Gesamtausgabe als PDF - Schweizerische Ärztezeitung

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Gesamtausgabe als PDF - Schweizerische Ärztezeitung
Schweizerische Ärz tezeitung
Bollet tino dei medici svizzeri
41
13. 10. 2010
Bulletin des médecins suisses
Editorial
1599
Das Parlament zum Thema Qualität
Kos tenvergütung im Obligatorischen Krankenpflegebereich
16 02
Vom Sinn und Unsinn eines flächendeckenden
Tiers payant
Exper tenbefragung zur Verringerung des Tabakkonsums
1621
Reduzierung der Risiken für Raucher
Inter view mit Peter Stulz
1625
«Eine philosophische Rückbesinnung
auf ursprüngliche Ziele der Medizin tut not»
«Zu guter Let z t» von Céline Fäh
Vom «Neufi» zur Medizin – mein Weg zur
Praktikantin bei der Schweizerischen Ärztezeitung
Editores Medicorum Helveticorum
Offizielles Organ der FMH und der FMH Services www.saez.ch
Organe officiel de la FMH et de FMH Services www.bullmed.ch
Bollettino ufficiale della FMH e del FMH Services
16 32
I N H A LT
FMH
Tribüne
Editorial
1599 Das Parlament zum Thema Qualität
Ignazio Cassis
Standpunkt
1616 Anmerkungen zum
Q­Monitoring der FMH
J. Babics, M. Löliger, A. Lyrer,
P. Minder, W. Nef,
E. Ramseyer, P.E. Schlageter et al.
Gestellt wird die Frage, wie Qualität im medizinischen
Bereich transparent gemacht werden soll, wenn wichtige Qualitätsfaktoren der ärztlichen Tätigkeit weder messnoch evaluierbar sind. Daniel Herren, Verantwortlicher der
FMH für das Ressort Daten, Demographie und Qualität
DDQ, nimmt zu diesem Problem Stellung.
1601 Personalien
1618 Passivrauchgesetze: Die Bayern haben sich
gegen die spanische Konfusion entschieden
Der Beitrag kommentiert neueste Entwicklungen beim
Schutz vor Passivrauchen, und er schliesst mit einem
Organisationen der Ärzteschaft
KKA
1602 Vom Sinn und Unsinn eines flächen­
deckenden Tiers payant in der Schweiz
Urs Stoffel
Appell an die Schweizer Parlamentarier, unterschrieben
von zahlreichen Ärzten: Die WHO-Rahmenkonvention zur
Tabakkontrolle müsse auch gegen Druck der Lobbys endlich ratifiziert werden. Verwässerungsversuche des Gesetzes
zum Schutz vor Passivrauchen dürfe es nicht mehr geben.
Volkswirtschaftlich sei es Unsinn, dass im «Tiers payant» alle
Arztrechnungen direkt an den Krankenversicherer gehen.
Sinn mache es nur für die Versicherer: Mehr Rechnungen
senken den prozentualen Anteil der Verwaltungskosten.
Briefe
1604 Briefe an die SÄZ
FMH Services
1607 Krankenversicherung
1608 Stellen und Praxen
Prävention
1621 Reduzierung der Risiken für Raucher
Semira Gonseth, Isabelle Jacot-Sadowski,
Jacques Cornuz
Der Rauchstopp stellt für viele Raucher ein kaum zu erreichendes Ziel dar. Ist die Einschränkung des Tabakkonsums
eine Alternative, die der Gesundheit zugutekommt? Die
Ergebnisse einer schweizweiten Expertenbefragung geben
eine recht eindeutige Antwort.
I N H A LT
Horizonte
Zu guter Letzt
Interview
1625 «Eine philosophische Rückbesinnung auf ur­
sprüngliche Ziele der Medizin tut not»
Bruno Kesseli
1632 Vom «Neufi» zur Medizin –
mein Weg zur Praktikantin
bei der Schweizerischen Ärztezeitung
Céline Fäh
Dies sagt der Herz- und Thoraxchirurg Peter Stulz. Gemeinsam mit anderen philosophisch interessierten Ärzten gab er
den Anstoss zum Nachdiplomkurs «Philosophie und Medizin» an der Universität Luzern. Im Mittelpunkt stehen vor
allem die zahlreichen vom medizinisch-technischen Fortschritt ausgelösten Fragen.
Streiflicht
1628 Der Normalsprecher – Teil 2
Adolf Jens Koemeda
Letzter Teil der Kurzgeschichte über eine Autopanne im
Tunnel. Statt Licht am Ende des Tunnels gibt es ein ziemlich überraschendes Ende der Geschichte.
Buchbesprechungen
1631 L’homéopathie
Bruno Ferroni
«Abwechslung und immer wieder Einblicke in neue Bereiche erhalten», das reizt unsere Praktikantin am Journalismus. Ein Neufundländer und eine Comicfigur standen
am Anfang ihres Wegs, der sie nun zur Medizin geführt
hat – fürwahr eine Abwechslung. Weitergehen soll es mit
einer fundierten publizistischen Ausbildung.
Anna
IMPRESSUM
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(Chefredaktor)
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Pharmazeutische Medizin: Dr. P. Kleist
Physikalische Medizin und Rehabilitation:
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Plast.-Rekonstrukt. u. Ästhetische Chirurgie:
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Pneumologie: Prof. Dr. E. Russi
© 2010 by EMH Schweizerischer
Ärzteverlag AG, Basel. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, elektronische
Wiedergabe und Übersetzung, auch
auszugsweise, nur mit schriftlicher
Genehmigung des Verlages gestattet.
Erscheint jeden Mittwoch
ISSN 0036-7486
ISSN 1424-4004 (Elektronische Ausg.)
Prävention und Gesundheitswesen:
Dr. C. Junker
Psychiatrie und Psychotherapie:
Dr. G. Ebner
Radiologie: Prof. Dr. B. Marincek
Radioonkologie: Prof. Dr. D. M. Aebersold
Rechtsmedizin: Prof. T. Krompecher
Rheumatologie: Prof. Dr. M. Seitz
Thorax-, Herz- und Gefässchirurgie:
Prof. Dr. T. Carrel
Tropen- und Reisemedizin: PD Dr. C. Hatz
Urologie: PD Dr. T. Zellweger
FMH
Editorial
Das Parlament zum Thema Qualität
Die KVG-Reform 09.053
«Massnahmen zur Eindämmung der Kostenentwicklung», die der Bundesrat im
Mai 2009 als Reaktion auf die
Prämiensteigerungen eingereicht hat, ist gescheitert. Mit
97 Nein- zu 76 Ja-Stimmen
hat eine Allianz von SP und
SVP – bei Stimmenthaltung
der Grünen – diese Minireform im Nationalrat (NR)
bachab geschickt. Die Logik hinter dieser Kehrtwende hat
nur wenig mit dem Inhalt der Reform zu tun: Der Walliser
Sozialdemokrat Stéphane Rossini gab bekannt, seine
Fraktion werde die Reform nicht unterstützen. Die SVP interpretierte das als Taktik, um den Druck auf das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten und um sich als Vertreter der
Patienteninteressen zu profilieren. Deshalb drückte die SVPFraktion auf den roten Knopf und machte damit – in 20 Sekunden – die Arbeit von eineinhalb Jahren zunichte. Es lebe
die Schweiz!
Die Reform enthielt auch interessante Vorschläge wie
etwa den neuen Artikel zur Qualität [1]. Die Qualität ist nach
wie vor ein wichtiges Thema, sowohl auf beruflicher als auch
auf politischer Ebene. Es ist ein wenig wie mit der Bibel: Alle
zitieren sie, doch nur wenige haben sie gelesen. Die Definition der Qualität ist unklar, und Qualität lässt sich leicht für
andere Zwecke instrumentalisieren.
Mehrere parlamentarische Vorstösse
verlangen die Schaffung eines
nationalen Qualitätsinstituts
Unabhängig vom abgelehnten Paket stellt sich die Frage,
wie es um die Qualität im Gesundheitssystem steht. Im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des KVG wurde sie 1996
zum ersten Mal ausdrücklich im Gesetz erwähnt (Art. 58).
Mit einer liberalen Haltung hatte es der Gesetzgeber den Tarifpartnern (Ärzteschaft und Versicherern) überlassen, die
Qualitätsverfahren bilateral festzulegen: Damit wollte er für
sie einen uneingeschränkten Spielraum gewährleisten. Zehn
Jahre danach wollte das Parlament wissen, wie es um den
Fortgang der Arbeiten steht, und beauftragte die Geschäftsprüfungskommission (GPK), dies zu beurteilen. Die GPK veröffentlichte am 13. November 2007 den Bericht «Evaluation
über die Rolle des Bundes bei der Qualitätssicherung nach KVG»
[2]. Fazit: Die Situation ist unbefriedigend! Das Qualitätsmanagement erfolgt nur fragmentiert, diskontinuierlich und
ohne Sicht auf das Ganze. Darum beschloss das Parlament,
dem Bundesrat die Führung im Qualitätsbereich zu übertra-
gen. Am 18. Juni 2008 erklärte sich dieser dazu bereit [3]. Am
9. Oktober 2009 unterbreitete er die Qualitätsstrategie des
Bundes im Schweizerischen Gesundheitswesen [4]. Seither
arbeitet er – über das BAG – mit mehreren Akteuren, insbesondere der FMH, an der Umsetzung dieser Strategie. Gleichzeitig wurden verschiedene parlamentarische Vorstösse eingereicht: die parlamentarische Initiative Heim (07.486), die
von der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
des NR (SGK-N) in eine Motion umgewandelt wurde
(10.3015); die Motion SGK-S (Sommaruga, 10.3353) und die
Motion der freisinnig-demokratischen Fraktion (Cassis,
10.3450). Am 28. September 2010 hiess der Nationalrat die
Motion 10.3015 mit grosser Mehrheit gut. Diese parlamentarischen Vorstösse verlangen die Schaffung eines nationalen Qualitätsinstituts, das steuern, koordinieren und vereinheitlichen soll. Derzeit laufen die Vorbereitungen für ein
solches Institut.
Das Kürzel HTA und der Begriff
Medical Board gehören allmählich
zum politischen Vokabular
Auch die Wirtschaftlichkeit von medizinischen Leistungen wird debattiert. Das Kürzel HTA (Health Technology Assessment) und der Begriff Medical Board gehören allmählich
zum politischen Vokabular. Die Motion der FDP-Fraktion
(Cassis, 10.3451) verlangt eine nationale HTA-Agentur. Der
Bundesrat hat diese Motion bereits befürwortet, das Parlament hat sich noch nicht mit ihr befasst. HTA wird neben
der Qualität schon bald ein beliebtes Kürzel sein. Nun ist
noch die Verbindung zwischen der Politik und den Fachleuten zu schaffen, um zu vermeiden, dass sich diese Themen
auf zwei parallelen Schienen entwickeln, die sich ignorieren
oder sogar bekämpfen! Die Abteilung DDQ setzt sich dafür
ein, diese Verbindung zu gewährleisten.
Dr. med. Ignazio Cassis
Vizepräsident der FMH und Nationalrat
Weitere Informationen zu den angegebenen Geschäftsnummern finden Sie auf www.parlament.ch.
1 Art. 43 6bis (neu). Versicherer können in Verträgen mit
Leistungserbringern, welche die Qualität ihrer Arbeit regelmässig von einer akkreditierten Zertifizierungsstelle
überprüfen lassen, einen höheren Taxpunktwert oder eine
Qualitätsprämie vereinbaren.
2 BBl Nr. 38 Seiten 7793–7796 (www.admin.ch/ch/d/ff/2008/);
BBl Nr. 38 Seiten 7797–7888 (www.admin.ch/ch/d/ff/2008/).
3 BBl Nr. 38 Seiten 7889–7896 (www.admin.ch/ch/d/ff/2008/).
4 http://bit.ly/cTXIzX
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
1599
FMH
Personalien
Todesfälle / Décès / Decessi
Walter Reich (1919), † 1. 5. 2010,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
4051 Basel
Peter Haefeli (1947), † 3. 9. 2010,
Facharzt für Allgemeinmedizin,
4614 Hägendorf
Kurt Bellwald (1919), † 16. 9. 2010,
Facharzt für Allgemeinmedizin, 3006 Bern
Herbert Honegger (1935), † 16. 9. 2010,
8953 Dietikon
Praxiseröffnung /
Nouveaux cabinets médicaux /
Nuovi studi medici
AG
Natalie Berzins-Baltzer,
Fachärztin für Allgemeinmedizin,
Gartenweg 12, 4310 Rheinfelden
Slobodan Spasic,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie,
Stadtweg 4, 4310 Rheinfelden
Dagmar Gabriele Koppe,
Praktische Ärztin, Oberdorfstrasse 4,
5621 Zufikon
Ulrike Balbier,
Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe,
Graben 9, 5000 Aarau
Ärztegesellschaft des Kantons
Luzern
Zur Aufnahme in unsere Gesellschaft Sektion
Stadt haben sich angemeldet:
Dr. med. Claudia Krüger, Fachärztin für Kinderund Jugendmedizin FMH, ab 1. Januar 2011:
Praxisgemeinschaft mit Dr. Philipp Trefny,
Maihofstrasse 95c, 6006 Luzern
Prof. Dr. med. Stefan Aebi, Facharzt für Innere
Medizin und Medizinische Onkologie FMH,
ab 1.1.2011: Chefarzt Medizinische Onkologie LUKS, 6000 Luzern 16
Einsprachen sind innert 20 Tagen zu richten
an das Sekretariat, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern, Fax 041 410 80 60.
Ärztegesellschaft des Kantons
Schwyz
Ehrungen / Distinctions
Ehrenzeichen der deutschen Ärzteschaft
Am 26. August 2010 hat die Bundesärztekammer Dr. med. Max Giger «in Anerkennung
seiner Lebensleistung» das Ehrenzeichen der
deutschen Ärzteschaft verliehen. Giger hat
während seiner Tätigkeit im Vorstand der
FMH (Foederatio Medicorum Helveticorum),
der Verbindung der Schweizer Ärzte, von
2000 bis Juni 2010 wesentlich dazu beigetragen, die Qualität der ärztlichen Weiter- und
Fortbildung zu verbessern. In Deutschland
hat Giger wichtige Impulse für die erste
Evaluation der ärztlichen Weiterbildung im
vergangenen Jahr gegeben und diesen Prozess
aktiv begleitet. Die Auszeichnung wurde im
Deutschen Ärzteblatt 2010; 107 (36) vermeldet
(sh. auch www.aerzteblatt.de ’ Archiv ’ Recherche).
Zur Aufnahme in die Ärztegesellschaft des
Kantons Schwyz hat sich angemeldet:
Dr. med. Bernhard Kipfer, Facharzt für PlastischRekonstruktive und Ästhetische Chirurgie
FMH, Praxis Sihlpark, Chaltenbodenstrasse
16, 8834 Schindellegi, seit August 2010
Einsprache gegen diese Aufnahme richten Sie
schriftlich innert 20 Tagen an Dr. med. Hugo
Brunner, Dorfstrasse 14, 6417 Sattel.
Preise / Prix
BE
Lars Heine,
Facharzt für Allgemeinmedizin,
Praxis für Hausarzt- und Reisemedizin,
Hohmad Privatklinik Thun,
Hohmadstrasse 1, 3600 Thun
Hans Sebastian Walter,
Facharzt für Ophthalmologie, Jungfraustrasse 1, Postfach 197, 3800 Interlaken
TI
Davide Donghi,
Specialista in dermatologia e venereologia,
Via Livio 14, 6830 Chiasso
SBAP-Preis 2010
in Angewandter Psychologie
Das interprofessionelle und interdisziplinäre
Team der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich, das unter der Leitung von KD Dr.
Ulrich Lips steht, erhält den SBAP-Preis 2010
in Angewandter Psychologie für seine wertvolle und nachhaltige Arbeit im Dienste der
Kinder, die gesichert oder vermutlich Opfer
einer Misshandlung wurden oder entsprechend gefährdet sind. Durch sorgfältige Evaluation und Reflexion der eigenen Tätigkeit
erbringt das Team Pionierleistungen und
Schrittmacherfunktionen, die weit über Zürich hinaus wirken.
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Editores Medicorum Helveticorum
1601
KKA
O R G A N I S AT I O N E N D E R Ä R Z T E S C H A F T
Vom Sinn und Unsinn eines flächendeckenden
Tiers payant in der Schweiz
Urs Stoffel
Co-Präsident der Konferenz der
Kantonalen ÄrzteGesellschaften
KKA/CCM
Einleitung
Grundsätzlich gibt es in der Schweiz im ambulanten Bereich zwei Abrechnungssysteme der Kostenvergütung im Obligatorischen Krankenpflegebereich
(OKP). Diese beiden Vergütungsarten sind im KVG
im Art. 42 geregelt. Das System, bei dem der Versicherte dem Leistungserbringer die Vergütung der
Leistung schuldet, wird Tiers garant (TG) genannt.
Die Versicherten haben in diesem Fall einen Anspruch auf eine Rückerstattung durch die Versicherung. Wenn keine anderen Vereinbarungen zwischen
dem Leistungserbringer und dem Kostenträger vereinbart wurden, so gilt gemäss KVG dieses System
als Regelfall.
Gemäss Absatz 2 Art. 42 KVG können aber Versicherer und Leistungserbringer vereinbaren, dass der
Versicherer die Vergütung schuldet. Dieses System
heisst Tiers payant (TP).
Mehrheitlich wird in der Schweiz nach dem
System des TG abgerechnet. In den letzten Jahren
kommt nun zunehmend die Forderung der Versicherer nach dem Abrechnungssystem des TP. Von der
Seite der Versicherungen wird argumentiert, dass in
diesem System, insbesondere durch die Einführung
des elektronischen Datenaustausches (eDA) über
einen Intermediär (MediData), prämienwirksam
Kosten gespart werden können.
Es ist volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn alle Arzt­
rechnungen direkt zu den Krankenversicherungen gehen
Korrespondenz:
Dr. med. Urs Stoffel
Seestrasse 49
CH-8002 Zürich
Tel. 044 286 20 20
[email protected]
Seit geraumer Zeit bestehen erhebliche Differenzen zwischen den Versicherern und der Ärzteschaft
über die Abwicklung des eDA im TG via die ärzteeigenen TrustCenter und im von den Versicherern
geforderten TP über den Intermediär MediData, der
von den Versicherern betrieben und finanziert wird.
Auf diese Thematik werde ich an dieser Stelle nur kurz
und vor allem zur Frage des Datenschutzes eingehen.
Zahlreiche Stellungnahmen und Gegendarstellungen
zur Problematik TrustCenter versus MediData wurden
bereits öffentlich thematisiert [1]. In diesem Artikel
möchte ich aber aus ärztlicher Sicht der Frage nachgehen, wie sinnvoll die Einführung eines flächendeckenden Tiers payant im schweizerischen Gesundheitswesen wirklich ist.
Volkswirtschaftlicher Unsinn
Aus Sicht der Ärzteschaft ist es ein volkswirtschaftlicher Unsinn, wenn alle Arztrechnungen automatisch
und direkt zu den Krankenversicherungen gehen
(System des TP). Wie wir aus verschiedenen Untersuchungen wissen, ist der Anteil von kleinen Rechnungen (unter 100 Franken) in Arztpraxen im OKPBereich sehr hoch und der TP führt deshalb nur zu
teuren administrativen Umtrieben ohne jeglichen
Nutzen. Im Gegensatz zum UVG-Bereich, der keinen
Selbstbehalt kennt, müssen die Rechnungen im KVGBereich zuerst mit der Franchise und dem Selbstbehalt verrechnet werden.
Ein grosser Anteil der im TP direkt an die Versicherung geschickten Rechnungen muss mit einer
komplizierten Abrechnung dem Patienten erneut in
Rechnung gestellt werden, weil ein grosser Teil der
Arztrechnungen unterhalb der Franchisekosten pro
Jahr liegt. Das ist Bürokratie pur und bläht lediglich
den Verwaltungsapparat der Krankenversicherungen
künstlich auf. Und die prämienwirksamen Kosten
steigen, ohne dass irgendein gesundheitlicher Nutzen
für die Versicherten generiert würde. Allerdings steigt
der Umsatz der Krankenversicherungen. Und das
hat aus Sicht der Versicherer den positiven Effekt,
dass der prozentuale Anteil der Verwaltungskosten
im Verhältnis zum Umsatz sinkt!
Stärkung der Eigenverantwortung
und Entlastung der Prämien
Auch in den jüngsten Diskussionen des Parlaments
für kostendämmende Massnahmen im Gesundheitswesen und vor allem im Zusammenhang mit der
Schaffung von differenzierten Selbstbehalten wird
immer wieder betont, wie wichtig die Stärkung der
Eigenverantwortung für das Kostenbewusstsein der
Bevölkerung sei. Es wird gefordert, dass kleine Beiträge aus der eigenen Tasche («out of the pocket»)
bezahlt werden sollen, so dass die Gesundheitskosten
und damit die Prämien nicht unnötig belastet werden. Ein flächendeckender TP widerspricht diesen
Forderungen nach Eigenverantwortung. Denn jeder
Franken, der über den Betrag der Franchise hinausgeht, wird in diesem System von den Versicherungen
bezahlt und wirkt sich damit direkt auf die Prämien
aus. Untersuchungen mit santésuisse haben gezeigt,
dass eine Differenz von bis zu 15% zwischen den gestellten Rechnungen und den bei den Versicherungen
zur Rückvergütung eingereichten Rechnungen besteht. Es ist also davon auszugehen, dass bei einem
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Editores Medicorum Helveticorum
1602
KKA
O R G A N I S AT I O N E N D E R Ä R Z T E S C H A F T
flächendeckenden System des TP die prämienwirksamen Kosten und im speziellen die Verwaltungskosten deutlich steigen werden.
Ein flächendeckender Tiers payant
widerspricht den Forderungen
nach Eigenverantwortung
Kostenkontrolle und Kostenbewusstsein
Niemand kann eine Arztrechnung besser kontrollieren als die Patientin, an der die Leistung erbracht
wurde. Die neuste Umfrage von santésuisse hat
entgegen den Erwartungen ergeben, dass 70% der
Patienten ihre Arztrechnungen kontrollieren. Solange die Patientin primäre Schuldnerin bleibt (TG)
wird sie diese Rechnung als erste erhalten und diese
(wie alle Rechnungen bei denen sie direkte Schuldnerin ist) prüfen. Wenn aber der Patient im System
des TP irgendwann, wenn überhaupt, meist nachdem
die Kasse längst bezahlt hat, eine Kopie der Rechnung
oder die Leistungsabrechnung des Versicherers erhält,
interessiert er sich nicht mehr dafür. Die Kasse hat ja
längst bezahlt. Er ist sich damit auch nicht mehr
wirklich bewusst, welche Kosten er ausgelöst und
verursacht hat. Auch der gewünschte Anreiz zur
Kosten- und Qualitätskontrolle und zum erhöhten
Kostenbewusstsein geht im System des TP verloren.
Datenschutz und Schutz des Bürgers
vor dem «gläsernen Patienten»
Durch den äusserst filigranen und differenzierten
TARMED-Tarif ist der Patient heute zu weiten Teilen
zum «gläsernen Patienten» geworden. Aus den detaillierten Rechnungspositionen lässt sich oft die
Diagnose und damit auch die Erkrankung und sogar
die Prognose der Patientin ableiten. Nach wie vor gibt
es Behandlungen und Leistungen (z.B. Psychiatrie,
Aids-Test, Bagatellbehandlungen usw.) von denen der
Patient nicht möchte, dass die Versicherung davon
Kenntnis hat (z.B. auch im Zusammenhang mit
Zusatzversicherungen) und die der Patient aus der
eigenen Tasche bezahlen will. Nachdem auch vom
Datenschützer eine Freigabe jeder einzelnen Rechnung respektive Behandlung gefordert wird, sind die
heute häufig gebrauchten generellen Entbindungen
vom Datenschutz gegenüber dem Arzt (Pauschal-
ermächtigung) nicht zulässig. In einem flächendeckenden TP ist die Ermächtigung der Patientin pro
Rechnung nicht mehr möglich und deshalb haben
wir im TP ganz generell ein klares Datenschutzproblem. Dieses Datenschutzproblem wurde mehrfach vom eidgenössischen Datenschützer in seinen
Berichten moniert und er empfiehlt die Abwicklung
der Arztrechnungen im TG über ein TrustCenter. An
dem erst kürzlich erfolgten Treffen mit dem eidgenössischen Datenschützer hat Hanspeter Thür diese Forderungen erneut und dezidiert bestätigt. Aus seiner
Sicht können die Datenschutzauflagen im TP nur erfüllt werden, wenn der Patient vor der Übermittlung
der elektronischen Rechnung an den Versicherer eine
Rechnungskopie erhalten hat.
Wir haben im Tiers payant generell
ein klares Datenschutzproblem
Elektronischer Datenaustausch
Seit 2004 stellt die frei praktizierende Ärzteschaft ihre
Rechnungen datenschutzkonform und in elektronischer Form zum Abholen in den von den Ärzten
selbstfinanzierten TrustCentern bereit. Diese Form
des elektronischen Datenaustausches wurde auch
ausdrücklich vom eidgenössischen Datenschützer in
seinem Bericht vom Juni 2004 gutgeheissen und
sogar empfohlen. Mehrere Versicherer nutzen diesen
Weg des eDA seit Jahren rege, mit gutem Erfolg und
zu ihrer vollsten Zufriedenheit. Im Mai 2010 ist die
100-millionste Rechnung in den TrustCentern eingetroffen. Es lagern damit über eine Milliarde Datensätze in den ärzteeigenen TrustCentern. Jährlich
gehen bei den TrustCentern 19 Millionen Rechnungen ein. Damit ist und bleibt das grösste Sparpotential im eDA die Nutzung der in den TrustCentern
datenschutzkonform bereitgestellten elektronischen
Rechnungen durch die Versicherungen.
Literatur:
1 Stoffel U. Was ist uns die Datenparität wert? Schweiz
Ärztezeitung. 2003;84(28):1510–1.
2 Helfer G. Tiers payant versus Tiers garant – Fragwürdiges Verhalten der Ärztegesellschaften. PrimaryCare.
2005;5(43):890–1.
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
1603
BRIEFE
[email protected]
Briefe an die SÄZ
fallen insbesondere politische und tarifa­
rische Entscheidungen, während die Ärzte­
kammer andere Bereiche abdeckt (Bud­
get, Wahlen, Statuten; siehe dazu die Sta­
tuten der FMH, Art. 30 und 37 [1]).
Antwort Leserbrief Dr. R. Haldemann
«Wachsende Skepsis der Basis gegen
die KVG-Revision» [1]
Vielen Dank und herzliche Gratulation für
Ihre Bemerkungen und Kritik an der «Ver­
bandselite der FMH». Vorstand und Ärzte­
kammer politisieren seit Jahren an der Basis
der freiberuflichen Hausärzte vorbei und lei­
der auch andere Institutionen, welche unsere
Interessen und Bedürfnisse vertreten sollten.
Die Ursachen dafür sind mannigfaltig.
Nachdem kein Antrag auf Urabstimmung
eingegangen ist, wurden die Beschlüsse der
ordentlichen Ärztekammer vom 27. 5. 2010
in Kraft gesetzt (SÄZ 35/2010, Seite 1322). Die
Mehrheit der Unzufriedenen sollte jetzt drin­
gend die «basisdemokratische Auseinander­
setzung» suchen mit allen Mitteln, die zur
Verfügung stehen. Es ist ein Affront unseres
Vorstandes, die ausserordentliche Ärztekam­
mersitzung vom 9. 12. 2010 jetzt schon ersatz­
los zu streichen. Bis zu jenem Datum wird die
«steigende Zahl reformkritischer Leserbriefe»
als «Ausdruck des wachsenden Misstrauens»
weiter steigen und Themen zum Diskutieren
gäbe es genügend. Die ausserordentliche Ärzte­
kammer wäre ein geeignetes Forum, sich mit
Managed Care und anderen brisanten The­
men auseinanderzusetzen, allenfalls sogar über
ein Referendum abzustimmen gegen den zu
erwartenden Beschluss des Parlaments, der
von der Mehrheit freipraktizierender Kolle­
ginnen und Kollegen so nicht erwünscht ist.
Die Antwort des Präsidenten bringt keine
neuen Aspekte. Sie ist die Repetition der Flos­
keln, die wir zur Genüge kennen.
Dr. med. Bernhard Sorg, Wallisellen
1
Haldemann R. Wachsende Skepsis der Basis
gegen die KVG­Revision. Schweiz Ärztezeitung.
2010;91(36):1378.
Antwort
Im Brief des Kollegen Sorg kommen verschie­
dene Punkte zur Sprache, von denen ich zwei
aufgreifen möchte:
– In den Statuten der FMH sind die Kompe­
tenzen der verschiedenen Instanzen unse­
rer Verbindung definiert. In den Kompe­
tenzbereich der Delegiertenversammlung
Für die FMH und ihre Mitglieder hat diese
Aufgabenteilung den Vorzug, dass die
Delegiertenversammlung dank ihrer kur­
zen Sitzungsintervalle von 6 bis 8 Wochen
(anstelle von 1 bis 2 Sitzungen pro Jahr)
nahe am Politgeschehen ist und flexibel
und rasch reagieren kann. Zudem verhin­
dert ihre ausgewogene Zusammensetzung
die Bildung «automatischer» Mehrheiten
bzw. die Dominanz einzelner Interessen­
gruppen. Gleichzeitig profitiert das Gre­
mium von der Erfahrung der Delegierten,
die sich fast ausschliesslich aus den Kadern
unserer Verbände rekrutieren.
–
In der Ärztekammer vom vergangenen
27. Mai wurde in der Tat über Managed
Care diskutiert. Es wurden verschiedene
Resolutionen zuhanden der Delegierten­
versammlung verabschiedet, entsprechend
den Kompetenzen der beiden Gremien.
Die Delegiertenversammlung hat diese
Resolutionen wieder aufgegriffen und
diskutiert, und der Zentralvorstand hat
es übernommen, sie umzusetzen, sei es
durch Medienarbeit, persönliche Kontakte,
Briefe usw. Diese Arbeit ist nach wie vor
im Gang.
Wenn man sich die Kompetenzen der
Ärztekammer und die Arbeit der Delegier­
tenversammlung vor Augen führt, lässt
sich bilanzieren, dass das Thema Man­
aged Care die Einberufung einer ausser­
ordentlichen Ärztekammer mit Sicherheit
nicht rechtfertigt.
Ich möchte an dieser Stelle mit Nachdruck
meiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass
in einer Demokratie die Respektierung der
statutarischen Instanzen, ihrer Kompetenzen
und ihrer Arbeit zentral ist. Meine Empfeh­
lung wäre, mit den demokratisch gewählten
Delegierten das Gespräch zu suchen, ihnen
die eigenen Anliegen zu schildern und an­
schliessend Vertrauen in ihre Arbeit und Inte­
grität zu setzen, anstatt die Repräsentativität
der Gremien in Zweifel zu ziehen und die
Aktivitäten ihrer Mitglieder zu kritisieren.
Dr. med. Jacques de Haller, Präsident der FMH
1
www.fmh.ch › FMH › Rechtliche Grundlagen
› Statuten
Offener Brief an die SÄZ-Redaktion
Zur Zensurierung unseres Artikels
«Passivrauchgesetze: Die Bayern haben
sich gegen die spanische Konfusion
entschieden» [1]
Sehr geehrte Damen und Herren Redaktoren
der Schweizerischen Ärztezeitung
Sie bestätigen Ihren Entscheid, dass unser
Artikel zwar in der aktuellen Ausgabe der SÄZ
veröffentlicht wird, dass aber die Anmerkun­
gen den Lesern nur indirekt in der Online­
Version und nicht in der gedruckten Ausgabe
zugänglich sein werden. Wir betrachten dies
als eine Zensurierung, da für unsern Text die
Widergabe von Dokumenten der Tabakindus­
trie und von Parlamentsdebatten wesentlich
ist und den Lesern unmittelbar verfügbar sein
muss, um unsere Aussagen zu stützen. Da Sie
als Redaktoren gut um die Bedeutung von
wörtlichen Zitaten wissen, können Sie diese
Zensurierung nicht mit dem Vorwand der
Länge des Artikels bemänteln. Wir müssen
daraus schliessen, dass in dieser Thematik die
Redaktion der SÄZ Pressionen ausgesetzt ist,
was uns ausserordentlich beunruhigt. Dies
umso mehr, als vor einem Jahr, ein ähnlicher,
ebenfalls von mehr als zwanzig Mitunter­
zeichnern eingereichter Artikel von der Publi­
kation eliminiert wurde mit der Forderung,
ihn in einen Leserbrief umzuarbeiten. Wir kön­
nen Ihren Entscheid nicht akzeptieren:
Erstens schaden Sie der Ärztezeitung. Diese Zei­
tung («von Ärzten für Ärzte») sollte Informa­
tionskanal unserer Korporation sein. Autoren
und Leser sollten unbeschränkt miteinander
über alles kommunizieren können, was mit
unserem Beruf, Gesundheit und Krankheit,
aber auch über die politischen Implikationen
von Gesetzen und Präventionsmassnahmen
zu tun hat. Die Antwort auf die Frage, wem
wohl Ihre Zensurierung nützt, gibt Aufschluss,
welchem Druck Sie ausgesetzt sind. Die in un­
serm Artikel ausgedrückte Schlussfolgerung,
dass die Medien das Thema Passivrauchde­
batte ausblenden, findet sich in unserm eige­
nen Bereich erschreckend konkret bestätigt.
Zweitens schaden Sie der Ärzteschaft: Die Stimm­
bürger Bayerns, aber auch der Schweiz haben
sehr wohl begriffen, dass sie seit Jahren in
diesem Bereich von ihren Politikern, von vie­
len «Experten» und durch das Lobbying in
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
1604
BRIEFE
[email protected]
den Parlamenten hinter das Licht geführt
worden sind. Dass das offizielle Organ der
Ärzteschaft in diesen Vernebelungsmanövern
mithilft, sabotiert das Vertrauen, welche die
Bevölkerung in unsern Berufstand hat.
Drittens schaden Sie dem Funktionieren der Demo­
kratie. Wir Ärzte sind die Experten in Gesund­
heitsfragen. Unsere von äusseren Einflüssen
möglichst unabhängige Meinung sollte in der
gesellschaftlichen Diskussion gehört werden,
damit sich die Bevölkerung und die Entschei­
dungsträger ein klares Bild der Zusammen­
hänge machen können. Mit Ihrem Zensurie­
rungsentscheid haben Sie zynisch bestätigt,
dass offenbar nur der (Geld­)Druck bestimmt,
was gesagt und wie laut dies ausgedrückt wer­
den darf.
Wir bitten Sie, im Namen Ihrer intellektuel­
len Redlichkeit auf Ihren Entscheid zurückzu­
kommen, und unsern Artikel in deutscher
und französischer Version ungekürzt mit den
vollständigen Anmerkungen und den Namen
aller Mitunterzeichner in einer kommenden
Nummer der SÄZ abzudrucken.
Dr. R. M. Kaelin, Morges,
im Namen der Mitunterzeichner
Die Redaktion hält fest, dass die redaktionelle
Behandlung des zur Debatte stehenden Artikels
nach gängigen publizistischen Standards erfolgte
und sich in nichts von derjenigen aller anderen
Manuskripte (rund 2000/Jahr) unterschied, die
der SÄZ zur Publikation angeboten werden. Die
Beurteilungskriterien für Artikel sowie die Auf­
gaben und Kompetenzen der Redaktion sind in den
Autorenrichtlinen (www.saez.ch) beschrieben und
folgen den Empfehlungen des International Com­
mittee of Medical Journal Editors (www.icmje.org).
1
Der genannte Artikel ist in dieser Ausgabe
der SÄZ, Seite 1618–20, zu finden.
Obligations du médecin
Cher Collègue,
C’est avec intérêt que j’ai lu votre article paru
dans le BMS N° 38/2010 [1], dont le titre est
«Le patient peut­il exiger des prestations du
médecin?»
Ma question prolonge celle de votre article.
Le médecin est­il obligé de fournir des presta­
tions non urgentes au patient qui ne paie pas
ses factures?
Dr André­Philippe Méan, La Chaux­de­Fonds
1
Martin J. Le patient peut­il exiger des
prestations du médecin? Bull Méd Suisses.
2010;91(38):1504.
Réponse
Oui, la question que vous posez est une vraie
question. Elle n’est pas que de la déontologie
médicale d’ailleurs. Au plan juridique ou assé­
curologique, Monsieur Hp. Kuhn, juriste et
Secrétaire général adjoint de la FMH, répon­
drait de manière plus compétente.
Pour ma part, je souhaite vivre dans une
société de gens responsables, qui ont le droit
de bénéficier de leurs droits mais qui assu­
ment aussi leurs obligations. Y compris celles
de payer leurs primes d’assurance, respective­
ment les honoraires de leur médecin. Je consi­
dère que, hors de situations d’urgence ou d’autres
éléments contraignants pour le malade, la liberté
du médecin de prendre en charge – ou pas –
un patient donné est en quelque sorte l’image
en miroir du droit de chacun de choisir libre­
ment son médecin – droit auquel le peuple
suisse est attaché.
Sur le principe de votre question, je réponds
donc: «Dans ce cas, vous n’êtes pas tenu de
fournir des prestations.» En ajoutant que, pra­
tiquement et là comme ailleurs, il est très sou­
haitable de soigner la manière. C’est­à­dire
que cette décision du médecin de suspendre
le lien thérapeutique n’intervienne pas comme
un coup de tonnerre dans un ciel serein mais
soit précédée, au cours de quelques semaines
j’imagine, d’une discussion claire et franche,
puis d’un avertissement («je renoncerai à
vous suivre»…) avant qu‘une telle décision
n’entre en force. Il faudrait aussi que dite dé­
cision ne représente pas des difficultés pra­
tiques majeures pour le patient. Ainsi, si le pra­
ticien est le seul loin à la ronde ou le seul
d’une spécialité donnée, il est discutable éthi­
quement de refuser de voir un patient, même
si ce dernier ne paie guère les factures.
A relever encore que cette liberté de prin­
cipe du médecin ne saurait s’exercer de
manière arbitraire voire discriminatoire: refu­
ser de prendre ou traitement, ou accepter le
moins possible, les personnes de telle origine
ou de telle couleur de peau, de telle tranche
d’âge, de condition sociale très modeste etc...
Elle ne doit pas non plus être au détriment de
la prestation de soins suffisants et adéquats à
la collectivité concernée.
Dr Jean Martin, Echandens
«La médecine, les médecins et
les juges...»
Bravo mille fois à l’éditorial de Jacques de
Haller du 29 septembre 2010 [1]. Le libre ar­
bitre de sa propre personne apparaît depuis
quelque vingt ans comme un droit inalié­
nable, on s’est battu pour lui et c’est mainte­
nant devenu un fondement clair et sain pour
bâtir l’humanité de demain, au moins dans
nos sociétés occidentales.
Une belle valeur, le respect de l’autre dans
ses opinions, son originalité, ses apparentes
contradictions et le choix de sa destinée.
Une belle école d’écoute, de tolérance et de
silence pour nous les médecins (quand on y
arrive!). Et aujourd’hui pour un cas particu­
lier, on voudrait autoritairement revenir en
arrière et nourrir les gens de force d’une nour­
riture dont ils ne veulent pas, avec des argu­
ments judiciaires…? Me revient alors à l’esprit
le souvenir de situations pénibles, en particu­
lier dans le cadre des soins intensifs où l’igno­
rance et le pouvoir venaient en despotes voler
la dignité des patients et de leur famille. Ce
temps est, ou doit être, révolu.
Encore merci, Mr de Haller, pour votre prise
de position et merci de nous représenter avec
tant de détermination.
Dr Xavier Clément, Fribourg
1
De Haller J. La médecine, les médecins et les
juges… Bull Méd Suisses. 2009;91(39):1509.
Die Vision von assistierter Fortpflanzungsmedizin in der Schweiz
Lieber Herr Imthurn
Mit Interesse las ich die Thesen und Diskussi­
onsargumente Ihrer ExpertInnen­Gruppe zur
Fortpflanzungsmedizin in der Schweiz [1].
Aus Sicht der Schweizerischen Stiftung für
sexuelle und reproduktive Gesundheit PLA­
NeS, die u.a. sexualpädagogischen Unterricht
in allen Schulen fordert, was leider in der Pra­
xis noch lange nicht schweizweit umgesetzt
ist, habe ich einen kritischen Kommentar zur
2. These, die lautet: Jede Frau muss wissen,
dass Familienplanung ab Mitte 30 zuneh­
mend schwieriger wird, und die Fertilität
rasch abnimmt. Und jeder junge Mann sollte
über den Einfluss von Alter und Erkrankun­
gen auf seine Zeugungsfähigkeit informiert
sein.
Ich meine, Familienplanung ist ein Thema,
das Mann und Frau gleichermassen betrifft
und wofür beide partnerschaftlich die Verant­
wortung übernehmen müssen. Entsprechend
formuliert wäre dann wohl die 2. These: So­
wohl die Frau wie der Mann müssen über Bio­
logie der weiblichen wie der männlichen Fer­
tilität Bescheid wissen und entsprechende
präventive Massnahmen kennen.
Christa Spycher, Ärztin, Bern
1
Bleichenbacher M, Heitlinger E, Imthurn B.
Die Vision von assistierter Fortpflanzungs­
medizin in der Schweiz. Schweiz Ärztezeitung.
2010;91(36):1373–7.
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
1605
BRIEFE
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The Physical Examination:
A lost art or still a clinical necessity?
Eine Zeichnung von Anna (ANNA) [1] hat
mich zu diesem Schreiben inspiriert. Zurzeit
befinde ich mich mitten in der Chemothera­
pie auf Grund eines Coloncarcinomes nach
durchgeführter, offener Hemicolectomie. Dies
alles geschieht, ohne dass ich je eine umfas­
sende, ärztliche klinische Untersuchung hatte.
Ein Hausarzt, den ich vor etwas mehr als
einem Jahr wegen rezidivierenden Urininfek­
ten aufgesucht hatte, verordnete richtiger­
weise, allerdings nur nach einem Urinstatus,
ein abdominales CT. Dies zeigte bezüglich der
Harnwege keine Abnormalitäten. Etwa ein hal­
bes Jahr später stellten sich steigernde gastro­
intestinale Beschwerden ein. Ich konsultierte
einen Gastroenterologen, eine CD des oben
erwähnten CTs in der Hand. Nach Aufnahme
einer durchaus befriedigenden Anamnese tas­
tete er kurz einen Befund, auf den ich ihn
hinwies, ab und machte eine Ultraschallunter­
suchung. Eine Coloskopie mit Biopsie brachte
die Diagnose eines Carcinoms.
Der Chirurg plante, ohne Untersuchung,
nach einem etwas falsch interpretierten abdo­
minellen CT, ausgedehnten Laboruntersuchun­
gen und einem EKG eine laparoskopische
Hemicolectomie. Intraoperativ sah man sich
aufgrund des Tumorstadiums zu einer offe­
nen Laparatomie gezwungen. Nach guter
Anamnese, aber wieder ohne Untersuchung,
setzte der Anästhesist einen Epiduralkatheter.
Postoperativ kontrollierte der Chirurg regel­
mässig stethoskopisch die Darmgeräusche
und die Narbe. Aufgrund der operativen Be­
funde und der pathologischen Untersuchun­
gen wurde, wieder ohne klinische Unter­
suchung, aber nach ausgedehnten Laborun­
tersuchungen, eine Chemotherapie eingeleitet.
Ich behaupte nun, dass ein «Physical Exam»
mir einiges erspart hätte. Zumindest wäre es
präoperativ fraglich gewesen, ob die Opera­
tion tatsächlich laparoskopisch durchgeführt
werden konnte.
Zeit meines beruflichen Lebens habe ich vor
allem in den USA, aber auch in der Schweiz
Medizinstudenten und junge Ärzte in der oft
etwas belächelten Rehabilitationsmedizin
unterrichtet (seit drei Jahren bin ich im Ruhe­
stand). Von allen meinen vielen Schülern
habe ich stets vor dem Beginn irgendeiner
technischen Untersuchung oder Behandlung
eine entweder problembezogene oder vollstän­
dige klinische Untersuchung verlangt, welche
ich zumindest problembezogen selbst nach­
kontrolliert habe. Problembezogene Nach­
untersuchungen habe ich ebenfalls perio­
disch verlangt und nachkontrolliert. Ich bin
der Überzeugung, dass sowohl Patienten als
auch Studenten davon profitiert haben.
Eine gründliche Untersuchung führt zu einer
viel genaueren Fragestellung und Indikation
für das weitere diagnostische und klinische
Vorgehen, und unnötige Tests können vermie­
den werden (Max [2], Verghese and Horowitz
[3]). Auch besteht die Möglichkeit, dass ein
klinisch signifikantes Problem, welches den
ganzen Ablauf beeinflussen könnte, entdeckt
wird. Und wie bitte können wir einen klini­
schen Verlauf beurteilen ohne Erhebung und
Dokumentation von klinischen Befunden,
die periodisch nachkontrolliert werden? Ich
bin mir durchaus bewusst, dass Ärzte unter
zunehmendem Zeitdruck stehen und in unse­
rer computerisierten Welt etliche Zeit vor
dem Computer verbracht werden muss. Aber:
Sind wir wirklich so ausreichend technologi­
siert, dass wir auf eine klinische Untersuchung
total verzichten können? Ich denke nicht!
Dr. med. Brigitte Jann, Luzern
1
ANNA. Schweiz Ärztezeitung.
2010;91(26/27):1057.
2
Max, J. The lost art of the physical exam.
Yale Medicine, Winter 2009.
3
Verghese and Horowitz. In praise of the
physical examination. BMJ. 2009;339: b5448.
Umfrage des Kriminologischen Instituts
der Universität Zürich über die Einstellung der Schweizer Bevölkerung zu
Sterbehilfe und Suizidbeihilfe
Am 2.9.2010 präsentierte Prof. C. Schwarzen­
egger vom Kriminologischen Institut der Uni­
versität Zürich an einer Medienkonferenz die
Ergebnisse einer diesjährigen telefonischen
Befragung bei 1464 Schweizern. In der Medien­
mitteilung der Universität Zürich wurde das
Ergebnis unter anderem wie folgt zusammen­
gefasst: «Wie Prof. Christian Schwarzenegger
bei der Vorstellung der Studie erläuterte,
befürwortet eine Mehrheit der Schweizerin­
nen und Schweizer die Möglichkeit von Sterbe­
hilfe und Suizidbeihilfe. Eine Mehrheit würde
auch die heute verbotene, direkte aktive Sterbe­
hilfe für Menschen erlauben, die an einer
tödlichen Krankheit im Endstadium leiden»
[1]. Ebenso soll eine Mehrzahl der Befragten
der Ansicht sein, dass Sterbehilfeorganisatio­
nen ein würdevolles Sterben ermöglichten.
In den Printmedien wurde eine bedeutende
Resonanz erreicht. Der Autor selber sprach in
den Konferenzunterlagen von «einer repräsen­
tativen nationalen Stichprobe, … die die Zu­
stimmung der Schweizer Wohnbevölkerung
zur reellen Sterbehilfesituation» erfasse [2].
Eine kritische Prüfung der verfügbaren Unter­
lagen zeigt allerdings, dass die Studie erhebli­
che Mängel aufweist und die Schlussfolgerun­
gen wissenschaftlich nicht gesichert sind:
–
Die Ausschöpfungsquote der Befragung
wird mit 63 % beziffert. Nach Lehrbüchern
über die Sozialforschung sollte bei Inter­
viewstudien jedoch ein Rücklauf von 80–
85 % vorliegen [3]. Diese Quote wird hier
deutlich verfehlt.
– In den Konferenzunterlagen wird eine Un­
tervertretung jüngerer Jahrgänge erwähnt
sowie darauf hingewiesen, dass das Thema
bei Älteren sowie Personen mit Kranken
oder Verstorbenen in ihrem Umfeld auf
Ablehnung gestossen sei. Warum Prof.
Schwarzenegger dennoch eine «weitge­
hende Repräsentativität» behauptet, ist
unklar und wissenschaftlich fragwürdig.
– Die Interviewtechnik basierte mehrheit­
lich auf sogenannten «Fallvignetten»,
welche im Grunde sehr komplexe Situa­
tionen darstellen, die in einem zeitlich
begrenzten Telefoninterview beurteilt
werden mussten. Zudem fehlt diesen Bei­
spielen der konkrete Erfahrungshinter­
grund wohl für die grosse Mehrzahl der
Interviewten, etwa wenn der Fall eines
Mannes mit einer tödlichen Muskel­
krankheit am Beatmungsgerät oder die
Situation einer seit Jahren im Koma lie­
genden Patientin geschildert wird.
– Die Befragung blendete die entscheidende
Option von Palliative Care aus, was auf
eine bedenkliche Einseitigkeit der Frage­
stellung verweist. Offensichtlich be­
schränkte man sich auf das Abfragen des
«Exit­Credos».
Schon diese wenigen Einwände verweisen auf
eine mangelhafte Datenqualität und metho­
dische Schwächen, die jedenfalls keine gesi­
cherten Schlüsse auf die ganze Schweizer Be­
völkerung zulassen. Angemessene Hinweise
auf bestehende Mängel der Untersuchung,
wie sie heute bei wissenschaftlichen Publika­
tionen Standard sind, fehlen. Suchte man
hier nicht die ungestörte mediale Publizität,
um vorgefassten Meinungen zum Durch­
bruch zu verhelfen? Im Eidgenössischen Blät­
terwald wurde zudem dezent verschwiegen,
dass der verantwortliche Studienleiter seit
sechs Jahren Mitglied der Ethikkommission
von Exit ist. Hier ist ein beachtlicher Interes­
senkonflikt zu vermuten, der vom Autor
wohl nur schwer bestritten werden kann.
Es bleibt zu wünschen, dass künftig im hoch­
sensiblen Bereich der Sterbe­ und Suizidbei­
hilfe­Diskussion mit Umfrageergebnissen
sorgfältiger und verantwortungsvoller umge­
gangen wird.
Dr. med. P. Ryser­Düblin, Seftigen
1
2
3
Pressedienst Universität Zürich. Was denkt die
Bevölkerung? Schweiz Ärztezeitung.
2010;91(37):1422.
www.mediadesk.uzh.ch/articles/2010/
selbstbestimmt­ueber­das­lebensende­entschei­
den/Bericht_Sterbehilfe.pdf
Babbie, E. R. (2001). The practice of social
research (9. Aufl.).
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
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TRIBÜNE
Standpunkt
Qualität in der Hausarztmedizin
Anmerkungen zum Q-Monitoring der FMH
Josef Babics, Markus Löliger,
Astrid Lyrer, Peter Minder,
Walter Nef, Esther Ramseyer,
Peter E. Schlageter, Gian-Clo
Serena, Peter Strohmeier,
Philipp Zinsser
1 Nikolic V. Q-Monitoring –
Start der Datenerfassung –
Interview mit Dr. med.
Daniel Herren. Schweiz
Ärztezeitung. 2010; 91(4):
112–3.
2 Nikolic V, Herren D. Die
Ärzteschaft sichert Qualität –
und wie! Schweiz Ärztezeitung. 2010;91(25):973–6.
3 Peltenburg M et al. Qualität –
ein Zusammenspiel aller
Kräfte im ärztlichen Umfeld.
Schweiz Ärztezeitung. 2005;
86(18):1055–9. Mindmap:
Leitbild Ärztlicher Qualität.
www.saez.ch/mindmap.pdf
4 Ressort DDQ. Grundlagenpapier der AGQ-FMH:
Qualitätstransparenz.
Schweiz Ärztezeitung. 2009;
90(26/27):1037–40.
Korrespondenz:
Dr. med. Astrid Lyrer-Gaugler
Moderatorin QZ Oberwil
Allgemeine Medizin FMH
Feierabendstrasse 74
CH-4051 Basel
[email protected]
Einleitung
Im Qualitätszirkel Oberwil (QZO) arbeiten zur Zeit
10 Hausärztinnen und Hausärzte. Die Sitzungen finden monatlich statt. Bei unserer Arbeit befolgen wir
die SGAM/SGIM-Richtlinien: Wir bestimmen ein praxisrelevantes Thema, überprüfen unsere Praxis und
suchen allfällige Lücken und Fehler zu korrigieren,
um damit unsere Arbeit zu verbessern. Die freiwillige
Teilnahme am Qualitätszirkel ist für uns alle ein wichtiger, jedoch längst nicht der einzige Bestandteil unserer Qualitätssicherung in der hausärztlichen Praxis.
Qualitätsmonitoring der FMH
Das Ressort Daten Demographie Qualität (DDQ) der
FMH hat im Februar 2010 eine Internet-basierte Umfrage zum Thema Qualitätssicherung bei Grundversorgern und Psychiatern durchgeführt [1]. Diese
Umfrage hat unter den Teilnehmern unseres Zirkels
Irritationen ausgelöst.
– Wir haben uns darüber gewundert, welch breiten
Raum die Fragen nach externen Qualitätsaktivitäten eingenommen haben. Die Umfrage liess
annehmen, die FMH plane die Einführung von
Zertifizierungen durch externe Anbieter ausserhalb der Fachgesellschaften.
– Im Gegensatz dazu fehlte im Fragebogen die Möglichkeit zu kommentieren, welche der aufgelisteten Qualitätsaktivitäten wir für relevant halten
dass es in unserer täglichen Arbeit messbare und
nicht messbare Qualität gibt.
Messbar ist die Qualität bei der Infrastruktur und
im apparativ/technischen Bereich. So ist Qualität im
Labor und beim Röntgen mit der Wartung der Geräte
und externer Laborkontrolle kontrollierbar und somit
«messbar». Auch bei der Infrastruktur einer Praxis
sind messbare Qualitätskriterien vorhanden. Angefangen bei Trivialem, wie genügend Sitzgelegenheiten
im Wartezimmer, bis zu Wichtigerem wie rollstuhlgängigem Zutritt zur Praxis. Schon hier stellt sich
aber die Frage, wie wichtig das Messen von Qualität
wird, wenn «Triviales» erfasst wird oder aber Wichtiges zwar erkannt, aber nicht verändert werden kann
(z.B. Verkehrssituation, Anbindung an den öffentlichen Verkehr usw.).
Noch problematischer erscheint uns das Messen
von Qualität, wenn klare Qualitätskriterien fehlen:
Erreichbarkeit, Wartezeiten, Teilnahme an Fortbildung, persönliche Vernetzung, Art der Krankengeschichte sind zwar messbar oder sie können evaluiert
werden. Aber: Sagen wir mit dem «Messen» dieser
Grössen wirklich etwas aus über die Qualität unserer
täglichen Arbeit?
Das möglicherweise wichtigste Instrument zur
Erhaltung und Verbesserung der hausärztlichen Behandlungsqualität ist die Fortbildung. Sie wird von
den Hausärzten dokumentiert und deklariert. Wir alle
Vor allem Peer Review und CIRS im Qualitätszirkel sind gute und geprüfte
Instrumente zur Entwicklung der Qualität
–
–
und welche nicht. Wir konnten uns nicht zur
Qualität der Umfrage selber äussern.
Es war nicht klar ersichtlich, was die FMH mit den
einmal erhobenen Daten zu tun gedenkt.
Qualität sei eine Koproduktion, hält die FMH fest
[2]. Nicht alle von der FMH für die Begleitung des
Projektes ausgewählten «Partner» haben sich
bisher durch Interesse oder durch Erfahrung mit
Qualität in der Hausarztmedizin ausgezeichnet.
Qualität in der Hausarztmedizin
Wir haben uns deshalb entschieden, das Thema
«Qualität in der Hausarztmedizin» in unserem Qualitätszirkel zu bearbeiten. Wir wollten wissen, wie wir
in unserer täglichen Praxis Qualität definieren und
was die Kriterien für eine gute Qualität sind. Wir haben die Literatur gesichtet und unsere eigenen Qualitätsansprüche definiert [3, 4]. Dabei stellten wir fest,
bilden uns fort. Die «gemessenen» Fortbildungsstunden übersteigen bei den meisten das obligatorische
Mass bei weitem.
Darüber hinaus arbeiten die meisten Hausärzte in
einem Qualitätszirkel mit. Diese Form der Fortbildung
hat in der Schweiz vor ca. 20 Jahren Fuss gefasst und
sich als eines der wichtigsten und bewährtesten Instrumente zur Qualitätssicherung in der Hausarztmedizin etabliert. Wir wissen aus Erfahrung, dass
nicht die Anzahl Stunden, sondern der Inhalt der
Fortbildung und dessen Implementation in die tägliche Arbeit für die Entwicklung der Qualität entscheidend ist. Erfahrungsgemäss fliesst in Vorträgen
vermitteltes Wissen in geringem Umfang in die tägliche Praxis ein. Dies steht im Gegensatz zu dem in
Peer Groups erarbeitetem Konsens, der in der Praxis
eher umgesetzt wird. Dass in unserem Qualitätszirkel
ausserdem ein Critical Incident Reporting System (CIRS)
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
1616
TRIBÜNE
Standpunkt
Es gibt Bereiche, da ist
Qualitätsmonitoring einfach.
Bei der Hausarztmedizin ist dies
jedoch schwieriger.
5 Ressort DDQ. Qualitätsmanagement und Zertifizierung
der ärztlichen Leistungserbringung: Aufwand und
Nutzen. Schweiz Ärztezeitung. 2008;89(20):838–40.
6 Zoller M, Dahinden A.
Qualitätszirkel in der Schweiz:
Wohin geht die Entwicklung?
PrimaryCare.
2004;4(35/36):663–5.
integriert ist, erachten wir als selbstverständlich.
Die qualitativ grösste Herausforderung in der hausärztlichen Praxis ist die Analyse und Bearbeitung
komplexer Krankheits- und Lebenssituationen, in
denen sich unsere Patienten befinden.
«The Fascination of Complexity – Dealing with
Individuals in a Field of Uncertainty» war denn auch
das Thema des Wonca-Kongresses 2009 in Basel. Die
Fähigkeit zur Bearbeitung dieser Komplexität ist nicht
mit einfachen und reproduzierbaren Methoden messbar. Ebenso wenig wie die Freundlichkeit des Personals, die soziale und kommunikative Kompetenz des
Arztes, die Kenntnis der ständig wechselnden «guten»
Behandlungspfade, die Kenntnis der «richtigen» Personen und Institutionen (wir wollen die richtigen Türen öffnen) und das Erarbeiten eines umfassenden
persönlichen Netzwerkes, in dem wir arbeiten.
Fazit
Als Schlussfolgerung stellen wir die Frage, wie Qualität transparent gemacht werden soll, wenn die wich-
Kommentar des Ressorts DDQ
zum vorangegangenen Beitrag
Die Qualität der Hausarztmedizin in der Schweiz ist hoch und viele
motivierte und gutausgebildete Kolleginnen und Kollegen kümmern
sich täglich mit viel Engagement um ihre Patienten. In der Welt
des Qualitätsmanagements stellt man rasch fest, dass bei medizinischen Leistungen verschiedene Dimensionen der Qualitätsbeurteilung möglich sind. Am einfachsten zu beurteilen sind Strukturindikatoren, gefolgt von Prozessparametern. Beide können relativ gut
abgebildet werden – wirklich schwierig wird es aber bei den beiden
anderen Dimensionen Ergebnisqualität und Indikationsqualität.
Wenn der Qualitätsnachweis in Hausarztpraxen auf das Mitmachen
in Qualitätszirkeln und der Absolvierung der obligatorischen Fortbildung beschränkt wird, wird man der Komplexität der Qualität einer
Patientenbehandlung nicht gerecht. Zudem sind technische Gerätekontrollen gesetzliche Vorschrift und haben mit dem eigentlichen
Qualitätsmanagement wenig zu tun. Das Projekt Q-Monitoring, welches das Ressort DDQ der FMH zusammen mit den Qualitätsspezialisten der Hausarztmedizin, den Psychiatern und den Orthopäden
durchgeführt hat, hat einzig zum Ziel, aufzuzeigen, welche Qualitätsaktivitäten in den ambulanten Praxen heute durchgeführt werden.
Es ist der erste Schritt in einer Bestandesaufnahme solcher Aktivitäten, nicht mehr und nicht weniger, da gibt es keine «hidden agenda»
tigsten Qualitäts-Faktoren nicht messbar und auch
nicht zu evaluieren sind.
Wir haben den Eindruck, als stünden wir mitten
in einer «Qualitätsoffensive».
In ihrem Positionspapier «Qualitätsmanagement
und Zertifizierung der ärztlichen Leistungserbringung: Aufwand und Nutzen» [5] schreibt das Ressort
DDQ der FMH, dass dem Aufwand (nämlich Kosten,
Zeit, Personalaufwand usw.), der bei Qualitätsmanagement-Systemen und Zertifizierungen anfällt, ein Nutzen gegenüberstehen müsse. Weiter hält das Ressort
fest: «Unseres Wissens wurden bisher weder der Nutzen
der Qualitätsmanagementsysteme noch der Zertifizierung
auf die Qualität der ärztlichen Leistungserbringung systematisch untersucht und erwiesen.»
Das Qualitätsmonitoring des Ressorts DDQ in der
Hausarztmedizin muss unseres Erachtens neu fokussiert werden. Die Ausrichtung und Beschränkung auf
das Wesentliche ist dringend geboten, um hausärztliche Qualitätssicherung adäquat und relevant abbilden zu können.
Permanente Fortbildung, technische Qualitätskontrollen (z.B. Röntgen, externe Labor-Resultatskontrollen), ganz besonders jedoch Peer Review und
CIRS im Qualitätszirkel sind gute und geprüfte Instrumente zur Entwicklung der Qualität. Das tun wir mit
Überzeugung, Elan und Freude.
Die externe «Qualitätsindustrie» jedoch, eine eigentliche Art Schattenwirtschaft mit teilweise berufsfremden Akteuren, verbunden mit Bürokratie, Umtrieben und Kosten zulasten der Hausärzte, leistet unseres Erachtens keinen gesicherten Beitrag zu besserer
Qualität.
Quis custodiet custodes? (Juvenal 1./2. Jh. p. Chr.:
Wer wird die Wächter bewachen?)
der FMH. Weiterführend evaluieren wir die existierenden Qualitätsaktivitäten nach ihrer Wertigkeit und ihrem Aufwand-Nutzen-Verhältnis. Die FMH versteht sich hier als Drehscheibe und Vermittlerin
von bereits bestehendem Wissen und will koordinierend helfen,
neue Konzepte zu erarbeiten. Q-Monitoring bringt den Fachgesellschaften insofern einen Mehrwert, dass Qualitäts-Projekte sowie die
Fortbildungen in Zukunft gezielter angegangen werden können, und
bestehende Lücken geschlossen werden. Für die FMH ganz wichtig
sind diese Umfrageergebnisse in der Umsetzung von politischen Projekten. So fliesst zum Beispiel das Wissen aus dem Projekt Q-Monitoring direkt in die Diskussion um die Konkretisierung der Qualitätsstrategie des Bundes ein und soll helfen, unsinnige Aktivitäten zu
verhindern und sinnvolle zu unterstützen. So oder so, der Druck zum
Qualitätsnachweis ist auch in der Hausarztpraxis massiv gestiegen,
und es ist der klare Wille des Bundes, bestehende Verordnungen wie
den Artikel 22a des Krankenversicherungsgesetzes (KVG), der eine
Qualitätstransparenz fordert, durchzusetzen. Zu fürchten haben wir
freilich nichts: Die Hausarztmedizin tut viel Gutes, wir müssen es
jedoch gegen aussen dokumentieren.
Dr. med. Daniel Herren, MHA,
Mitglied des Zentralvorstandes der FMH,
Verantwortlicher für das Ressort DDQ
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
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1617
TRIBÜNE
Standpunkt
Passivrauchgesetze: Die Bayern haben sich
gegen die spanische Konfusion entschieden
Die Volksabstimmung im Nachbarland zeigt erneut – wie auch die Abstimmung im
Kanton Solothurn –, dass Verwässerungsversuche klarer Regeln Wirteverbände und
Parlamentarier desavouieren.
* Die ausführlichen Anmerkun­
gen mit Zusatzangaben und
Hintergrundinformationen
finden sich im Internet unter
www.saez.ch ’ Aktuelle
Nummer oder Archiv ’ 2010 ’
41. Siehe dazu auch den Brief
der Autoren an die Redaktion
auf Seite 1604.
Am 4. Juli dieses Jahres kam in Bayern das Volksbe­
gehren zum Schutz vor Passivrauchen erfolgreich zur
Abstimmung. 61 % der Stimmenden entschieden sich
für ein Rauchverbot im geschlossenen öffentlichen
Raum; Ausnahmeregelungen, die Interpretations­
spielräume eröffnen, erhielten eine Abfuhr. Die
Wucht der Ablehnung der Ausnahmen, die das Ge­
setz aushöhlen (in Solothurn waren es zwei Drittel
der Stimmenden), sollte den Politikern der Schweiz
zu denken geben: Die Gesellschaft hat begriffen, dass
Passivrauchschutz für alle gilt; Ausnahmen sabotie­
ren die Regel. Genau dieses Anliegen verfolgt auch
die Passivrauchinitiative der Lungenliga Schweiz, die
im vergangenen Mai mit 130 000 Unterschriften bei
den Bundesbehörden eingereicht wurde.
belegen, dass Wirteverbände von der Tabakindustrie
infiltriert worden sind [2, 3]. Die klassische Argumen­
tation gegen eine klare Rauchregelung, gegen die
staatliche Einmischung sowie für die Entscheidungs­
freiheit der Betriebsinhaber, ob geraucht werden darf,
findet sich in der Resolution des internationalen
HoReCa (Hotel/Restaurant/Café) – Kongresses von
1995 in Hongkong [4] die von Gastrosuisse im Jahr
danach wiederaufgenommen wurde [5]. Der interna­
tionale Kongress war von der multinationalen Philip
Morris von der Schweiz aus organisiert und gespon­
sert worden [6], und zahlreiche Schweizer Wirte hat­
ten daran teilgenommen, auch der langjährige Direk­
tor von Gastrosuisse Florian Hew [7].
Die Glaubwürdigkeit der Parlamente
Fakten
Nur ein Viertel der Schweizer Bevölkerung raucht,
zwei Drittel befürworten rauchfreie Gaststätten. In
Graubünden, im Wallis und Tessin, wo diese schon
länger rauchfrei sind, liegt die Zustimmung noch hö­
her. Zur Zeit gelten in 15 Kantonen Regelungen, die
strenger sind als das seit dem 1. Mai geltende Bundes­
gesetz; die meisten sind durch Volksabstimmungen
zustande gekommen, wie im Tessin, Graubünden,
Wallis, Genf, Solothurn, Waadt, Uri, Freiburg, Basel,
Zürich, St. Gallen. Der von diesen Passivrauchgeset­
zen betroffene Bevölkerungsteil macht ¾ der Bewoh­
ner der Schweiz aus. Studien in verschiedenen Län­
dern und der Schweiz belegen, dass existentielle
Ängste der Wirte vor Rauchverboten unbegründet
sind: Sowohl den Pubs in Irland und England als
auch dem Gastronomiesektor Frankreichs und Italiens
geht es rauchfrei gut. Bereits im Jahr 2004 haben die
Wirte von New York, ein Jahr nach Einführung des
Rauchverbotes, 8,7 % mehr Steuern bezahlt [1]*.
Diese Tatsachen sollten eigentlich genügen, um Wir­
ten und Parlamentariern klarzumachen, dass rauch­
freie Räume normal sind und dass dies auch so von
der Bevölkerung wahrgenommen wird.
Korrespondenz:
Dr. med. Rainer Martin Kaelin
2, place l’Hôtel­de­Ville
CH­1110 Morges
[email protected]
Wirteinteressen … und andere
Dass Wirteverbände gegen Rauchverbote kämpfen, ist
eine Konstante der Passivrauchdebatte seit den 90er
Jahren in den USA. Dokumente aus Industriearchiven
Ausnahmen sabotieren die Regel
Auch wenn man die unbegründeten finanziellen Ar­
gumente nicht ignorieren will, würde man von Parla­
menten erwarten, dass sie die Gesundheitsaspekte be­
rücksichtigen, wie dies schon im Bericht der Subkom­
mission des Nationalrates vom 1. 6. 2007 ausführlich
erläutert worden war [8]. Zumal das Schweizer Bun­
desgericht [9], das Deutsche Bundesverfassungsge­
richt [10] und die internationale Tabakrahmenkon­
vention der WHO [11], die auch von der Schweiz
unterzeichnet wurde, festhalten, dass Passivrauch
toxisch ist und dass die Gesundheitsinteressen der
Bevölkerung höher als mögliche wirtschaftliche Ein­
bussen einzuschätzen sind. Dennoch wurde der ver­
meintliche Rückgang der Umsätze der Restaurations­
branche als Argument im Bundesparlament zitiert
[12, 13]. Die Abstimmungsresultate der eidgenössi­
schen Kammern des Jahres 2007 und 2008, die zum
«Gastroboro Bundesgesetz» vom Oktober 2008
geführt hatten, lassen den Schluss zu, dass mehrere
Volksvertreter gegen ihre eigene gegenüber der Presse
geäusserte [14] oder in Smartvote [15] vertretene Mei­
nung gestimmt hatten. Es fällt dabei auf, dass die
christliche Volkspartei die politische Kraft ist, die die­
sem Gewissenskonflikt am ehesten erliegt, wenn man
dies an der Anzahl der Parlamentarier beurteilt [16,
17], die nicht gemäss ihrer zuvor deklarierten Mei­
nung stimmten.
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
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1618
TRIBÜNE
Standpunkt
Auch in unserm Nachbarland sind solche Kräfte
am Werk, wie der Werdegang des Bayerischen Volks­
begehrens zeigt: Die neugeformte Koalitionsregie­
rung CSU/FDP von Bayern beschloss im März 2009
eine Gesetzesänderung, die das mit 84% der Land­
tagsstimmen genehmigte Nichtraucherschutzgesetz
vom 12. 12. 2007 («das beste Deutschlands») zahnlos
machte, indem gewisse Betriebe als Raucherbetriebe
geführt werden dürfen, wie dies in Spanien und
weiterhin in der Schweiz gemäss Bundesgesetz der
Fall ist. Die entstandene Rechtsunsicherheit führte
zur Nichtbeachtung des Rauchverbotes. Die Ökolo­
gisch­demokratische Partei (ÖDP) ergriff mit weiteren
Organisationen, u. a. dem Ärztlichen «Arbeitskreis
Rauchen und Gesundheit», die Initiative für ein
Volksbegehren. Die Hürden für ein Volksbegehren in
Bayern sind sehr hoch: Mit dem Text (der mit dem
ursprünglichen Passivrauch­Gesetz identisch war)
mussten die Initianten 25 000 Unterschriften von
Wahlberechtigten hinterlegen, um dann in zwei Wo­
chen zehn Prozent der Stimmberechtigten zu über­
zeugen, sich in die aufliegenden Unterstützerlisten
einzutragen. Staunend nahm Deutschland am Jahres­
ende zur Kenntnis: Zwischen dem 19. November und
dem 2. Dezember 2009 hatten sich rund 1 300 000
Stimmberechtigte eingeschrieben, bedeutend mehr
als erforderlich. Im Juli dieses Jahres haben also die
kleine ÖDP und ihre Partner mit der gewonnenen Ab­
stimmung den Koalitionsparteien Bayerns bewiesen,
dass deren politisches Kalkül zugunsten der Tabak­
industrie und auf Kosten der Gesundheitsinteressen
der Bevölkerung nicht aufgeht.
Schlussfolgerungen
Die oben geschilderten Entwicklungen lassen folgende
Schlüsse zu:
Erstens darf man damit rechnen, dass eingeführte
und von der Bevölkerung befolgte Passivrauchgesetze
keineswegs gegen Versuche der Lobby gefeit sind, die
alle Möglichkeiten der Gesetzesmaschinerie benützen
(wird), um sie aufzuweichen. Dies hat sich in der
Schweiz im Falle Genfs, Zürichs, Solothurns, Appen­
zells, im Tessin und Uri bereits gezeigt. In dreien die­
ser Kantone (GE, SO, UR) wurde das Volk gar zweimal
zur Urne gerufen. Im Falle Bayerns ist besonders
stossend, dass der Aushöhlungsversuch auf eine
Koalitionsabsprache der Parteien zurückgeht: Der
Neubeschluss des Landtages wurde vom Gesundheits­
ausschuss veranlasst, der von den Parteien neu be­
schickt worden war [18].
Zweitens muss man annehmen, dass die Spani­
sche Gesetzgebung und der Flickenteppich der Rauch­
verbote erklärte Ziele sind, die durch das parlamenta­
rische Lobbying in föderalistischen Ländern wie
Deutschland und der Schweiz ebenfalls erreicht
werden sollen. Denn es ist bekannte Tatsache, dass
die spanische Passivrauch­Gesetzgebung von der
Bevölkerung nicht befolgt wird [19]; ihre Ausnahmen
(Fumoirs müssen nur in Betrieben von mehr als
100 m2 eingerichtet werden, kleinere dürfen sich als
Raucherbetriebe erklären), sorgen dafür dass man
nicht weiss, was wo gilt. Die Schweizer Volksvertreter
Die Schweizer Medien bleiben
zu diesem Thema stumm
waren sich dieser Tatsache wohl bewusst, als sie den
Gesetzesentwurf zur Gutzwiller­Initiative debattier­
ten, denn die Abgrenzungsprobleme und die Un­
gleichheit der Betriebe waren ihnen von deren Autor
selbst erläutert worden [20].
Die Rolle der Medien: schweigen
Die dritte Schlussfolgerung, die man aus den darge­
stellten Zusammenhängen in Bayern und der Schweiz
ziehen muss, stimmt am nachdenklichsten: Die
Schweizer Medien bleiben zu diesem Thema stumm.
In keinem Zeitungsartikel über Passivrauchschutz
wird auf die Verhältnisse im benachbarten Ausland,
auf die Tabakrahmenkonvention der WHO oder auf
den Bayerischen Volksentscheid hingewiesen. Nir­
gends hat man in den Medien die Wirteforderungen
oder deren Glaubwürdigkeit hinterfragt, obwohl
selbst im Personalrestaurant von Philip Morris nie­
mand das Rauchverbot beanstandet [21]. Schon 1998
wies der damalige BAG­Direktor, Prof. Zeltner, öffent­
lich auf die Verbindungen zwischen Tabakindustrie,
Parlamentariern und der Werbeindustrie hin [22].
Das Thema ist für die Medien tabu geblieben, obwohl
man ohne grosse Mühe dieselben seit Jahren gut
funktionierenden Allianzen erkennen kann [23]: Im
Jahre 2008 gründete der Schweizerische Gewerbever­
band die «Allianz der Wirtschaft für eine mässige Prä­
ventionspolitik», unter deren Mitgliedern sich der
Schweizerische Gewerbeverband, Economiesuisse,
Gastrosuisse, Hotelleriesuisse, Schweizer Werbung,
Verband Schweizer Zigarettenfabrikanten, Vereini­
gung des Schweizer Tabakwarenhandels, Viscom
Schweizer Verband für visuelle Kommunikation u.a.
finden. Bedeutungsvoll sind hierbei die «unterstüt­
zenden Organisationen»: Die christliche Volkspartei
CVP [24], die Schweizer Volkspartei SVP [25], Interes­
sengruppe Freiheit (IG Freiheit) und Swiss Cigarette,
welche die Interessenverfilzung der Industrie mit den
politischen Parteien verdeutlichen.
Ausblick
Es besteht die gut begründete Hoffnung, dass die
Schweizer, wie die Bayern, mit Annahme der Volksini­
tiative der Lungenliga zum Passivrauchschutz ihren
Parlamentariern beweisen werden, dass sie diese De­
batte zu ihrem Vorteil entscheiden wollen. Die über­
wiegende Abhängigkeit aller Medien von Werbegel­
dern lässt jedoch befürchten, dass der demokratische
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
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1619
TRIBÜNE
Standpunkt
Prozess und die Meinungsbildung [26] der Stimmbür­
ger sehr durch Wirtschaftsinteressen behindert werden
wird und dass die Zigarettenfabrikanten auch weiter­
hin auf Parlamente und Medien Einfluss nehmen wer­
den, um ihre finanziellen Interessen unter Missach­
tung der Gesundheit der Bevölkerung zu verteidigen.
Deshalb appellieren wir an alle Schweizer Parla­
mentarier, gegen den Druck der Lobbies die WHO­
Rahmenkonvention zur Tabakkontrolle zu ratifizie­
ren und endlich ein Bundesgesetz zum Schutz der
Bevölkerung vor Passivrauch zu verabschieden, das
seinen Namen verdient.
Dr. Jürg Barben, Privatdozent, Leitender Arzt Pneumologie/
Allergologie, Ostschweizerisches Kinderspital St. Gallen
Dr. Donath Marugg, Chefarzt FMH Innere Medizin,
Pneumologie und Intensivmedizin, Samedan
Dr. Heinz Borer, Leitender Arzt, Pneumologie, Bürgerspital
Solothurn
Dr. Marc Müller, FMH Allgemeine und Innere Medizin,
Präsident des Berufsverbandes Haus- und Kinderärztinnen
Schweiz
Dr. Otto Brändli, Pneumologie FMH, Präsident der Lungenliga
Zürich, ehemaliger Chefarzt der Zürcher Höhenklinik Wald
Prof. Dr. Martin Brutsche, Chefarzt Pneumologie
und Schlafmedizin, Kantonsspital St. Gallen
Prof. Dr. Thomas Cerny, Präsident Krebsforschung Schweiz
KFS, Chefarzt Onkologie/Hämatologie Departement Innere
Medizin, St. Gallen
Dr Jean-Marie Choffat, FMH Pédiatrie, ancien médécin chef
de l’ Hôpital de zone Morges
Prof. Dr Laurent Nicod, Médecin-chef du service de Pneumologie, CHUV, Lausanne
Dr Reto Olgiati, Pneumologie et Médecine interne FMH,
Délémont
Prof. Dr Arnaud Perrier, Médecin chef, Service de médecine
interne Hôpital universitaire Genève
Dr. Max Pfenninger, FMH Pneumologie, Olten
Dr. Peter Dür, Ärztlicher Direktor, Solothurner Spitäler AG
Dr. Maurus Pfister, Pneumologie FMH, Ärztlicher Leiter Innere
Medizin, Spital Rorschach, Kantonsspital St. Gallen
Prof. Dr Jean-William Fitting, Médecin chef, Service de
Pneumologie CHUV, Lausanne
Dr. Franco Quadri, Capo Servizio Pneumologia, Ospedale
Bellinzona et valli
Dr Jean-Georges Frey, Pneumologie FMH, Médecin
sous-directeur du Centre valaisan de Pneumologie, Montana, VS
Dr Philippe Rieder, Médecin chef de service,
Hôpital de Saint-Loup/VD
Dr. Martin Frey, FMH Innere Medizin und Pneumologie,
Chefarzt Barmelweid
Prof. Dr Thierry Rochat, Médecin-chef, service de Pneumologie, Hôpital universitaire de Genève, Principal investigator
étude SAPALDIA
Prof. Dr. Jean-Michel Gaspoz, FMH Médecine interne,
Chef du département de médecine communautaire et des
urgences, Hôpitaux universitaires de Genève
Dr. Martin Rüegger, Innere Medizin, Arbeitsmedizin FMH,
Zürich
Prof. Dr. Thomas Geiser, Direktor/Chefarzt Universitätsklinik
Pneumologie, Inselspital Bern
Dr Pierre Schmidlin, FMH Médecine générale et Psychatrie/
Psychotherapie, Sierre
Prof. Dr. Jürg Hammer, Stellvertretender Chefarzt,
Leiter Pneumologie und Intensivmedizin, Universitätskinderklinik beider Basel
Prof. Dr. Markus Solèr, Chefarzt Pneumologie Claraspital,
Präsident der Lungenliga beider Basel
Dr R. M. Kaelin, Médecine interne et Pneumologie FMH,
Vice-président de la ligue pulmonaire vaudoise, Morges VD
Dr. Werner Karrer, Innere Medizin und Pneumologie FMH,
Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Pneumologie,
Chefarzt und Vorsitzender der Klinikleitung, Luzerner
Höhenklinik Montana
Dr. Dr. h. c. Andreas Knoblauch, ehemaliger Präsident
der Lungenliga und Chefarzt der Abteilung Pneumologie und
Schlafforschung des Kantonspitals St. Gallen.
Dr. Bruno Knöpfli, Pädiatrische Pneumologie FMH,
Davos Platz
Dr. Max Kuhn, Leitender Arzt Pneumologie, Kantonsspital
Graubünden, Chur
Dr Alec Martin-Achard, FMH Pneumologie Genève
Dr Olivier Staneczek, Medecin interne et Pneumologie FMH,
Clarens /VD
Dr. Martin Tschan, Pneumologie und Innere Medizin,
Laufen, BL
Prof. Dr Jean-Marie Tschopp, Chef du Departement médecine
interne du Centre hospitalier du centre du Valais, Sion et
Médecin Directeur Centre valaisan de Pneumologie Montana
Dr Hubert Varonier, Privat-docent, Pédiatrie et Allergologie
FMH, Crans-Montana, VS
Dr. Beat Villiger, FMH Pneumologie und Innere Medizin,
FMH Rehabilitation und physikalische Medizin, Sportmedizin
SGSM, CEO Schweizerisches Paraplegikerzentrum Nottwil/LU
Dr Virgile Woringer, FMH Pédiatrie, médecine scolaire,
Lausanne
Dr. Jean-Pierre Zellweger, Privat-docent, Université Lausanne
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e r g ä n z e n d e i n f O r m at i O n e n
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r e d a k t i o n e l l e Ve r a n t w o r t u n g b e i m a u t o r
referenzen
1 New York City. The state of smoke free New York
City. A One-Year Review. New York 2004. Zitiert in:
The smoke free Europe partnership. Smoke free
Europe makes economic sense. Brussels, ERS journals,
2005.
2 Fogels testimony: «Zeugenaussage vor dem Stadtrat
von New York City, 6. Juni 1994. Mein Name ist
Barry Fogel. Ich bin Besitzer einer Restaurantkette
mit Häusern in Beverly Hills, … In 1988 wurde in
Beverly Hills eines der ersten Gesetze des Landes für
rauchfreie Restaurants erlassen. Dieses wurde
5 Monate später infolge des Lobbyings des Restaurantbesitzervereins von Beverly Hills widerrufen. Ich war
Präsident des Vereins. Es existierte kein Restaurantbesitzerverein vor der Rauchfrei – Verordnung. Wir
wurden durch die Tabakindustrie organisiert. Die
Industrie half uns die Kosten unserer Gesetzesklage
gegen Beverly Hills zu bezahlen. Die Industrie liess
sogar einige unserer Mitglieder per Lear-Jet nach
Rancho Mirage fliegen, einer anderen Stadt in
Kalifornien, in welcher ein Rauchverbot erwogen
wurde, damit sie gegen eine ähnliche RauchfreiVerordnung aussagen sollten. Vertreter des Tabakinstitutes waren bei einigen unserer Versammlungen
zugegen. Die Tabakindustrie behauptete wiederholt,
dass die Restaurants in Beverly Hills während des
5 Monate dauernden Rauchverbotes 30 % Erwerbseinbussen zu erleiden gehabt hätten. Offizielle
Zahlen hingegen, welche auf den Verkaufssteuerdaten beruhten, zeigten einen leichten Zuwachs der
Umsätze. Ich bedaure meine Zusammenarbeit mit
der Tabakindustrie. Als ich im Jahre 1991 erfuhr, dass
Passivrauch Krebs verursacht, beschloss ich, alle
«Jacopo’s Restaurants» 100 % rauchfrei zu machen,
einschliesslich der Bar und der gedeckten Aussenbereiche. Sogar in diesem schwierigen wirtschaftlichen
Klima sind unsere Verkäufe gestiegen. …»
3 Brief, Archiv von Philipp Morris (PM 2048294028),
gezeichnet von Dr. Xavier Frei, Direktor von Ho.Re.Ca
(Hotel/Restaurant/Café) international, Blumenrainstrasse 12, Zürich, datiert vom 30. 10. 1994, adressiert
an Stig Carlson, Director Corporate Affairs Philip
Morris, Lausanne: (Auszug) «… I do want to thank
you once again (…) als Formsache wiederhole ich
hier die Beschlüsse: 1. Philip Morris USA wird 60 000
für 1994/95 bezahlen. 2. Philip Morris Europa wird
30 000 für das Jahr 1994/95 bezahlen. 3. Über diese
finanzielle Hilfe hinaus wird PM Hand bieten durch
ihre Promotionsagentur (Ho.Re.Ca- News usw.)».
4 Philip Morris Dokument PM 2048253287, Hongkong
13. 9. 1995.
5 Brief von Ulrich Crettaz, Philip Morris S.A. Lausanne,
an Matt Winokur, 19. 06. 1996: «… diese Resolution
ist das Resultat der direkten Zusammenarbeit
zwischen Philip Morris und Gastrosuisse.»
6 PM 2048239107: (Internes Dokument Philip Morris
zur Planung des Kongresses) «6. Wir planen kurze
zielgerichtete Untersuchungen der Haltungen
von Konsumenten in Bezug auf deren Präferenzen,
inklusive der Absprachen über das Rauchen in
Restaurants. Ulrich Crettaz (Philip Morris S.A.
Lausanne) kümmert sich (darum) mit der Hotel
International und deren PR-Agentur Jäggi.»
7 Florian Hew präsidiert als «Director of the Swiss
Federation for Cafés, Restaurants, and Hotels/
Gastrosuisse, Zurich» den Workshop I, am 11. 9. 1995
am HoReCa-Kongress in Hongkong. – Dieselbe
Person, langjähriger Direktor von Gastrosuisse, erklärt
am 4. 6. 2006 (Titelschlagzeile der Zeitung «Matin
Dimanche»): «Les Suisses ne veulent pas de restaurants
non fumeurs.» – Er vertritt die Wirteverbände am
Hearing der Gesundheitskommission des Ständerates
im Februar 2008.
8 Bericht der Kommission für soziale Sicherheit und
Gesundheit des Nationalrates vom 1. 6. 2007 zur
parlamentarischen Initiative Schutz der Bevölkerung
und der Wirtschaft vor dem Passivrauchen.
9 Bundesgerichtsentscheid 133 1 110 vom 28. 3. 2007
(www.bger.ch) Entscheid im Falle Slatkine und Petroz
gegen den grossen Rat des Kantons Genf: «Die
Schädlichkeit des Passivrauches ist durch genügend
wissenschaftliche Studien bezeugt, so dass dies als
dem heutigen Stand der Wissenschaft entsprechend
betrachtet werden kann …».
10 Bundesverfassungsgericht Karlsruhe, Urteil vom
30. 7. 2008. Das Gericht gibt zwar den Klägern Recht,
welche beanstandeten, dass die Passivrauchgesetzgebung zu ungerechten Beeinträchtigungen geführt
hatte. Es hält aber ausdrücklich fest, dass nicht die
Schutzregel zur ungleichen Behandlung der Betriebe
geführt hatte, sondern die Ausnahmen von der
Regel. Vergleiche «Freiheitsrechte und Rauchverbote», SÄZ 2008, Heft 48 S. 2083–4.
11 www.who.int/tobacco/framework
12 Ständeratsdebatte vom 4. 3. 2008 (Amtliches Bulletin
2008, S 28): Hess Hans (RL, OW) Präsident der
Vereinigung des Schweiz. Tabakwarenhandels.
«… dass in Irland nach der Einführung des Rauchverbotes (…) die Zahl der Angestellten in Hotels und
Restaurants zwischen Juni 2004 und Mai 2005 um
1,6 Prozent zurückgegangen ist (…) Die Umsätze
gingen zwischen April 2004 und März 2005 in Irland
sogar um 4,9 Prozent zurück …» (Anmerkung des
Autors: Schwankungen dieser Grössenordnung,
welche wohl kaum einer Krise der Branche gleichkommen, dürften nicht nur in diesem Wirtschaftssektor häufig sein. Ausserdem verschweigt der
Redner, dass die Umsatzzahlen schon vor dem
Rauchverbot rückläufig gewesen waren).
13 Nationalratsdebatte vom 11. 6. 2008 (Amtliches
Bulletin 2008,N) Pascal Couchepin: «Les arguments
économiques ne sont pas très sérieux. Honnêtement,
ils ne sont pas sérieux! Et ils ne me paraissent pas
devoir l’emporter face aux arguments de santé
publique.»
14 Die Zeitung «l’Illustré» vom 24. 5. 2008, stellt die
62 welschen Parlamentarier vor, von denen 56 das
Rauchverbot im öffentlichen Raum unterstützen.
Dennoch stimmten 15 von diesen Befürwortern
gemäss elektronischer Stimmabgabe in der Abstimmung des Nationalrates vom 11. 6. 2008 für den
faulen Kompromiss des aktuellen Gesetzes. Namentliche Liste der Volksvertreter in Anm.15 von
«Glaubwürdigkeit II. das Minenfeld der Prävention»,
SÄZ 2008, Heft 38.
15 In der Abstimmung des Nationalrates vom 11. 6. 2008,
stimmten 9 Nationalräte (Namen Anm. 14, SÄZ
2008, Heft 38) für den faulen Kompromiss, obwohl
sie sich gegenüber Smartvote für ein Rauchverbot im
öffentlichen Raum geäussert hatten.
16 In der Nationalratsabstimmung vom 4. 10. 2007
stimmten, entgegen der gegenüber Smartvote
deklarierten Meinung, 4 Mitglieder der CVP und
2 Mitglieder der Freisinnigen Partei für den Gesetzesvorschlag, der Raucherbetriebe und bediente Fumoirs
vorsah.
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r e d a k t i o n e l l e Ve r a n t w o r t u n g b e i m a u t o r
17 In der Nationalratsabstimmung vom 11. 6. 2008,
stimmten 5 Mitglieder der CVP, 2 Mitglieder der
Freisinnigen und 2 Mitglieder der SVP für die Vorlage,
welche Raucherbetriebe und bediente Fumoirs
vorsah, während sie sich gegenüber Smartvote für ein
allgemeines Rauchverbot im öffentlichen Raum
ausgesprochen hatten. (Siehe auch Kaelin RM,
Diethelm P. Support of an efficient passive smoke
protection by parties and individual MP’s in the
Swiss Parliament 2004–2008, Swiss Medical Weekly.
2010; Suppl. 179, 18 S.)
18 Katja Auer: «Alles andere als Sternstunden» Kommentar, Süddeutsche Zeitung, 2. 6. 2009.
19 F. Musseau: «Loi antitabac ou pas, l’Espagnol fume,
où bon lui semble».Le temps 5. 8. 2009.
20 Ständeratsdebatte vom 17. 9. 2008: Gutzwiller (RL)
ZH: «1. Es ist so, dass … . ein recht grosser Anteil
der fraglichen Restaurants in der Schweiz unter diese
Kategorie fällt. Die Schwelle von 100 Quadratmetern
ist relativ hoch. 2. Hier stellt sich die Frage der
Umsetzbarkeit (…) In Italien und Frankreich gibt es
klare Regelungen. Es gibt keine Probleme, auch nicht
für die Gastronomie. Es sind absolut gute Verhältnisse (…) Spanien hat genau diese Sonderregelung
mit der Wahlfreiheit für Lokale unter 100 Quadratmetern. Dort gibt es jetzt erste Analysen, (…) dass
es sehr viele Probleme gibt; Sie können es sich
vorstellen. Einmal ist es eine Ungleichheit (…) Das
hat die Branche nie gewollt. Die Branche hat am
Anfang eine arbeitsrechtliche Regelung bekämpft,
immer mit dem Hauptargument, man wolle in der
Branche keine Ungleichheiten (…) Es gibt sehr viele
Abgrenzungsprobleme, (…) Das ist doch keine solide
Gesetzgebung.»
21 Rinny Gremaud, Le Temps, 21. 7. 2010: «La cafétéria
de Philip Morris entre ‹wellness› et grande restauration».
22 Pierre Hazan, Le temps: «le patron de la santé
publique dénonce la collusion entre politiques et
cigarettiers», 21. 10. 1998. In einem Seminar der
WHO, anlässlich der Ausstellung «Tabexpo» 1998 der
Zigarettenfabrikanten in Genf, nannte Prof. Zeltner
die Nationalräte Edgar Oehler, Präsident der
Vereinigung Schweizerischer Zigarettenfabrikanten,
und Carlo Schmid, Präsident von Publicité Suisse,
als Beispiele der Kollusion zwischen Parlamentariern
und Industrie-Interessen.
23 www. awmp.ch
24 Sowohl die Ausnahme des Raucherbetriebes als auch
die Klausel, dass das Fumoir bedient werden darf,
falls der Angestellte schriftlich zustimmt, wurden
in die Vorlage des aktuellen Bundesgesetzes von
Politikern der christlichen Volkspartei eingebracht,
von Nationalrätin Thérèse Meyer – Kaelin und
Ständerat Bruno Frick. Der Vorschlag, auf den
Minderheitsantrag (und nicht auf den Mehrheitsantrag) der Gesundheitskommission des Nationalrates
einzutreten, geht auf Roland Borer der Schweiz.
Volkspartei zurück.
25 Der Parlamentarierausflug der SVP 2008 führte die
Volksvertreter in den Kanton Neuenburg. Der Anlass
wurde von der Firma Philip Morris gesponsert.
26 AT Information Sommer 2010: Eine Analyse der
Periode November 2009 – Februar 2010 kommt zum
Schluss, dass zum Thema Passivrauchschutz in den
Printmedien folgende Tendenzen dominieren:
Skeptizismus, Suche nach extremen Meinungen,
Unwissenheit über das Thema. Von 102 Beiträgen
(Artikel, Kommentare, Leserbriefe) äusserten sich
75 negativ, 21 positiv und 6 neutral zum Passivrauchschutz, wobei oft sogar die Schädlichkeit des
Passivrauchens in Frage gestellt wurde.
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TRIBÜNE
Prävention
Empfehlungen eines Schweizer Expertenteams
Reduzierung der Risiken für Raucher
Semira Gonseth a,
Isabelle Jacot-Sadowski b,
Jacques Cornuz c
a Assistenzärztin, Policlinique
Médicale Universitaire,
Lausanne
b Chefarzt und Klinikleiter,
Policlinique Médicale
Universitaire, Lausanne
c Chefarzt, Prof. Dr. med.,
Policlinique Médicale
Universitaire, Lausanne
Einführung
Die Rauchabstinenz erweist sich für viele Raucher als
schwer zu realisierende Zielsetzung. Als Vorbereitung
zum Rauchstopp ist eine langfristige Reduzierung des
Tabakkonsums im Gegensatz zu einer kurzfristigen
(«cut down to quit») alternativ zur Abstinenz geplant.
Sie bietet potenziell den Vorteil, dass das Gesundheitsrisiko individuell und global reduziert wird und
sie analog zu den «vier Säulen» in der Drogenpolitik
Teil einer Präventionspolitik werden kann.
Für eine Reduzierung des Tabakkonsums spricht
die Tatsache, dass das individuelle Risiko für Raucher
von der Dauer, der Menge und der Toxizität des
absorbierten Rauchs abhängt und eine Reduzie-
Die Ergebnisse sprechen gegen die Reduzierung
des Tabakkonsums als Strategie zur Reduktion der
mit dem Rauchen verknüpften Risiken
Zusammenfassung
Die Rauchabstinenz erweist sich für viele Raucher als
schwer zu realisierende Zielsetzung. Die langfristige
Reduzierung des Tabakkonsums könnte eine Alternative zur Minderung der Gesundheitsrisiken aufzeigen. Um herauszufinden, ob ein solcher Ansatz
empfehlenswert ist, haben wir mit Hilfe der DelphiMethode eine Erhebung zur Expertenmeinung unter
17 in den schweizweiten Kampf gegen den Tabakkonsum involvierten Spezialisten durchgeführt. Die
Ergebnisse sprechen gegen eine allgemeine Empfehlung der Reduzierung des Tabakkonsums, vor allem
da nicht nachgewiesen ist, dass sich durch sie eine
signifikante Minderung der Gesundheitsrisiken ergibt. Dennoch kann eine solche Reduzierung in
Sonderfällen ins Auge gefasst werden, vor allem
wenn Personen mit schwerwiegenden, invalidie-
Interessenkonflikt: Semira
Gonseth und Isabelle
Jacot-Sadowski erklären, dass
kein Interessenkonflikt besteht.
Jacques Cornuz erklärt, dass
aufgrund seiner Position als
mitverantwortlicher Leiter des
Cipret-Waadt und
Professor am Institut für
Sozial- und Präventivmedizin
Lausanne und der Policlinique
Médicale Universitaire (PMU),
Lausanne ein Interessenkonflikt
gegeben ist. Im Zusammenhang
mit der Organisation von
Seminarien und Kolloquien für
Ärztinnen und Ärzte erhielt die
PMU Unterstützungsbeiträge
von Pharmaunternehmen, die
Nikotinersatzprodukte
produzieren. Ein Teil dieser
Beiträge wurde Prof. J. Cornuz
vergütet.
Korrespondenz:
Dr. med. Semira Gonseth
Poliklinik des Universitätsspitals Lausanne
44, rue du Bugnon
CH-1011 Lausanne
Tel. 021 314 49 45
Fax 021 314 61 06
[email protected]
rung infolgedessen das Gesundheitsrisiko verringern
müsste. Gemessen an den Erwartungen erweist sich
die beobachtete positive Wirkung einer Reduzierung
des Tabakkonsums auf die Gesundheit jedoch als
sehr moderat [1–3]. Dies resultiert vor allem daraus,
dass das auf den Tabakkonsum zurückzuführende
Krankheitsrisiko in der Hauptsache durch die Expositionsdauer (in Jahren) beeinflusst wird. Das Kompensationsphänomen sorgt trotz Konsumreduzierung durch freiwillig oder unfreiwillig erhöhte
Extraktion des Nikotins und – parallel dazu – der
anderen Giftstoffe im Zigarettenrauch für einen
hohen Nikotinrückstand und scheint ebenfalls eine
Rolle zu spielen [4]. Selbst bei einer kombinierten
Verabreichung von Nikotin in Nikotinersatzprodukten, die zu einer Verringerung des Kompensationsphänomens führen müsste, bleiben die Vorteile einer
Reduzierung der Nikotinsucht ungewiss und ihre
Modalitäten schlecht definiert [2].
Auch die Wasserpfeife, der Oral- oder Schnupftabak (Snus und Snuff), die rauchlose oder die Elektronikzigarette müssen einbezogen werden, um feststellen zu können, ob sie eine empfehlenswerte
Alternative zur Zigarette bilden und integraler Bestandteil einer Risikoreduktionsstrategie sein können. Die Gegenargumente dokumentieren, dass der
Gebrauch der Wasserpfeife dieselben Pathologien
bewirkt wie die Zigarette [5] und dass der Oraltabak
renden Erkrankungen (beispielsweise chronischobstruktive Bronchopneumopathie oder schwere
kardiovaskuläre Erkrankungen) oder sehr nikotinabhängige Raucher (z.B. Fagerström über oder
gleich 6/10) bereits erfolglos einen Entwöhnungsversuch hinter sich haben. Der Rauchstopp bleibt
allerdings ein mittel- bis langfristiges Ziel.
den Konsumenten einem verstärkten Krebsrisiko aussetzt [6].
Wir haben eine Meinungsumfrage unter Fachleuten durchgeführt, um herauszufinden, ob die
Mitarbeitenden im Gesundheitsdienst ebenfalls eine
Reduzierung des Tabakkonsums oder den Einsatz
neuer Tabakprodukte empfehlen können.
Methodik
Die Delphi-Methode dient der Ausarbeitung von
Konsensempfehlungen bei unzureichenden oder
divergierenden wissenschaftlichen Daten [7]. Zwanzig Schweizer Experten im Kampf gegen das Rauchen
wurden kontaktiert und erhielten eine qualitative
Synthese der zur Reduzierung des Raucherrisikos
verfügbaren Literatur (erstellt von Isabelle Jacot-
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1621
TRIBÜNE
Prävention
Sadowski und Jacques Cornuz) [8], die sich auf
wissenschaftliche Artikel zu diesem Thema stützte,
welche die Risikoreduktion im Verbund mit der
Reduzierung des Tabakkonsums betrachteten.
Die Schlussfolgerungen aus diesem Bericht lassen
vermuten, dass die Reduzierung des Tabakkonsums
nur sehr wenig positive Wirkung auf die Gesundheit
zeigt. Bei Rauchern, die zu Beginn keine Absicht
hatten, mit dem Rauchen aufzuhören, kann eine
Reduzierung jedoch die Chancen für eine langfristige
Tabakabstinenz leicht erhöhen. Alle in diesem Bericht zitierten Studien dokumentieren im Übrigen,
dass neue Tabakprodukte wie die Wasserpfeife, der
Oral- oder der Schnupftabak stark gesundheitsschädigend für den Konsumenten sind. Die Experten waren
gehalten, auf der Basis dieser Informationen und der
jeweiligen persönlichen Meinung entweder ihre
Zustimmung anhand einer Skala von 1 bis 10 zu
geben oder eine der Empfehlungen zur Reduzierung
des Raucherrisikos auszuwählen. In Bezug auf die
Reduzierung wurde spezifiziert, dass es sich nicht um
eine kurzfristige, nur einige Tage vor dem Rauchstopp
eingehaltene Reduzierung des Tabakkonsums handelte, sondern um eine langfristige. Die Anonymität
der Antworten war sowohl für die Teilnehmenden
unter sich als auch für die Analysten gewährleistet.
Das Verfahren dauerte drei Tage, in deren Verlauf die
Empfehlungen nach den Antworten modifiziert und
vertieft wurden, bis ein Konsensergebnis erreicht war.
Der Konsens wurde willkürlich bei durchschnittlich
mindestens 5,6 (bei einem Übereinstimmungsgrad
von 1 bis 10) und mindestens 51% (bei den wahlweisen Antworten) festgesetzt. Die Experten konnten
Tabelle 1
Berufliche Merkmale der am Delphi-Verfahren teilnehmenden Experten.
Experten
Arzt
1
3
2
3
3
Pflegekraft
(Nichtmediziner)
Klinische
Tabakologie
3
3
3
3
3
3
4
3
5
3
6
3
7
3
8
9
3
10
11
3
3
12
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
3
13
3
14
3
3
15
3
3
16
3
17
Total
Tabakprävention
3
3
58 %
3
3
3
23 %
70 %
82 %
Anmerkungen machen, die bei der Ausarbeitung der
Empfehlungen berücksichtigt wurden [9, 10].
Ergebnisse
17 von 20 kontaktierten Experten nahmen teil
(85% Teilnahmequote), davon 7 Frauen (41%). Die
beruflichen Merkmale der Experten sind in Tabelle 1
zusammengefasst. Die Antwortquote lag für jeden
Durchlauf bei 82%.
Allgemeines
Die allgemeinen Empfehlungen zur Reduzierung des
Tabakkonsums sind in Tabelle 2 zusammengefasst.
Eine Reduzierung war aus folgenden zwei Gründen
nicht zu empfehlen: 1. Es lag kein Nachweis über eine
signifikante Verringerung des Gesundheitsrisikos vor.
2. Es bestand das Risiko, dass unangemessene Informationen zur öffentlichen Gesundheit transportiert
wurden, welche die Vermutung nahelegen, dass eine
Reduzierung als Alternative zum Rauchstopp für den
Erhalt der Gesundheit gelten könnte.
Dennoch kann in bestimmten Fällen eine langfristige Reduzierung des Tabakkonsums ratsam sein.
Sonderfälle
Eine langfristige Reduzierung des Tabakkonsums ist
als erste Etappe auf dem Weg zum vollständigen
Rauchstopp angebracht für stark abhängige Raucher
oder solche mit erheblicher Komorbidität, beispielsweise mit einer chronisch-obstruktiven Bronchopneumopathie oder einer Angiokardiopathie, Fälle,
in denen sich ein kompletter Rauchstopp als nicht
erfolgreich erwies. Die Reduzierung des Tabakkonsums dürfte dann maximal der Hälfte des normalen
Konsums entsprechen und könnte die Chancen für
einen späteren Rauchstopp eher erhöhen und gleichzeitig leichte Vorteile für die Gesundheit bringen
(Tabelle 3).
Die Experten sprachen sich gegen die Festsetzung
eines Zeitlimits für die Reduzierung des Tabakkonsums aus (die Zustimmungsrate lag im Schnitt bei 4,1
auf einer Skala von 1 bis 10; IC = +/– 3,1, geringer
Konsens).
Ausserdem müsste sie von medizinischem Rat
und einer Nikotinersatztherapie begleitet werden.
Nikontinsubstitute wie Inhalator, Pflaster, Pastillen
und Kaugummi könnten als Mono-, Bi- oder Tritherapie vorgeschlagen werden. Die Experten sprachen
sich in diesem Kontext gegen den Einsatz von Bupropion oder Vareniclin aus (der Zustimmungsgrad von
1 bis 10 lag im Schnitt bei 8,3, IC = +/– 2,1).
Andere Formen der Nikotingabe
Die Mitarbeitenden im Gesundheitsdienst sind ganz
allgemein nicht befugt, Rauchern den einen oder
anderen Nikotinlieferanten als Strategie zur Risikominderung zu empfehlen.
Die Experten sprachen sich gegen den Einsatz
von Wasserpfeifen (Shisha, Narguile) aus. Der Zu-
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TRIBÜNE
Prävention
stimmungsgrad lag im Schnitt bei 1,3 auf einer Skala
von 1 bis 10 (IC = 0,8). Dies gilt auch für nasal
oder oral eingenommenen Snuff (Zustimmungsgrad
2,6 [1,5]), Snus (Zubereitung von feuchtem Tabak,
oral einzunehmen) (Zustimmungsgrad 3,5 [2,7]),
Elektronikzigaretten (Zustimmungsgrad 4,2 [2,6])
und rauchlosen Zigaretten (Heatbar®) (Zustimmungsgrad 3,1 [2,2]). Nach Aussage der konsultierten
Experten können diese Methoden nicht als risikomindernde Alternative zur Zigarette vorgeschlagen
werden.
Diskussion
Die Ergebnisse dieser Studie sprechen gegen die
Förderung einer Reduzierung des Tabakkonsums
als Strategie zur Reduktion der mit dem Rauchen
verknüpften Risiken. Davon ausgenommen sind
Sonderfälle, beispielsweise Raucher, die an schweren
Erkrankungen leiden, die durch die Zigarette noch
verschlimmert werden und bei denen eine Reduzierung des Tabakkonsums – selbst bei ungewisser Wir-
kung – wünschenswert wäre. In diesen Fällen wäre
die Reduzierung des Tabakkonsums mit entsprechenden Ratschlägen zur Tabakentwöhnung und zu Nikotinersatzprodukten zu begleiten. Produkte wie die
Wasserpfeife, Oral- oder Schnupftabak, rauchlose
oder Elektronikzigaretten sind dem Raucher, der
seine Risiken durch den Konsum alternativer Produkte mindern will, nicht zu empfehlen.
Diese qualitative Erhebung zur Expertenmeinung
zeigt der Delphi-Technik inhärente Limiten auf [7],
vor allem, was die Selektion in der Wahl der Experten
anbelangt, die alle in den Kampf gegen den Tabakkonsum involviert sind, mehr oder weniger unter
Ausschluss anderer Abhängigkeitsbereiche. Zu letzteren zählt insbesondere der Bereich der illegalen Drogen, für den in der Schweiz bereits vor Jahren eine
Risikoreduktionsstrategie eingeführt wurde, deren
mittelfristige Ergebnisse bekannt und ermutigend
sind [11]. Im vorgenannten Beispiel stehen diese Risiken jedoch vor allem im Zusammenhang mit Infektionskrankheiten (HIV, Hepatitis, …).
Tabelle 2
Empfehlungen zur Reduzierung des Tabakkonsums im Laufe des Delphi-Verfahrens.
Empfehlungsvorschläge
1. Durchgang
2. Durchgang
3. Durchgang
Die Mitarbeitenden im
Gesundheitsdienst können
den Rauchern generell
eine Reduzierung des
Tabakkonsums vorschlagen.
1. Die Reduzierung des Tabakkonsums sollte nur in Sonderfällen vorgeschlagen werden.
Generell ist die langfristige
Reduzierung des Tabakkonsums
(im Gegensatz zur kurzfristig
vor dem Rauchstopp praktizierten)
in bestimmten Situationen
akzeptabel, vor allem für sehr
kranke Raucher (chronischobstruktive Bronchopneumopathie,
kardiovaskuläre Erkrankungen, …)
oder stark abhängige Raucher,
die bereits mehrere erfolglose
Rauchstoppversuche hinter sich
haben.
2. Die Reduzierung des Tabakkonsums sollte unter keiner
Bedingung vorgeschlagen
werden.
3. Die Reduzierung des Tabakkonsums muss allen Rauchern
vorgeschlagen werden.
Antwortart
1 Wahlantwort
Zustimmung von 1 bis 10
Antwort
5,0 (+/– 3,1)
(Durchschnitt %, IC)
Zustimmung von 1 bis 10
Antwort 1: 78,6 %
Durchschnitt 8,6 (IC +/– 1,9)
Zustimmung
Konsens, aber keine klare
Empfehlung (nur 1 Wahlantwort)
Konsens und klare Empfehlung
Kein Konsens
Tabelle 3
Sonderfälle zur Reduzierung des Tabakkonsums
Fragen
Zustimmungsgrad
(von 1 bis 10),
durchschnittlich
IC
Zustimmung
Nur Raucher einer bestimmten Gruppe sollten eine Reduzierung
des Tabakkonsums empfohlen bekommen.
8,4
2,2
Konsens und
klare Empfehlung
Stark nikotinabhängige Raucher, die bereits eine erfolglose
Entwöhnung hinter sich haben, sollten eine Reduzierung
des Tabakkonsums empfohlen bekommen.
7,3
2,4
Konsens und
klare Empfehlung
Raucher mit Komorbiditäten (chronisch-obstruktive Broncho8,1
pneumopathie, kardiovaskuläre Vorfälle/Angiopathie …),
die bereits eine erfolglose Entwöhnung hinter sich haben,
sollten eine Reduzierung des Tabakkonsums empfohlen bekommen.
2,2
Konsens und
klare Empfehlung
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TRIBÜNE
Prävention
Sollen Ärzte Nikotinersatzprodukte verschreiben, wenn
ein Raucher nicht den Stopp,
sondern lediglich eine
Verringerung des Nikotinkonsums anstrebt? Nein,
meinen die Experten – ausser
bei speziellen klinischen
Konstellationen.
Die Stärke der Delphi-Methode liegt in einem
hohen Konsens bezüglich der allgemeinen Empfehlungen (Zustimmungsgrad von durchschnittlich 8,6
auf einer Skala von 1 bis 10, +/– 1,9 im 3. Durchgang). Dies ermöglicht konkordante Empfehlungen
und eine hohe Beteiligung in den drei Verfahrensdurchläufen. Verzerrungen durch das Ausbleiben
von Antworten halten sich in Grenzen und die doppelte Anonymität der Beteiligten unter sich und der
Analysten mindert das Beeinflussungsrisiko, respektive die bezüglich der Meinungen der Experten gegebene «Ansteckungsgefahr» [7]. Die Empfehlungen
aus dieser Studie bilden daher eine solide Basis, um
schweizweite Richtlinien vorschlagen zu können.
Fazit und Empfehlungen
Gegenwärtig wird die Reduzierung des Tabakkonsums generell nicht als Ziel an sich empfohlen. Dennoch kann sie in bestimmten Fällen eine Zwischenetappe auf dem Weg zum Rauchstopp markieren,
wenn ein oder mehrere Versuche, das Rauchen aufzugeben, bereits erfolglos in Angriff genommen wurden. Dies gilt für Personen mit schwerwiegenden,
Expertenteam
– Chris Bolliger, Spital Tygerberg, Abteilung für Innere Medizin, Universität Stellenbosch,
Kapstadt, Südafrika
– Léonie Chinet, Service de la santé publique du Canton de Vaud, Schweiz
– Carole Clair, Poliklinik des Universitätsspitals Lausanne, Schweiz
– Arlette Closuit, niedergelassene Ärztin, Martigny, Wallis
– Pascal Diethelm, OxyRomandie, Schweiz
– Verena El-Fehri, Arbeitsgemeinschaft Tabakprävention Schweiz
– Selma Ertem, CIPRET-Waadt, Schweiz
– Jean-François Etter, Institut für Sozial- und Präventivmedizin Genf
– Jean-Paul Humair, Poliklinik des Universitätsspitals Genf, Schweiz
– Isabelle Jacot-Sadowski, Poliklinik des Universitätsspitals Lausanne, Schweiz
– Chung-Yol Lee, Kantonsarztamt des Kantons Freiburg, Schweiz
– Yves Martinet, Service de Pneumologie, Centre Hospitalier Universitaire Nancy Brabois,
Frankreich
– Bruno Meili, Krebsliga Schweiz
– Corinne Wahl, CIPRET-Genf, Schweiz
– Jean-Pierre Zellweger, Poliklinik des Universitätsspitals Lausanne, Schweiz
– Daniele Zullino, Service d’abus de substances, Universitätsspital Genf, Schweiz
invalidierenden Erkrankungen, wie beispielsweise
chronisch-obstruktive Bronchopneumopathie oder
schweren kardiovaskulären Erkrankungen für stark
nikotinabhängige Raucher, mit einer Fagerström-Rate
über oder gleich 6/10. Vor diesem Hintergrund bleibt
der Rauchstopp ein mittel- bis langfristiges Ziel.
Da Daten zu neuen «attraktiven» Produkten
(Snus, Elektronikzigarette …) fehlen, lässt sich ihr
Konsum zur Reduzierung der mit dem Rauchen
verknüpften Risiken nicht empfehlen. Es wäre zu
wünschen, dass entsprechende wissenschaftliche
Studien durchgeführt würden, um ihre Wirkung
kennenzulernen (Toxizität, Wirksamkeit in Bezug
auf den Rauchstopp).
Literatur
1 Meyer C et al. Intentionally reduced smoking among
untreated general population smokers: prevalence,
stability, prediction of smoking behaviour change
and differences between subjects choosing either
reduction or abstinence. Addiction. 2003;98(8):
1101–10.
2 Stead L. Lancaster T. Interventions to reduce harm
from continued tobacco use. Cochrane Database
Syst Rev. 2007; CD005231.
3 Hughes JR, Carpenter MJ. Does smoking reduction
increase future cessation and decrease disease risk?
A qualitative review. Nicotine Tob Res. 2006;8(6):
739–49.
4 Jarvis MJ et al. Nicotine yield from machine-smoked
cigarettes and nicotine intakes in smokers: evidence
from a representative population survey. J Natl
Cancer Inst. 2001;93(2):134–8.
5 WHO Study Group on Tobacco Products Regulations,
Waterpipe Tobacco Smoking: Health Effects, research
Needs and Recommended Actions by Regulators.
WHO; 2005.
6 Boffetta P et al. Smokeless tobacco and cancer. Lancet
Oncol. 2008;9(7):667–75.
7 Keeney S, Hasson F, McKenna H. Consulting the
oracle: ten lessons from using the Delphi technique
in nursing research. J Adv Nurs. 2006;53(2):205–12.
8 Jacot-Sadowski I, Cornuz J. Tabac et réduction
de risque. Synthèse des connaissances scientifiques.
submitted; 2010.
9 Ferri CP et al. Global prevalence of dementia:
a Delphi consensus study. Lancet. 2005;366(9503):
2112–7.
10 Jones J, Hunter D. Consensus methods for medical
and health services research. BMJ. 1995;311(7001):
376–80.
11 Benninghoff F et al. Health trends among drug users
attending needle exchange programmes in Switzerland (1994–2000). AIDS Care. 2006; 18(4):371–5.
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1624
HorIzonte
Interview
Interview mit Peter Stulz zur Weiterbildung von Ärztinnen und Ärzten in Philosophie
«eine philosophische rückbesinnung
auf ursprüngliche ziele der Medizin tut not»
Im Dezember dieses Jahres beginnt an der Universität Luzern unter dem titel
«Philosophie und Medizin» ein neuer nachdiplomkurs für Ärztinnen und Ärzte sowie
weitere im Gesundheitswesen tätige Fachleute (siehe Kasten). Den Anstoss dazu
gab ein kleiner Kreis philosophisch gebildeter Ärzte, darunter der Herz- und thoraxchirurg Peter Stulza. Im folgenden Kurzinterview äussert er sich zur ursprünglichen
Idee und deren Umsetzung.
Interview: Bruno Kesseli
Herr Stulz, Sie haben gemeinsam mit dem im Frühling
dieses Jahres verstorbenen früheren FMH-Präsidenten
Hans Heinrich Brunner und ihrem Arztkollegen und
Philosophen Piet van Spijk die Idee einer Zusatzausbildung in Philosophie für Ärzte entwickelt. Wie kam es
dazu?
Peter Stulz: Erste Ideen in dieser Richtung entstan­
den während meines berufsbegleitenden dreijährigen
Masterstudiengangs in «Philosophie und Manage­
ment», den das kulturwissenschaftliche Institut der
Universität Luzern seit Jahren erfolgreich anbietet.
Immerhin war Philosophie seit der Antike Bestandteil
der medizinischen Ausbildung – erst mit der natur­
wissenschaftlichen Orientierung während des positi­
vistischen 19. Jahrhunderts wurde das Studium der
Medizin um die geisteswissenschaftlichen Dimensio­
nen verkürzt. Im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde
deren Bedeutung aber zunehmend wieder anerkannt.
Wann haben sich diese Ideen zu einem konkreten Projekt
verdichtet?
Im Jahr 2005 haben wir in einem gemeinsamen Sym­
posium mit dem kulturwissenschaftlichen Institut
der Universität Luzern im Kantonsspital Luzern ver­
sucht, die zwei «entfernten Verwandten» – Philoso­
phie und Medizin – einander näher zu bringen.b
Nachdem diese erste Begegnung der beiden Diszipli­
nen erfolgreich verlief, setzte sich eine kleine Gruppe
«Gleichgesinnter» mit den erwähnten Hans Heinrich
Brunner und Piet van Spijk zum Ziel, die ursprüng­
liche Idee in einem universitären Nachdiplom­Stu­
diengang «Philosophie und Medizin» zu realisieren.
a Prof. Dr. med. Peter Stulz war
bis zu seiner Pensionierung
im Jahr 2009 Chefarzt an
der Klinik für Herz­, Thorax­
und Gefässchirurgie des
Kantonsspitals Luzern.
b Die Symposiumsbeiträge
finden sich im folgenden
Sammelband: Stulz P, Kägi D,
Rudolph E. Philosophie
und Medizin.
Zürich: Chronos; 2006.
Keine Angst vor Philosophie – und vor Philosophen: Peter Stulz im Gespräch.
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1625
HorIzonte
Interview
zentrierte Medizin – «disease» als patho­physiolo­
gisches Phänomen – dem Menschen als Person in
seinem Kranksein – «illness» – nicht gerecht werden
kann. Wenn eine einseitig technisch orientierte
Medizin zusätzlich unter dem Diktat der Ökonomie
steht, verstärkt dies die Tendenz zu einer Entmensch­
lichung des Patienten: eine entseelte «Low­touch­
Medizin» entwickelt sich. Angesichts solcher Ent­
wicklungen tut eine philosophische Rückbesinnung
auf ursprüngliche Ziele der Medizin not. Dies gilt
eigentlich für jede Ärztin und jeden Arzt.c
«Der naturwissenschaftlichmedizinisch-technische Fortschritt
löst Fragen aus, die die Medizin
auch in Verbindung mit dem
ärztlichen ethos nicht beantworten
kann»
Für Peter Stulz kann die Philosophie Wesentliches zur Neudefinition des Selbstverständnisses
der Medizin beitragen.
c Siehe zu dieser Thematik
auch: Van Spijk P. Kosten­
probleme in der Medizin
rufen nach einer Philosophie
der Gesundheit, Schweiz
Ärztezeitung. 2009;
90(48):1900.
d Dr. phil. Manuel Bachmann,
MBA HSG, ist Studienleiter
des Weiterbildungspro­
gramms «Philosophie und
Medizin» der Universität
Luzern.
Die Durchführung vollzieht sich nun in enger Ab­
stimmung mit der Universität Luzern: Die Kurslei­
tung operiert im Auftrag der Kultur­ und sozial­
wissenschaftlichen Fakultät und verantwortet die
Kursprogramme im Rahmen der Projektplanung des
kulturwissenschaftlichen Institutes.
Ärztinnen und Ärzte haben neben ihrer Kerntätigkeit
heutzutage einen Wust an administrativen Aufgaben zu
erledigen – dazu müssen sie sich in zunehmendem Masse
mit ökonomischen Begriffen herumschlagen. Warum sollen sie nun auch noch Philosophen werden?
Wir Ärztinnen und Mediziner erleben immer inten­
siver, dass eine extrem krankheits­ und läsions­
Hängt diese von Ihnen postulierte Notwendigkeit einer
philosophischen Rückbesinnung auch mit der enormen
Erweiterung des medizinisch Machbaren in den letzten
Jahren zusammen?
Der naturwissenschaftlich­medizinisch­technische
Fortschritt löst Fragen aus, die gegenüber der Gesell­
schaft beantwortet werden müssen, die die Medizin
aber auch in Verbindung mit dem ärztlichen Ethos
nicht beantworten kann. So zwingt beispielsweise
die Transplantationsmedizin zur Neudefinition des
Todes, die Reproduktionsmedizin zur Neudefinition
des Lebensbeginns. Die gentechnische Biowissen­
schaft mit ihrer masslosen Manipulierbarkeit des
Menschen macht deutlich, dass die Medizin weit
mehr ist als ein Fundus an Wissen und Technik.
Grenzfragen und Grundbegriffe der Medizin sind
«chaotisch konfiguriert». Neudefinitionen des Selbst­
verständnisses der Medizin sind vor diesem Hinter­
grund gefragt, wozu gerade die Philosophie als Kern­
kompetenz jeder Ärztin und jedem Arzt wichtige
Hilfe leisten kann.
Bei vielen Ärztinnen und Ärzten ist in der Tat ein Interesse
an geisteswissenschaftlichen Themen und Fragen auszumachen, doch eher im Sinn einer anregenden und
entspannenden Freizeittätigkeit. Hat sich die vertiefte
Beschäftigung mit Philosophie tatsächlich befruchtend
auf Ihren konkreten ärztlichen Arbeitsalltag ausgewirkt?
In den zahlreichen Vorlesungen und Seminarien in
Philosophie sowie persönlichen Begegnungen und
intensiven Kontakten mit Philosophen habe ich zwei
Qualitäten an ihnen erlebt und erfahren, die mir im
praktischen Alltag im Umgang mit Patienten tatsäch­
lich geholfen haben – so meine ich jedenfalls. Die
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1626
HorIzonte
Interview
Philosophen sind ausserordentlich sprachgewandt,
müssen es auch sein, denn die Sprache ist ihr Instru­
ment, wie für den Chirurgen sein Messer. Sie verfügen
über eine sehr feine Argumentationskultur und ein
breites Reflexionsangebot, setzen Standards für ver­
nünftiges Reden, pflegen den echten Diskurs, bringen
Studierende dazu, sich – verblüfft etwa durch das
platonische Höhlengleichnis – umzuwenden und die
Vorurteilshaftigkeit eigener Meinungen selbstkritisch
zu reflektieren. Sie fordern strenge und präzise Arbeit
am Begriff, Achtsamkeit auf die Sprache, auf die
Die Umsetzung des Projekts liegt mittlerweile bei der
Universität Luzern – Sie selbst und Piet van Spijk sind als
Dozenten weiterhin mit dabei: eine ideale Arbeitsteilung?
Den detaillierten Einsatz und Beitrag von uns Ärzten
werden wir mit den Philosophen noch festlegen müs­
sen. Sicher besteht eine wesentliche Aufgabe von uns
darin, Aspekte der Philosophie auf praxisrelevante
Themen zu fokussieren sowie Fragen der Medizin zu
präzisieren und konkretisieren. Philosophie bewegt
sich im «Generellen». Wir werden unsere Anliegen
in einem grösseren Kontext darstellen müssen. Die
«Die Philosophen sind ausserordentlich sprachgewandt, müssen es
auch sein, denn die Sprache ist ihr Instrument, wie für den Chirurgen
sein Messer»
Rede und Formulierung. Unter ihrem Einfluss erfährt
die eigene Kommunikationskompetenz eine deutliche
Verbesserung, selbst diejenige eines Chirurgen –
erstaunlich!
Es geht also auch um die Vermittlung eines Instrumentariums, das im ärztlichen Alltag sinnvoll eingesetzt
werden kann?
Nicht das Vermitteln von Fach­, Arbeits­ oder Leis­
tungswissen ist das erste Ziel der Philosophen – das
tut die «Wissenschaft». Sie lehren eine Wissensform,
die vielen Medizinern abhanden gekommen ist und
eigentlich die wichtigste wäre: Sie vermitteln Bil­
dungswissen. Seinem Wesen nach ist Bildungswissen
«die Einheit eines persönlichen Stils, wie man beob­
achtet, denkt, beurteilt und entscheidet», wie es
Manuel Bachmannd in Anlehnung an Max Scheler
formuliert hat. Der Blick nach innen schafft Voraus­
setzung, Bildungswissen zu entwickeln. Dieses Orien­
tierungswissen regt an, sich mit letzten Fragen des
Menschseins, mit Sinnfragen auseinanderzusetzen.
Dies sind doch zentrale Inhalte einer jeden Arzt­
Patienten­Beziehung, falls man dieses sozialroman­
tische Begriffspaar überhaupt noch erwähnen darf!
Suche nach geeigneten Medizinern, die philoso­
phisch versiert sind und durch Referate den Kurs
bereichern könnten, wird sich als weitere Aufgabe
erweisen. Wir hoffen auch, dass unsere noch kleine
Kerngruppe bald eine Erweiterung durch philoso­
phisch interessierte Medizinerinnen und Ärzte erfah­
ren wird. Keine Angst vor Philosophie!
Nachdiplomkurs «Philosophie und Medizin»
Der neue berufsbegleitende nachdiplomkurs
«Philosophie und Medizin» der Universität
Luzern richtet sich an Spezialärzte und Allgemeinpraktiker, an Spitalkader und im Gesundheitswesen tätige Fachleute. Das Programm
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Horizonte
Streiflicht
eine Kurzgeschichte in zwei teilen – teil 2*
Der normalsprecher
Von Adolf Jens Koemeda
Ich weiss nicht, lieber Herr Jost, wie gut Sie
sich in diese äusserst ungemütliche Lage einfühlen können. Die meisten Autofahrer müssen, Gott sei Dank, eine derart problematische
Tunnelbefahrung nie hinter sich bringen …
Sie auch nicht? Danke, dachte ich mir. So was
geschieht wirklich nicht alle Tage.
Moment! Wo war ich gerade … habe ich
schon von dem Brand gesprochen? Langsam
kommt bei mir alles durcheinander. Nein, in
dem Augenblick brannte es noch nicht, davor
bekam ich allerdings eine riesige Angst. Ich
stand in beinahe totaler Dunkelheit – diesmal
wieder hinter meinem Auto – und es wurde
mir plötzlich bewusst, dass die Batterie bald
leer sein könnte. Also zurück zum Wagen, nur
ein paar Meter, denn hinter dem Fahrzeug lag
jetzt kein Warnsignal auf dem Boden: Wenn
ich wegginge, würde hier niemand schreien
und den Chauffeur zum Anhalten zwingen
können; ganz aufgeben durfte ich in dem
Fall meinen hinteren Frühwarnposten nicht.
Was hätten Sie, Herr Jost, in meiner Lage
gemacht?
Natürlich, diese Frage ist nicht ernsthaft
gestellt … obwohl – ganz ohne Bedeutung ist
sie für mich schon nicht. Ich fragte mich
nämlich, ob ich richtig gehandelt hatte. Aber
welche anderen Möglichkeiten hätte ich gehabt? Bitte: Würden Sie alles hinter sich lassen und zum Tunnelausgang laufen? Vier,
fünf Kilometer … bei Dunkelheit? Und ohne
zu wissen, ob es für Sie zwischen einem Laster
und der Tunnelwand genug Platz gibt? Sicher
nicht!
In dem Augenblick sah ich nur eine einzige Chance: Meine Jacke ausziehen und anschliessend mein weisses Hemd; die Jacke
gleich wieder anziehen und zurücklaufen …
in Richtung Italien. Mir war klar: Nach etwa
fünfzig Metern muss ich anhalten und warten, bis ein Fahrzeug kommt; und dann,
nahm ich mir vor, dann würde ich sofort mit
*
teil 1 der Geschichte findet sich in
der letzten Ausgabe der SÄz, Heft 40
(www.saez ‹ Archiv ‹ 2010 ‹ 40).
dem Hemd winken und fuchteln, bis das Auto
vor mir steht.
Ja, so lautete die Theorie, praktisch verlief es leider ganz anders: Ich fror erbärmlich,
neue Ideen meldeten sich, ich vertrieb sie
allerdings, weil sie mir keine bessere Lösung
des Kälteproblems brachten; ich wickelte mir
nur mein weisses Hemd wie einen Schal um
den Hals, erreichte aber nicht viel, ich fror
weiter.
Kein Auto am Horizont, kein Motorrad,
kein Fahrzeug des italienischen Strassendienstes.
Ich bin keine robuste Natur, lieber
Herr Jost, obwohl mich die meisten Freunde
und Bekannten so einschätzen; vermutlich
wegen meiner stattlichen Körpergrösse und
des dezenten Übergewichts, das leider nicht
auf eine gut ausgebildete Muskelmasse zurückzuführen ist; ein Sportler war ich nie, bin
es auch nicht, und die Wahrscheinlichkeit,
dass ich mich in Zukunft auf die Seite der
Turner, Faustkämpfer und Springer schlagen
werde, ist recht klein. Also: sportliche Ambitionen keine, Tendenzen zu Erkältungen verschiedenster Art dagegen gross. Ziehe dich
richtig an, sonst verkühlst du dich, rief
mir meine Mutter, gebürtige Österreicherin,
immer zu, oder zum Vater gewandt: Eugen –
ja, das ist mein Vorname, Herr Jost, Sie können mich ohne weiteres so nennen – Eugen
ist heute wieder ohne Schal in die Schule gegangen und ist total verkühlt nach Hause gekommen.
Damals ärgerte ich mich über solche
Sprüche, später übernahm ich allerdings
die übertriebenen Sorgen und Ängste meiner
Mutter, und Gedanken an eine mögliche,
wahrscheinliche oder ziemlich sichere Verkühlung begleiteten mich oft; als Konsequenz: Ich lief häufig zu warm angezogen
hinaus, schwitzte schnell, eigenartigerweise
in erster Linie auf dem Rücken, wagte deshalb
nicht – unterwegs zur Arbeit, zum Beispiel –,
mich im Bus am Sitz anzulehnen; und kaum
landete ich irgendwo, wo es ein wenig Durchzug gab … fertig! Tropfende Nase, Hustenreiz, entzündete Augen – verkühlt.
Im Tunnel zog es, oh ja! Nur mit einer
Jacke bekleidet, ohne Hemd darunter, ohne
Pullover … lange stehst du diese Strapaze
nicht durch, sagte ich mir, das ist dir doch
klar! Klar war mir aber auch, dass es für mich
nicht viele Alternativen gab, genau genommen, eine einzige – zurück zum Auto zu
gehen, einzusteigen und zu schauen, ob ich
dann weniger frieren würde … langweile ich
Sie, lieber Herr Jost? In Ordnung, wie Sie
meinen. Für mich ist das nämlich ein höchst
emotionales Thema, für Sie dagegen, verständlicherweise, gar nicht – eher eine langatmige Situationsbeschreibung eines lädierten Mannes, den Sie kaum kennen, von dem
Sie bloss wissen, dass er seit einigen Tagen auf
dieser Akutstation liegt.
Bitte: Ganz unrecht haben Sie natürlich
nicht, ich neige in letzter Zeit tatsächlich zu
etwas längeren und ausführlicheren Darstellungen; es ist allerdings, das hoffe ich, eher
eine diskrete Tendenz, ein wenig stärker ausgeprägt erst jetzt, nach dem Unfall. Bereits
meine Ex-Frau hatte diesen beginnenden
Wandel festgestellt, und mir sofort zum Vorwurf gemacht … aber vielleicht habe ich
das schon erwähnt. Sie sind, lieber Herr Jost,
sicher anders, das war mir vom ersten Augenblick an klar. Und es ist gut so, denn – wenn
wir beide passionierte Vielredner und Selbstdarsteller wären, wäre es nicht einfach; für uns
beide nicht, und auch nicht für das Pflegepersonal, das regelmässig vorbeikommt und
alles kontrolliert … ganz unter uns: für meinen Geschmack zu oft.
Moment! Ich muss noch etwas präzisieren:
Ich hatte immer wenig gesprochen, jahrelang, in diese Richtung hatten die systematischen Angriffe meiner Frau gezielt. Dann ging
sie weg, und ich lebte plötzlich alleine – das
Pendel schlug nun auf die andere Seite aus,
ich kippte ins Gegenteil; ein uraltes Phänomen! Und wieder später – jetzt rede ich von
der Gegenwart – kehrte alles in die gesunde
Mitte zurück, wenn ich es so ausdrücken darf,
in den soliden Normbereich. Jawohl, aus mir,
dem grossen und oft kritisierten Schweiger
ist allmählich, nach einigen Rückschlägen –
kurze Plapperphasen – ein Normalsprecher
geworden, Angehöriger einer raren Spezies,
ja, wenn Sie so wollen, einer elitären Minderheit. Und ich bin, Herr Jost, stolz darauf. …
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Horizonte
Streiflicht
bitte? Nein? Entschuldigung! Ich dachte, Sie
wollten gerade etwas sagen.
Also: Verkühlen – lieber nicht! Bei mir gibt
es nämlich häufig eine Verlagerung auf die
Bronchien, später kommt der Husten dazu,
der in meinem Fall nicht nur die üblichen
zwei, drei Wochen dauert, sondern Monate.
Die Folge: Heiserkeit, unruhige Nächte und
ebenfalls Fieberschübe, die mich schwächen
und mir die Laune verderben; ich bin dann
häufig gereizt und nörglerisch … oh ja, jetzt
könnte ich noch lange von meinen verschiedenen Schwächen erzählen, ich tue es lieber
nicht. Sie werden sich ohnehin Ihr eigenes
Bild von mir machen, möglicherweise haben
Sie es sich schon am ersten gemeinsamen Tag
in diesem Zimmer gemacht.
Entschuldigung, nur eine kleine Bemerkung zusätzlich: Auch wenn Verkühlungen
bei mir nicht immer zu Bronchitis führen,
auch dann sind sie mir äusserst unangenehm,
weil sie mir das Singen verunmöglichen. Ich
singe nämlich liebend gerne, müssen Sie wissen, weder im Chor noch als Solist in einer
Amateur-Formation, sondern für mich alleine;
bei den Gartenarbeiten, zum Beispiel, vor
dem Fernseher, wenn ich den Ton ausschalte,
oder im Bad. Ja, der Gesang bedeutet mir viel,
obwohl ich mich gar nicht als musikalisch
besonders begabten Menschen bezeichnen
darf. Ich habe, lieber Herr Jost, keine ausgebildete und dennoch eine schöne Stimme,
angeblich, jedenfalls sagen das Bekannte, die
genug professionelle Erfahrung haben, um
meine vokalen Leistungen kompetent zu beurteilen.
Ganz anders aber die Exfrau!
Meine gesanglichen Versuche – nebenbei:
übertrieben häufig fanden sie nicht statt –
waren für sie unerträglich, eine «pure Nervenstrapaze», ja, eine «grosse Qual». Eine weitere
kleine Anmerkung: Sie selber war – und ist es
immer noch – nur bedingt musikalisch begabt, kein Klavier, kein Gesang, bloss auf der
Blockflöte bläst sie ab und zu herum. Meinen
Gesang nannte sie trotzdem – passen Sie bitte
auf! – «dilettieren», zum Beispiel: Gestern hast
du zu viel dilettiert, fast eine Stunde lang; das
Wetter war doch schön, du hättest in den
Wald gehen können … nein, du bleibst zu
Hause, die Fenster zu, für die Nachbarn vielleicht eine Wohltat, für mich allerdings eine
ziemliche Qual.
Ich sagte in solchen Situationen nicht viel
und war dennoch überzeugt, dass die Einzige,
die hier wirklich beunruhigend dilettierte –
und zwar auf einem recht tiefen DilettantenNiveau – die Exfrau war. Ach, Schwamm dar-
über. Meine damaligen Probleme sollen heute
nicht unser Thema sein!
Die Sorge um die Vermeidung einer Verkühlung und die Erhaltung der guten Stimme
ist eine Sache; die Sorge um die Rettung
des eigenen Lebens eine ganz andere. Und die
spielte plötzlich die wichtigste Rolle, vor allem als mir bewusst wurde, in welcher schlimmen Lage ich mich jetzt befand. Denn: Es
kam mir wieder in den Sinn, dass das Pannendreieck zuletzt vor dem Auto aufgestellt worden war; hinter dem Wagen jedoch war keine
Vorwarnung installiert. Ich hatte natürlich
mein weisses Hemd nicht auf dem schmutzigen Boden liegen lassen wollen, sondern
hatte es mitgenommen, mich in den Wagen
zurückgezogen und die riesige Gefahr, die mir
dabei drohte, einfach verdrängt.
Nein, so nicht!
Ein PKW unter Umständen schon, aber
ein Laster könnte, ohne entsprechende Vorwarnung, kaum vor meinem Wagen stoppen.
Deshalb zog ich schnell mein Hemd und die
Jacke wieder an, aus dem Handschuhfach riss
ich die alte Europakarte heraus und sprang
aus dem Auto; ich horchte – kein entferntes
Brummen eines sich nähernden Fahrzeugs –,
lief in Richtung Süden. Nach weiteren fünfzig
Metern blieb ich stehen. Ich hielt nun die Europakarte zum Wedeln und Fuchteln bereit
und schaute hie und da zurück zu meinem
Wagen; die Lichter brannten normal, also
keine Anzeichen einer beginnenden Batterieschwäche.
Nicht die Kälte, nein, die Stille war für
mich jetzt das Hauptproblem. Ich wunderte
mich, denn im Alltag vertrage ich die Stille
ganz gut, ich gehöre keineswegs zu jenen
Menschen, die sich nur im Lärm – Heavy
Metall, zum Beispiel – wohlfühlen. Bei mir zu
Hause schweigt die Unterhaltungselektronik
die meiste Zeit, Ausnahme: die Zwanzig-UhrARD-Nachrichten und niveauvollen MusikSendungen. Und Sie, lieber Herr Jost? – darf
ich Sie überhaupt fragen? Sind Sie musikalisch? Gehen Sie oft ins Theater oder zu einem
Konzert? Und die Stille? Ist sie für Sie ein Problem? Ich glaube, da sind Sie tolerant und
belastbar, denn den Menschen, die gepflegt
und konzentriert schweigen können, bereitet
die Stille keine grossen Sorgen.
Und das ist bei mir ein wenig anders. Ich
rede neuerdings mehr als früher, nicht jedoch
in erster Linie aus Angst vor der Stille, sondern, wie soll ich das bloss beschreiben, damit
Sie mich nicht missverstehen, sondern … weil
ich nicht gut zuhören kann oder genauer:
nicht immer zuhören will. Tja!
Lieber Herr Jost, ist Ihnen auch aufgefallen, wie viel Unsinn, ja, schrecklichen Stuss
viele Menschen heutzutage erzählen? Nicht
alle, nein, aber die meisten. Und es wird
immer schlimmer, nicht nur von Jahr zu
Jahr, sondern von Monat zu Monat. Kein
Wunder eigentlich, denn sie haben das Sprechen teilweise verlernt, sie bilden keine längeren Sätze mehr, von schönen Sätzen gar
nicht zu reden. Und sie lesen kaum etwas
Vernünftiges! Fachbücher, Manuale, ja, ja, das
schon, oder den Tratsch in den Tageszeitungen oder auf Facebook; für längere Artikel
oder gar Bücher reichen oft weder Geduld
und Lust noch Zeit. Ob sich das wieder einmal ändern wird? Theoretisch ja, praktisch
weniger, glaube ich. Was müsste passieren?
Ich weiss es nicht! Die Menschen kommen
mit der rudimentären «PC-Sprache» doch gut
über die Runden und mit den stichwortartigen Internet-Informationen ohnehin.
Moment! Wissen Sie, Herr Jost, wer sich
bereits vor Jahren über den Verfall der Sprache beklagt hat? Thomas Bernhard … ach,
Sie kennen diesen Dichter nicht? Entschuldigung, das überrascht mich aber. Also: Ein
Österreicher, lebt nicht mehr, ein sehr eigenwilliger Autor, ein wenig aussenseiterisch und
nicht von allen übertrieben geliebt; seine Aussagen sind allerdings beeindruckend, er hat
häufig den Nagel auf den Kopf getroffen.
Auch über die Sprache hat er sich ab und zu
Gedanken gemacht; es wird immer mehr
eine «völlig verwahrloste Deutsche Sprache
gesprochen», schrieb er … wo stand das? Im
«Kalkwerk» … oder im «Untergeher»? Egal.
Die Menschen werden, behauptete er weiter,
«diese völlig verwahrloste Deutsche Sprache
lebenslänglich sprechen, weil sie kein Gefühl
mehr für ihre Sprache haben.»
Nein, lieber Herr Jost, ich werde nicht
gleich so radikal, Thomas Bernhard neigte
halt zu Übertreibungen … und trotzdem,
diesen Autor sollten Sie bitte einmal lesen.
Meine Meinung zu dem ganzen Problem ist –
um jetzt endlich weiterzukommen – nun die:
Man zählt empört die Arten der Tiere auf, die
jedes Jahr von der Erdoberfläche verschwinden; vielleicht sollte man die gleiche Aufmerksamkeit der täglichen Verarmung unserer Sprache schenken.
Sie nicken … oh ja, dass freut mich! Sie
sind, stelle ich mir vor, viel mehr als ein
simpler TV-Gucker und Bild-Zeitung-Konsument, Sie lesen sicher Bücher, doch, doch,
das hoffe ich. Und vielleicht ärgern Sie sich
wie ich darüber, dass nicht nur Briefeschreiber die Grundsätze der deutschen Gramma-
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Streiflicht
tik nicht mehr beherrschen, sondern auch
viele Leute in den Zeitungsredaktionen … das
sieht man täglich, einfachste Komma-Regeln
scheinen unbekannt zu sein, und wann man
«sie» gross oder klein schreiben müsste, ebenfalls fremd.
Ich sage Ihnen, Herr Jost, ich rege mich
ziemlich auf, wenn ich so etwas lese … Sie
ebenfalls? Sehen Sie! Und wie gehen Sie damit um? Wegschauen, schmunzeln und denken, es gibt viel wichtigere Dinge auf dieser
Welt? Ja, so wäre es richtig. Das schaffe ich
aber nicht! Deshalb kaufe ich seit einiger Zeit
keine Zeitungen mehr.
Genug. Wie kam ich überhaupt auf dieses
Thema? Na ja, der verlorene Faden. Das passiert mir leider oft: Ich lasse mich leicht ablenken, vor allem, wenn ich mich aufrege; es
hängt, glaube ich, damit zusammen, dass ich
seit fast drei Jahren allein lebe und mich in
der Dialogkunst wenig üben kann. Niemand
korrigiert mich, niemand hält mir den Spiegel
vor die Nase; nach fast zehn Jahren Ehe ist
meine momentane Situation gar nicht problemlos. Wenn ich das Haus verlasse, ist mein
Mitteilungsdrang nur mit dem Einsatz der
Konzentrationskraft zu beherrschen, denn …
das Bedürfnis nach Gespräch, Austausch, sogar nach einem gepflegten Streit, ist nach
vielen Stunden absoluter Stille recht gross.
Die meisten Freunde kennen diesen Zustand gar nicht und sie bemühen sich kaum,
sich in die Haut des anderen zu versetzen.
Nein, ich will mich nicht beklagen, jammern
schon gar nicht … na ja, ab und zu tue ich
das, leider, leider, dann verabschieden sich
meine Gesprächspartner recht schnell. Zuweilen merke ich erst nach einiger Zeit, was ich
da wieder angestellt habe, zurückholen kann
ich natürlich niemanden, ich versuche es gar
nicht; ich sage mir: Eugen, alter Junge, du
hast dich wieder einmal nicht im Griff gehabt; du darfst dich also nicht wundern, dass
du Solist bist und vermutlich auch bleibst.
Die Menschen wollen in den meisten Fällen
doch gar nicht hören, was du zu erzählen
hast, sie interessieren sich letzen Endes nur
für sich selber … aber das habe ich vielleicht
schon vorher erwähnt, Entschuldigung!
Ach, China! Sicher, da haben Sie recht,
Herr Jost!
Dort war es ganz anders, Jahrhunderte
lang, Chinesen waren Kollektivwesen und
Gruppenmenschen, jetzt allerdings nicht
mehr; die Politik der Ein-Kind-Familie wird
ihre üblen Folgen bald zeigen, davon bin ich
fest überzeugt. Was die Chinesen betrifft, sind
wir bei weitem nicht in der Zielgeraden; in
zehn, zwanzig Jahren, oh ja, da werden wir
noch etwas erleben! Zur Zeit beinahe eine Milliarde von verwöhnten Einzelkind-Bengeln
im ganzen Land, später stehen da nur rücksichtslose Ego-Riesen, wenn auch vom typischen Kleinwuchs; ich meine, lauter narzisstische Psychopathen, die neben dem dicken
Ego nichts kennen und deshalb so tapfer
kämpfen – bloss für ihre eigenen Vorteile. Als
vor einigen Monaten ein westlicher Journalist einen Jungen aus Peking fragte, was er
wohl einmal werden wolle, hörte er: Beamter, ein korrupter … die verdienen mit grossem Abstand am meisten.
Bei uns ist es ein wenig anders, eben, nur
ein wenig, denke ich. Die Menschen hier
haben zu viele eigene Probleme, um andere
Leute kümmern will sich heutzutage kaum
jemand, höchstens berufshalber als Psychologe oder Psychiater, habe ich nicht recht,
lieber Herr Jost? Früher waren in diesem Segment Pfarrer zuständig … gut, sie sind es
immer noch, in erster Linie auf dem Land.
Auf dem Land ist allgemein manches sogar
menschlicher und erträglicher als in den
Grossstädten, denke ich. Das Basisgefühl ist
dort halt ein wenig besser.
Das «Basisgefühl», klingt ein bisschen geschraubt, finden Sie nicht? Kennen Sie aber
ein anderes Wort, ein passenderes? … Schwierig, nicht wahr? Sie schweigen, Herr Jost, ich
verstehe, Ihre skeptische Miene ist natürlich
berechtigt, langsam muss ich mit dem Reden
aufhören, sonst laufen Sie mir davon … gut,
das können Sie momentan genauso wenig
wie ich, leider, leider, fast zwei Wochen absolute Bettruhe hat man Ihnen aufgebrummt,
Ihre eigene Aussage … Sie schweigen weiter,
tja, das tun Sie eigentlich die ganze Zeit und
wünschen mich, das muss ich fast annehmen,
zur Hölle.
Genau genommen: Dort war ich neulich – beinahe – im Tunnel, etwa tausend
Meter unter der Erdoberfläche, ohne zu ahnen
natürlich, dass ich bereits vor dem Höllentor
stand. Weder nach vorne gab es einen Ausweg, noch nach hinten, von keiner der beiden
Seiten war mit einer Rettung zu rechnen …
Wie? Einen Augenblick Geduld, lieber Herr
Jost! … Bitte? Eine Pause? Soll ich eine kurze
Pause machen? Jetzt? … Ach nein, es lohnt
sich nicht mehr! Ich bin schon fast am Ende.
Also … wo waren wir? Von der Stille
sprach ich, glaube ich.
Ich empfand sie als bedrückend, nur
die Wassertropfen und mein Atem waren zu
hören; Gott sei Dank kein Autogeräusch. Die
Stille und die mögliche Hölle, die Feuerhölle,
waren nach wie vor meine Hauptsorge. Um
nicht zu frieren, ging – nein, rannte ich fast
und war überrascht vom Widerhall meiner
Schritte – rannte ich zurück zum Auto, holte
aus dem Kofferraum die Reserve-Wanderschuhe und lief sofort zurück zu meinem
südlichen Frühwarnposten. Dort legte ich
einen Schuh auf den Boden, die Landkarte
mit der unbedruckten Seite darauf und belastete die Europakarte mit dem zweiten Wanderschuh. Warum? Damit das Ding durch
den Tunnelwind nicht weggeblasen würde!
Mit dieser Massnahme war ich zufrieden,
ein kleines Erfolgserlebnis für mich, wobei …
ich weiss, man überbewertet Erfolge masslos;
womit man sich viel ausgiebiger auseinandersetzen sollte, das sind doch unsere Misserfolge
und unsere Schlappen. Ja, ja, ich beruhigte
mich allmählich und hatte das Gefühl, alles
in meiner Macht Stehende getan zu haben.
Nach zwei, drei Minuten ging ich wieder
zum Auto und setzte mich diesmal auf
den Beifahrersitz. Vielleicht habe ich Glück,
dachte ich, ja, vielleicht. Falls ich aber heute
noch Glück haben sollte, was habe ich dann
eigentlich? Die Chance, zum Beispiel, meine
Tunnel-Motorpanne zu überleben, unbeschädigt und unzerzaust aus der dunklen Röhre
wieder herauszukommen? Also leben zu dürfen … ist das schon Glück? Möglicherweise.
Und Sie, lieber Herr Jost? Halten Sie sich
für einen glücklichen Mann? Ach, Entschuldigung, das ist eine dumme Frage, die sollte
man einem Menschen auf der Intensivstation,
dem eine Infusionsnadel im Unterarm steckt
und dem die Atmung grosse Mühe bereitet,
nie stellen; hoffentlich unterhalten wir uns
einmal darüber, wenn dieses Spitalintermezzo
hinter uns liegt. Und jetzt bitte zum Tunnel.
Ich erwachte, fror interessanterweise
nicht mehr … hatte allerdings wieder grosse
Angst. War schon alles geregelt? fragte ich
mich. Hatte ich alles Notwendige getan? …
Ich fühlte mich schlecht, der nächste Panikzustand lauerte, ja, das spürte ich. Düstere
Gedanken kamen und neue Probleme tauchten auf.
Nehmen wir an, der Worst Case tritt ein:
Ein Auto nähert sich, nicht ein normaler
PKW, sondern ein kleiner Laster; der Bremsweg lang, ein Zusammenstoss ist nicht zu verhindern. Ich sehe das Unglück kommen, will
mich retten, springe raus, renne weg … aber
in welche Richtung? Falls eine Kollision nicht
zu vermeiden wäre, fliesst doch Benzin aus …
klar, es wird früher oder später entzündet, ein
Feuer bricht plötzlich aus, in Livigno habe ich
getankt, «bitte ganz füllen» hatte ich gesagt.
Ich stieg aus.
Das Erste: sofort feststellen, in welche
Richtung der Tunnelwind blies. Es war nicht
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Horizonte
Streiflicht / Buchbesprechung
schwierig – nach Süden, zum italienischen
Ausgangsort hin. Dorthin durfte ich also
nicht rennen, das Feuer wäre sicher schneller
als ich. Die Folge: Flammenhölle und Flammentod. Ich lief deshalb in Richtung Norden,
zum Schweizer Ausgang des Tunnels, gegen
den Wind; ich rannte um mein Leben, nicht
zum ersten Mal übrigens … darüber später,
lieber Herr Jost, aber nur, wenn Sie sich das
wünschen. Also: Ich lief an meinem Pannendreieck vorbei, blieb plötzlich stehen, kehrte
zurück und holte das Warnsignal. Ich drückte
es an mich wie ein Baby, rannte weiter und
hoffte, mit diesem Dreieck vor meiner Brust
von einem Autolenker rascher wahrgenommen zu werden.
Das Brummen des Lasters hörte sich am
Anfang nicht bedrohlich an, komisch, eher beruhigend, wie ein von einer Bassstimme vorgetragenes, langsames Schlaflied. Mir war jedoch
nicht nach Schlafen, nach Laufen allerdings
auch nicht. Der Gestank, die Auspuffgase ro-
chen widerlich, der Tunnelwind blies sie wahrscheinlich schneller heran, als der Laster fahren konnte. Oder roch ich nichts, nichts Verdächtiges … war all das nur meine Einbildung,
ein Nebenprodukt meines überreizten Gehirns
und meiner verängstigten Seele?
Ja, ja, es stimmte, meine Wahrnehmung war richtig, denn … bald sah ich die
Lichter des Lastwagens: zwei gelbliche Punkte,
schwach und zittrig am Anfang. Gibt es überhaupt, fragte ich mich in dem Augenblick, an
der Wand noch genug Platz für mich, für eine
arme Menschengestalt? Oder sollte ich lieber
zurückrennen, mich hinter meinem Fahrzeug
verstecken, Schutz suchen? Oder …
Nun, da gab es kein «oder»! Jetzt existierten nur diese zwei Richtungen, nur diese
zwei totalen Gegensätze. So ist es aber oft in
unserem Leben.
Und? Für welche habe ich mich entschieden? Sie werden sich wundern, lieber Herr
Jost: Ich weiss es nicht mehr.
Woran ich mich bloss schwach erinnern
kann, ist der Wind, der Gestank und die Hitze,
ja, der Schwefelatem der Hölle, die ich mir
allerdings völlig anders vorgestellt hatte.
gique de la vie.» Les patients demandent
«d’aller avec la nature et non pas contre, …
désire(nt) soutenir une vision de collaboration avec l’organisme pour l’aider à faire son
travail plutôt que de lutter contre les symptômes pour les faire taire.» A maintes reprises
Loutan focalise son attention sur la valeur
des symptômes du patient (fièvre, douleur,
verrue, écoulement, etc.): s’agit-il d’une «aberration à combattre ou d’un effort de l’organisme pour rétablir son équilibre pour retrouver la santé? … Avorter les symptômes
ou accoucher de la santé?»
Le paradigme mécaniste dans l’approche
de la maladie avec son analyse linéaire de la
souffrance du patient (avec tous les progrès
qu’il apporte!) est-il aujourd’hui suffisant
pour traiter le patient qui «peut et doit être
considéré comme un système complexe»
(Prof. H. Stalder). Loutan parle du paradigme
de l’information qui doit venir compléter
l’aspect mécaniste, et cite, toujours selon le
Prof. H. Stalder, le désir des patients qui cherchent auprès de leur médecin «la communication (88–99 %), le partenariat (77–87 %), la
promotion de la santé (85–89 %) … et la prescription (25 %)».
L’approche phénoménologique, au demeurant tout aussi scientifique que la vision
mécaniste, est de plus en plus souvent recherchée par les patients qui se vivent
comme des êtres à part entière, «comme un
composé corps esprit indissociable, comme
un tout fonctionnel, incompréhensible par
une analyse limitée au matérialisme médical
moderne (pourtant remarquablement efficace, comme dit plus haut).»
Tout comme le développement planétaire et l’écologie, la médecine de demain
sera durable ou ne sera pas. Et l’approche phénoménologique de l’homéopathie uniciste
(et d’ailleurs d’autres médecines complémentaires) y apporte assurément sa contribution,
d’autant plus lorsqu’elle est pratiquée par des
médecins également rompus à l’approche
mécaniste de la maladie et de la santé.
Un livre que je recommande à lire à toute
personne cherchant à établir des traits
d’union «entre les branches de la médecine
que sont les médecines académiques d’approches explicatives et les branches complémentaires dont l’homéopathie à l’approche
phénoménologique». Le style humaniste et
l’humour discret de l’auteur en rendent la
lecture d’autant plus agréable.
Dr Bruno Ferroni, Pully
Herein. Ja, herein!
Guten Tag, Herr Peterhans! Wie ich sehe,
geht es uns jetzt ein bisschen besser … das freut
mich. Nun, ich habe eine gute Nachricht für Sie:
Ab morgen sind Sie nicht mehr alleine in Ihrem
Zimmer. Sie bekommen, wie Sie es sich immer
gewünscht haben, einen Zimmernachbarn … ist
das nicht eine schöne Nachricht?
Korrespondenz:
Dr. med. Adolf Jens Koemeda
«Breitenstein»
CH-8272 Ermatingen
L’homéopathie
Guy Loutan
L’homéopathie uniciste –
instantané sur une Médecine durable
Thônex: Editions Loutan; 2010.
156 pages avec dessins. 49 CHF.
CCP 17-709047-1
Dans son livre récent, le Dr Guy Loutan de
Genève présente au lecteur l’homéopathie
uniciste et son apport à la thérapeutique médicale de nos jours.
Dans le cadre de la redéfinition générale
des valeurs en ce début de millénaire, la médecine moderne à son tour n’échappe pas à
son examen de conscience. Sur fond de crise
financière, écologique et philosophique, elle
est amenée à s’interroger sur son fonctionnement: toujours plus complexe, toujours plus spécialisée et admirablement plus
performante dans le traitement de la maladie,
elle oublie cependant de s’intéresser à la
santé. Les «-ites» si fréquentes chez le jeune
sont relayées par des «-oses», puis les «-omes»
que la médecine moderne est amenée à combattre avec des traitements «anti» toujours
plus onéreux aux résultats souvent mitigés.
En même temps, «le public se tourne peu
à peu vers une vision plus systémique, écolo-
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ZU GUTER LETZT
Vom «Neufi» zur Medizin – mein Weg zur Praktikantin bei der Schweizerischen Ärztezeitung
Céline Fäh
1 «Yu-Gi-Oh» (König der
Spiele) ist eine erstmals 1996
veröffentlichte Manga-Serie
des japanischen Zeichners
Kazuki Takahashi, die auch
als Anime umgesetzt wurde.
2 «Nounours» bedeutet in der
französischen Kindersprache
«Teddybär», wird jedoch
abgeleitet von «Nos Ours»
was «Unsere Bären» bedeutet,
wie die Neufundländer auch
genannt werden.
* Céline Fäh ist seit Anfang
August 2010 Praktikantin bei
der Schweizerischen
Ärztezeitung im Rahmen
ihrer Ausbildung zur
professionellen Journalistin.
Glauben Sie mir, dass meine journalistische Laufbahn
auf einer Comicfigur aufbaut? Eigentlich hat alles vor
vielen Jahren angefangen – und das ganz ohne
Karriereplanung. Meinen ersten Artikel veröffentlichte
ich mit 12 Jahren in der Zeitschrift «Yu-Gi-Oh» [1]. Damals zeichnete ich eine Comicfigur für meinen älteren
Bruder und schrieb meinen ersten kurzen Text dazu,
der tatsächlich abgedruckt wurde. Natürlich hat sich
seither in meinem Leben einiges verändert, wobei der
Zufall seine Finger ein wenig mit im Spiel hatte. Als
stolze Besitzerin eines Neufundländers («Neufi») bin
ich Mitglied in einem entsprechenden Hundeclub. Als
die Redakteurin der bereits mehr oder weniger verwaisten Vereinszeitschrift ihren Posten aus persönlichen
Gründen aufgeben musste, wurde – mehr aus Spass –
vorgeschlagen, man könnte dieses Amt ja der Jüngsten
im Club aufbürden. Aus Spass wurde Ernst, und ich
war im zarten Alter von 16 Jahren «Chefredakteurin»
der noch namenlosen Vereinszeitschrift. Tatsächlich
erschien die erste Ausgabe im Januar 2009 und danach
dreimonatlich in deutscher und französischer Ausführung unter dem Namen «Nounours» [2]. Die Redaktion zu führen und mich vom Artikelschreiben bis
zum Austragen der Zeitschriften um wirklich alles zu
kümmern, war eine richtige Herausforderung für
mich. Die Redaktionsarbeit war aber auch eine ideale
Ergänzung meiner Ausbildung, da ich in der Fachmittelschule den Schwerpunkt «Kommunikation/Journalismus» gewählt und mittlerweile abgeschlossen habe.
Nachdem ich die Geschicke von «Nounours» seit
rund 11⁄2 Jahren fast im Alleingang leite, habe ich seit
kurzem ein neues Projekt. Im Rahmen meiner Maturitätsarbeit baue ich eine eigene Redaktion auf und
mache parallel dazu ein Praktikum beim Schweizerischen Ärzteverlag EMH. Der Einblick in den Verlagsalltag, insbesondere in die Redaktion der Schweizerischen Ärztezeitung, wird mir für die Verwirklichung
meines Projektes und für meine weitere berufliche
Laufbahn bestimmt nützlich sein.
Doch wie um Himmels Willen komme ich von
den Hunden zur Ärzteschaft? Nun, ganz fremd ist mir
diese Welt nicht. Mit zwei Ärzten als Eltern bekommt
man in achtzehn Jahren doch so einiges aus dem
Gesundheitswesen und dem «Ärztemilieu» mit. Nun
fragen Sie sich möglicherweise, wieso ich nicht auch
Ärztin werden und in die Fussstapfen meiner Eltern
treten möchte. Eine Frage, die sich für mich offen
gestanden nie gestellt hat: Ich finde die Medizin zwar
ein sehr spannendes und auch wichtiges Gebiet,
ziehe jedoch den Blickwinkel der beobachtenden und
beschreibenden Journalistin dem der praktizierenden
Akteurin vor.
Und so versuche ich nun, im Journalismus Fuss
zu fassen. Etwas vom Faszinierendsten ist für mich
dabei, dass ich enorm viel Abwechslung habe und immer wieder Einblicke in neue Bereiche erhalte. Die
zum Teil unregelmässigen Arbeitszeiten stören mich
nicht im geringsten. Im Gegenteil – ich mag es, wenn
jeder Tag anders verläuft.
Vielleicht hängt es mit meiner familiären Prägung
zusammen, dass ich den Kontakt zur Medizin dennoch nicht verlieren möchte, sondern auch auf diesem Gebiet etwas bewirken möchte. Meiner Ansicht
nach bietet hierfür der Journalismus gute Möglichkeiten, da es heute wichtiger ist denn je, die komplexen
Zusammenhänge in Medizin und Gesundheitswesen
einer breiten Öffentlichkeit auf verständliche Art zu
vermitteln. Zunächst möchte ich dies vor allem als
schreibende Journalistin tun.
Aus Spass wurde Ernst, und ich
war im zarten Alter von 16 Jahren
«Chefredakteurin»
Erste Schritte auf diesem Weg habe ich mit der
Publikation kleinerer Beiträge zu medizinischen und
gesundheitspolitischen Themen bereits unternommen. Mit der Arbeit beim Schweizerischen Ärzteverlag, so hoffe ich, werde ich mein Fundament in dieser
Hinsicht nun erweitern können. Meine bisherigen
publizistischen Aktivitäten hatten auch den angenehmen Nebeneffekt, dass ich schon im Alter von
17 Jahren den Schweizerischen Fachjournalistenausweis erwerben konnte.
Obwohl ich also in gewisser Hinsicht bereits als
«Profi» gelten kann, ist mir bewusst, dass ich in Sachen
Medien und Journalismus noch viel zu lernen habe.
Und so ist es mein Ziel, in einem nächsten Schritt in
einer anerkannten Institution eine fundierte Ausbildung zur professionellen Journalistin zu absolvieren.
Wie Sie sehen, ist aus dem ungeplanten «Experiment Journalismus» nun doch eine Art bewusster
Karriereplanung geworden. Ein Grossteil meines bisherigen Lebens hatte mit Journalismus, den Medien
und der Medizin zu tun. Wohin die Reise führt, wird
sich weisen – ganz nach dem Motto: «Das Leben
mischt die Karten, aber du spielst das Spiel.»
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
Editores Medicorum Helveticorum
Céline Fäh*
1632
ANNA
www.annahartmann.net
Die letzte Seite der SÄZ wird von Anna frei gestaltet, unabhängig von der Redaktion.
Schweizerische Ärztezeitung | Bulletin des médecins suisses | Bollettino dei medici svizzeri | 2010;91: 41
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