1 Vom klugen und den neun dummen Wölfen 2 Der Esel und der
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1 Vom klugen und den neun dummen Wölfen 2 Der Esel und der
1 Vom klugen und den neun dummen Wölfen Zehn Wölfe brechen in einen Schafpferch ein und stehlen zehn Schafe. Der kluge Wolf schlägt vor zu teilen, und zwar gerecht. Die neun anderen Wölfe, vor Fressgier ganz dumm, fragen, was das bedeute. Der kluge Wolf schlägt vor, so zu teilen, dass immer zehn herauskommt. „Ihr neun Wölfe bekommt ein Schaf, dann seid ihr zusammen zehn. Ich und neun Schafe –- macht ebenfalls zehn. Stimmt das etwa nicht?“ „Stimmt genau,“ sagen die neun Wölfe und stürzen sich auf das Schaf, das ihnen der kluge Wolf hinschiebt. Sie fressen, während der schlaue Wolf die anderen neun Schafe wegschleppt. Sumer, 3. Jahrhundert v.Chr 2 Der Esel und der Wolf Ein Esel begegnete einem hungrigen Wolfe. "Habe Mitleiden mit mir", sagte der zitternde Esel, „ich bin nur ein armes, krankes Tier; sieh nur, was für einen Dorn ich mir in den Fuß getreten habe!" "Wahrhaftig, du dauerst mich", versetzte der Wolf, "und ich finde mich mit meinem Gewissen verbunden, dich von diesen Schmerzen zu befreien." Kaum war das Wort gesagt, so ward der Esel zerrissen. Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) 3 Der Wolf und der Hund Zu einem Wolf kam einst ein feister Hund. Der Wolf sprach zu ihm: „Guter Gesell, wie lebst du, dass du also feist bist, und ich so mager?“ Der Hund antwortete: „Ich diene einem Menschen, der mir genug zu Essen gibt.“ Der Wolf sprach: „So will ich mit dir gehen und will auch dienen.“ Als sie nun miteinander gingen, sah der Wolf des Hundes Hals an und sprach zu ihm: „Wie kommt es, dass dein Hals so beschabt und kein Haar daran ist?“ Jener sprach: „Bei Tage legt man mich gefangen und bindet mir ein Halsband um, das macht mich also blutig; aber wenn es Nacht ist, so bin ich ledig und frei.“ Da sprach der Wolf: „Ade, ade, lieber Gesell! Ich will lieber mager und frei als feist und gefangen sein!“ 4 Vom Wolf und Bock Ein Wolf eilte einem Geißbock nach, ihn zu fangen. Aber der Bock entrann auf einen hohen Felsen, wo er sicher war. Der Wolf erwartete ihn unten am Felsen zwei oder drei Tage, bis der Hunger ihn vom Berge trieb und der Durst den Bock von dem Felsen. Also kamen sie beide von dannen: Der Wolf zuerst der Speise wegen, danach der Bock um den Trank. Als er aber genug getrunken hatte, sah er sein Bild im Wasser und sprach zu sich selber: „Oh, wie hast du so ansehnliche Schienbeine! Und welch schönen Bart! Wie große Hörner! Und mich sollte ein Wolf in die Flucht jagen? Ich will mich gegen ihn zur Wehr setzen und nicht mehr fliehen.“ Der Wolf war heimlich hinter ihn geschlichen und hörte diese Worte, ergriff den Bock beim Hinterschenkel und sprach: „Bruder Bock, was sind das für Reden, die du führst?“ Als aber der Bock empfand, dass er gefangen war, da sprach er: „Oh mein Herr Wolf, ich begehre Barmherzigkeit und bekenne meine Schuld; denn da ich trunken war, hab´ich geprahlt und unnütz stolziert.“ Aber der Wolf übersah ihm nichts und fraß ihn auf. 5 Der Fuchs und der Wolf am Brunnen Es war eine klare Vollmondnacht. Ein Fuchs strolchte durchs Dorf und kam zu einem Ziehbrunnen. Als er hinunterblickte, traute er seinen Augen nicht; da lag ein großer, runder goldgelber Käse. Er kniff die Augen zu und öffnete sie wieder. Nein, es war kein Traum. Der Fuchs besann sich nicht lange, sprang in den Eimer, der über dem Brunnenrand schwebte, und abwärts ging die Fahrt. Ein zweiter Eimer schaukelte aus der Tiefe empor, an ihm vorbei. Unten angekommen, wollte der hungrige Fuchs sich sofort auf den fetten Käse stürzen. Aber was war denn das? Seine Nase stieß in eiskaltes Wasser, der Käse verformte sich und verschwand. Verblüfft starrte der Fuchs ins Dunkel, und langsam kehrte der Käse unversehrt zurück. Jetzt begriff er seinen Irrtum. Wie konnte er nur so schwachköpfig handeln! Nun saß er in der Patsche. Er schaute zum Brunnen hinauf. Niemand war da, der ihn aus dem Schlamassel befreien konnte. Nur der Vollmond lächelte ihm hell und freundlich zu. Viele Stunden saß der Fuchs in dem kühlen, feuchten Eimer gefangen und schlotterte vor Kälte und Hunger. Da kam ein Wolf an dem Brunnen vorbei. Der Fuchs dachte: „Warum sollte dieser Nimmersatt klüger sein als ich?“ Und mit fröhlicher Stimme rief er ihm zu: „Schau, mein Freund, welch herrlichen Käseschmaus ich gefunden habe! Wenn du mein Versteck nicht verrätst, so darfst du zu mir herunterkommen und dir auch ein gutes Stück von meinem Käse abbrechen. Den Eimer dort oben habe ich für dich bereitgehalten, mit ihm kannst du zu mir herunterfahren.“ Der Wolf, der nie über Mangel an Hunger klagen konnte, leckte sich die Lippen. Der Käse, den der Fuchs entdeckt hatte, sah wirklich appetitlich aus. Ohne zu überlegen kletterte er in den Eimer. Da er viel schwerer als der Fuchs war, sauste er hinab in die Tiefe und zog den Eimer mit dem Fuchs hinauf. Der Fuchs rettete sich sofort auf sicheren Boden und lachte sich ins Fäustchen. „Wohl bekomm's!“, rief er spöttisch und eilte davon. Jean de La Fontaine (1621-1695) 6 Der Wolf und das Schaf Ein Wolf, der sich sattgefressen hatte, sah ein Schaf auf der Erde liegen und merkte, dass es sich aus Angst vor ihm hingeworfen hatte. Da trat er heran und machte ihm Mut: „Wenn du mir drei Wahrheiten sagst“, sagte er, „werde ich dich freilassen.“ Da sagte das Schaf: „Erstens wäre ich dir lieber gar nicht begegnet. Zweitens wünschte ich, da es nun soweit ist, dass du blind wärest. Drittens mögen alle Wölfe verrecken! Wir haben euch nichts getan, und doch seid ihr unsere ärgsten Feinde.“ Gegen diese Offenheit konnte der Wolf nichts einwenden, und er liess das Schaf laufen. Die Fabel zeigt, dass die Wahrheit manchmal auch auf Feinde Eindruck macht. nach Aesop (600 v Chr.) 7 Der Wolf und der Kranich Ein Wolf hatte ein Schaf erbeutet und verschlang es so gierig, dass ihm ein Knochen im Rachen stecken blieb. In seiner Not setzte er demjenigen eine große Belohnung aus, der ihn von dieser Beschwerde befreien würde. Der Kranich kam als Helfer herbei; glücklich gelang ihm die Kur, und er forderte nun die wohlverdiente Belohnung. „Wie?“, höhnte der Wolf, „du Unverschämter! Ist es dir nicht Belohnung genug, dass du deinen Kopf aus dem Rachen eines Wolfes wieder herausbrachtest? Gehe heim, und verdanke es meiner Milde, dass du noch lebest!“ Hilf gern in der Not, erwarte aber keinen Dank von einem Bösewichte, sondern sei zufrieden, wenn er dich nicht beschädigt. nach Aesop (600 v Chr.) 8 Der Wolf und der kranke Esel Einem schlechten Menschen darf man niemals vertrauen. Vernimm dazu diese Fabel: Der Wolf besuchte einen kranken Esel und begann seinen Körper zu befühlen und fragte ihn, welche Teile ihm besonders weh täten. „Die du befühlst,“ antwortete der Esel. So ist es auch mit schlechten Menschen. Wenn sie so tun, als wollten sie einem nützen, und heuchlerisch freundliche Reden führen, dann sind sie erst recht darauf aus, uns zu schaden. Phaedrus (15 v.Chr. - 50 n.Chr.) 9 Der Wolf im Schafspelz Ein Wolf beschloss einmal, sich zu verkleiden, um im Überfluss leben zu können. Er legte sich ein Schafsfell um und weidete zusammen mit der Herde, nachdem er den Hirt durch seine List getäuscht hatte. Am Abend wurde er vom Hirten zusammen mit der Herde eingeschlossen. Der Eingang wurde verrammelt und die ganze Einfriedung gesichert. Als aber der Hirt hungrig wurde, schlachtete er den Wolf. So hat schon manch einer, der in fremden Kleidern auftrat, seine Habe eingebüsst. nach Aesop (nach 600 v. Chr.) 10 Der Wolf im Schafspelz Ein junger Wolf, ja wohl war er noch jung, doch überklug in seiner Einbildung, sprach zu sich selbst: die Schafe fliehn uns Wölfe; wenn du sie haschen willst, so mache dich zum Schaf. Gesagt, getan. Er fraß das erste, das er traf, und hüllte sich in seine Schelfe. So zog er durch den Wald. Sein eigener Papa ward ihn gewahr. Durch sein Gewand getäuschet sprang er herbei, und eh er sichs versah, biß er den Kopf ihm ab. Er war schon halb zerfleischet, Als er die List entdeckt. „Was, ungeratner Sohn,“ rief er, „du wolltest mich belügen? Doch du verdienest deinen Lohn; Der Mensch nur hat das Recht, im Schafspelz zu betrügen.“ Gottlieb Konrad Pfeffel, 1796 11 Das Mädchen und der Wolf Eines Abends hatte im Schwarzwald ein großer Wolf auf ein kleines Mädchen gewartet. Jeden Abend brachte das Mädchen seiner Großmutter das Essen. Während das Mädchen einen Korb trug, in dem Essen war, ging es in den Wald. Als es der Wolf sah, fragte er es: „Bringst du deiner Großmutter dieses Essen?“ „Ja,“ antwortete das kleine Mädchen. „Wo steht das Haus deiner Großmutter?“, fragte dann der Wolf. Das Mädchen sagte ihm, wo die Großmutter wohne. Aber unterwegs zur Großmutter verlief sich der Wolf. Als das kleine Mädchen an das Haus der Großmutter gelangte und die Tür aufmachte, sah es, dass sich jemand mit Nachthemd und Schlafmütze im Bett hingelegt hat. Noch einige Schritte bis zum Bett, beobachtete das Mädchen, dass das nicht seine Großmutter, sondern jener Wolf ist. Sogar mit der Schlafmütze hat ein Wolf keine Ähnlichkeit mit einer Großmutter. Das kleine Mädchen brachte also seine Maschinenpistole aus dem Korb heraus und brachte den Wolf mit einem Schuss um! Moral der Geschichte: Heutzutage kann man im Gegensatz zur Vergangenheit nicht so leicht die kleinen Mädchen betrügen!! James Thurber (1894-1961) 12 Nächtliche Schlittenfahrt Die Uhr schlug zwölfe. Im Wald stehn zwei Wölfe. Zwei Wölfe stehn im Wald. Eine Schlittenpeitsche knallt. Ein Schlitten kommt gefahren. Die zwei Wölfe sträuben die Haare. Fahr zu, Fuhrmann, nicht ruhn! Sonst werden dir die Wölfe was tun! Der Fuhrmann lässt die Zügel... Das Pferd rast über den Hügel... Den Hügel hinauf, den Hügel herunter – Dahinter die Wölfe, ganz wild und munter. Jetzt fährt er über den See: Das Eis liegt tief im Schnee. Das Eis kracht unter den Hufen... Jetzt sind sie am andern Ufer! Schon kann man das Forsthaus sehn. Die zwei Wölfe bleiben stehn. Der Förster winkt mit der Laterne. Über’m Wald stehn hundertausend Sterne. Christian Morgenstern (1871-1914) 13 6. Neun Schafe rings am Wiesenrand Bestaunen ihren Bruder. Neun Schafe suchen unverwandt Den Wolf, das böse Luder. Jedoch der Wolf erscheint nicht mehr. Neun weiße Schafe staunen sehr. 7. Zwei Tage galt das schwarze Schaf Als Held für seine Brüder. Es freute sich und kaute brav Das Gras der Wiese wieder. Doch als der dritte Tag begann, Da fing das Spotten wieder an. 8. Vergessen war der Wolf im Wald, Vergessen die Gefahren. Man lacht, man schreit, es klingt, es schallt: Du Biest mit schwarzen Haaren! Das schwarze Schaf kaut grünes Gras. und denkt sich traurig dies und das. James Krüss (1926-1997) 14 Nachricht aus Bethlehem Einer der Hirten kam nicht zur Krippe. Er wollte die Schafe nicht allein lassen. Als die andern heimkehrten, glaubte er nichts. Er hatte den Wolf abgewehrt. Rudolf Otto Wiemer (1905-1998) Das schwarze Schaf 1. Es war einmal ein schwarzes Schaf, das hatte weiße Brüder. Es kaute friedlich, stumm und brav Das Gras der Wiese wieder. Doch spottete die Brüderschar, Weil es so schwarz wie Kohle war. 2. Dann fielen Tränen groß und schwer, ins Gras der Wiese nieder. Tagtäglich grämte es sich mehr Bei dem Gespött der Brüder. Denn es ist schwer, so ganz allein Ein armes, schwarzes Schaf zu sein. 3. Nun kam einmal ein Wolf daher, der heulte angsterregend. Neun weiße Schafe blökten sehr Und flohen in die Gegend. Neun Schafe flohen von den Zehn, Das schwarze nur blieb traurig stehen. 4. Zum Wolfe schlich das schwarze Tier Mit tiefgebeugtem Nacken. Komm her, Herr Wolf! Ich warte hier. Du darfst mich ruhig packen. Beende meinen Lebenslauf, Und friß mich bitte auf! 5. Der Wolf begann, sich auf der Stell Die Lippen abzuschlecken. Jedoch das Fell, das schwarze Fell, Erfüllt den Wolf mit Schrecken. Er steht. Er lugt. Ein Sprung. Ein Blick. Der Wolf flieht in den Wald zurück. 15 Der Werwolf Ein Werwolf eines Nachts entwich von Weib und Kind und sich begab an eines Dorfschullehrers Grab und bat ihn: Bitte, beuge mich! Der Dorfschulmeister stieg hinauf auf seines Blechschilds Messingknauf und sprach zum Wolf, der seine Pfoten geduldig kreuzte vor dem Toten: »Der Werwolf« -- sprach der gute Mann, »des Weswolfs«, Genitiv sodann, »dem Wemwolf«, Dativ, wie man’s nennt, »den Wenwolf«, -- »damit hat’s ein End«. Dem Werwolf schmeichelten die Fälle, er rollte seine Augenbälle. Indessen, bat er, füge doch zur Einzahl auch die Mehrzahl noch! Der Dorfschulmeister aber mußte gestehn, daß er von ihr nichts wußte. Zwar Wölfe gäb’s in großer Schar, doch »Wer« gäb’s nur im Singular. Der Wolf erhob sich tränenblind -er hatte ja doch Weib und Kind!! Doch da er kein Gelehrter eben, so schied er dankend und ergeben. Christian Morgenstern (1871-1914) 16 Das Wölflein und die Katze Es war ein sonniger Tag und der Machthaber des Königreiches saß auf seinem drei Meter hohen Thron. Der König streichelte seine Katze und diese genoss die Daseinsfreude. Die Gesandten seiner Majestät huldigten der Katz` in allen erdenklichen Formen. Zu dieser Zeit war es für das kleine Wölflein fragwürdig, wie lange es noch leben würde. Die anderen Wölfe ließen den kleinen Wolf offensichtlich nie mehr an die Beute. Das Wölflein lebte im Wald und bekam deshalb nichts. Nein, der Wolf musste sich sein Beute selbst fangen, doch gerade dies konnte er nicht. Plötzlich begegneten sich der kleine Wolf und die Königskatze. Die Katz` sprach: ,,Weshalb bist du hier und nicht bei all den anderen?" Das Wölflein erzählte der Katze seine Geschichte. Mit einem Male riss die Katz` ihre goldenen Augen auf. Sie sah eine kleine, schwarze Maus. Das Wölflein erschrak, denn die Katze sprang, schnell wie der Blitz, auf das Mäuschen. Glücklich fraß die Katz` ihre Beute. Das Wölflein litt unter momentanem Unmut und Neid, denn wie gerne würde es lediglich an einem kleinen Stück der Beute teilhaben. Die halbe Maus hatte die Katze gefressen, bis sie sich auf den Boden legte, den Wolf anblinzelte und erzählte, wie man seine Beute fängt. Als sie ihren Vortrag an das Wölflein gehalten hatte und dieser die Maus verspeist hatte, sprang die Katz` in das Gestrüpp und verschwunden war sie. Der Wolf schaute verwundert in den dunklen Wald hinein und wünschte sich für immer mit so einer guten Jägerin zu leben, denn so hätte er eine Freundin und er müsse nicht mehr hungern. Die Katze brachte dem König nun eine Maus in sein Bett. Dieser erschrak so sehr, dass er seine Diener herbeiwünschte und ihnen erzählte, dass er so etwas noch nie erlebt hatte und er die Katze nie mehr sehen wolle. Ja, Glück im Unglück, nennt man dies, wenn eine Königskatze aus dem Schloss geschmissen wird, aber das Wölflein nun eine Freundin fürs Leben besaß. Sandra und Simone 17 Die Sage von Romulus und Remus Die Söhne der Wölfin In Alba Longa regierte Numitor, einer der Nachkommen des Aeneas. Sein Bruder Amulius, entriss ihm den Thron und zwang Rea Silvia, die Tochter Numitors, Vestalin zu werden, da sie sich als Priesterin der Vesta nicht vermählen durfte. So sollte die Geburt eines rechtmäßigen Thronerben verhindert werden. Rea Silvia aber gebar dem Kriegsgott Mars die Zwillinge Romulus und Remus. Als Amulius das erfuhr, ließ er seine Nichte ins Gefängnis werfen und befahl, die beiden Knaben im Tiber auszusetzen. Der war jedoch gerade über die Ufer getreten, als die Diener ankamen. So schoben sie die Wanne, in der die Kinder ausgesetzt werden sollten, in das flache Uferwasser. Bald darauf trat der Strom in sein gewöhnliches Bett zurück. Die Wanne aber blieb an einem Feigenbaum hängen und kippte um, so dass die beiden Knaben in den Schlamm fielen. Ihr Geschrei lockte eine Wölfin herbei, die sich barmherziger als die Menschen zeigte. Sie trug die Zwillinge behutsam in ihre Höhle, leckte sie sauber und säugte sie, so dass sie dem sicheren Tod entgingen. Auch ein Specht hütete die Kinder und trug ihnen Speise zu. Das sah einer der königlichen Hirten, und voller Staunen rief er seine Genossen herbei. Schließlich brachten sie die Knaben zu Faustulus, dem Schweinehirten des Königs, und dessen Frau nahm sich der Kleinen an und zog sie auf. So wuchsen sie unter den Hirten des Landes zu tüchtigen jungen Männern heran. Die Gründung der Stadt Rom Eines Tages aber gerieten sie mit den Hirten Ihres entthronten Großvaters Numitor in Streit. Sie wurden ergriffen und vor Numitor gebracht. Der ließ sich alles erzählen, was Faustulus von ihnen wusste, betrachtete wieder und wieder ihre Gesichtszüge und erkannte sie schließlich als seine Enkel. Nun erfuhren Romulus und Remus, wie schändlich Amulius an ihnen und ihrer Mutter gehandelt hatte, und sie beschlossen, unverzüglich Rache zu nehmen. Sie stürmten in den Palast von Alba Longa, erschlugen den ungerechten Amulius und setzten ihren Großvater wieder auf den Thron. Zum Dank erhielten sie die Erlaubnis, an der Stelle, an der sie ausgesetzt worden waren, eine Stadt zu gründen. Als sie aber die Götter durch Vogelflug entscheiden lassen wollten, wer die neue Stadt benennen und beherrschen solle, entzweiten sie sich, und nur die größere Zahl seiner Anhänger ließ Romulus siegen. Sofort machte er sich ans Werk: Er zog die heilige Furche, die den Umkreis der Siedlung bestimmte, und ließ notdürftig Mauer und Graben anlegen. Spöttisch betrachtete Remus das Beginnen des Bruders, und um ihn zu verhöhnen, sprang er über die noch niedrige Mauer in das Innere der Anlage. Das war eine schmähliche Verletzung von Gesetz und Recht, denn jede Mauer einer Stadt galt als heilig. Da ließ Romulus sich von seinem Zorn hinreißen und erschlug seinen Bruder. „So möge es jedem ergehen“, rief er, „der über meine Mauern springt!“ Plutarch (45-125)