Das Kino des Denis Villeneuve

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Das Kino des Denis Villeneuve
Das Kino des Denis Villeneuve
Denis Villeneuve
zum anderen die Salzwüste durchquert hat. Schon dieser verstörende Debütfilm stellt unmissverständlich
klar, dass Villeneuves Filme für das Kino gemacht sind.
Villeneuve ist, wie Ingmar Bergman, ein großer Frauenregisseur, der ihren ausdrucksstarken Gesichtern und
ihren Gefühlswelten Raum lässt und sie außerdem häufig in direkte Beziehung zur Landschaft setzt. Es sind
Heldinnen, deren Niedergang wie in der klassischen
Tragödie beginnt, nachdem sie einen Fehler begangen
haben. Doch ihr Leiden, ihre Suche nach dem Sinn des
Lebens, stärken die Frauen, anstatt sie am Ende zu zerstören.
MAELSTRÖM (2000) ist in jeder Hinsicht ein Wasserfilm, der von Fischen bevölkert wird – und der sogar
von einem Fisch erzählt wird. Die schöne, verletzliche
Bibiana (Marie-Josée Croze) wirkt selbst wie ein Fisch,
der durch das Schicksal an Land gespült wird: Der
prestigeträchtige Job wird ihr gekündigt, zudem kommt
durch einen von ihr verursachten Unfall ein norwegischer Fischer zu Tode. Bibiana begeht Fahrerflucht.
Oberflächlich befreiend wirken die Dusche, der Regen,
die Wassertropfen auf ihrer Haut. Auch den Freitod
wählt Bibiana im Wasser. Aber sie entkommt, gekrümmt, zuckend und sucht über Umwege den Kontakt
zum Sohn des Fischers, einem Froschmann, der als
Rettungstaucher arbeitet. Dabei kontrastiert Villeneuve
die Mythen Norwegens, die Musik, das raue Wasser
des Atlantiks mit der mondänen Welt der Straßen und
Boutiquen Montreals, schafft irritierende Bilder, spielt
leichte französische Chansons zu einer Trauerszene,
offenbart einen skurrilen Humor, so wie die sprechenden Fische, die vom Leben erzählen wollen, aber stets
vorher getötet werden.
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Denis Villeneuve
Denis Villeneuves Welt besteht aus Paradoxien und
ständigen Überraschungen: ein Fisch, der spricht, ein
32. August, ein harmlos wirkender Frauenhasser, der
gnadenlos Studentinnen niedermäht, ein namenloses
Land, in dem die ungeheuerlichsten Dinge passieren.
Die Heldinnen seiner Filme, kluge, intuitiv agierende
Frauen, bleiben sich auf wundersame Weise selbst treu
und wachsen an ihrem Dilemma. Dazu kommt eine unkonventionelle Erzählweise, durchkomponierte Bilder
seines Kameramanns André Turpin, der immer wieder
mit seinem Gespür für Farbe und Gestaltung verblüfft.
Die Filme erhalten so eine existenzialistische Tiefe, wie
sie nur selten im Kino zu sehen ist. Der frankokanadische Autorenfilmer Denis Villeneuve (geb. 1967) war
lange Zeit eher in Cineastenkreisen ein Begriff. Erst
2009 brachte sein berührendes Drama INCENDIES –
DIE FRAU, DIE SINGT den internationalen Durchbruch.
Mit nur vier Spielfilmen ist Villeneuve ein langsamer Filmemacher, der sich viel Zeit für seine Projekte nimmt.
Die aber haben es in sich.
Würde man seinen vier Filmen die vier Elementen zuordnen, so wäre EIN 32. AUGUST AUF ERDEN (1998),
Villeneuves erster langer Spielfilm, eindeutig »Luft«: die
ätherische Protagonistin Simone (Pascale Bussière),
die keinen Boden unter den Füßen zu haben scheint,
bevor sie in einen schweren Autounfall verwickelt wird
und dem Tode nahekommt, die flirrende Hitze in der
Salzwüste von Utah, in der sie mit ihrem besten Freund
Philippe ein Kind zeugen will, die unausgesprochenen
Gefühle von Philippe, der seine Liebe für Simone erst
auf der Rückseite des US-Einreiseformulars gestehen
kann. Die langen Einstellungen muss man aushalten
können. Es dauert, bis ein Auto von einem Bildrand
Denis Villeneuve
Feuer: POLYTECHNIQUE (2009) basiert auf Aussagen
von Überlebenden eines Anschlags in der polytechnischen Hochschule 1989 in Montreal, als ein frauenhassender Student, der für seine Überzeugung förmlich
brennt, seine Kommilitoninnen erschießt. »Die Feministinnen haben mein Leben ruiniert«, sagt der Täter. Valérie (Karine Vanasse) steht als einzige Überlebende im
Mittelpunkt des Geschehens. Villeneuve drehte diesen
Film in Schwarzweiß und CinemaScope, erzählt nichtlinear, was zunächst irritiert und distanziert. Täter und
Opfer sprechen einen Off-Kommentar, die Dialoge sind
reduziert, die Musik ist suggestiv, die Kamera manchmal verkantet, sie gleitet registrierend durch die Gänge
der Schule. Das Blut, das den toten Körpern entströmt,
ist nicht rot, sondern schwarz wie Öl. Die Schüsse sind
im Originalton zu hören, während die restliche Umgebung im Ton ausgeblendet wird. Villeneuve schließt
stilistisch jede Sentimentalität aus und erreicht dadurch
nur noch mehr Tiefe und Betroffenheit. »Er ist tot. Ich
lebe. Er ist frei. Ich bin es nicht.«, konstatiert die
schwangere Valérie am Ende des Films.
In INCENDIES – DIE FRAU, DIE SINGT (2010) begibt
sich ein Geschwisterpaar auf die Suche nach seinen
Wurzeln. Das Familiengeheimnis liegt in einem namenlosen Land im Nahen Osten verborgen, doch nur die
Frau (die Schwester, die Tochter) will die Wahrheit herausfinden. Je mehr Hass ihr auf der Reise entgegenschlägt, desto geerdeter scheint sie zu werden – worin
sie ihrer kämpferischen Mutter ähnelt. In der verworrenen, politisch und religiös vergifteten Situation fällt es
der Tochter schwer, einen moralischen Standpunkt zu
beziehen. Es scheint, als ob sie ihre Kraft aus dem
Bösen um sie herum zieht und sich und die Welt nicht
verloren geben will. INCENDIES ist ein erdenschwerer
Film, der zwischen zwei Welten und zwei Generationen
POLYTECHNIQUE
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spielt und der erste Film, für dessen Erzählung Villeneuve mehr als 90 Minuten benötigt.
Denis Villeneuve gelingt das seltene Kunststück, einer
chaotischen und komplexen Welt komische oder absurde Momente abzugewinnen und seine Filme distanziert, aber immer mit Mitgefühl und ohne Sentimentalität zu inszenieren. Starke Geschichten, visuell experimentierfreudig erzählt, getragen von Schauspielerinnen, die wahre Entdeckungen sind: Denis Villeneuve
zählt zu den inspirierendsten Autorenfilmern der Gegenwart.
Claudia Engelhardt
REW-FFWD – Kanada 1994 – R+B: Denis Villeneuve –
K: Pierre Landry, Martin Leclerc – 31 min, OmeU – Ein
junger Fotograf erlebt in Kingston, Jamaica, einen Kulturschock. – LE TECHNETIUM – Kanada 1996 – R+B:
Denis Villeneuve – K: André Turpin – M: Sylvain Bellemare – D: Carl Alacchi, David La Haye, Audrey Benoit,
Simone Chevalot, Stephan Cloutier – 17 min, OmeU –
Ein Filmregisseur auf Koffeintrip wird in der HightechFernsehsendung »Le Technétium« interviewt. –
120 SECONDS TO GET ELECTED – Kanada 2006 –
R+B+K: Denis Villeneuve – D: Alexis Martin – 2 min,
OF – Ein Politiker versucht, seine Wähler von sich zu
überzeugen – NEXT FLOOR – Kanada 2008 – R: Denis
Villeneuve – B: Jacques Davidts – K: Nicolas Bolduc –
M: Warren Slim Williams – D: Simone Chevalot, LucMartial Dagenais, Kenneth Fernandez, Mathieu Handfield, Ariel Ifergan – 11 min, OF – Während eines opulenten und luxuriösen Banketts kommt es unter zwölf
Gästen zu einem makaber ritualisierten Gemetzel. –
UN 32 AOUT SUR TERRE (EIN 32. AUGUST AUF
ERDEN) – Kanada 1998 – R+B: Denis Villeneuve – K:
André Turpin – M: Pierre Desrochers – D: Pascale
INCENDIES
▶ Donnerstag, 10. Januar 2013, 19.00 Uhr
MAELSTRöM – Kanada 2000 – R+B: Denis Villeneuve
– K: André Turpin – M: Pierre Desrochers – D: MarieJosée Croze, Jean-Nicolas Verreault, Stephanie Morgenstern, Pierre Lebeau, Bobby Beshro – 88 min, OmU
– Das Leben der an Luxus gewöhnten Bibiane kann
über eine große emotionale Leere nicht hinwegtäuschen. Als sie ungewollt schwanger wird und auch ihre
berufliche Existenz gefährdet ist, verliert sie jeden Halt,
verschuldet einen tödlichen Verkehrsunfall und wird
von der Erinnerung daran immer wieder eingeholt. Bibianes Geschichte wird nicht linear erzählt, sondern
von einem Fisch, der sein Ende auf dem Hackklotz erwartet. Als ihn dies ereilt, nimmt ein anderer Fisch die
Erzählung auf, beginnt aber an anderer Stelle und aus
einer anderen Perspektive.
▶ Freitag, 11. Januar 2013, 21.00 Uhr
POLYTECHNIQUE – Kanada 2009 – R: Denis Villeneuve – B: Jacques Davidts, Eric Leca, Denis Ville-
neuve – K: Pierre Gill – M: Benoît Charest – D: Maxim
Gaudette, Sébastien Huberdeau, Karine Vanasse, Martin Vatier, Evelyne Brochu – 77 min, engl. OF – Am
6. Dezember 1989 tötete ein Amokläufer insgesamt
14 Frauen an der Ecole Polytechnique in Montreal.
Denis Villeneuve reflektiert die Tragödie aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Studenten Jean-François
und Valérie. Die wahre Begebenheit wird durch das
Schwarzweiß, die wechselnden Perspektiven und den
Off-Kommentar verfremdet und wirkt so beklemmender und realistischer als jeder linear erzählte Augenzeugenbericht.
▶ Samstag, 12. Januar 2013, 21.00 Uhr
INCENDIES (DIE FRAU, DIE SINGT) – Kanada 2010 –
R+B: Denis Villeneuve, nach dem Bühnenstrück von
Wajdi Mouabad – K: André Turpin – M: Grégoire Hetzel
– D: Lubna Azabal, Mélissa Désormeaux-Poulin, Maxim
Gaudette, Rémy Girard, Abdelghafour Elaaziz –
131 min, OmU – Die Geschichte zweier Frauen, deren
Wege sich über den Tod hinaus verschränken. »Man
muss schon sehr an die Menschen glauben, um zu begreifen, wie die nicht endende Kette von Gewalttätigkeit plötzlich dann doch reißt. Nicht durch Verstehen,
nicht durch Bekenntnis, sondern durch Verzeihen. Ob
wir das glauben? Vielleicht nicht. Aber Villeneuve
glaubt es, und das reicht, um uns zu bewegen – und
wenigstens die Möglichkeit in Betracht zu ziehen.«
(Verena Lueken)
▶ Sonntag, 13. Januar 2013, 21.00 Uhr
Denis Villeneuve
Bussières, Alexis Martin, Richard S. Hamilton, Serge
Thériault, Emmanuel Bilodeau – 88 min, OmU – »Denis
Villeneuves Spielfilmdebüt ist zugleich existentialistische Komödie und surreales Road Movie. Als Paar, das
sich die wechselseitige Zuneigung nicht eingestehen
will, drohen Simone und Philippe in einer Welt mit kosmischen Flughafenhotels, plötzlichen Leichenfunden –
und einem scheinbar nicht enden wollenden August –
verloren zu gehen.« (David Kleingers)
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