144_GraberDünow_Mick Jagger wird 60

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144_GraberDünow_Mick Jagger wird 60
MICK JAGGER WIRD 60
Mick Jagger zum
60. Geburtstag – eine Würdigung
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Foto: dp
Michael Graber-Dünow
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ockmusik war immer Jugendkultur,
sie war Provokation und Revolte.
Dabei waren die Mechanismen in den
frühen Jahren einfach: „Schockiere die
Elterngeneration und die Jugend wird
dich lieben (und deshalb natürlich deine
Platten kaufen).“ Es gab Zeiten, da war
Elvis’ Hüftschwung so revolutionär, eine
solche Bedrohung der Moral und der guten Sitten, dass die Fernsehanstalten nur
seinen Oberkörper zeigten. Doch Elvis
diente wenig später brav in der Army und
als man sich auch an die Pilzköpfe der Beatles langsam zu gewöhnen begann, setzen
die Rolling Stones noch eins drauf: ihre
Haare waren noch länger, ihre Musik
noch härter und ihre Gesten noch obszöner. Im Hintergrund zog Andrew Loog
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Oldman, ihr erster Manager die Fäden
und inszenierte die Stones als „bad guys“.
„Würden Sie Ihre Tochter einen Rolling
Stone heiraten lassen?“ fragte er einmal
rhetorisch in einer Zeitungsanzeige, denn
die Antwort war natürlich klar: Für die
bürgerliche englische Presse waren die
Stones die „gemeinsten Halbstarken“ und
„asozialsten Elemente“ ihrer Zeit.
Hymnen der Jugendkultur
Doch die Bands schlugen zurück. Viele der damaligen Songs sind vollgestopft
mit hämischen Angriffen auf die „alten
Säcke“, die das gesellschaftliche Leben
bestimmten. „What a drag it is getting
old“ schrieb Mick Jagger in „Mother’s
little helper“. Und „The Who“ besangen
DR. MED. MABUSE 144 · JULI/AUGUST 2003
im „Young man blues“ in Umkehrung
des gängigen Klischees die „gute alte
Zeit“, als junge Leute noch geachtet und
mit Respekt behandelt wurden.
Zu den Hymnen der Jugendkultur der
60er Jahre zählten freilich zwei andere
Lieder, die aber ebenfalls von den Who
und den Stones stammten. In „My generation“ dichtete Pete Townshend die
programmatischen Zeilen:
„People try to put us down,
just because we get around,
things they do look awful cold,
hope I die before I get old.“
Dies drückte wie kaum ein anderes
Lied die Stimmung der Kids aus: Lieber
sterben als so kaltherzig wie das Establishment werden. Wobei das Alter da-
MICK JAGGER WIRD 60
Rebellion gegen
die „alten Männer“
Zweifellos rieben sich die Stones an
der Gesellschaft, und dies war einer der
Gründe für ihren riesigen Erfolg. Für
viele meiner Generation waren sie damit
natürlich Identifikationsfiguren. „Sie
strahlten wie die Sonnengötter“ schrieb
Nik Cohn in seiner so herrlich subjektiven Rock-Geschichte „Pop from the beginning“. Die Bedeutung der Stones, so
Cohn, lag vor allem darin, „dass man
nicht mehr weich werden musste, wenn
man es schaffen wollte. Man brauchte
nicht mehr hübsch zu sein, man brauchte nicht mehr einfältig zu lächeln oder
töricht zu schwätzen oder sich anzubiedern, die alten Männer mochten einen
hassen, wie sie wollten, und dennoch
konnte man eine Million Dollar verdienen“. Die Geschichten um die Auseinandersetzungen der Stones mit den „alten Männern“ der Musikindustrie sind
ebenso lang wie legendär: Da durfte Jagger beispielsweise in einer Fernsehshow
nicht die angeblich so unmoralische Zeile „Let’s spend the night together“ singen, sondern musste sie in „Let’s spend
some time together“ umwandeln. Als
die Stones als Cover für ihr Album „Beggars Banquet“ das Bild einer mit
„Scheißhaus-Lyrik“ beschmierten Toilette herausbringen wollten, untersagte
ihnen dies ihre Plattenfirma, bis man
sich schließlich nach einem halben Jahr
Streit auf ein einfaches weißes Cover einigte, um, wie Gerüchte sagen, die Platte noch rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft auf den Markt bringen zu können. Und auch den Songtitel „Starfucker“ von ihrem Album „Goats head
soup“ musste die Gruppe ändern:
Das Lied wurde in „Star star“ umgetauft
und in Textheftchen wurde der Refrain
mit „You’re a starbunker“, einem bedeutungslosen Kunstwort, wiedergegeben.
Diese kleinen nostalgischen Geschich- Stück tanzend und singend über die
ten zeigen aber zugleich, dass die Stones Bühne toben. „Sex and drugs and rock’n
bei aller revolutionären Attitüde immer roll“ bleibt somit letztlich nur ein Mybereit waren Kompromisse einzugehen, thos. Diejenigen, die ihn exzessiv gelebt
um den geschäftlichen Erfolg nicht zu haben, wie beispielsweise der frühere
gefährden. Sie waren in gewisser Weise Rolling Stone Brian Jones, sind bekanntauch Opportunisten, teilweise sogar auf lich bei ihrem Flug der Sonne zu nahe
musikalischem Gebiet: So versuchten sie gekommen und abgestürzt. Andere, so
das erfolgreiche „Sergeant Pepper“- etwa den Who-Gitarristen Pete TownsAlbum der Beatles mit ihrem psychede- hend, plagt mit einem Hörschaden hinlischen „Their satanic majesties request“ gegen ein eher profanes Rock’n Rollnachzuahmen. Kaum hatte Bob Marley Zipperlein.
dann in den 70er Jahren den Reggae inOb es nicht etwas Unehrenhaftes haternational berühmt gemacht, nahmen be, in seinem Alter noch wie ein 16die Stones „Cherry
Jähriger über die BühOh Baby“ auf und als
ne zu tollen, wurde
schließlich die DiscoMick Jagger einmal in
Welle hoch schwappeinem Interview geIn den 60ern
te, sang Jagger auf
fragt. „Natürlich ist es
begann das Alter
„Emotional rescue“
das!“ antwortete er.
bereits ab 30.
im Falsett und war
„Ich glaube nicht, dass
sich nicht zu schade,
es überhaupt sehr
eine Platte mit Miehrenhaft ist, in einer
chael Jackson einzuspielen.
Rockband zu sein. Das ist wirklich ein
Ein weiterer wesentlicher Image-Fak- Widerspruch in sich, eine ehrenhafte
tor der Stones ist die zur Schau getragene Rockband.“ Aber warum sollte man
sexuelle Potenz ihres Frontmans. Nicht auch ein bestimmtes kalendarisches
nur, dass Jaggers Lieder voller sexueller Alter und Ehrenhaftigkeit gleichsetzen?
Anspielungen stecken, auch seine Show Und was ist das überhaupt: Ehrenhaftigist mit sexuell anzüglicher Gestik durch- keit?
setzt, bei der er, wie bei der 76er „Black
Im Gegensatz zu manch anderen Heland Blue“-Tour, auch schon mal auf ei- den der 60er Jahre, die mit Bierbauch
nem aufblasbaren, Konfetti ejakulieren- und angegriffenen Stimmen auf Oldieden Riesenpenis reitet. Dies hat jedoch Festivals ihre alten Hits herunterspielen
schon lange nichts mehr mit Provokati- sind die Stones frisch und kreativ geblieon und schon gar nichts mit sexueller ben. Mick Jagger zeigt, dass man auch als
Befreiung zu tun, sondern ist Teil der 60-jähriger Großvater noch Rockmusik
Show geworden.
machen kann, ohne sich dabei lächerlich
zu machen. Rockmusik ist längst schon
Tee statt Drogen
nicht mehr nur Jugendkultur, sondern
Nun wird Mick Jagger 60 und „die sie hat im Feuilleton Einzug gehalten; sie
größte Rock’n Roll Band der Welt“ tourt ist ein gesellschaftliches Ereignis, zu dem
wieder durch die Lande. Natürlich wird Familien generationenübergreifend pilJagger noch immer den „Starfucker“ ge- gern, so dass damit natürlich auch das
ben und wie ein Derwisch tanzen – Vermarktungspotenzial geradezu ins Unwenn auch mit kleinen Pausen, denn wie ermessliche gestiegen ist. Rockmusik ist
schon auf den letzten Tourneen wird er also endgültig erwachsen geworden und
sich auch dieses Mal wieder pro forma daran haben die Stones einen wesenteine Gitarre umhängen, nicht etwa um lichen Anteil. Ob dies ein Verdienst ist,
sie ernsthaft zu spielen, sondern um bei mag jeder für sich selbst beurteilen.
der anstrengenden Show einmal durch- Mick Jagger wird es sicherlich egal sein,
schnaufen zu können. Natürlich kann denn wie heißt es so schön: „It’s only
auch ein gesundheitsbewusster Mensch Rock’n Roll, but I like it ...“
wie Mick Jagger, der – ganz entgegen des
gängigen Rockklischees – von Drogen
und Alkohol mittlerweile wenig hält,
sich statt dessen mit regelmäßigem JogMichael Graber-Dünow
gen fit hält und als sein Lieblingsgetränk
geb. 1957, Altenpfleger,
„Tee mit Honig“ angibt, mit 60 Jahren
Sozialarbeiter, Heimleiter und
nicht mehr zweieinhalb Stunden am
Stones-Fan in Frankfurt am Main
»
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mals allerdings bereits jenseits der 30
begann.
Die zweite Hymne der 60er Jahre
stammt von den Stones: „I can’t get no
satisfaction“ mit Keith Richards’ genialem Gitarrenriff und einem unvergleichlich hämmernden Beat. Dabei handelte
das Lied nicht nur von der Suche nach
sexueller Befriedigung, sondern es war
auch die erste Platte, die sich konsumkritisch mit all dem Werbemüll auseinander setzte, der uns aus Radio und
Fernseher tagtäglich berieselt.
DR. MED. MABUSE 144 · JULI/AUGUST 2003
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