I. Eichenbrenner

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I. Eichenbrenner
04/2011 soziale psychiatrie
im kino
Vielleicht nicht ganz dicht
Filmknäcke im Sommer 2011 Vo n I l s e E i c h e n b r e n n e r
»Barfuß auf Nacktschnecken«
Nun grübeln die Experten wieder,
nachdem in Oslo ein junger Mann
gebombt und geschossen hat:
Mad or bad? Ein Böser oder ein
Kranker – und wo ist die Grenze?
Filmknäcke hält sich lieber an anderen Rändern auf, an den alltäglich fließenden Übergängen zwischen Normalität und Eigenheit,
zwischen Stabilität und Turbulenz.
Die politisch korrekten Bezeichnungen für die ein klein wenig
psychisch gestörten Menschen
sind rar geworden. Wie soll man
sie beschreiben? Sie sind ein wenig
neben der Spur, haben eine kleine
Macke, sind schon etwas verkalkt
oder vielleicht nicht mehr ganz
dicht. Sie stehen manchmal neben sich oder werden ihres Lebens
nicht mehr froh. Filmknäcke war
im Kino und stellt einige dieser
bemerkenswerten Mitmenschen
vor.
»Barfuß auf Nacktschnecken«
(Regie: Fabienne Berthaud)
So stellt sich der gute Mensch
eine durchgeknallte junge Frau
vor: bildhübsch, kindlich-knallbunt,
aber freizügig angezogen fabriziert
sie kleine, makabre Kunstwerke,
häkelt den Bäumen ein Mäntelchen und erhängt Stofftiere in
den Ästen.
Um es ganz offen zu sagen: »Barfuß auf Nacktschnecken« ging mir
schon auf den Keks, bevor ich das
Kino überhaupt betreten hatte.
Ich war sozusagen negativ einge-
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»Naokos Lächeln«
stimmt durch die haptische Imagination des Filmtitels. Ich hörte
das Schmatzen, und es ekelte
mich. Kaum saß ich im Sessel, da
hüpft auch schon die Schauspielerin Ludivine Sagnier mit pinkfarbenen Kinderkleidern durchs Gras.
Ihre Mutter, soeben noch eine agile
Angehörige, bekommt am Steuer
ihres Autos ganz unvermittelt
einen Herzinfarkt. Es dauert eine
Weile, bis Lily kapiert, dass die
Mutter nun so tot ist wie die vielen
Kaninchen und Mäuse, denen sie
so gerne das Fell abzieht, um aus
ihnen die eigenartigsten Dinge zu
nähen. Was für eine Störung Lily
genau haben soll, wird nicht weiter ausgeführt. Sie mag ein wenig
minderbegabt sein, ein wenig
realitätsfern, natürlich ist sie trotzig
und sexuell freizügig und egoistisch bis zum Anschlag. Sie ist ganz
das Gegenteil ihrer sehr ernsthaften und bemühten Schwester
Clara, angenehm verkörpert von
Diane Krüger. Diese Clara muss
nun nach dem Tod der Mutter aus
Paris anreisen, um sich um die
lebensuntüchtige Schwester zu
kümmern. Das große Landhaus, in
dem die Mutter mit ihren beiden
Töchtern gelebt hat, steht im Mittelpunkt der Handlung; ganz in
der Nähe hat sich Lily eine Hütte
eingerichtet, in der sie klebt und
bastelt und näht oder sich von
den Jungs der Nachbarschaft erforschen lässt. Auch den Märchenwald drum herum hat sie sich
angeeignet mit Wolle und Häkelnadel. Die eine lacht, die andere
nicht, die eine genießt das Leben,
die andere macht sich Sorgen ...
das Schema ist bekannt: Es braucht
die Andersartigen, um das Leben
zu würzen, es braucht die Einfältigen, um sich auf die wichtigen
Dinge des Lebens zu besinnen. So
verwandelt sich Clara ganz allmählich und lässt sich ein auf die
Spleens und spontanen Aktionen
ihrer Schwester Lily. Clara verlässt
ihren Arbeitsplatz und ihren Mann
in Paris und folgt ihrer Schwester
und ihrem Herzen. Am Ende haben
beide einen kleinen Verkaufsstand
an der Landstraße mit Blumen,
Früchten und selbst gebasteltem
Krimskrams.
Einige Details in »Barfuß auf
Nacktschnecken« sind wunderbar
beobachtet, anderes ist Klischee
pur. Dass im Film weder von Krankheit, Störung noch von Therapie
auch nur ansatzweise die Rede ist,
hat mich für ihn eingenommen
und macht ihn tauglich für die
Inklusionsdebatte. Lily geht vermutlich nicht nur mir total auf
den Wecker, und trotzdem übernimmt sie allmählich ein wenig
Verantwortung für ihr Leben. So
treffen sich Lily und Clara und der
Zuschauer irgendwo in der Mitte
dieses komplett klapsenfreien
Sommerfilms. Die titelgebende
Konstellation kommt übrigens
nicht zustande – kein einziges
Schmatzen.
»Naokos Lächeln«
(Regie: Tran Anh Hung)
Es sind wohl vor allem die Leser
der Bücher von Haruki Murakami,
die das kleine Berliner Kino bis auf
den letzten Platz füllen. Dessen
Bestseller üben ja eine seltsame
Sogwirkung aus: Sie sind nicht
wirklich spannend oder dramatisch, eher ein wenig fantastisch
und versponnen, kreisen in der
Regel um das Innenleben junger,
schreibender Männer und verblüffen lediglich ab und zu durch ein
paar ungewöhnlich offene Bekenntnisse, zum Beispiel zu sexuellen oder kulinarischen Vorlieben.
Das Phänomen Murakami ist nicht
wirklich zu fassen; obwohl er ein
japanischer Autor ist, schreibt er
europäisch, global, weltumfassend.
Asiatisch ist allenfalls eine fast
autistische Zurückhaltung seiner
Akteure, und diese etwas distanzierte, »coole« Grundhaltung findet
sich am ehesten auch in der Verfilmung des vietnamesischen Regisseurs Tran Anh Hung.
Wer den gleichnamigen Roman
gelesen hat, der möge sich die
Inhaltsangabe sparen. Also: Toru
Watanabe ist als Oberschüler mit
einem Pärchen befreundet – Kizuki
und seiner Freundin Naoko. Seit
ihrem dritten Lebensjahr sind die
beiden zusammen, mit 17 tötet
sich Kizuki mit Autoabgasen –
keiner weiß, warum. Toru Watanabe verlässt die Stadt, um zu studieren; er bewohnt ein einfaches
Mehrbettzimmer in einem Studentenwohnheim, das er mit Jobs
im kino
soziale psychiatrie 04/2011
»Der Mann, der über Autos
sprang«
(Regie: Nick Baker-Monteys)
nachtet im Freien und steht an
jedem Morgen in fast makelloser
Kleidung wieder an der endlosen
Straße. Es gibt Interaktionen
zwischen den vier Pilgern; eine
Übernachtung in einem Hotel,
eine Panne, eine missglückte Rück führung. Über all dem schweben
einige pseudomystische Gedanken,
die anfangs aus dem Off verkündet werden: »Der Geist hat keine
Grenzen.«
Auch hier ist der als krank etikettierte junge Mann der Klügere;
seine weiblichen Jünger und der
Kommissar sind ratlos und suchen
nach Orientierung. Es gibt wunderschöne Aufnahmen der Fußgänger und der Landschaften,
Stimmungen und Konstellationen.
Ab und zu mag man sich einlassen
auf diesen mystisch angehauchten Roadmovie, dann wieder wird
man ungeduldig, trotz oder wegen der über allem schwebenden
Aura dieses komischen Heiligen.
In mir keimt der Verdacht auf,
dass Autor und Regisseur BakerMonteys sich einen anderen Fußgänger zum Vorbild nahm: den
Regisseur Werner Herzog, der
einst von München nach Paris
wanderte, im festen Glauben, die
im Sterben liegende Filmhistorikerin Lotte Eisner retten zu können –
was ihm gelang. Sie lebte noch
neun Jahre. Auch Julian ist erfolgreich, letzten Endes, und dieses
Ende wird hier nicht verraten.
Doch auf seiner Gratwanderung
zwischen fantastischem und/oder
philosophischem Gelände habe
wohl nicht nur ich diesem deutschen Spielfilm die Gefolgschaft
aufgekündigt.
»Der Mann, der über Autos sprang«
in einer Fischfabrik und in einem
Plattenladen finanziert. »Ich bin
nicht gerne allein, bemühe mich
aber nicht, Freunde zu finden«,
erklärt er einmal einer anderen
Studentin, Midori, die sich um ihn
bemüht. Er ist kein Draufgänger,
begleitet aber ab und zu einen
Kumpel, um Mädchen flachzulegen.
Eines Tages taucht Naoko auf, die
den Selbstmord ihres Jugendfreundes nicht verwinden kann.
Watanabe versucht, sie zu trösten,
und beide schlafen miteinander;
von nun an ist Turo in sie verliebt.
Naoko verschwindet wieder, und
lange befürchtet Turo, er könnte
sie verletzt haben. Endlich kommt
ein Brief von ihr; es gehe ihr nicht
gut, und man rate ihr, in ein Sanatorium in den Bergen zu gehen.
Watanabe driftet durch sein
Studium und sein jugendliches
Leben; die politischen Unruhen
der Sechzigerjahre, in denen der
Film spielt, berühren ihn nicht. Er
grübelt über die ganz großen
Themen Liebe, Sexualität und Tod.
Er macht lange einsame Wanderungen, und schließlich darf er
Naoko in ihrem Sanatorium besuchen. Dies ist eine sonderbare,
wunderbare Nervenheilanstalt.
Naoko bewohnt mit einer anderen jungen Frau, Reiko, einen
Bungalow, in dem sie sich selbst
versorgen. Regelmäßig müssen
sie im Garten arbeiten, andere
Pflichten scheint es nicht zu geben. Weder Medikamente noch
Ärzte oder Krankenpfleger tauchen auf; allerdings beaufsichtigt
Reiko die beiden auf Schritt und
Tritt. In den folgenden Monaten
pendelt Toru zwischen seinem
Studentenleben und den ambiva-
lenten Kontakten mit Midori und
der Nervenheilanstalt in den Bergen. Bei den gemeinsamen Spaziergängen durch die idyllische
Landschaft rennt Naoko vor ihm
her oder redet auf ihn ein. Sie
versuchen, miteinander zu schlafen, doch Naoko kann nicht. Er
mietet sich eine kleine Wohnung
und bittet Naoko, das Sanatorium
zu verlassen und zu ihm zu ziehen.
Doch ihr geht es zunehmend
schlechter, und schließlich erfährt
er, dass sie sich erhängt hat.
In einer Höhle am Meer schreit er
und weint, um hinterher die pragmatische Midori zu bitten, von nun
an seine Freundin zu sein.
Tran Anh Hung benutzt zur Umsetzung der postpubertären Ge fühle des jungen Toru fast ausschließlich Naturaufnahmen; es
gibt unendlich grüne Wiesen und
Wälder, in denen es wogt und
wispert. Das Meer brüllt und verschlingt, Schluchten und Wasserfälle dampfen. Im Kontrast dazu
steht die ärmliche Studentenbude, die Wohnung Midoris und die
Kantine; jedes Accessoire ist sorgfältig ausgewählt und soll die
nostalgische Stimmung der
Beatles-Ära (»Norwegian Wood«)
illustrieren. Auch die Darsteller
sind sorgfältig gecastet, wobei am
ehesten Kenichi Matsuyama als
Toru die typische Distanziertheit
asiatischer Ensembles zu überwinden vermag.
Zum Thema psychische Störung
haben weder Buch noch Film etwas
zu berichten. Wohl aber über die
bitteren Verwerfungen der Jugend
und Adoleszenz, über die histrionischen Stürme und trockenen
Verklemmungen, über die Liebe,
wenn man mal wüsste, was das
ist.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Der Titel dieses Films hat
nichts mit dem Unfall in einer
»Wetten, dass …«-Sendung zu tun.
Der junge Mann namens Julian,
ganz hervorragend gelassen verkörpert von Robert Stadlober, ist
zwar vermutlich einmal über Autos
gesprungen und wird es vielleicht
noch einmal tun. Doch darum
geht es nicht.
Julian haut ab aus einer psychiatrischen Klinik in Berlin, denn er
muss einem Auftrag folgen. Er
weiß, dass im Schwarzwald der
Vater seines besten Freundes einen
Herzinfarkt hatte, und ist überzeugt davon, dass er ihn durch
einen Fußmarsch quer durch
Deutschland retten kann. Also
begibt er sich auf eine Wanderung,
bekleidet mit weißem Hemd und
schwarzem Anzug, einen dünnen
Stoffrucksack auf dem Rücken. Er
möchte sich ganz auf sein Gehen
konzentrieren, doch schon nach
kurzer Zeit laufen ihm – als wäre
er ein Guru – einige Jünger zu. Da
ist zunächst eine junge Ärztin,
etwas zu trotzig gespielt von Jessica Schwarz, und später eine schöne Mutter, die sich von ihrer Familie absetzt, um ihr weiteres Leben
zu überdenken. Schließlich sitzt
ein kaputter Kommissar (Martin
Feifel) in seinem Auto, trinkt und
telefoniert und hat als Bewährungsprobe den reichlich unrealistischen Auftrag, den flüchtigen
Psychiatriepatienten einzufangen.
Julian fühlt sich gestört und abgelenkt, er wandert weiter, über-
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04/2011 soziale psychiatrie
im kino
»Das Blaue vom Himmel«
»Das Blaue vom Himmel«
(Regie: Hans Steinbichler)
Eine vornehme Dame plaudert
mit dem Taxifahrer und lässt sich
zu ihrer Wohnung in Darmstadt
bringen. Sie hat kein Geld, also
folgt ihr der misstrauische Taxifahrer in die reichlich verwahrloste Küche. Sie schüttet den Kaffee
in die Pfanne und brüllt herum,
dann zieht sie sich in ihre Gemächer im ersten Stock zurück. Sie
bewirft das Taxi von oben mit
ihrem besten Geschirr, bis der
Fahrer endlich abfährt und die
Polizei alarmiert.
Die Lady, das muss ich an dieser
Stelle bereits verraten, wird von
Hannelore Elsner furios in Szene
gesetzt und soll an einer besonders
eigenwilligen Form von Demenz
leiden. Wir begegnen ihr wieder in
der Fixierung auf einer psychiatrischen Akutstation. Ihre Tochter
Sofia (Juliane Köhler) wird in Berlin
ausfindig gemacht und aufgefordert, umgehend zu erscheinen.
Wir befinden uns im Jahr 1991,
umgeben von den Erschütterungen der Wende und Perestroika.
Sofia arbeitet beim Fernsehen
und ist gerade beauftragt mit
einer Dokumentation über das
Baltikum. Sie holt ihre Mutter, die
eigentlich bereits in einer Seniorenresidenz untergebracht war, zu
sich nach Berlin, in ihre riesige
Altbauwohnung. In ihrer Tasche
finden sich alte Fotografien, die
Sofia verwirren: Wer ist ihre Mutter? Sie beschließt, die Suche nach
den lettischen Wurzeln ihrer Mutter
zum Gegenstand ihrer Reportage
zu machen. Gemeinsam fahren
sie nach Riga, auf der Suche nach
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»Ein Tick anders«
Spuren und Erinnerungen. Immer
neue Rückblenden zeigen dem
Zuschauer und Sofia die idyllischen
Jahre am Ostseestrand mit Hochzeitsglück und einer katastrophalen Ehe. Mit dem Zweiten Weltkrieg wird auch diese Familie
auseinandergerissen; Sofia findet
– man hat es irgendwie geahnt –
ihre wahre Mutter und den Grund
für die psychische Verwirrtheit
ihrer vermeintlichen Mutter.
Hannelore Elsners überzogene,
manierierte Verkörperung der
dementen Marga Baumanis hat
mich von Anfang an daran gehindert, mich auf den Film einzulassen. Daran änderten auch die
schönen Bilder nichts. Die Story
erinnerte mich fatal an jene Familiengeschichten aus englischen
Cottages oder norwegischen
Fjorden, vor denen mich in der
Regel der parallel gezeigte »Tatort«
bewahrt: falsche Mütter, Väter,
Kinder, Geschwister ... Sie wissen
schon. Ich bin ungerecht, das
stimmt. »Das Blaue vom Himmel«
hat seine Zuschauer gefunden.
Jede Demenz ist anders – und
jeder Geschmack eben auch.
»Ein Tick anders«
(Regie: Andi Rodenhagen)
Ein Spielfilm, in dem die Hauptperson am Tourette-Syndrom
leidet, hatte 2010 großen und vor
allem lang andauernden Erfolg an
den Kinokassen: »Vincent will
Meer«. Ich hatte zunächst den
Verdacht, dass »Ein Tick anders«
diesen Erfolg nachahmen will.
Allerdings wurde der Film bereits
2010 gedreht – das ist ein wenig
zu knapp, um auf dem Trittbrett
zu fahren. Aber schauen wir uns
das Produkt einmal an.
Die 17-jährige Eva lebt im aufregenden Marl und beschäftigt sich
am liebsten mit ihren Molchen an
einem See im Wald. Die Schule hat
sie bereits verlassen, um dem
Mobbing ihrer Klassenkameraden
zu entkommen: Sie hat einen
Gehirn-Schluckauf, sprich ein
Tourette-Syndrom. Das äußert
sich natürlich – wie könnte es
anders sein – in Fäkalausdrücken
an der falschen Stelle. Das Kino, in
dem ich sitze, ist gut gefüllt mit
weiblichen und männlichen Teens,
die Eva aufmerksam belauern und
jedes »Aaaarschgeige« und
»Ffffotze« wiehernd bejubeln.
Damit ist der Film und die Funktion der verbalen Entgleisungen
bereits ausreichend beschrieben:
Die gut informierte Jugend weiß,
dass das Tourette-Syndrom eine
Krankheit ist. Wunderbar. Also darf
der Kranke – quasi stellvertretend
– fluchen und mit Obszönitäten
um sich werfen. Endlich darf man
lachen, und weil dabei der Hauch
eines schlechten Gewissens mitschwingt, ist das Lachen manchmal
schadenfroh. Aber nur manchmal.
Viele Protagonisten in diesem
Film reagieren überhaupt nicht
auf die Entgleisungen, denn sie
kennen ja ihre Eva und wissen, wie
sie »tickt«; andere sind schockiert,
und nur dann ist der jugendliche
Zuschauer wirklich zufrieden.
Damit Eva nicht stigmatisiert wird,
ist das gesamte Personal des Films
ebenfalls nicht ganz dicht: Der
Vater ist Autoverkäufer und ein
Trottel, die Mutter Mitglied in einer
Tourette-Selbsthilfegruppe und
kaufsüchtig. Die wunderbare Großmutter spielt ab und zu »Sterben«
oder jagt mit selbst gebastelten
Bomben den Staubsauger in die
Luft; der Onkel ist bekennender
Kleinkrimineller und dilettierender Gitarrist und komponiert für
einen Wettbewerb einen Song mit
dem Titel »Arschlicht«. Es sind die
üblichen albernen Zutaten für
einen erfolgreichen Kinder- und
Jugendfilm.
Neu und anders und hochwertig
ist die Sicht auf die Bewältigungsstrategien der jungen Klientin. Sie
genießt ihre verbalen Entgleisungen keineswegs, sondern versucht,
sie – mal mehr, mal weniger – zu
verhindern. Und dies zeigt der
Film auf ungewöhnliche Weise.
Sie hat immer ein gut gekühltes
Cool Pack in der Tasche und klebt
sich dies mit Spucke an die Stirn,
wenn sie Fehlzündungen verhindern will. In einer besonders delikaten Situation hat sie sich unter
einem Schreibtisch versteckt und
darf auf keinen Fall einen Mucks
von sich geben. In schönen Bildern
wird ihre ungeheure Anspannung
visualisiert, und man ist mit ihr
zusammen ganz erleichtert, als
sie sich wieder entspannen und
explodieren darf.
Für Erwachsene, vor allem Profis,
ist »Ein Tick anders« streng verboten. Für bekiffte Knalltüten, Berliner Jungs im Sommerloch oder
den Nachwuchs von psychiatrisch
Tätigen machen wir mal eine
Ausnahme. ■
Wem die »Soziale Psychiatrie«
zu langsam ist:
www.psychiatrie.de/bibliothek/filme