Zwischenbericht, DFJW, A.Westrup - Deutsch

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Zwischenbericht, DFJW, A.Westrup - Deutsch
Kurzstipendium für die Vorbereitung der Bachelorarbeit
Zwischenbericht
Am 3. Mai 2013 habe ich meine Bachelor-Arbeit in meinem Hauptfach FrankoMedia an der
Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg angemeldet. Unmittelbar danach habe ich von den
Förderprogrammen des Deutsch-Französischen Jugendwerks erfahren. Mit dem Erfüllen der
formalen und inhaltlichen Kriterien erhielt ich am 10. Juni die Bewilligung für das
Recherchestipendium, das im Zeitraum vom 30.06. – 14.07.2013 angesetzt wurde. Die
genannte, zeitliche Spanne umfasste die redaktionelle Kern- und Endphase meiner
Abschlussarbeit. Zuvor hatte ich in den Monaten Mai und Juni den gesamten Freiburger
Literaturbestand zu Patrick Modiano durchforstet. In dieser ersten Annäherung an das Thema
wurde meine Recherche durch Entleihungen anderer Studierenden und Präsenzbestände
erschwert. Viele Bücher waren nur schwer zugänglich oder für Wochen entliehen. Die
vorhandene Sekundärliteratur habe ich größtenteils eingescannt und digital mit nach Paris
genommen, um besser Vergleiche anstellen zu können. Diese methodische Vorgehensweise
korrelierte mit dem Wunsch nach „Kulissenbetrachtung“ an Ort und Stelle. Patrick Modianos
Werke spielen mehrheitlich in einem Paris voller Ambiguitäten. Bevor ich mich also in die
Literaturrecherche stürzte, wollte ich, wie Patrick Modiano, durch Paris flanieren und die
Atmosphäre nachempfinden, die seinen Werken Nahrung gibt. Aus gegebenem Anlass
machte ich am ersten Abend einen Spaziergang entlang des quai de conti, riche gauche. Bei
der Hausnummer 15, dem ehemaligen Wohnsitz der Modianos, hielt ich einen Moment inne.
Im orange-gelblichen Licht der Straßenlaternen erschien das Wohngebäude unnahbar. Aus
den Fenstern des dritten und vierten Stockwerkes, den die Familie Modiano bewohnt hat,
drang Licht in die Dunkelheit. Dabei habe ich mich gefragt, wer heute in diesen Wänden
wohnen könnte, ob die jetzigen Bewohner um die Romane von Patrick Modiano wissen?
Vergebens war ich auf der Suche nach einer öffentlichen Beschilderung, die den Aufenthalt
der Modianos an dieser Lokalität bestätigen würde. Es war nichts zu finden. Allein seine
Werke und Interviews geben Aufschluss über seine Raum- und Zeitkonzeption.
Das erste Werk meiner Analyse Livret de famille (1977) beschreibt in einer Episode,
wie der Autor nach langer Zeit die leere Wohnung seiner Eltern aufsucht und bruchstückartig
seine Erinnerungen zusammensetzt. Auslöser war eine Immobilienanzeige, die er in einem
Journal entdeckt hat. In Dora Bruder (1997) ist es der Boulevard Ornano, der als Dreh- und
Angelpunkt eines rekonstruierten Lebensabschnitts fungiert. Paris erscheint wie ein
Palimpsest aus Vergangenem und
Bestehendem. Modiano betont sein pränatales
Erinnerungsvermögen, das in der Zeit der Occupation ansetzt. Wie ein Archäologe, der nach
Überresten aus der Vergangenheit sucht, thematisiert Modiano die Suche nach Identitäten und
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der eigenen Herkunft. Das Wandeln auf den Spuren Anderer ist produktionsästhetische
Triebfeder bei Patrick Modiano.
Während meines Rechercheaufenthalts hat die Stadt Paris am 6. Juli eine Schatzsuche,
„Chasse aux Trésors“, in sämtlichen Arrondissements organisiert. Es ging um eine
Liebesgeschichte zwischen „Érasme“ und seiner Geliebten, die er nur mit Hilfe von Indizien
aus Briefen zurückgewinnen konnte. Da sich meine Unterkunft im XV. Arrondissement
befand, habe ich in diesem Viertel nach Inschriften, verblassten Hausnummern und kuriosen
Hinterhöfen gesucht. Drei Stunden und viele neue Blickwinkel später wurde ich auf
spielerische Weise für verborgene Seiten von Paris sensibilisiert. Ich habe mich ansatzweise
wie Patrick Modiano gefühlt. Mit einem Notizbuch und einem Stadtplan in der Hand ließ sich
eine Liebesgeschichte rekonstruieren. Die Vorgehensweise ähnelt in groben Zügen der
Methodik von Patrick Modiano, die gerade in Dora Bruder näher beleuchtet wird. Abgesehen
von dieser empathischen Einfühlung in die Materie habe ich die wissenschaftliche
Komponente des Recherchestipendiums nicht außer Acht gelassen. Meine erste Anlaufstelle
war die Bibliothèque François Mitterrand (Bibliothèque nationale de France). Für 3,50 Euro
habe ich ein Ticket Journalier und freien Zutritt zu allen salle de lecture erhalten. Im salle de
lecture „H - Littératures d‘expression française“ wurde ich fündig. Zwischen den Autoren des
20. Jahrhundert, Michaux und Montherlant, offenbarte sich mir ein langes Regalbrett aus
Primär- und Sekundärwerken zu Patrick Modiano. Der Freiburger Katalog verfügt lediglich
über einen überschaubaren Bestand zu Patrick Modiano. Die vorgefundenen Werke in der
BnF von Baptiste Roux, Figures de l'Occupation dans l'œuvre de Patrick Modiano, AnneYvonne Julien, Modiano ou Les intermittences de la mémoire und Daniel Parrochia,
Ontologie fantôme. Essai sur l'œuvre de Patrick Modiano sind darin nicht enthalten. Daher
habe ich in der ersten Woche beinahe ausschließlich in der BnF gearbeitet. Die
Zugänglichkeit und die gute Arbeitsatmosphäre haben das Exzerpieren aus den Werken
erleichtert. Viele Suchmaschinen mit Internetzugang sind an den Randbereichen der Lesesäle
eingerichtet. Besonders die Werke von Paul Gellings Poésie et mythe dans l’œuvre de Patrick
Modiano. Le fardeau du nomade (2000) sowie Colin W. Nettelbeck und Penelope A.
Hueston,
Patrick Modiano, pièces d'identité. Écrire l'entretemps (1986) haben meine
Recherche maßgeblich beeinflusst. Das zuletzt genannte Buch ist in Freiburg bis Ende August
entliehen. Viele Sekundärwerke beziehen sich auf Nettelbeck und Hueston. Ohne
Umschweife stellen sie ihre Interpretationen vor. Da ich Livret de famille, Dora Bruder und
Un pedigree bereits untersucht hatte, konnte ich meine eigenen Ansätze mit den Thesen aus
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den Sekundärwerken vergleichen. Diese Herangehensweise hat meiner Arbeit den nötigen
Feinschliff verliehen. Um noch weitere Bibliotheken und Bestände zu konsultieren, habe ich
in der zweiten Woche u.a. in der Université Paris Diderot-Paris 7 gearbeitet. Im
Wintersemester 2012/2013 habe ich an dieser Uni ein Erasmussemester absolviert, was mir
den allgemeinen Zugang zu Literatur begünstigte. Die Werke von Dervila Cooke, Present
pasts. Patrick Modiano's (auto)biographical fictions, Bruno Blanckeman, Lire Patrick
Modiano, Alan Morris, Patrick Modiano habe ich quergelesen und einige Zitate in meinen
Fließtext verwoben. Die Bibliothek der Université Paris 8 im nördlichen Saint-Denis habe ich
zusätzlich besucht. Dort habe ich nicht nur einige Passagen aus dem Werk von Thierry
Laurent, L’œuvre de Patrick Modiano – une autofiction kopiert, sondern gleichzeitig
Bewerbungen für einen Masterplatz eingereicht.
Das Recherchestudium konnte ich auf vielfältigste Weise nutzen. Dadurch, dass ich
nicht nur in Bibliotheken gearbeitet, sondern auch die Örtlichkeiten in den Romanen
aufgesucht habe, hat meine Abschlussarbeit an Aussagekraft und Tiefe gewonnen. Die
Lektüre der verschiedenen Sekundärwerke zu Patrick Modiano hat mir verdeutlicht, dass sich
der Autor nur schwer einordnen lässt. Zwischen Autobiographie und Autofiktion kristallisiert
sich heraus, dass Modiano die Unsicherheiten zu seiner Person und seinem Schreibstil
aufrecht erhalten möchte. Die einzelnen Werke funktionieren wie Puzzlestücke eines großen
Ganzen, das sich durch Wiederholungen kennzeichnet. Autobiographische Grundpfeiler wie
die Suche des abwesenden Vaters oder das problematische und kühle Verhältnis zur Mutter
werden, manchmal auf subtile, manchmal auf offensichtliche Weise, verarbeitet. Es ist ein
Schriftsteller-Dasein, das im Zwiespalt zur Vergangenheit steht. Zwischen Vergessen und
Erinnern kommt es einem Balanceakt gleich, den Patrick Modiano in seinen Werken
widerspiegelt.