jedoch auf die Protokollierung
eines 3-wöchigen Aufenthalts vom Stürmer und Dränger Lenz, seitens des Pfarrers Joh. Fr.
Oberlin (1740-1826), 1780, und widerspricht damit Moritz’ Forderung der Introspektive.
Büchner stützt sich auf besagte Aufzeichnungen und erweitert sie.
„Heißt das gelebt? Heißt das seine Existenz gefühlt, seine selbstständige Existenz, den
Funken Gottes?“ – dieses Lenz’sche Zitat spielt auf die zeitgenössischen aristokratischen
bürgerlichen Verhältnisse an, die ihm unerträglich erscheinen und ihn dem Wahn verfallen
lassen. Lenz’ Wahrnehmung hält sich nicht an Naturgesetze äußerlicher Art, sondern bedient
sich (äußeren) Aspekten, die sein Inneres verändert und variiert: Einblicke in die Lenzfigur
der Seiten 5-21 stellen Wahrnehmungssplitter dar, die deutlich hyperbolisiert werden; Raum
und Zeit verlieren ihre tatsächliche Struktur und der innere Ablauf dominiert die Szenerie.
Nicht das Bild der äußeren Welt, sondern Lenz’ Seelenlandschaft wird aufgeführt.
Stilistisch hervorgehoben wird dieser Zustand durch die Verwendung der Ellipse
(
s), also der Aussparung – in diesem Fall: - des Verbs, um den fragmentarischen
Charakter der Natur bzw. dessen schnellen Eindrucks aufzuzeigen. Offensichtlich handelt es
sich hierbei um eine Fiktion Büchners; dem Protokoll Oberlins sind diese Lenz’schen
Eindrücke unmöglich bekannt. Ebenso lässt Büchner absichtlich Jahres- und Ortsangabe der
authentischen Aufzeichnung Oberlins weg und gibt stattdessen ausschließlich ein nichts
sagendes „20ter“ preis. Die, durch die Ellipse initiierten, unmittelbaren Eindrücke
symbolisieren unvermittelte Emotionalität und lassen des weiteren Rückschlüsse auf das
außergewöhnliche, doppelte Erzählerperspektive zu: Es wird ständig zwischen auktorialem
und personalem Erzählen gewechselt; souveräner Standpunkt des Erzählers und mimetisches
(nachahmendes) Erzählen geben sich die Hand. Das auktorial angewandte epische Praeteritum
wird durch Einschübe á la „Aber alles so dicht […] so träg und plump“ abgelöst. Während des
mimetischen Erzählens, nimmt der Erzähler die Welt aus der Perspektive des Protagonisten
wahr und spricht mit dem Vokabular des Lenz.
Der Perspektivenwechsel, teilweise innerhalb eines Satzes, erzeugt Spannung und Dynamik.
Die ruhigen, diagnostisch vollendeten Sätze des Erzählers wandelt sich unvermittelt in die
impulsive Kurzatmigkeit des Lenz. Der Psychologe Büchner verweist mit dieser gekonnten
Stilistik auf die Pathologie des Lenz und schenkt ihr weitere Glaubwürdigkeit. Betont werden
darüber hinaus die gemehrten Wahrnehmungskanäle, d.h. das vollständige Spektrum der
Sinneswahrnehmung wird aufgegriffen; nicht bloß die visuellen Eindrücke thematisiert.
Es entsteht der Eindruck einer undifferenzierten Wahrnehmung, einer ungefilterten Reizflut:
Lenz nimmt Daten aus der Landschaft wahr, übersteigert diese und beschreibt letztlich seine
Sicht der Dinge. Lenz weist hier eine pathologisch-synästhetische Veranlagung auf, indem
unterschiedliche Sinneseindrücke vermischt werden; so entsteht ein Spiel mit Räumen, bei
dem etwa ein See im Himmel anzutreffen ist, da die farbliche Komponente eine ähnliche ist.
Generell spielt bei der Lenz’schen Wahrnehmung die Farbe eine primäre Rolle; Farben lösen
sich vom Raum und stellen eine selbstständige Entität dar. Vgl. abstrakte Malerei des 19.
Jahrhunderts.
6.6. Alfred Döblin – Die Ermordung einer Butterblume
Stefanie Schwanewilms
Bei der ersten Betrachtung des Titels „Die Ermordung einer Butterblume“ gibt es
unterschiedliche Eindrücke und Erwartungen, was sich hinter dem Begriff der Butterblume
verbergen könnte. Allerdings wird bei der Lektüre der Erzählung deutlich, dass es sich
wirklich um die Ermordung einer Butterblume handelt. Das erste Lesen zeigt, dass es sich um
einen einfachen Sachverhalt handelt, der akribisch ausformuliert ist, aber keinen richtigen
Höhepunkt aufweist.
Bei der intensiven Betrachtung des Textes fallen gleich zu Beginn besonders die
Körperbewegungen der Hauptfigur Michael Fischer auf. Beim Gehen zählt er seine Schritte,
benahe zwanghaft. Seine Art spazieren zu gehen ist eine merkwürdige. Er betrachtet nicht die
Landschaft um sich herum und seine komischen Bewegungen würden unter ,,normalen“
Spaziergängern auffallen. Sowohl sein Spazierstock als auch seine Körperteile scheinen
lebendig zu sein, was anhand von Personifikationen in der Erzählung dargestellt wird. Als
Michael Fischer in seinem Spazierrhythmus gestört wird, fühlt er sich provoziert, wird
aggressiv und steigert sich völlig in diese Situation hinein.
Michael Fischer hat eine gestörte Wahrnehmung in Bezug auf sich selbst. Er kann nur durch
das Ertasten seines Gesichts feststellen, dass es verzerrt ist.
In der erlebten Rede reflektiert er sein Verhalten, besonders vor dem Hintergrund, was andere
über ihn denken könnten. Seine Erklärung für dieses Verhalten, die Stadt mache ihn nervös
scheint unzulänglich, da Michael Fischer sich zu diesem Zeitpunkt im Wald befindet.
In der Ermordungsszene ist die Wahrnehmung des Michael Fischers nur noch
halluzinatorisch. Gerade die Menge „weißen Blutes“, das aus dem Hals des abgeschlagenen
Blütenkopfes quillt, bestätigt dies.
Das Verhältnis von Michael Fischer zu seinem Körper wird als distanziert dargestellt. Er hat
eine diffuse Körperwahrnehmung und verfällt in eine Art Ohnmacht über seinen eigenen
Körper, denn dieser scheint sich zunehmend zu depersonalisieren. Michael Fischer spricht
sogar mit seinen Körperteilen. Zu seinen Füßen sagt er: „Nach Kanossa gehen wir nicht“, was
so viel bedeutet wie, wir lassen uns nicht demütigen.
Die Einbildung des Telegraphen ist ein Hinweis auf eine psycho-pathologische Störung, da
Technik in diesen Fantasien oft eine Rolle spielt.
Als Michael Fischer zum Tatort zurückkehrt gibt er der getöteten Butterblume den Namen
Ellen, der er von da an, zur Wiedergutmachung, ein Näpfchen zur Opferung von Speise und
Trank widmet und monatliche Geldbeträge überweist.
Michael Fischer scheint als würde er von höheren Mächten gesteuert, als sei sein Verhalten
fremdveranlasst. Es werden Versatzstücke aus seinem Beruf, aus der Religion und dem
Gerichtswesen in seine Phantasien übertragen. Am Anfang der Erzählung noch als dick
beschrieben, verliert Michael Fischer im Laufe der Erzählung zunehmend an Körpergewicht.
Auch das Verhältnis zu der Butterblume Ellen verändert sich. Das Näpfchen zur
Wiedergutmachung stößt er um und bei den Geldüberweisungen verrechnet er sich zu ihren
ungunsten. Er sucht Ersatz für Ellen und überträgt das Verhältnis auf die neue Pflanze. Als die
Hauswirtschafterin diese Pflanze umstößt, ist Michael Fischer sie losgeworden, ohne es
verschuldet zu haben und schließlich von der Übermacht befreit.
Dennoch hat sich das Verhältnis von Michael Fischer zur Natur nicht verbessert. Er zeigt nach
wie vor sadistisches Verhalten, hat jedoch keine Schuldgefühle mehr und zeigt auch keine
Reue. Im Gegenteil, seine Aggressionen scheinen sich von Pflanzen zu Tieren zu steigern. Er
verspottet die Natur.
Der Charakter des Michael Fischer zeichnet sich durch Zwanghaftigkeit, neurotische
Psychosen und aggressive Neurosen aus. Passt dieser Charakter in die wilhelminische Zeit in
der diese Erzählung geschrieben worden ist? Verbirgt sich Wahnsinn hinter der bürgerlichen
Fassade? Die Antwortet lautet ja, denn individuelle Neurosen haben immer etwas Soziales in
sich. Michael Fischer nennt Paragraphen über Schuldkompensation und sowohl juristische als
auch militärische Ausdrücke bilden Versatzstücke seiner Neurosen.
Ein ebenfalls autoritärer Charakter der wilhelminischen Zeit wird in Thomas Manns- Der
Untertan beschrieben.
Zur Biografie Alfred Döblins (1878-1957)
Döblin studierte nach dem Abitur Medizin, insbesondere Neurologie und Psychiatrie. Er
übertrug seine Erkenntnisse als Nervenarzt und Psychoanalytiker auf die Literatur und
forderte aus den realen Ereignissen zu lernen. Er promovierte zum Thema Merkschwächen
und das Problem Erinnerungen auf bestimmte Situationen zu übertragen. Bei dieser so
genannten Projektion werden Versatzstücke aus der Realität auf den Wahnsinn übertragen.
13.06.2007 Gottfried Benn: „Unter der Großhirnrinde“ & „Morgue-Lyrik“
Tim Voßnacke
In Gottfried Benns Werken werden zahlreiche Diskurse - wie, der medizinische,
anthropologische und ästhetische Diskurs -, die auch im Rahmen unseres Seminars die
Hauptrolle spielen, zusammengeführt. Benn, der 1886 geboren wurde, war
bezeichnenderweise wie Schiller, Büchner und Döblin auch Mediziner – er studierte seit 1905
an der Kaiser-Wilhelm-Akademie in Berlin Medizin. Im Jahr 1911 erscheint in der
Sonntagsausgabe der Frankfurter Zeitung der gattungsmäßig schwer einzuordnende Essay
„Unter der Großhirnrinde“ – Benns erster veröffentlichter literarischer Prosa-Text überhaupt.
Dieser wird 2003 erst wiederentdeckt und gilt als literarische Sensation.
Am Ende dieses Textes steht die geplante Flucht des Ich-Protagonisten, der Bruch mit und die
Abkehr von der modernen Zivilisation. Was bringt ihn dazu? Dies wird im vorangegangenen
Text überaus deutlich: Dort prangert der Ich-Erzähler die Abhängigkeit der Menschen in der
modernen Gesellschaft von der Doktrin der rationalen Erkenntnis an. Alles dreht sich nur um
Wissen, Wissenschaft und Rationalität. Der Intellekt frisst Hirne auf, wie Affen Äpfel fressen.
Der Mensch ist auf das Denken reduziert auf das Menschenbild des reinen Hirnmenschen. In
dieser Skepsis knüpft Benn an Hofmannsthal an, der in seinem „Chandos-Brief“ ebenfalls
kritisiert, dass keineswegs mehr Zusammenhänge gedacht werden, sondern dass das Denken
Selbstzweck, nur noch leere Doktrin ist, nur noch eine Hülse und Schall & Rauch.
Eine Abwertung und Reduzierung der Bedeutung von Denken und Rationalität macht Benn
deutlich, indem er die Vorstellung aufzieht, was passieren würde, wenn man ein menschliches
Gehirn teilweise schädigen würde; wenn man „eine Nadel oder eine Gabel nehmen und eine
bestimmte Stelle der Oberfläche ein bißchen abschaben“ würde.
Laut Benn würde der Körper trotzdem noch funktionieren, der Mensch würde trotzdem noch
überleben können. Die Verbindung von Hirn und Körper ist laut Benn mehr als zufällig, es ist
ein zufälliges Funktionieren. Das Gehirn als eine zufällige Steuereinheit ist im Grunde also
vom Rationalismus hochgezüchtet und fälschlicherweise hochgehalten worden. Das Hirn
verarbeitet lediglich Eindrücke und Impressionen, es bringt Assoziationen hervor – mehr
nicht. Die ach so mächtige Großhirnrinde ist nicht halb so mächtig wie sie scheint.
Hierin liegt die feindliche Betrachtung der modernen Wissenschaften, die die Seuche der
Erkenntnis hochhalten, begründet. Obwohl Benn selbst ein Kind der Wissenschaften ist (s.o.)
oder gerade deswegen ist er Antirationalist:
Reine Erkenntnis und Rationalität reichen nicht zum Leben. Die Geschichte, die den
Rationalismus derartig glorifiziere, sei ein Irrweg.
Als Gegenentwurf seht er sich zurück in die Zeit, als wir „mal im Laube gewohnt und uns in
Erdlöchern gewärmt haben“, also ein Zurückbringen an die „niederen Zentren“. „Es muss sich
früher leichter gelebt haben als Gott den Eingang und den Ausgang aller Wissenschaften
segnete“, sagt er. Benn sieht den Fluchtpunkt aus dem Zwang zum Rationalismus in dem
radikalen Austritt aus der Moderne und eine Rückführung in eine elementare Lebensform.
Dieser Fluchtpunkt kann in der Natur liegen, die ein elementares Dasein, eine einfachste
Lebensform ermöglicht, wo auch Gefühl und andere Werte als Erkenntnis zählen.
Die propagierte Abkehr von der Ratio birgt aber auch Gefahren politischer Art. Wenige Jahre
später wird sich die rechte Bewegung gerade ein Abzielen auf die emotionalen Bedürfnisse
der Menschen zu Nutze machen und in Anlehnung an das Konzept eines „élan vital“, eines
Vitalismus, der alle Menschen als gleich ansieht, auf die Gefühle und die Emotion der
Menschen setzen.
Das Grundanliegen Benns, die Rationalismus-Skepsis und die Sorge um den Menschen in
einer solchen Welt, wird auch in dessen Lyrik der sogenannten „Morgue-Lyrik“ deutlich. Als
exemplarisches Beispiel kann hier das Gedicht „Mann und Frau gehen durch die
Krebsbaracke“ gelten: Dieses einer Ästhetik des Hässlichen verpflichetes Gedicht, sieht den
Menschen radikal nicht als denkendes Wesen, sondern viel eher als Gegenstand und auf den
Körper reduziert. Ein Mann scheint eine Frau durch eine Krebsstation zu führen, die hier
abwertend als „Baracke“ bezeichnet wird, was gemeinhin eher ein Ort zur Lagerung von
Gegenständen ist. In einer Mischung aus extrem sachlicher und emotionaler Tonart werden
Kranke beschrieben, die nur noch „Klumpen Fett und faule Säfte“ sind. Der Mensch wird hier
auf ein Fleisch- und Säftewesen reduziert, was einer Rückkehr zum Elementaren, zum
Urzustand entspricht. Ratio und Erkenntnis spielen hier im Angesicht des Todes keine Rolle
mehr. Dies ist ein eindeutiger Verweis auf die Vergänglichkeit des Menschen. Der Mensch
erscheint im Gedicht als Objekt (man wäscht ihn „wie „man Bänke wäscht“), das zur Schau
gestellt, vorgeführt und betrachtet wird- von einem denkenden Subjekt kann hier keine Rede
mehr sein. Der Mensch wird auf seinen körperlichen Anteil zurückgeführt, der biologische
Zerfall wird eindringlich deutlich.
Auch der christlich-religiöse Glaube kann hier nur eine vorgespielte, eine enttäuschte
Hoffnung sein. Benn erteilt derartig religiösen Vorstellungen eine klare Absage: Er verweist
auf christliche Ikonographie und Symbolik („Rosenkranz“ und Fühlen der Wunden Jesu), ruft
sie aber nur auf um diesen Hoffnungshorizont zu zerstören: der Geist und eine Seele sind
nicht existent, Ratio ist im Tode nichts wert - was bleibt ist der Körper und nicht mehr.
Die Aussage des Gedichts wird eindrucksvoll durch Oppositionspaare hervorgehoben, wie
dass „noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß“ entnommen wird – also dass Anfang,
Beginn des Lebens und das Ende, der Tod so nahe beieinander liegen.
Auch im Gedicht „Kleine Aster“ wird die Reduktion des Menschen auf seinen Körper
betrieben: es wird eine Sektion beschreiben, ein toter „Bierfahrer“ wird seziert.
Im Zuge dieser Leichenöffnung wird der Körper zum Gegenstand, er wird zur Vase für eine
Aster. Im Tod spendet der Mensch dieser Blume durch seine Säfte und Körperflüssigkeiten
Leben. Der Mensch wird hier erneut auf ein Säftewesen reduziert. Auch hier sind Erkenntnis,
Ratio und Verstand unwichtig. In diesem Gedicht korrespondieren Form und Inhalt auf
besondere Art: Das formell sehr uneinheitliche Gedicht zeichnet sich vor allem durch seine
Zeilensprünge (Enjambements) aus – diese sind wie Schnitte durch die Sätze und Verse des
Gedichts. Dass inhaltlich eine Leiche zerschnitten, nämlich seziert wird, fügt sich hier ein.
Eine solche Lyrik bezeichnet man als sog. „Sektionslyrik“
20.06. 2007
Naima Khaloua
In der Seminarsitzung vom 20 .06 ging es um das Werk ``Gehirne`` von Gottfried Benn.
Benn und Nietzsche :
Es gibt keinen anderen Namen, der bei Benn so oft vorkommt wie der von Nietzsche. Er ist
der Begründer einer neuen Kunstlehre und spielt eine wichtige Rolle für die Literatur von
Benn.
Die Kunst soll für Nietzsche das sein, was früher die Religion war, das heißt die Kunst tritt an
die Stelle der Religion.
Auf den Spuren Friedrich Nietzsches verkündet er das „Artistenevangelium“. Das
Artistenevangelium ist die Erhebung der Form ins absolute bzw. die Moral der Form. Der
Sinn des Lebens liegt allein darin Artist zu sein.
Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein der Welt ewig gerechtfertigt.
Die Zeit der Dekadenz beschreibt einen kulturellen Niedergang.
Nietzsches Absage richtet sich nicht nur gegen den christlichen Gott sondern auch gegen den
Weingott Dionysos (das Irrationale, Chaotische, Ungeformte) und gegen alle möglichen
Götter. Er bezweifelt nicht nur Gott sondern auch alle Wahrheiten. Die
gelungene Form der Existenz ist für ihn die Kunst. Denn Wenn wir aus dem Leben kein
Kunstwerk machen ist es verfehlt. Außerdem kommt es zu einer Überformungen der Kunst.
Nur Kunst lässt nach Nietzsche die Welt da sein. Dies kann man auch als eine Flucht in die
Kunstwelt deuten.
Es geht um den Wertezerfall um die Heimatlosigkeit aber auch um das „verlorene Ich“ in der
zerrissenen Welt der Moderne.
Auch die Transzendenz ist für Nietzsche ein wichtiger Begriff. Transzendenz bedeutet
Überschreiten des Verhaltens, Erlebens und Bewusstseins, sowie das Sichbefinden jenseits
dieser Grenzen.
Benn ist Mediziner aber auch Künstler. Es stellt sich jetzt die Frage wo ist er Mediziner und
wo ist er Künstler? Wo wird Pathologie zur Poetologie?
Gottfried Benn: Gehirne
Die Novelle beginnt im Präteritum wechselt aber schnell in das Präsens.
Es wird aus Rönnes Perspektive erzählt wie es bei Lenz der Fall ist. Im Lenz taucht das
gleiche Phänomen auf.
Es gibt nämlich immer einen Schwenk in den Kopf der Figur, von außen in die innere Person
(Bewusstseinsroman).
Die Wahrnehmung Rönnes zeigt sich in Impressionen
(,,Ein blau flutet durch den Himmel``, S. 3).
Die Farbe wird zum selbstständig handelnden Wesen. Es findet ein
Wechsel von sachlicher Sicht zur emotionalen Sichtweise statt.
Außerdem gibt es Beziehungen zur Malerei bzw. zum Impressionismus (abstrakte
Farbbehandlung). Die Farbe scheint nicht an einem Gegenstand zu hängen.
Zudem kommt es in Rönnes Wahrnehmung zu einer Blickvertauschung (,,Häuser an Rosen
gelehnt``, S. 3)
Die Eindrücke sollen schnell fixiert werden, da Rönne anscheinend ein Kurzzeitgedächtnis
hat.
Gedächtnis und freies Assoziieren sind Themen in der Medizin in dieser Zeit.
Er will schreiben, damit nicht alles so herunter fließt und verloren geht.
Mit fließen verbindet man Flüssigkeiten oder man denkt an einen Bewusstseinsstrom und
dieser Bewusstseinsstrom soll mit der Schrift fixiert werden. Rönne nimmt Bewegungsbilder
wahr.
Es scheint als wären die Augen ein Objekt und verselbstständigt (``Dann lagen in vielen
Tunneln die Augen auf dem Sprung, S. 3.) Man könnte sich vorstellen, dass eine Kamera im
Zug liegt und diese Kamera ist das Auge.
Rönnes Wahrnehmung lässt sich auch mit einem Krankheitsbild verbinden nämlich mit der
Ich-Dissoziation (Ich Zerfall, Ich Verlust, Realitätszerfall).
Das Verhältnis zu seiner Arbeit wirkt ``fern und kühl`` und automatisiert bzw.
distanziert.
Hier findet eine Reduktion des Menschen auf seinen kranken Teil statt.
(`´Inhaber des Ohr ``, S.4). Ohren Besitzer und Ohr scheinen voneinander getrennt zu sein.
Rönne flüchtet in Assoziationswelten.
``Wenn die Geburtszange hier ein bisschen tiefer in die Schläfe gedrückt hätte...? Wenn man
mich immer über eine bestimmte Stelle des Kopfes geschlagen hätte...? Was ist denn mit den
Gehirnen? (S. 8)
Hier ist der medizinische Essay Benns direkt in die Novelle eingearbeitet.
Rönne sagt nicht nur, dass er fliegen will wie ein Vogel, sondern er tut es auch bis in die
Satzgestalt hinein, was sich an den Gedankenstrichen zeigt.
``Aber nun geben sie mir bitte den Weg frei, ich schwinge wieder- ich war so müde- auf
Flügeln geht dieser Gang...Entschweifungen der Schläfe``(S.8)
Das Imperative löst sich auf (fragmentarische Struktur). Es existiert keine vollständige Syntax
mehr, sie löst sich immer mehr auf.
``Umschweifung der Schläfe und Zerstäubung der Stirn ``(S.8)
Dies ist eine poetische Überformung bis hin zur Alliteration.
An dieser Stelle wird Benn der Mediziner zu Benn dem Poeten.
Man kann auch von absoluter Prosa sprechen. Das Ziel sind hier vor allem die lautliche
Qualitäten (Artistenevangelium: Erhebung der Form ins absolute).
Die psychologische freie Assoziation wird zu einer poetisch, ästhetischen Assoziation.
Lautliche rhythmische Qualitäten spielen jetzt eine Rolle.
Die Prosa wird fast zur Musik, man kann auch sagen dass die Prosa an dieser Stelle zum
Kunstwerk wird.
Berliner Charite
In der Charite wurde mit Strom experimentiert.
Das ist der wissenschaftliche Hintergrund in dem Benn seine Ausbildung bekommen hat. Was
in der Charite auch oft gemacht wurde ist, dass die Menschen die Aufgabe bekommen haben
ihre Assoziationen aufzuschreiben.
,,Und nun vollzog sich über
Maita-Malta-Strände-leuchtend-Fähre-Hafen-Muschelfressen-Verkommenheit-der helle
klingende ton einer leisen Zersplitterung und Rönne schwankte in einem Glück.`` (S. 35).
Auch hier kommt es zur freien Assoziation. Er zählt immer wider Dinge auf, die er mit dem
Urlaub verbindet. Rönne flieht in seiner Gedankenwelt in den Süden.
Protokoll zur Sitzung am 20.06.2007 Gottfried Benn: Der Rönne-Zyklus
Nicole Bischoff
1. Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche
Einleitend ging es um das Verhältnis von Gottfried Benn und Friedrich Nietzsche. Nietzsches
Werk spielte für Benn eine große Rolle und es lassen sich häufig Anklänge Nietzsches finden.
Für Benns Kunstästhetik war Nietzsche wegweisend. Benn sah in ihm einen der
unerreichtesten Ästheten, der eine neue Kunstrichtung geschaffen hatte, die der „Kunst als
Artistik“. Benns Ziel war es, die Formerhebung in das Absolute zu erreichen. Nietzsches
Werk, bei dem die Form eine zentrale Rolle spielte, diente ihm zur Weiterentwicklung seiner
Ästhetik. Für Benn ist das Dasein der Welt einzig in der Form des ästhetischen Phänomens
gerechtfertigt. Die Kunst tritt hier an die Stelle der Religion und die Form ist die letzte
metaphysische Aufgabe bei dem Zerfall der abendländischen Welt, die sowohl Nietzsche als
auch Benn zu erahnen glaubten. Die Form wird bei Benn zum Sein, das Erleben wird
Kunstform und so entsteht für ihn Autonomie. Er sieht Kunst als die eigentliche Aufgabe des
Lebens. Auch Nietzsche sieht die einzige Garantie des Lebens in der Kunst. Wenn diese nicht
vorhanden ist hat der Mensch sein Leben verfehlt (Nietzsches ästhetisches Manifest). An
Wagners Oper sieht Nietzsche diese Idee verwirklicht. Alle anderen Welten sind zerstört und
so bleibt nur der Untergang oder die Flucht nach vorn in die Ästhetik.
2. Der Rönne-Zyklus
Die Analyse des Rönne-Zyklus wurde mit der Frage begonnen, an welchen Textstellen Benn
als Mediziner spricht und an welchen seine Ästhetik durchscheint. Die 5 Rönne-Novellen sind
in den Jahren 1914-16 entstanden. Der junge Arzt Rönne reist in eine Anstalt, um den
dortigen Chefarzt zu vertreten. Während seines Aufenthaltes dort verändert er sich und seine
Einstellung zu seiner Arbeit. Das führt schließlich zur eigenen Arbeitsunfähigkeit. Die
Erzählperspektive wechselt zwischen auktorialem Erzählen und der Innenperspektive Rönnes,
also dem Ich-Erzählen. Dies erinnert an Georg Büchners „Lenz“. Dort brach sich das
Erzählen ebenfalls an den oft abrupten Wechseln von Außen- zu Innenperspektive, die nicht
immer offensichtlich sind.
In der ersten Novelle „Gehirne“ aus dem Jahre 1914 wird der Protagonist vorgestellt und
seine neue Umgebung wird beschrieben. Erste Krankheitszeichen Rönnes zeigen sich.
Rönne wird über sein Tätigkeitsfeld definiert: „Rönne, ein junger Arzt, der früher viel seziert
hatte,…“2. Das Erzählen bewegt sich zunächst auf der personalen Ebene, dann erfolgt ein
Wechsel in die Ich-Perspektive: „besprach er sich“3. Der Wechsel vom epischen Präteritum
zum Präsens verdeutlicht dies. Der nachgestellte Hauptsatz: „Es geht also durch Weinland,
besprach er sich, ziemlich flaches, vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn.“4
Er hat eine sehr impressive Wahrnehmung, er sieht starke leuchtende Farben und die Welt ist
für ihn ein Vorbeirauschen und besteht aus Fetzen. Die Farbe ist nicht nur Objekt, sondern
handelndes Subjekt: „ein Blau flutet durch den Himmel,“5. Hier finden sich Parallelen zur
Kunst des Expressionismus, in der die Farben ebenfalls selbst handeln.
Begann die Erzählung zunächst in einem sachlichen Protokollstil, wechselt es mit der
Wahrnehmung von Farben in eine emotionale Sichtweise. Ein weiteres Element ist die
Blickvertauschung beziehungsweise Assoziation. Das Haus lehnt an den Rosen und nicht
umgekehrt, wie es statisch sein sollte. Das Verhältnis wird umgekehrt und zeugt von der
2
Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, Frankfurt am Main 1998, S.19.
Ebd., S.19.
4
Ebd., S.19.
5
Ebd., S.19.
3
völlig anderen Perspektive, die Rönne auf die Welt hat. Auch der Satz „Augen lagen auf dem
Sprung“6 zeigt seine ungewöhnliche Wahrnehmungsart. Die Augen scheinen abgetrennt von
Rönne und sind so verselbstständigt. Später passiert das Gleicht mit anderen Organen. Dieses
Element findet sich auch beim Protagonisten Michael Fischer in Döblins „Ermordung einer
Butterblume“. Die Augen als Aufzeichnungsmaschine sind eine Ich-Dissoziation. Die Worte
fließen und sind wie Flüssigkeiten, das Motiv des Fließens zieht sich gleich einem roten
Faden durch die Novellen.
Das Verhältnis zu seiner Tätigkeit wirkt automatisiert, kühl und distanziert. Der Patient, der
Mensch, wird nicht genannt: „da kam ein Unfall“7 (Synaekdoche). Im Satz „Inhaber des
Ohrs“8 zeigt sich, dass der ganze Mensch verschwunden ist, der Patient scheint an dem Ohr zu
hängen, er wirkt wie ein Auswuchs. Das vermittelt dem Leser eine distanzierte Haltung zum
Patienten.
Am Ende der Gehirne-Novelle wirft er die Frage nach den Konsequenzen der Beschädigung
des Gehirns auf. Damit greift er sein Essay-Thema „Unter der Großhirnrinde“ wieder auf. Der
Vogel erscheint hier als Symbol für das Ausweichen in das Kreatürliche. Im Drama „Ithaka“
wünscht Benn sich, dass alle Menschen Quallen wären, da sie es in dieser Seinsform leichter
hätten. Im Schluss der Novelle fliegt der Geist praktisch davon, die Gedankenstriche stehen
für die Flügelschläge. Die Form des Textes zeigt das Fliegen, hier schimmert also die
Formästhetik Benns durch. Die Satzform ist unvollständig, die Syntax ist aufgesplittert, auch
dies zeigt das Fortfliegen der Seele beziehungsweise des Menschen. Das freie Assoziieren
wird hier zum Schreiben. Die absolute Prosa zielt vor allem auf lautliche Qualitäten, wie in
Nietzsches Artistenevangelium. Wo die Seele sich löst, wird es lautlich und rhythmisch, das
Ganze wirkt wie ein Kunstwerk. An dieser Stelle zeigt sich der Übergang vom Psychologen
und Mediziner zum Dichter.
3. Benn und die Berliner Charité
Gegründet wurde die Charité 1710 als Pesthaus. Der erste Weltkrieg machte aus dem
psychiatrischen Großkrankenhaus ein großes Sterbehaus. In den Jahren 1911-12 hatte Benn
eine Stelle als Unterarzt im Berliner Krankenhaus.
Die medizinische Psychologie ist die Anwendung von Erkenntnissen und Methoden der
Psychologie auf die Medizin. Wichtige Vertreter der medizinischen Psychologie waren zum
Beispiel Theodor Meynert (1833-1892) und Paul Emil Flechsig (1847-1929). Auf sie bezieht
sich Benn in seinem Aufsatz. Bei den Krankheiten der Psyche sah man den Körper aus
Ausgangsherd, die Materie bestimmt also die Psychosen. Dies lernte auch Benn. Ende des 19.
Jahrhunderts kommt die Nervenforschung auf, auch dies nimmt Benn in der Charité auf. Er
beginnt damit, Assoziationen seiner Patienten aufzuzeichnen. In der Novelle „Der
Geburtstag“ findet sich ein Beispiel für Assoziationen. Hier schreibt er eine Assoziationskette
nieder: „Maita- Malte- Strände- leuchtend- Fähre- Hafen- MuschelfressenVerkommenheiten- der hell klingende Ton einer leisen Zersplitterung,…“9 Es zeigt sich
erneut sein Wunsch der Flucht in die südlichen Gefilde. Die optischen Assoziationen
unterstützen das sinnliche Schreiben, welches bei Benn einen Kontrast zu dem ebenfalls
angewendeten distanzierten Stil.
6
Ebd., S.19.
Ebd., S.20.
7
Ebd., S.20.
7
9
Benn, Gottfried: Prosa und Autobiographie, Frankfurt am Main 1998, S.42.
20.6.
Y. Ilseven
In der ersten Viertelstunde wurde die Beziehung zwischen Gottfried Benn und
Nietzsche angesprochen. Benn erwähnt in seinen Werken sehr häufig Nietzsche.
Dieser ist für Benns Kunstästhetik verantwortlich. Für Benn ist Nietzsche Gründer
der neuen Kunstlehre. Benns Maxime verdeutlicht es auch: „Kunst als Artist“. Benns
Weltanschauung besagt, dass nur durch das ästhetische Phänomen das Dasein der
Welt gerechtfertigt ist. Nietzsche als Atheist und Philosoph sieht die einzige Garantie
für die gelungene Ästhetik in der Kunst. Wenn es dem Menschen nicht gelingt, aus
dem Leben eine Kunstsammlung zu machen, dann ist das Leben verfehlt.
Danach sind wir zu der Lektüre „Die Gehirne“ von Gottfried Benn übergegangen.
Auf den ersten Seiten fällt dem Leser der Zeitwechsel auf. Es gibt einen Sprung vom
Präteritum zur Präsens, d.h. der Leser hat eine Erzähl-Wechselperspektive vor sich.
Die Erzähl-Wechselperspektive ist ein typisches Merkmal für einen
Bewusstseinsroman, d.h. der Erzähler befindet sich im Kopf der Figur. In diesem
Fall haben wir eine erlebte Rede vor uns. Der Protagonist führt einen inneren
Monolog.
Wie nimmt der Protagonist die Dinge wahr? Die Bilder, die er in seiner Umwelt
wahrnimmt, rauschen an ihm vorbei. Die Farbe wird zum selbstständig handelnden
Wesen. Hier hat man den Wechsel von der sachlichen Sicht zur Emotionalisierung
der Sichtweise. Als nächsten Schritt haben wir über das Kurzzeitgedächtnis des
Protagonisten gesprochen. Die Ereignisse, die in diesem Kurzzeitgedächtnis
gespeichert worden sind, fließen bei der Beschreibung herunter.
Der ganze Mensch wird auf ein ökonomisches Teil reduziert. Der Mensch hängt sich
an das Ohr. Inhaber und Ohr werden als separate Subjekte dargestellt.
Der Protagonist – Rönne – flieht in die Assoziation „Vogel aus der Schlacht“ (Zitat
aus der Lektüre). Daraus schließt man, dass Rönne ins Tierische hinein will. Seine
Worte sind wie folgt: „Ich will auffliegen wie ein Vogel“. Er verwirklicht sein
Vorhaben bis ins kleinste Detail.
Auf der syntaktischen Ebene betrachtet kann man sagen, dass man bei dieser Lektüre
eine fragmentarische Struktur vor sich hat. Die Lektüre beginnt mit einem
vollständigen Satz und die Sätze werden ausgeschnitten. Es werden Lautqualitäten
gesetzt. Hier wird Benn der Mediziner zu Benn dem Poeten. Aus der
psychologischen Assoziation entsteht eine ästhetische. Psychologie ist ein Gebiet der
Humanmedizin. Dort hat man durch Stromschläge versucht, die Assoziationen der
Patienten zu testen.
27.6.
Charlotte Lehmann
Die Sitzung vom 27.06.’07 beschäftigte sich mit Rainald Goetz und seinem beim Wettbewerb
um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt 1983 vorgetragenem Werk „Subito“.
Rainald Goetz wurde am 24. Mai 1954 geboren und zählt zu den wichtigsten Autoren der
Gegenwart. Er studierte Geschichte und Medizin, in welchen er auch promovierte. Vor allem
ist hierbei seine Arbeit in der Medizin von 1982 zu erwähnen, die sich mit dem Thema
Jugendpsychiatrie befasst.
Als Schriftsteller profilierte er sich bei dem eben genannten Wettbewerb, bei welchem er sein
Werk „Subito“ vorlas. Hier inszeniert er mit Marcel Reich Ranicki einen schockierenden
Auftritt, bei dem Goetz sich als Punk verkleidet mit einer Klinge in den Kopf schneidet, das
passend zu der Passage „In die Stirne schneid’ ich das Loch.“ passiert.
Es war Ranickis Idee, der zuvor als Chef der FAZ für den Suhrkamp Verlag unterwegs war,
das von Goetz geschriebene Buch „Irre“ las und diesen fragte, ob er an der Inszenierung
teilnehmen wolle.
Ranicki selbst wird im Text als „Titan“ angesprochen.
Die Textgattung ist formal ein Prosatext, der aber auf der Bühne inszeniert ist, auf der der
Autor selbst vorliest, welches dadurch dem Text ein dramatisches Element verleiht. Somit
kann man den Text eher als Mischgattung bezeichnen. Trotzdem ist es ein Text in welchem
das Publikum beschimpft wird, indem er durch Bevölkerungsschichten geht (z.B. Taxifahrer,
Behinderte, etc.). Der Begriff „Autorterrorist“ ist passend.
Der Text scheint einen auktorialen Erzähler zu haben, allerdings springt dieser ohne
Vorwarnung zu verschiedenen Orten und Personen („eines abends“/“heller Nachmittag“).
Es kommt zu einer doppelten Selbstreferenz des Textes, einmal auf sich selbst und einmal auf
den Roman „Irre“. Somit referiert Literatur auf Literatur.
Der Name der Hauptfigur Raspe wurde von einem Gründungsmitglied der RAF übernommen,
der 1972 verhaftet wurde und 1977 durch Suizid starb.
Diese Figur erinnert ebenfalls an die Rönne-Figur bei Gottfried Benn in der Novelle
„Gehirne“. Die Parallelen sind, dass auch Raspe ein Terrorist und ein Chaot ist. Ähnlich ist
die Entfremdung von der Körperlichkeit und der Landschaftswahrnehmung Das Hirn wird
von Raspe ebenfalls als feindlich angesehen. Allerdings wird Raspe weitergeführt als Rönne,
da jener noch andere Rollen übernimmt. So nimmt er die Rolle des Zynikers ein, der die
Umwelt auf fleischliche Erscheinungen reduziert. Es gibt zahlreiche Stellen, wo er ausfallend
wird. Er ist cholerisch, nihilistisch und misanthropisch. Ebenfalls kann man ihn als
Terroristen, Nazi und Frauenhasser bezeichnen, da seine Art die Gewalt ist und er durchweg
Minderheiten diskriminiert. Trotzdem ist der Text gemischt mit sensiblen Eindrücken der
Landschaft und einer Selbstpathologie, da Raspe merkt, dass etwas in seinem Gehirn
„passiert“.
Zwischendurch wird ein Bruch im Text herbeigeführt, indem sich Goetz selbst einbringt
(s.S.14 „ich“; S.15 „Hören Sie auf zu lesen, Goetz“). Somit wird klar, dass der Erzähler, der
Ich-Erzähler und der Autor identisch sind.
Goetz bringt ebenso reale Bezüge, wie z.B. eine Kritik am gegenwärtigen Literaturbetrieb ein,
als er auf Seite 18 zum einen auf den Ort des Nachtcafes und zum anderen auf Klagenfurt,
den Ort des Wettbewerbs, eingeht.
Goetz verwendet bei „Subito“ die Technik des Dokumentarismus, indem er die ungefilterte
gesprochene Sprache in seinen Text einfließen lässt. Der Text ist stark selbstreflexiv und ist
inspiriert von der Kunst von Andy Warhol, der Popart, sowie literarisch vom
Dokumentartheater und vom Naturalismus. Es findet eine Materialästhetik statt, indem das
Material nicht in Form gebracht wird, sondern gefunden wird, ohne ihm einen Sinn
zuzuschreiben. Diese Technik der Montage wendet Goetz hier an.
Darüber hinaus wird der Gegensatz von Hirn und Blut aufgenommen, welches wieder eine
Parallele zu Benn bzw. Rönne darstellt. Das Blut, das dort assoziiert wird mit dem
Lebensstrom, Frauen und Rausch, verwendet Goetz ebenfalls so, trägt es aber auch nach
außen durch sein „dramatisches Schauspiel“. Das Leben selbst soll das Kunstwerk sein. Der
Affekt und die Flüssigkeiten stehen für das Leben, was eine antiintellektuelle Haltung
hervorbringt, indem es gegen das Denken vorgeht und somit als terroristisch aufzufassen ist.
Eine letzte Parallele der Schreibweise ist das Bewusstseinsprotokoll, obwohl es auch ein
Protokoll des Alltagslebens gibt. In diesem Text befindet sich die Hauptfigur in einem
Extremzustand und wird seziert.
Protokoll der Sitzung vom 27.06.2007 zum Thema:
Rainald Goetz "Subito"
Der Text "Subito" von Rainald Goetz wurde für den Ingeborg-Bachmann Wettbewerb 1983
verfasst. Der Text ist nicht völlig eindeutig einer literarischen Gattung zuzuordnen, da er
einerseits mit dem Vorhandensein einer Erzählerinstanz das Kriterium eines Prosatexts erfüllt
aber andererseits auch manifestartige Züge trägt und zusätzlich, durch das Vortragen des
Autors auf der 'Bühne' des Wettbewerbs und den Schnitt in die Stirn einen performativen
Charakter erhält.
Der Text entsteht aus Extremen verschiedener Art. Mangelnde inhaltliche Kohärenz, häufiger
Gebrauch von Neologismen, derbe Ausdrucksweise, Wechsel im sprachlichen Register bis
hin zur dialektischen Umgangssprache, häufige unmotivierte Ortswechsel innerhalb der
Erzählung, plötzliche Veränderungen in der Erzählhaltung und scheinbar sinnlose
Handlungen der Charaktere, stellen den Rezipienten vor Leseschwierigkeiten und führen zu
damit verbundenen Verständnisproblemen. Die Ästhetik des Textes Subito konstituiert sich
vor allem durch den bewussten Bruch mit akzeptierten narrativen Mustern und
Erzählstrategien. Der Protagonist ist nicht mehr in ein einheitliches Gefüge von Raum und
Zeit gebunden und eine lineare, sukzessive Abfolge von Handlungsschritten ist nicht gegeben.
So befindet sich Raspe zu Beginn des Textes „[...] auf einer Parkbank im Innenhof der Klinik
[...]“10, bis der Ort der Handlung nach einem ersten Blick in Raspes Gedankenwelt völlig
unmotiviert in einen Zug verlegt wird: „Raspe saß nämlich im Zug“.11 Die Abfolge der
Handlung offenbart sich somit eher als ein loses Konglomerat von einzelnen Szenen. Die
Handlungszersetzung in kleinere Einheiten steht im Einklang mit der Montagetechnik, in der
einzelne Textabschnitte mit anderen neuartige Beziehungen eingehen.
Ein weiteres ästhetisches Element der Goetzschen Schreibweise zeigt sich im Hinblick auf
den medizinischen Diskurs, der die Wahrnehmung Raspes ebenfalls beeinflusst und
qualifiziert. Nach der Aufgabe des kontemplativen Schauens während der Zugfahrt nimmt der
Nervenreiz Einfluss auf Raspes Aufmerksamkeit. Interessanterweise wird dem
neuroanatomischen Ablauf der Reizweiterleitung durch den menschlichen Körper mit der
Besetzung des Substantivs „Hirnrinde“12 in der syntaktischen Position des Subjekts handelnde
Funktion zugewiesen: „[...] bis endlich, über den dicken Sehnervenstrang befeuert, die
Hirnrinde ganz hinten im Occipitallappen wußte, daß da eine Lästigkeit [war] [...]“.13 Mitten
im Darstellungsmodus der Reizweiterleitung wechselt die Beschreibung in den inneren
Monolog Raspes, der das Geschehen dann bewusst wahrnimmt und weiter beschreibt: „[...],
was ist denn da los, da links, das muß doch der Krüppel, die bewegt sich doch, diese Frau,
10
Goetz, Rainald: Hirn, Frankfurt a. M. 1986, S. 9.
Ebd., S. 10.
12
Ebd., S. 11.
13
Ebd., S. 11.
11
was macht denn der Krüppel da drüben“.14 Die Art und Weise des Wahrnehmens bekommt im
Hinblick auf den medizinischen Diskurs und die damit verbundene Determinierung der
Wahrnehmung durch physiologische Abläufe eine zusätzliche Qualität. Wahrgenommenes
verselbständigt sich nämlich durch die Unmöglichkeit Nervenreize nicht wahrzunehmen oder
auszublenden. Die Anordnung des Erzählverlaufs verdeutlicht dies: Die von der Umgebung
des Menschen ausgehende, ununterbrochene Reizflut, die am Beginn der Textstelle
ausgestaltet wird, führt zur Reizweiterleitung zum Gehirn, sodass der Reiz schließlich
bewusst von Raspe wahrgenommen wird und der innere Monolog die Darstellung des
Gesehenen übernimmt.
Der Wechsel in der Erzählhaltung bietet einen weiteren interessanten Punkt im Goetzschen
Text. Diese Erzählhaltung wird im Verlauf der Erzählung von einem Ich-Erzähler abgelöst:
„Nüchtern, wie gesagt, noch so was von nüchtern hat Raspe das Nachtcafé betreten, und
gleich bin ich, hier kriege ich Lust auf das Ich [...]“.15 Innerhalb eines Satzes verschiebt sich
der Blickwinkel der Erzählung zur direkten Wiedergabe der Gedanken, Ideen und
Handlungen des erzählenden Subjekts, sodass ein radikaler Schnitt in der Erzählsituation
entsteht. Mit diesem Schnitt stellt sich zunächst die Frage, wer nach dem Wechsel in der
Erzählhaltung denn eigentlich spricht. Einerseits könnte die Figur Raspe sich ihrer selbst
bemächtigen und beginnen zu sprechen. Andererseits wird den Texten von Rainald Goetz
oftmals unterstellt, dass Goetz als Autor selbst die Sprache ergreife und der Protagonist der
Erzählung demzufolge mit dem Autor gleichgesetzt werden könne.
Der manifestartige Auszug am Ende des Textes beginnt mit der Forderung des Ich-Erzählers,
die Welt ganz einfach Abzuschreiben und die Konstitution eines Sinns außer Acht zu lassen.
Das Abschreiben der Welt soll in Loslösung vom Sinn erfolgen. Gemäß dieser Forderung
bedient sich der Text der Materialästhetik und widersetzt sich dem Intellekt des Menschen.
Der Text stellt sich somit in seinem Facettenreichtum auch als 'Terror gegen das Denken' aus.
Protokoll zur Sitzung am 27.6.2007
Renja Birkelbach
In der Sitzung am 27.6. stand Rainald Goetz´ Text „Subito“ zur Behandlung. Rainald Goetz,
geboren 1954, zog von München nach Berlin und promovierte dort zunächst als Historiker
und dann als Mediziner. Seine medizinische Richtung war die Psychiatrie, vor allem die
Jugendpsychiatrie. Dies zeigt sich auch deutlich in seinem ersten Roman „Irre“, dessen
Protagonist – der junge Nervenarzt Raspe – zwischen Psychiatrie und Kneipe lebt.
Mit dem Text „Subito“ hatte Rainald Goetz sein Debüt 1983 beim Ingeborg-Bachmann Preis
in Klagenfurt. Goetz hatte ihn eigens für seinen Auftritt geschrieben und dies sollte sozusagen
als „Vorgeschmack“ auf „Irre“ dienen. Auch seine Lesung selbst sorgte neben dem sehr
provokanten und moralisch fragwürdigen Text „Subito“ für Aufsehen, denn er erschien in
einem Punker-Kostüm und schnitt sich während seiner Vorlesung die Stirn auf. Dies war
allerdings unter der Regie von Marcel Reich-Ranicki geschehen, der Goetz auf seiner Suche
nach jungen Autor-Talenten sozusagen entdeckt hatte.
Nun war bisher immer die Rede von „Subito“ als „Text“. Die Frage, die an dieser Stelle
aufkommt, ist: Was ist er für eine Textgattung? Dies ist nicht leicht zu beantworten.
14
15
Ebd., S. 11.
Ebd., S. 14.
Prinzipiell spielt der Gattungsbegriff keine Rolle für Goetz, er bezeichnet sich selbst sogar als
„Autorterrorist“. Goetz benennt ihn im Text selbst als „Manifest“.
Die nächste Frage, die sich stellt, ist: Wer spricht? Der Beginn des Textes wird von einem
auktorialen Erzähler gesprochen, der allerdings bereits „durchlöchert“ ist, d.h. er wird im Text
nicht durchgehalten. Bald erscheinen die Figuren Raspe und Ich. Das Ich ist Goetz selbst. Das
ist auch daran zu erkennen, dass er mitten in der Erzählung schreibt, er werde jetzt zum „Ich“
übergehen, da es jetzt „lustig wird“. Aber auch daran, dass er explizit auf den Ort Klagenfurt
eingeht, wo die Literaturveranstaltung stattfindet, auf der er „Subito“ lesen wird. Der
Übergang zwischen Raspe und dem Ich ist fließend. Der Text ist also eine Art Drama, da er
Dialog-Tendenzen zwischen dem Ich und Goetz aufzeigt.
Der erste Absatz des Textes ist aus Goetz´ Roman „Irre“ regelrecht abgeschrieben. Damit
ergibt sich eine doppelte Selbstreferenz, nämlich einmal auf den Text und einmal auf den
Autor. Anders gesprochen: Literatur verweist auf Literatur, was man auch als Intertextualität
bezeichnet. Diese Intertextualität ist auch an der Figur des Raspe festzumachen. Er durchzieht
immer wieder Goetz´ Texte und nicht nur dort gibt es ihn, auch im wahren Leben. Raspe ist
Terrorist. Hier könnte man auch wieder auf die „literatur-terroristische“ Ader von Goetz
Bezug nehmen.
Doch Raspe hat seine Referenz nicht nur im wahren Leben und in verschiedenen Texten
Goetz´, sondern er erinnert auch stark an die Figur des Arztes Rönne in Gottfried Benns
„Gehirne“. Beide zeigen Gemeinsamkeiten auf; zum Beispiel in ihrer Landschaftsbetrachtung,
die sehr impressiv ist. Weiterhin haben beide Figuren Erscheinungen von Ich-Dissoziationen,
d.h. Verselbständigung von Organen, bzw. Körperteilen. Bei Rönne sind es die Augen, die
„zum Sprung bereit sind“, bei Raspe ist es sein Arm, der fremd aus seinem Kittel ragt. Auch
das „Hirn-Motiv“ wird in beiden Texten aufgegriffen, d.h. die Hirn-Feindlichkeit. Während
Rönne fundamentale Zweifel am Gehirn hegt, will Raspe es sich aus dem Kopf
herausschlagen. Auch kann man ein Bezug nehmen zu Benns Morgue-Lyrik, nämlich zum
„Nachtcafé“, das hier in „Subito“ erwähnt wird.
Eine weitere Frage, die wir behandelt haben, ist: Was übernimmt Raspe für Rollen? Er ist ein
Zyniker über seine ärztlichen Tätigkeiten; das ist deutlich. Während er über die gesamte
Spanne von Menschen herzieht, wie zum Beispiel das Bildungsbürgertum, Literaten, aber
auch Krüppel, bekommt man den Eindruck, Raspe ist ein Misanthrop. Auch nihilistische Züge
lassen sich nicht verbergen. Raspe schlüpft also in verschiedene Rollen, von denen der Nazi
und der Frauenhasser nur zwei sind. Auch kam der Eindruch auf, Raspe ( oder das Ich? ) sei
ein maßloser Choleriker, da sich dies während seiner Lesung, die wir auf Band anhören
durften, doch deutlich zeigte. Noch deutlicher zeigten sich allerdings Raspes
selbstpathologische Züge, als er zum Beispiel davon redet, dass sein Hirn platzen werde.
Weiterhin ist der Ausdruck „alles kaputtschlagen“ aufgefallen. Diese zerstörerischen
Tendenzen lassen sich ebenfalls in Benns „Gehirne“ wieder finden. Es ist immer wieder die
Rede vom Hirn, das aufgeschnitten werden soll, sowohl bei Goetz als auch bei Benn. Dies
haben wir als Fluchtbewegung gedeutet. Die Flucht in Blut, Traum und Rausch. Rönne will
nicht mehr denken, will darin eintauchen und Raspe tut es dann auch. Er taucht ein in Blut,
Traum und Rausch. Hier zeigen sich also wieder deutlich die Zweifel am Hirn, wie es schon
bei Benn zu sehen war, nur, dass Goetz es noch weiter radikalisiert. Er nimmt eine extrem
anti-intellektuelle Position ein.
Um noch einmal auf die Gattungsfrage zurück zu kehren: Goetz nennt seinen Text
„Manifest“. Es ist ein „Abschreiben der Welt“, also ein Dokumentarismus. Es muss auch
hervorgehoben werden, dass es bei ihm um jegliche Loslösung von Sinn beim Schreiben geht.
Bei Goetz steht das authentische Schreiben im Vordergrund, ein Verdoppeln der Welt im
Abschreiben. Dies realisiert er durch sein Mundart-orientiertes Schreiben. Goetz schreibt so,
wie Menschen reden und denken. Diese Art zu schreiben nennt man Materialästhetik. Sie
besteht aus den stilistischen Mitteln „Montage und Schnitt“. Das heißt, alles, aber auch alles
wird aus der Welt in den Text übernommen. In dieser Art zu schreiben kann keine Rücksicht
auf die moralischen Gefühle Anderer genommen werden. Daher die oft anstößigen Sequenzen
im „Subito“-Text.
Trotzdem ist und bleibt Goetz Mediziner. Deutlich zu sehen ist dies an seinem Schreibstil.
„Subito“ ist eine enge Montage der Tatbestände. Egal, ob er über die Kneipe, den Kopf oder
den Körper schreibt, er bleibt immer nah am Gegenstand und dieser Stil ist seit Schiller sehr
bezeichnend für literarisch tätige Mediziner.
Protokoll der Sitzung vom 27.6.2007
Matthias Selent
Die Sitzung am 27.7.2007, behandelte den von Reinald Goetz 1983 veröffentlichen Text
„Subito“. Der 1954 in München geborene Reinald Goetz, verfasste den Text für den
Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb, wo er durch die Inszenierung seines Vorlesens schlagartig
berühmt wurde. Marcel Reich-Ranicki war, im Vorfeld des Wettbewerbs, für den
Suhrkampverlag auf der Suche nach jungen Talenten und bekam so Goetz Roman „Irre“ in
die Hand, wodurch er auf ihn aufmerksam wurde. Reich-Ranicki stand Goetz nun bei seiner
Inszenierung Regie, was allerdings erst einige Jahre später herauskam.
Versucht man Subito in einer Gattung einzuordnen, so gestaltet sich dies äußerst schwierig.
Formell betrachtet handelt es sich um einen Prosa-Text, der allerdings durch die Tatsache der
Inszenierung in ein Drama überwechselt. Auch der auktoriale Erzähler unterwandert seine
eigentliche Rolle und findet sich rasch in einem Dialog wieder. Dabei sind zwei Wechsel zu
beobachten: Zuerst bleibt die Hauptfigur der fiktive Dr. Raspe und bricht dann um zu einem
namenlosem Ich, dass dann im letzten Schritt als Reinald Goetz identifiziert wird. Dabei
bezieht sich das Ich in einer doppelten Selbstreferenz auch auf den Autor des Werkes und sein
Leben. Weiterer abrupte Wechsel finden sich in den Handlungsspielräumen. Die Wechsel
treten dabei so häufig auf, dass es gerade gegen Ende schwer fällt sie von einander zu trennen
oder sie zu identifizieren. Kurz gesagt lässt sich Subito also keinem Gattungsbegriff
zuordnen.
Die Hauptfigur, mit welcher der Text beginnt, ist Dr. Raspe. Diese Figur erscheint bei Goetz
häufiger, zum Beispiel in seinem Roman „Irre“ aus dem zu Beginn von Subito kräftig zitiert
wird. Der Bruch kommt erst, als sich das Ich fragt, ob es überhaupt Sinn macht etwas
Vorzulesen, was in kurzer Zeit eh erscheinen wird. Raspe ist anhand seines Namens, den er
mit einem RAF-Terroristen gemeinsam hat, eine höchst aktivistische Persönlichkeit. Seine
doch „rotzige“ Sprache unterstreicht dies. Die Figur des Dr. Raspe erinnert dabei stark an
Gottfried Benns Hauptfigur: Dr. Rönne.
Zum Einen fallen die Landschaftsbeobachtungen auf, welche bei beiden Figuren
Assoziationsketten auslösen. Auch eine Ich-Disposition wird bei beiden Ärzten deutlich, da
sie sich zeitweise von ihren Körperteilen getrennt betrachten. Sie unterziehen sich dabei auch
häufig einer Selbstpathologie und beobachten deutlich die einzelnen Abläufe ihres Körpers.
Eine weitere Parallele findet sich im dokumentarischen Schreiben, welches als wesentliches
Stilmittel bei Goetz und Benn auffällt und sich durch das akribische Aufzeichnen von
Sachverhältnissen der Innen und Außenwelt der Hauptfigur ausmacht.
Ein gemeinsamer Charakterzug der beiden Hauptfiguren ist dabei der des Misanthropen und
Nihilisten, welcher die Umwelt und sich zynisch auf das Fleischliche reduziert. Beide sind
cholerisch und folgen dem anarchistischen Grundsatz, dass alles Bestehende weg muss.
Diesbezüglich führt Goetz Dr. Raspe jedoch weiter als Benn seinen Dr. Rönne führte, denn
bei diesem blieb alles im Geist. Dr. Raspe jedoch handelt und agiert. Raspe will weg vom
Hirn und das Blut und das Leben strömen lassen, welches der ausgebildete Arzt Goetz mit
einem Schnitt durch seine Stirn auf der Bühne untermalte.
Die Parallelen zu Benn sind dabei durchaus gewollt, so wird in Subito beispielsweise ein
Nachtcafé erwähnt, welches ja auch der Titel eines bekannten Gedichts von Benn ist.
Gegen Ende von Subito wird die Sprache deutlich und fordernd, so dass man sie manifesthaft
nennen kann. Im Wesentlichem werden in diesem Manifest 4 Kernthesen genannt: Zum
Ersten ist alles Erreichte stets kaputtzuschlagen, um jedweden Stillstand zu verhindern.
Zweitens muss stets versucht werden sich von jedem Sinn loszulösen. Drittens ist die Welt
stets abzuschreiben, wobei viertens alles ein Thema sein kann. Genau dies ist
Dokumentarismus, wenn er möglichst akribisch und ungefiltert versucht authentische
Aufzeichnungen der Außen und Innenwelt anzufertigen. Diese Materialästhetik geht, neben
Nietzsches Konzeptionen, vor allem auf Andy Warhol zurück, der von sich stets beteuerte, er
versuche nur die Welt zu kopieren. Dies wird jedoch bei Goetz überspitzt, der sich selbst
einen „Autorterroristen“ nannte.
Stundenprotokoll vom 04.07.2007
Jessica Küpper
In der Sitzung wird Thomas Melles Text Wuchernde Netze behandelt, welcher einer von
zehn erzählähnlichen Texten aus seinem 2007 im Suhrkampverlag erschienenen Buch
Raumforderung ausmacht. Melle ist ein junger Autor (1975 geboren), welcher sich
insbesondere durch die Verwendung von Krebsmetaphern auszeichnet.
Seine Erzählung Wuchernde Netze ist hoch ironisch angelegt und verbindet geschickt
unterschiedliche Biografieformen. Der Text beinhaltet sowohl eine Autobiografie, eine fiktive
als auch eine Arbeitsbiografie. Der von ihm aufgeführte Lebenslauf lässt keinerlei
Übereinstimmung zu einem Autor zu, allerdings können alle geschilderten Ereignisse als
authentisch ausgewiesen werden. Die erzählte Zeit in diesem Text umfasst einen Spannraum
von 1977-2010. Allerdings werden auch früherer Ereignisse (vor 1977) umrissen, welche auf
die Kindheit und Familienmitglieder des Autors referieren. Insgesamt werden in dieser
Spanne zahlreiche Spuren gelegt, welche den Leser in die Irre führen und teilweise nur
Mutmaßungen zulassen, beispielsweise in Bezug auf das Geburtsdatum des „Erzählers“. Es
kann vermutet werden, dass dieser circa 1955, vielleicht auch im Jahre `54 geboren wurde als
Anspielung auf das Geburtsjahr seines ewigen Konkurrenten Goetz. Dem Leser werden
demnach nur einzelne „Anspielungswerte“ vermittelt.
Darüber hinaus wird dem Leser abverlangt, sich in der Zukunft einzufinden mit dem Blick auf
das Jahr 2010. Der erzählähnliche Text ist – wie schon erwähnt- hoch ironisch angelegt. Der
Ironiebegriff stützt sich auf die griechische Bedeutung „eirreia“ im Sinne von Kunst der
Verstellung. Als Beispiel einer Verstellung kann die Zeit benannt werden, die sich zum einen
bis in die Zukunft erstreckt, also über die Gegenwart hinaus geht, und zum anderen eine
Kapitelrückwärtszählung (Countdown) beinhaltet, die bis zu dem Punkt Null heruntergezählt
wird.
Darüber hinaus wird das Erinnern als ironisches Spiel thematisiert. Insbesondere das 20.
Jahrhundert zeichnet sich durch unzählige Autobiografien aus, in welchen das Erinnern selbst
zum Thema wird. Es kann an dieser Stelle Marcel Prost angeführt werden, welcher sich in
seinem Lebensraum immer wieder neu zu erinnern vermag, indem beispielsweise die
Kombination von Geschmacks- und Geruchsinn Erinnerungen in ihm wach werden lässt. Das
„Sich Erinnern“ kann als moderner Topos verstanden werden, welcher durch immer
wiederkehrende Sätze wie „Ich weiß nichts mehr“ (150 im Text) in unterschiedlichen
Autobiografien auftaucht. Der Autor greift diesen Satz selbst als Teil des ironischen Spiels
auf. Eine weitere Ebene der Ironie findet sich im Kontext der Kommunikation/Medialität
wieder.
In Anlehnung an Baudrillards Simulationsthese kann davon ausgegangen werden, dass der
Anteil direkter Kommunikation in unserer Gesellschaft abnehme und zunehmend durch eine
simulierte Wirklichkeit ersetzt werde. Diese simulierte Wirklichkeit bestünde dann nur noch
aus Abbildern. Als Spezialform der Kommunikation ist der Literatutbetrieb zu benennen,
welcher beispielsweise innerhalb des Textes durch direkte Ansprachen an die Literaturkritiker
zum Ausdruck kommt; Kritik härte nach Melle ab. Durch diese Aussage seitens des Autors
wird auf Marcel Reich-Ranickis Vorrede 1983 bei der „Ingeborg Bachmann Preislesung“
angespielt. Auf Rainald Goetz wird nicht nur durch die Bezeichnung „ewiger Konkurrent“
verwiesen, sondern auch durch den Hinweis auf seinen (Internet-) blog, welcher in
Wettkampfmanier Melles Internetplattform gegenübergestellt wird. Melles Internetseite bietet
die Möglichkeit von Experimentaltexten, Alternativenden und Links und erfreue sich großer
Beliebtheit. Goetz` Internettagebuch sei hingegen nach kurzer Zeit eingestellt worden.
Als weitere Beziehung zwischen den Autoren Goetz und Melle kann der ähnliche
Sprachgebrauch und die Verwendung des Metaphernfeldes Krebs betrachtet werden. Darüber
hinaus spielen beide Autoren mit ihren Figuren Raspe(l) und Baader auf real existierenden
Figuren an, die als Teil der linksextremistischen Terrororganisation RAF gelten. Raspel
präsentiert sich als rabiate und chaotische Figur, welche neben lautlichen Parallelen zu der
Figur Rönne auch weitere Ähnlichkeit zu Gottfried Benns Figur aufzeigt. Baader ist in Melles
Erzählung der Freund seines Sohnes und zugleich „Terrorist im Internet“.
In der Erzählung wird in Form einer Prolepse eine Voraussicht auf den Tod der Figur
geliefert. Die Katastrophe wird vorweggenommen, das Ende des Textes hingegen liefert einen
Rückblick (Analepse). Das Rückwärtszählen der Kapitel gilt dann als Countdown auf den
mutmaßlichen Selbstmord unter Ankündigung, welcher zeitgleich als Reinigung
gekennzeichnet wird. Bei Goetz ist es das Schneiden in die Stirn, welches als Freisetzung der
verstandesmäßigen Hindernisse anzusehen ist. Das verseuchte Hirn soll herausgeschnitten
werden. Durch diese Aktion, das Schneiden in die Stirn, soll die Authenzität von Gedanken
markiert werden. Melle versucht, den Krebs und die böse Wahrheit auszutreiben. Goetz
erkennt in dem Hirn selbst einen Tumor, der beseitigt werden müsse.
In der Erzählung Wuchernde Netze wird die Performanz (Aktion/Tat) thematisiert, wodurch
erneut eine Goetz- Anspielung deutlich wird, da dieser durch den Schnitt in die Stirn Literatur
nicht nur als „etwas auf Papier Geschriebenes“, sondern auch als Aktion begreift. Diese
Performanz kippt allerdings um in Repräsentation. Dieser Umstand kann möglicherweise als
Verweis auf die literarische Ewigkeit verstanden werden.
In der Erzählung wird darüber hinaus das Netzwerk thematisiert, welches im allgemeinen
Sprachgebrauch positiv besetzt ist, von Melle allerdings ausgeschlachtet wird. Denn das
Netzwerk ist eben nur das Netzwerk selbst und die Frage ist, was letztlich bleibt? Die
Informationen im Netzwerk, beispielsweise Melles Internetportal, verlieren sich im Nichts
oder in Allem und tauchen regelrecht unter.
Der Autor begreift das Netz gemeinhin als Nachbau des Gehirns und betrachtet es in
Anlehnung an die Neurobiologie als das Biomorphe der Medien. Der Mensch neige demnach
dazu, bestimmte Dinge dem menschlichen Körper nachzubauen, zum Beispiel die Kamera in
Anlehnung an das menschliche Auge.
Melle fängt im Laufe der Erzählung selbst an, wie ein Computer zu sehen und
Beziehungsgeflechte herzustellen, er wird selbst zum Netz. In der Erzählung wird demnach
der Fokus stark auf das Ich in der Literatur und das Ich im Netz gerichtet.
4.7. Thomas Melle: Raumforderung
Sarah Pühl
Die Raumforderung von Thomas Melle ist fiktiv und gleichzeitig eine Arbeitsbiographie. Es
gibt zwar die im Text erwähnten einzelnen Ereignisse, aber keinen dazugehörigen Autor.
Die Zeitspanne des Textes umfasst 1977-2010, aber eigentlich startet sie schon viel früher, ca.
1955. 2010 ist das Jahr, dass den gesamten Text umfasst, und die einzelnen Ereignisse sind
rückblickend anzuschauen. Melle erwähnt in seinem Text Familienmitglieder und erzeugt
auch die Kunst der Verstellung (eironeia), d.h., dass die erzählte Zeit von 2010 rückwärts
läuft. Er erschafft somit ein Herantasten von Vergangenheit an die Gegenwart. Das 20.
Jahrhundert ist ein Jahrhundert der autobiographischen Romane, wozu man Melles Text
ebenfalls zählen kann, da sein Erinnerungstext autobiographische Zeichen erkennen lässt.
Diese Art und Weise der Erzählung ist ein moderner Topos, da man durch bestimmte Gerüche
Kindheitserinnerungen hervorrufen kann. Thomas Melle ist ein postmoderner Autor, der mit
der Erinnerung in ironischer Weise spielt.
Nun kommt die Simulationsthese von Baudrillard ins Spiel. Diese These besagt, dass die
Face to face Kommunikation langsam aber sicher durch die simulierte Form abgelöst wird,
d.h., dass Menschen nur noch per sms oder emails miteinander sprechen und nicht mehr von
Angesicht zu Angesicht. Da der Literaturbetrieb ebenfalls ein Kommunikationsmedium ist,
kann man sagen, dass sich manche Menschen nur über dieses Medium ausdrücken.
In seinem Text gibt es verschiedene Reaktionen und Gegenreaktionen zwischen ihm und
Goetz. Eigentlich glaubt der Leser, dass es sich um einen Konkurrenzkampf zwischen Goetz
und Melle handelt, obwohl man dies auf Grund der Altersunterschiede ausschließen kann.
Das einzige, womit beide konkurrieren könnten, wäre die Tatsache, dass beide Literaten sind.
Melle und Goetz haben jedoch eine weitere Sache gemeinsam, beide wollen ihren Körper
reinigen, Melle auf Grund seines Tumors im Hals und Goetz will sich sein Gehirn
herausschneiden. Im Gegensatz zu Melle, wird Goetz jedoch zum Ich-Erzähler, wenn er
anfängt sich in seine Stirn zu schneiden und das Geschehen aus seinem Werk nachzuahmen.
Er will mit dieser Geste andeuten, dass er sich sein Hirn herausschneidet, um die Rationalität
damit abzuwerfen. Goetz betrachtet also sein Hirn genauso wie Melle als Tumor und will es
nur noch loswerden und seinen Körper davon befreien.
Auf der Seite 146 wird angedeutet, dass Melle seinen Text so geschrieben hat, dass die Leser
ihn erst nach seinem Tod lesen sollen. Dies nennt man eine Prolepse, eine Ankündigung auf
ein Geschehen, was noch passieren wird, nachdem der Text fertiggeschrieben ist. Die ProAnalepse ist die Zurückschau, die er auf seine Kindheit macht. Am Ende seines Textes führen
beide zusammen, die Prolepse, wie auch die Pro-Analepse. Mit der Performanz auf Seite 156
tätigt Melle eine Anspielung auf Goetz. An dieser Stelle kippt sein Leben um in eine
Handlung, vielleicht will er damit aber auch nur die Verewigung in der Literatur aufzeigen.
Seite 154 Kapitel 4. deutet daraufhin, dass die Prolepse am Schluss des Textes erneut
aufgegriffen wird. Er spricht auf Seite 154 davon, dass er alle seine Texte in das Internet
stellen möchte, was er am Ende seines Textes auf Seite 165 im Schluss noch mal aufgreift.
Der Textschluss ist aber im eigentlichen Sinne kein wirklicher Abschluss und somit ein
Paradoxon. Recherchequellen führen den Text immer weiter, man kann also unterschiedliche
Anfänge und Enden bilden. Melle sucht seine Ewigkeit im Netz, wo seine Werke auch noch
Jahre nach seinem Tod angeschaut und gelesen werden können. Seite 154: Er selbst netzt sich
ein in das Netz der Schriftsteller und fügt sozusagen seine Werke hinzu. Das Wort differänz
sticht hier besonders ins Auge, da es falsch geschrieben ist. Dies lässt sich auf eine
Wortschöpfung von Jacques Derrida zurückführen. Derridas sprachphilosophisches Konzept
radikalisiert die Differentialitätsthese von Ferdinand de Saussure. Saussure entwickelte um
1900 die einflussreiche Theorie, dass sprachliche Zeichen (Signifikanten) ihre spezifische
Bedeutung nicht aus der festen Verknüpfung mit einem jeweiligen Gemeinten (Signifikat),
also einem Gegenstand, einer Idee etc., gewinnen, sondern aus der Differenz zu anderen
Zeichen.
Medien, die nach dem Körperselbstbild aufgebaut sind, nennt man biomorph, wie zum
Beispiel Computer, die wie unser Gehirn funktionieren.
In seinem Text stellt sich Melle also selbst als Netz dar.