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ARGUMENTE 1/2014 Europawahl 2014
Bei Unzustellbarkeit wegen Adressänderung erfolgt die Rücksendung an
den Herausgeber unter Angabe der gültigen Empfängeranschrift
Postvertriebsstück G 61797
Gebühr bezahlt
Juso-Bundesverband
Willy-Brandt-Haus, 10963 Berlin
April 2014
ISSN 14399785
Gefördert aus Mitteln des Bundesjugendplanes
ARGUMENTE
1/2014
Europawahl 2014
ARGUMENTE
1/2014
Europa
Impressum
Herausgeber Bundesverband der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD
beim SPD-Parteivorstand
Verantwortlich Johanna Uekermann und Julia Maas
Redaktion Jan Krüger, Katharina Oerder, Stefan Brauneis, Johannes Gerken und
Ariane Werner
Redaktionsanschrift SPD-Parteivorstand, Juso-Bundesbüro, Willy-Brandt-Haus,
10963 Berlin
Tel.: 030 25991-366, Fax: 030 25991-415, www.jusos.de
Verlag Eigenverlag
Druck braunschweig-druck GmbH
Die Artikel geben nicht in jedem Fall die Meinung der Redaktion oder
des Herausgebers wieder.
INHALT
Intro: Europa ............................................................................................................ 4
von Katharina Oerder, Stefan Brauneis und Jan Krüger, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende
Magazin
Blutige Spiele – Tatort Baustelle ............................................................................. 8
von Christian Beck, Bundesjugendsekretär der Industriegewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt (IG BAU)
Alt, Männlich, Weiß – die SPD muss bunter werden ........................................... 13
von Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, Nancy Böhning,
Leiterin des Büros der stellvertretenden Partei-Vorsitzenden Manuela Schwesig
und Johanna Uekermann, Juso-Bundesvorsitzende
Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen
von abhängig Beschäftigten ................................................................................. 18
von Melanie Blatter, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Saar und
Falk Wagner, Landesvorsitzender der Jusos Bremen
Das Willy-Brandt-Center Jerusalem 2014 – Immer noch einzigartig
im Brennpunkt des Nahostkonflikts ..................................................................... 25
von Christopher Paesen, Projektleiter der Jusos im Willy-Brandt-Center in Jerusalem
Der Schock sitzt tief – Erlebnisbericht zur Abstimmung über SVP-Volksinitiative
„Gegen Masseneinwanderung“ ........................................................................... 29
von Salome Adam, Juso-Mitglied, studiert Biochemie in Basel
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Inhalt Argumente 1/2014
Schwerpunkt
Warum wir jetzt kämpfen müssen
Internetkonzerne und Geheimdienste wollen den determinierten Menschen.
Wenn wir weiter frei sein wollen, müssen wir uns wehren und unsere Politik
ändern. ................................................................................................................... 32
von Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments und Spitzenkandidat der europäischen SozialdemokratInnen für die Europaparlamentswahl
Gemeinsam für ein anderes, besseres Europa ..................................................... 37
von Matthias Machnig, Leiter des Europawahlkampfs der SPD
Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa .................... 40
von Ole Erdmann, Wirtschaftsförderung metropoleruhr und Redaktionsmitglied der
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw.
„Right2water“ – eine Erfrischung für die europäische Daseinsvorsorge! ........... 48
von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Kandidatin der SPD für die Europawahl
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung ........................ 52
von Lothar Binding, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion
Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? .......................................................... 60
von Constanze Krehl, stellvertretende Vorsitzende der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament
#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? ............................................................. 66
von Julian Zado und Erkan Ertan, ehem. Mitglieder im Bundesvorstand der Jusos und
der Juso-Hochschulgruppen
Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit ........................................ 72
von Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie am ManagementDepartment der Freien Universität Berlin und Nikolaus Kowall, wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf
3
INTRO: EUROPA
von Katharina Oerder, Stefan Brauneis und Jan Krüger, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende
Einleitung zum Schwerpunkt
Europa besteht nur aus dem Streit
über Gurkenkrümmung und Olivenfässchen? Und überhaupt: Warum sollen wir für Griechenland, Portugal und
Spanien bezahlen? Bis zum 25. Mai
2014 werden wir diese Statements
wieder öfter hören. Dabei besteht die
Chance bei dieser Europawahl mit
den großen Themen zu punkten.
Europa befindet sich seit Jahren in der
Krise. Mit dem Zusammenbruch der USamerikanischen Bank Lehman-Brothers
zog sich ein beispielloser Dominoeffekt
auch durch die europäischen Banken. Viele wurden mit Milliardenbeträgen von den
europäischen Staaten gerettet, was die
Schuldenstände ansteigen ließ. Die Kreditvergabe an die Realwirtschaft brach zusammen und ist bis heute nicht mehr auf
dem Vor-Krisen-Niveau. Geringeres Wirtschaftswachstum und steigende Arbeitslosigkeit folgten. All dies zusammen ließ
auch Zweifel an der Kreditfähigkeit südeuropäischer Länder aufkommen, die wiederum durch Kredite gerettet werden mussten. Auch wenn es derzeit um die
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Intro: Europa Argumente 1/2014
Eurokrise relativ ruhig geworden ist, heißt
dies noch lange nicht, dass sie ausgestanden ist.
Das ist Europa im Jahr 2014. In dieser
schwierigen Lage finden die Wahlen zum
Europäischen Parlament für die kommenden fünf Jahre statt. Wir sehen auf der einen Seite Menschen, die von Europa enttäuscht sind, weil die derzeitige
wirtschaftliche Lage ihnen keine Perspektive bietet; sie haben das Gefühl, dass
Europa sie in die Armut reißt und ihnen
nimmt, was über Jahre aufgebaut und angespart wurde. Nach wie vor hat kaum eine
politische Initiative der letzten Jahre die
Situation vieler Menschen nachhaltig verbessern können. Gleichzeitig wird heute
deutlicher als jemals zuvor, dass nur die europäische Ebene und die europäische Zusammenarbeit eine Lösung der Krise hervorbringen kann.
„Sie [die SPD] tritt ein für die aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend gewordene Schaffung der europäischen Wirtschaftseinheit, für die Bildung der
Vereinigten Staaten von Europa, um damit
zur Interessensolidarität der Völker aller
Kontinente zu gelangen.“ Diesen Satz
schrieb sich die SPD 1925 in das bis 1959
geltende Heidelberger Programm. Europa
war in den Augen der SPD ein Projekt zur
Überwindung der nationalen Feindschaften in Europa, ein Projekt des Friedens,
aber auch des Zusammenschlusses der ArbeiterInnen im Kampf für die gerechte
Teilhabe an der Gesellschaft. Gerade diese
Gerechtigkeit ist in den letzten Jahren für
alle offensichtlich unter die Räder gekommen. Die Arbeitslosigkeit in Südeuropa ist
ein Alptraum – insbesondere für die junge
Generation dort. In einer Zeit, in der ein
Großteil dieser Generation unter einer völligen Perspektivlosigkeit leidet, schwindet
die Akzeptanz des Projektes Europa. Wir
müssen das soziale und solidarische
Europa einfordern, das die Beschlüsse
schon lange hergeben, das aber nie kam.
Erstmals gibt es bei dieser Wahl Spitzenkandidaten der europäischen Parteienfamilien. Für die SPD und die anderen sozialdemokratischen und sozialistischen
Parteien in Europa geht Martin Schulz,
der amtierende Präsident des Europäischen Parlaments, ins Rennen. Mit ihm
hat die PES einen langjährigen Europaparlamentarier ausgewählt, der sich in der
Vergangenheit überzeugend für ein Mehr
an europäischer Integration stark gemacht
und die dramatische Lage immer wieder
heftig kritisiert hat. Mit ihm können wir
für ein sozialeres, gerechteres und demokratischeres Europa streiten.
Darüber hinaus gibt es zum ersten Mal
in der Geschichte der Europäischen Union
die Situation, dass nach der Europawahl
der Präsident der Europäischen Kommissi-
on nicht allein von den Staats- und Regierungschefs ernannt wird. Das Europäische
Parlament hat durch die Veränderung der
Europäischen Verträge ein Zustimmungsrecht bekommen, auch wenn der Europäische Rat weiterhin einen Vorschlag unterbreitet. Die Menschen in Europa haben
damit die Gelegenheit, über den Kommissionspräsident mitzuentscheiden. Es muss
unser Ziel sein, die S&D-Fraktion zur
stärksten im Europäischen Parlament zu
machen.
Die Europawahlkämpfe der Vergangenheit standen immer auch im Fokus nationaler Themen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein großer Teil der
Wahlberechtigten sich mit nationalen
Themen eher identifiziert als mit europäischen. Auch die Organisationen der Parteien sind zum großen Teil auf nationale
politische Prozesse ausgerichtet. Zwar beeinflusst die europäische Ebene mehr und
mehr die Inhalte in Wahl- und Grundsatzprogrammen sowie der Ressourcenverteilung, aber letztlich bleibt eine große Diskrepanz zwischen den Ebenen.1
Ob die Krise im Euroraum diese
Wahrnehmung und diese Ausrichtung zumindest ein Stück weit zurückgedrängt
hat, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Sicher ist nur, dass diesmal entscheidende Themen im Wahlkampf mehr Aufmerksamkeit erhalten werden. Der
gesamte Bereich Wirtschaft und Finanzen
wird eine zentrale Rolle spielen.
1
Benjamin von dem Berge und Thomas Poguntke
(2013): „Die Europäisierung nationaler Parteien
und europäische Parteien“. In Oskar Niedermayer
(Hrsg.): Handbuch Parteienforschung, Springer
VS
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Die Kehrseite dieser Entwicklung ist
der Zulauf, den rechtspopulistische Parteien wie die AfD erfahren. Die Krise in
Europa hat viele Menschen verunsichert.
Mit genau diesen Ängsten punktet die
AfD, wie auch die CSU in Bayern. Durch
den Wegfall der 3 %-Hürde wird es leider
immer wahrscheinlicher, dass Nazis und
Rechtspopulisten in das Europäische Parlament einziehen. Doch nicht nur in
Deutschland bekommen deren Positionen
Zuspruch, auch in anderen Ländern sieht
es nicht besser aus. Als jüngstes Beispiel
kann das Ergebnis der Kommunalwahlen
in Frankreich gelten. Eine dezidiert ProEuropäische-Vision von Gerechtigkeit,
Solidarität und Demokratie wird in dieser
Situation immer schwerer zu kommunizieren. Gleichwohl besteht genau darin unsere Aufgabe, wollen wir die Europadebatte
nicht den PopulistInnen von rechts überlassen.
Die Bedeutung der Europäischen Einigung für den Frieden, der seit über 60 Jahren in der Europäischen Union herrscht, ist
in den vergangenen Jahren immer wieder
betont worden. Sicher ist er eine der zentralen Errungenschaften. Dennoch müssen
wir feststellen, dass dieses Argument den
Aufstieg von europaskeptischen bis europafeindlichen Parteien nicht verhindert
hat. So wichtig dieser Aspekt also ist, wird
es beim anstehenden Wahlkampf darauf
ankommen, den Menschen ganz konkrete
Vorschläge für die zukünftige Ausgestaltung Europas zu machen. Es gilt, die Frage
nach der Zukunft Europas zu politisieren,
unsere Vorstellungen klar vom status quo
und von konservativen Europakonzepten
abzugrenzen, eine Richtungsentscheidung
mit klaren Alternativen auf zu zeigen. Dabei müssen sich unsere Vorschläge daran
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Intro: Europa Argumente 1/2014
messen lassen, ob sie die konkrete Lebensrealität der Menschen verbessern.
Wir Jusos wollen vor allem junge Menschen in den Fokus unserer Kampagne und
unserer Aktionen nehmen. Die Bundestagswahl hat gezeigt, dass wir es schaffen,
junge Menschen von unseren Inhalten zu
überzeugen. Deswegen werden wir beim
bewährten Kampagnenlayout bleiben und
vor allem mit den Themen Steuerflucht,
Jugendarbeitslosigkeit, öffentliche Daseinsvorsorge, Erasmus+ und Gleichstellung versuchen zu punkten.
Vor dieser Herausforderung stehen wir
Jusos und steht die SPD. In diesem Heft
möchten wir euch Beiträge präsentieren,
die euch auf den anstehenden Wahlkampf
vorbereiten sollen und die aktuelle europäische Themen umfassend beleuchten.
Die Beiträge im Einzelnen
Martin Schulz ist Spitzenkandidat der
PES zur Europawahl 2014. Er beschreibt
in seinem Beitrag die Gefahren für eine
freie Gesellschaft, welche von der Digitalisierung der Welt ausgehen. Von der Entgrenzung der Arbeit über das Sammeln
von Daten bis zur Tätigkeit von Geheimdiensten sieht er die Herausforderung, diese Entwicklungen im Sinne einer humanen
und zivilisierten Gesellschaft zu gestalten.
Matthias Machning war Staatssekretär im Bundesumweltministerium und Minister in Thüringen. Derzeit leitet er die
Europawahlkampagne der SPD im WillyBrandt-Haus. Er analysiert die Ausgangslage des Wahlkampfes und gibt einen
Überblick über die Themen, mit denen die
SPD punkten will. Für ihn ist entscheidend, dass die Wahlbeteiligung steigt.
Ole Erdmann arbeitet bei der Wirtschaftsförderung metropolruhr und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw. Er
beginnt seine Betrachtung der Krise in den
1970er Jahren und der anschließenden Deregulierung der Finanzmärkte. Für ihn beginnt die Suche nach Auswegen aus der
Krise mit einer grundlegenden Kritik am
finanzmarktgetriebenen Kapitalismus.
Sylvia-Yvonne Kaufmann war Mitglied des Europäischen Parlaments für die
PDS. Nach ihrem Eintritt in die SPD
2009 ist sie nun SPD-Europakandidatin
für Berlin. Sie zeichnet die Hintergründe
des ersten erfolgreichen Europäischen
Bürgerbegehrens, der Kampagne „Right2Water“, nach und plädiert für weitere
Maßnahmen gegen die Privatisierung von
öffentlicher Daseinsvorsorge.
Lothar Binding ist Mitglied des Deutschen Bundestages seit 1998 und Finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. In seinem Beitrag beleuchtet er
die Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung, die nötig sind, um grenzüberschreitende Steuerflucht zu unterbinden. Vor allem gemeinsame europäische Standards
und Grundlagen sind aus seiner Sicht der
Schlüssel im Kampf gegen den Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten.
Constanze Krehl ist Mitglied des Europäischen Parlaments seit 1994 und setzt
sich in diesem Heft mit der Gleichstellungspolitik in Europa auseinander. Zwar
wurden Regelungen wie die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen schon
früh formuliert, aber die reale Umsetzung
ist bis heute nicht erreicht. Sie fordert, dass
die EU einspringen muss, wenn gleichstellungspolitische Themen in den Mitgliedstaaten nicht ambitioniert genug angegangen werden.
Erkan Ertan und Julian Zado waren
Mitglieder im Bundesvorstand der JusoHochschulgruppen und haben sich in dieser Zeit intensiv mit dem Bologna-Prozess
beschäftigt. Sie argumentieren, dass die
Ziele dieses Prozesses in den letzten Jahren
genutzt wurden, um eine Reihe von Reformen in den deutschen Hochschulen durchzusetzen, die zu weniger Freiheit im Studium und mehr Leistungsdruck geführt
haben. Das Problem ist jedoch weniger der
Prozess an sich, als vielmehr dessen Umsetzung. l
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BLUTIGE SPIELE –
TATORT BAUSTELLE
von Christian Beck, Bundesjugendsekretär der Industriegewerkschaft Bauen-AgrarUmwelt (IG BAU)
Magazin
Diesen Sommer ist es wieder soweit.
23 Menschen teilen sich ein Fußballfeld, spielen Pässe, versuchen sich Bälle abzuluchsen, rennen, spielen, schießen Tore.
Menschen werden wie gebannt auf
Fernsehbildschirme schauen, Fahnen
schwenken, Tore und Feste feiern, Kinder werden auf Bolzplätzen ihren Stars
nacheifern und das Sporthighlight des
Sommers feiern. Es geht um Fußball,
es geht um die Fußballweltmeisterschaft.
Fußball soll wieder mal verbinden,
Länder- und Standesgrenzen einebnen, die Menschen in einen Rausch
der Freude katapultieren. Und es geht
um Fairplay. Das sagen die offiziellen
Statements des Fußballweltverbandes
FIFA, das sagen die Spieler und die
Fans.
Zur gleichen Zeit werden am anderen
Ende der Welt Menschen sterben. Sie
sterben dafür, dass wir auch in ein
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Blutige Spiele – Tatort Baustelle Argumente 1/2014
paar Jahren wieder schöne Spiele erleben können. Sie sterben, weil sich
niemand um sie schert. Auch das gehört zur Welt der Fußballweltmeisterschaft. Sterben für die WM, für die
FIFA, das geht schnell, schmerzhaft,
anonym.
Und um es kurz zu machen: Sepp Blatter und die übrigen FIFA-Funktionäre
nehmen den Tod von Menschen in
Kauf. An ihren Händen klebt Blut.
Das alles klingt widersprüchlich,
brutal, unvorstellbar und unsinnig?
Ist es auch. Aber es gehört zu einem
Geschäftsmodell.
Wovon reden wir?
Stellt dir vor, du bist Bauarbeiter. Stell
dir vor, du arbeitest jeden Tag – wenn es
gut läuft – 12 bis 14 Stunden.
Stell dir vor, nach der Arbeit kommst
du in eine verschimmelte Unterkunft ohne
Fenster zurück, die du dir mit zwanzig bis
vierzig anderen Männern teilst. Es gibt
keine Duschen, nur ein Loch für eure Notdurft.
begrenzt oder neu. Sie findet statt und hat
Methode – auch in Deutschland.
Stell dir vor, es ist tagsüber unglaublich
heiß und nachts unglaublich kalt – eure
einzige Wärmequelle ist ein kleiner Benzinkocher. Stell dir vor, du bist hierhergekommen, weil du geglaubt hast, du könntest mit dem verdienten Geld dich und
deine Familie ernähren. Deine Familie hat
dafür Geld gespart, dein Ticket bezahlen
zu können. Stell dir vor, die Menschen, die
dich hierher vermittelt haben, zahlen dir
das vereinbarte Geld nicht. Du willst dir zu
essen kaufen, hast aber kein Geld dafür.
Manchmal haben die Menschen
Glück. Dann treffen sie auf ihre Baugewerkschaft oder Gewerkschaftskampagnen
den Nerv der öffentlichen Berichterstattung. Für den Bau der WM-Stadien in Katar ist das geglückt. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) hat auf Initiative
der Bau- und Holzarbeiterinternationale
(BHI) ein Thema ans Tageslicht gezerrt,
das viele Menschen verstört. Für die meisten war es vergangenen Herbst erstaunlich, dass die WM in Katar noch mehr
Schattenseiten haben könnte als die sengende Hitze. Ja, nicht nur Fußballprofis
leiden – Bauarbeiter sterben sogar für das
WM-Finale im neuen Stadion.
Du bist in einem Land, dessen Sprache
du nicht kennst. Du willst zur Polizei oder
anderen Behörden, um dich zu wehren,
aber du hast deinen Pass nicht mehr – den
hat dir die Firma abgenommen. Du willst
dich wehren, aber dir wird klar gemacht,
dass das auch Gefahr für deine Familie in
der fernen Heimat bedeutet.
Stell dir vor, es gibt kaum Helme oder
Höhensicherung, aber stattdessen altes
Werkzeug, offene Kabel. Kommst du mit
dem Leben davon, kehrst du ohne Geld
nach Hause zurück. Hast du Pech, stirbst
du bei einem der unzähligen Arbeitsunfälle. Deiner Familie fehlt jetzt der Ernährer.
Stell dir vor, du bist mutig und setzt dich
mit deinen Kollegen zur Wehr – dann hast
du mit Glück nur die Polizei am Hals. Stell
dir vor, du bist Wanderarbeiter. Willkommen in der Welt der Wanderarbeiter – willkommen in Katar.
So oder so ähnlich lassen sich die
Schicksale von Wanderarbeitern zusammenfassen – weltweit. Denn die Ausbeutung von Wanderarbeitern ist nicht lokal
Bei der EM 2012 in Polen und der
Ukraine ist das nur bedingt an die Öffentlichkeit geraten. Auch hier starben 20 Bauarbeiter beim Bau der Stadien. Auch hier
waren die Arbeits- und Lebensbedingungen für Arbeiter und gerade Wanderarbeiter unterirdisch. Mindestlöhne? Arbeitssicherheit? Fehlanzeige!
Auch an den Händen der UEFA klebt
Blut. Aber Polen und die Ukraine waren
näher, die Standortwahl nicht so unverständlich und unbeliebt wie Katar. Die
BHI hat mit den örtlichen Gewerkschaften, gerade der ukrainischen Baugewerkschaft, das Thema für die Medien aufbereitet – aber medial hat der unsinnige Tod
dieser Menschen kaum eine Rolle gespielt.
Schmerzhafte Realität
Dass die Situation in Katar so schlimm
ist wie berichtet, können wir belegen. Na-
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türlich gibt es in Katar auch „saubere“ Baustellen. Aber die sind nicht die Regel.
Denn Wanderarbeiter sind in Katar Menschen ohne Anspruch auf einen menschlichen Umgang – sie sind Sklaven.
Wir wissen von den Zuständen vor
Ort, weil unsere nepalesischen Schwestergewerkschaften herzzerreißende Berichte
von Betroffenen gesammelt haben. Wer
das hört oder liest, wer mit Betroffenen
spricht oder gar die Situation mit eigenen
Augen sieht, der mag verzweifeln. Der
fühlt, wie das Herz kurz aufhört zu schlagen, wie es vor Scham und Schmerz
brennt. Ja, es ist so schlimm, wie man es
sich nicht vorstellen kann – sogar noch
schlimmer.
Die IG BAU hat sich vor Ort mit einer
Delegation der BHI ein Bild gemacht. Wir
wissen, wovon wir reden. Denn wir haben
die Baustellen gesehen, die nicht auf dem
„offiziellen“ Besichtigungsprogramm stehen. Es mag sein, dass Franz Beckenbauer
nichts von Sklavenarbeit auf den WMBaustellen weiß. Aber Beckenbauer findet
im Regelfall ja auch nur den Weg über die
Grenze ins benachbarte Ausland, um in
Deutschland keine Steuern zahlen zu müssen.
Natürlich, wer auf dem Bau arbeitet,
weiß, dass er sich tendenziell in Gefahr begibt. Deshalb gedenken wir als Baugewerkschaft auch jedes Jahr unserer in Ausübung ihres Berufs gestorbenen Brüder
und Schwestern. Das tun wir jedes Jahr am
28. April, dem Workers’ Memorial Day.
100-prozentige Sicherheit wird es auf Baustellen nie geben, aber man kann einiges
dafür tun, damit möglichst wenig passiert.
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Blutige Spiele – Tatort Baustelle Argumente 1/2014
So zynisch es klingen mag, es ist gut,
dass der Stadionbau in Katar einer breiten
Öffentlichkeit vor Augen führt, unter welchen Arbeitsbedingungen Menschen für
unser Vergnügen schuften. Wichtig aber ist
auch die Feststellung, dass im Kern auf
deutschen und europäischen Baustellen
die gleichen Probleme existieren. Wir reden über Wanderarbeit und wir reden über
die mangelnde Umsetzung von Arbeitsund Sicherheitsstandards.
Denn so einfach es ist, jetzt nur nach
Katar zu blicken, so sehr sind wir hier in
Deutschland aufgefordert, vor der eigenen
Haustüre zu kehren. Auch hier gibt es
Wanderarbeiter, denen die Pässe abgenommen werden, die unter übelsten Bedingungen hausen müssen, die betteln gehen, weil ihnen seit Monaten der
zugesicherte Lohn vorenthalten wird.
Auch in Deutschland sind Baustellen, auch
die der öffentlichen Hand, vor allem eines:
Tatorte.
Zeit, vor der eigenen Haustüre
zu kehren
Oftmals verweigern Arbeitgeber Wanderarbeitern die ihnen zustehenden (Mindest-) Löhne und missachten weitere Vorschriften. Aktuellstes Beispiel: Eine
Großbaustelle in Frankfurt am Main – hier
wurden fünfzig rumänische Bauarbeiter
um ihren Lohn betrogen. Gegen die Prinzipien der Lohngleichheit und der Nichtdiskriminierung bei den Arbeitsbedingungen wird massiv verstoßen, insbesondere
bei der Beschäftigung von Wanderarbeitern und Neuzuwanderern über Werkvertragsfirmen und Leihfirmen statt direkter
Anstellung; so wie häufig bei der Saisonarbeit. Schlechte und unsichere Unterkünfte
zu völlig überhöhten Mieten, Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz
sind bei ihrer Beschäftigung häufig anzutreffen. Noch schlimmer dran sind all diejenigen Beschäftigten, die bewusst in
scheinselbstständiger Form eingesetzt werden. Ihnen werden alle Rechte aus einem
regulären Arbeitsverhältnis vorenthalten.
Auch hiesige Firmen profitieren von
diesem Geschäftsmodell. Wanderarbeit ist
dabei per se nichts Schlechtes – im Gegenteil. Wenn Menschen freiwillig ihre Heimat verlassen, weil sie glauben, sich andernorts besser verwirklichen zu können,
dann kann das auch positiv sein. Es geht
also darum, Wanderarbeit sicher und fair
zu gestalten. Nicht nur in Katar, sondern
auch in Deutschland!
Wir wenden uns gegen jede Form von
Mischkalkulationsgerede, durch das den
Stammbeschäftigten vorgegaukelt wird,
ihre Löhne und Gehälter könnten nur
dann in bisheriger Höhe weitergezahlt
werden, wenn andere Beschäftigte bei
Fremdfirmen dafür zu viel schlechteren
Bedingungen beschäftigt werden. Damit
sollen sie dazu gebracht werden, sich besser
nicht für eine bessere Behandlung der
Fremdfirmenbeschäftigten
einzusetzen.
Sich in ein Schweigekartell einreihen zu
lassen, wäre aber dumm und zugleich kurzsichtig. Denn die Folge solcher „Mischkalkulationen“ sind nicht nur kurzfristig
Hungerlöhne und schlechteste Arbeitsbedingungen für viele, sondern langfristig
auch schlechtere Arbeitsbedingungen für
alle Beschäftigten. Gute und sichere Arbeit
muss für alle gelten!
Wie kann das umgesetzt werden? Natürlich über die Aufklärung von Mandats-
trägern und „normalen“ Menschen. Aber
auch eine Reihe von weiteren Maßnahmen
kann dazu beitragen, das Elend der Wanderarbeiter in Deutschland zu lindern:
•
Faire Behandlung von Wanderarbeitern und Einwanderern.
•
Durchsetzung des Prinzips „gleicher Lohn
für gleiche Arbeit am gleichen Ort“.
•
Um Betroffene auf dem Weg dorthin
zu unterstützen, muss das kostenlose
Beratungsnetz durch Beratungsstellen
wie die des DGB („Faire Mobilität“)
ausgebaut werden.
•
Zusätzlich muss die Finanzkontrolle
Schwarzarbeit (FKS) ausgeweitet und
zu einer echten Arbeitsinspektion umgewandelt werden. Sie muss, neben der
Verhängung von Bußgeldern an Arbeitgeber, auch sicherstellen, dass Arbeitnehmer den ihnen vorenthaltenen
Lohn bekommen. Gute Beispiele hierfür finden sich in unseren Nachbarländern Frankreich und Polen.
•
Antidiskriminierungsarbeit muss auch
bei den Behörden umgesetzt werden
(wie am Beispiel des Namens Finanzkontrolle Schwarzarbeit zu sehen ist).
•
Um Scheinselbstständigkeit zu verhindern, muss es eine entsprechende Beratung durch die Behörden und Sozialversicherungsträger geben.
•
Es muss sichergestellt werden, dass sie
Scheinselbständigkeit in „reguläre Arbeitsverhältnisse“ umwandeln können.
Hierzu muss die Personaldecke dieser
Stellen massiv aufgestockt werden.
11
•
Um Wanderarbeitern ohne legalen
Aufenthaltsstatus und/oder Arbeitsberechtigung zumindest die Möglichkeit
zu geben, ihre Löhne sowie Ansprüche
bei Arbeitsunfällen durchzusetzen,
ohne dass dies automatisch zu ihrer
Abschiebung führt, muss die Meldepflicht der Arbeits- und Sozialgerichte
sowie anderer Stellen, an die sich Betroffene bei Problemen wenden, dringend entfallen.
Die Vorstöße, die indes durch die EU –
Stichwort „Durchsetzungsrichtlinie“ –
kommen, sind dabei eher kontraproduktiv.
Zurück nach Katar. Es ist an der Zeit,
dass Katar die WM entzogen wird. Zeit zu
handeln gab es genug – passiert ist wenig.
Eine kürzlich erlassene Charta zum Arbeitnehmerschutz ist vollkommen unzureichend. Für IG BAU und BHI ist dieses
Dokument sogar eher eine „Beleidigung
für das international anerkannte System
der Schaffung von Arbeitsnormen“.2
bezeitraum einer WM, sondern generell zu
verbessern.
Die FIFA hat ihre Politik bisher nicht
grundlegend verändert. Sie hat Katar nicht
dazu gedrängt, ihre Beschäftigungspolitik
zu ändern – ihr Druck hat nur auf die Erlassung von Arbeitsschutznormen abgezielt. Ein wichtiger Schritt, aber die Regeln
gelten nur für Hauptvertragsnehmer –
nicht für Subunternehmer.
Die FIFA, aber auch die UEFA, müssen für künftige Turniervergaben ihre Politik ändern. Sie müssen deutlich machen,
dass, wer den Zuschlag bekommen will,
Mindeststandards an Menschen- und Arbeitnehmerrechten erfüllen muss. Die entsprechenden Signale hierzu können und
müssen auch aus Deutschland kommen.
Eines aber ist klar: An jedem Tag, der
ohne konkretes Handeln vergeht, sind
Menschen in Gefahr. Denn auf den Baustellen der FIFA und der UEFA sind Armut, Sklavenarbeit und sogar der Tod ständige Begleiter.
Trotzdem macht es Sinn, dass bis zum
Entzug der WM eine klare Frist gesetzt
wird. Bis dahin bleibt Zeit, die Arbeitsbedingungen noch einmal grundlegend anzupacken. Dafür braucht es dann aber einen belastbaren Zeitplan und konkrete
Beweise für Verbesserungen.
Denn eines ist klar: Selbst wenn jetzt
sofort ein anderes Land den Zuschlag für
die WM 2022 erhält, ändert sich für die
Wanderarbeiter und die miserablen Arbeitsbedingungen in Katar nichts. Darum
muss es aber auch gehen; nämlich durch
eine entsprechende Vergabepolitik die Arbeitsbedingungen nicht nur für den Verga-
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Blutige Spiele – Tatort Baustelle Argumente 1/2014
Es wird Zeit, das zu ändern. l
2
Statement der Bau- und Holzarbeiterinternationale (BHI) vom 13. Februar 2014.
ALT, MÄNNLICH, WEISS –
DIE SPD MUSS BUNTER
WERDEN
von Katharina Oerder, stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende, Nancy Böhning, Leiterin des Büros der stellv. Partei-Vorsitzenden Manuela Schwesig und Johanna Uekermann, Juso-Bundesvorsitzende
Der Artikel ist das Ergebnis vieler Diskussionen mit vielen intelligenten, engagierten jungen Frauen – der Zukunft
der SPD.
Inhaltlich hat sich die SPD im Wahlkampf 2013 deutlich besser aufgestellt als
noch 2009. Viele Forderungen, die lange
aus der Parteispitze nur belächelt wurden,
konnten Eingang in das Wahlprogramm
der SPD finden. Gleichstellungspolitisch
wurden wichtige Punkte durchgesetzt und
im Wahlkampf vertreten. Während 2009
noch die 40%-Quote in Aufsichtsräten die
einzige prominente gleichstellungspolitische Forderung der SPD im Wahlkampf
war, stellt sich dieser 2013 deutlich diverser
dar. Die Abschaffung des Ehegattensplittings fordert die ASF bereits seit ihrer
Gründung – im Dezember 2012 fand diese
Forderung endlich ihre Entsprechung im
Wahlprogramm. Auch die Einführung eines Entgeltgleichheitsgesetzes stand sogar
im 100-Tage Programm. Diese Diversität
und Vielfältigkeit ist notwendig, um Wählerinnen für die SPD zu begeistern – denn
auch Frauen sind divers. Verschiedene Lebensmodelle, verschiedene Lebenssituationen können nicht auf eine einzige Formel
heruntergebrochen werden. Deshalb ist es
wichtig, auch die sozialdemokratische
Gleichstellungspolitik an diese verschiedenen Bedürfnisse anzupassen.
Dennoch: Nur knapp 26% der wahlberechtigten BürgerInnen haben am 22. September 2013 ihr Kreuz bei der SPD gemacht. Gerade bei Wählerinnen haben wir
erneut unterdurchschnittlich schlecht abgeschnitten. Nur ca. 22% der Frauen zwischen 25 und 45 Jahren haben die SPD gewählt, in derselben Altersklasse entschieden sich fast doppelt so viele Wählerinnen
für Angela Merkel.
Immer noch geben wir nach außen leider oft eher das Bild einer Partei der männlichen Schwergewichte ab als das einer
13
Partei der modernen Gesellschaftspolitik.
Wir haben Stimmung und Lebensgefühl
der Frauen nicht getroffen. Ein Alarmsignal für uns alle.
DIE Partei für Frauenpolitik, deren
ehemaliger Vorsitzender mit „Die Frau und
der Sozialismus“ Feminismus auf eine neue
intellektuelle Ebene gehoben hat, deren
berühmtes Mitglied Clara Zetkin 1911
den ersten internationalen Frauentag ins
Leben gerufen hat, die für Frauenwahlrecht und Frauenquote gestritten hat,
konnte Frauen nicht mehr überzeugen.
Andere Parteien, allen voran die Grünen
und die CDU, wirkten auf Frauen moderner, gerechter, weiblicher.
Wir konnten die verlorene Glaubwürdigkeit der letzten Jahre (auch in der
Gleichstellungspolitik) nicht zurückerobern – Glaubwürdigkeit ist schnell verloren, aber schwer gewonnen. Diese hat die
SPD jedoch nicht nur in den Regierungsjahren mit neoliberaler Politik verloren.
Mit Politiken, die den Mensch nicht mehr
in den Mittelpunkt gestellt, sondern ihn
höchstens noch als Mittel verstanden hat.
Glaubwürdigkeit verliert eine Organisation auch dann, wenn sie das eine predigt
und selbst das andere tut. Die SPD verlangt öffentlich nach Frauenquoten –
schickte aber im Wahlkampf selbst nur drei
Männer vor die Kameras – halbherzig am
Bildrand positionierte Frauen wirkten häufig nur wie Staffage.
Drei Männer: in etwa gleich alt, vergleichbarer Habitus und ähnlicher Background – ihr Team und Stil haben dabei offensichtlich
nicht
verfangen.
Mit
„Klartext“ und der festen Überzeugung,
laute Worte und der Mittelfinger seien es,
14
was das deutsche Wahlvolk will, ist Peer
Steinbrück in den Wahlkampf gezogen.
Dieser Stil verfing. Er verfing bei mittelalten bis alten weißen Männern aus dem
Westen. Diese Gruppe stellt jedoch in
Deutschland schon lange nicht mehr die
Mehrheit der Bevölkerung dar – und auch
nicht mehr die Meinungsmehrheit. Frauen
fühlten sich von diesem Stil weder angesprochen noch repräsentiert.
Wie auch 2009 konnte die SPD 2013
gerade bei Wählerinnen nicht ihr volles
Potenzial abschöpfen. Aber auch für viele
andere Menschen in unserer diversen Gesellschaft, wie MigrantInnen, junge Menschen, Ältere oder Homosexuelle hat die
SPD kein personelles Angebot geliefert.
Die SPD hat sich in diesem Wahlkampf vielleicht inhaltlich als Kämpferin
für Frauenrechte verhalten. Aber mit der
Inszenierung eines Kanzlerkandidaten, der
eben kein Frauenversteher sei und sich einer „politischen Geschlechtsumwandlung“
verweigert einerseits und einer weiblichen
Kanzlerin mit sehr hohen Sympathiewerten andererseits, verwundert das Wahlergebnis nicht: Die Mehrheit der Deutschen
ist weiblich: 31,8 Millionen Frauen waren
aufgerufen, ihr Kreuz bei der SPD zu machen. Getan haben es wenige. Viel zu wenige.
Neben den Wählerinnen waren und
sind auch viele aktive junge Frauen innerhalb der SPD enttäuscht. Enttäuscht davon, dass nach schönen Reden über
Gleichstellung auf Parteitagen, Frauen
kaum mehr eine Rolle gespielt haben,
wenn es darum ging, welche Themen in
Wahlkampf in den Vordergrund gerückt
werden – und vor allem, wer das tut. Der
Alt, männlich, weiß – die SPD muss bunter werden Argumente 1/2014
Klassiker: Verbale Aufgeschlossenheit bei
weitestgehender Verhaltensstarre. Im
Wahlkampf haben wir uns die gleichstellungspolitische Vorreiterpartei ja selbst
nicht abgekauft – wie sollen es dann andere tun?
Nach der inhaltlichen Erneuerung der
letzten Jahre, in denen sich die SPD vielen
neuen Themen (endlich) geöffnet hat,
muss nun auch eine personelle folgen.
Auch die personelle Aufstellung einer Partei hat etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun.
Frauen reicht es nicht mehr, wenn über sie
gesprochen wird. Sie wollen mitreden. Und
die SPD hat sie – die qualifizierten, engagierten jungen Frauen, die glauben: Echte
Gleichstellung lässt sich nur mit der SPD
durch- und umsetzen.
Im Wahlkampf konnten wir die Diversität unserer Gesellschaft durch unser Personal nicht widerspiegeln. Dies ist mit einer der Gründe, warum die SPD gerade
bei Frauen erneut so schlecht abgeschnitten hat. Dem wollen wir begegnen. Die
SPD muss jünger, weiblicher, diverser werden – auch in Spitzenfunktionen und das
nicht erst im nächsten Wahlkampf. Auch
das gehört zur Glaubwürdigkeit der SPD
dazu.
Deshalb ist es wichtig, dass die SPD ein
weiblicheres Gesicht bekommt. Dafür
muss die SPD TESH werden.
Frauen ernst nehmen
Frauen haben ein Gespür dafür, ob man
nur ihre Stimme haben will oder tatsächlich für ihre Anliegen kämpft. Viele Frauen
sind skeptisch. Sie wollen überzeugt werden.
Dafür muss die SPD die richtigen Themen setzen. Frau ist nicht gleich Frau. Junge Frauen haben andere Ansprüche und
Erwartungen an Politik als Frauen in der
Familienphase oder Frauen, die mit beiden
Beinen in der Berufstätigkeit stehen. Eine
junge Studentin interessiert sich vielleicht
mehr für ihre reproduktiven Rechte – z. B.
den rezeptfreien Zugang zur Pille danach
oder die Streichung des § 218 StGB – , als
für eine Reform der Minijobs. Frauen in
der Familienphase stellen sich Vereinbarkeitsfragen, die für Frauen, die bereits in
Rente sind, so nicht mehr aufkommen.
Das sind also völlig unterschiedliche Zielgruppen.
Jede Frau hat eine andere Lebensrealität. Die Zielgruppe Frauen darf nicht als
homogene Masse, sondern muss differenziert betrachtet werden. Schließlich ist
auch noch niemand auf die Idee gekommen, Politik für Männer unter dem Sammelbegriff “Männerpolitik” zu denken und
einen 18-jährigen Auszubildenden in einen Topf mit dem 60-jährigen Vorstandsvorsitzenden kurz vor der Rente zu stekken.
Wir müssen die richtige Sprache sprechen. Wenn wir Frauen und Männer erreichen wollen, müssen wir auch Frauen
UND Männer ansprechen. Dafür brauchen wir eine konsequente geschlechtsneutrale Sprache. Generalklauseln sind billige
Ausreden. Kein Mensch will komplizierte
und trockene Satzkonstruktionen. Frauen
wünschen sich eine lebendige Sprache. Politiksprech ist oft abgehoben und distanzierend.
Viele Politiker und auch Politikerinnen
sehen Frauen als die Erwerbsreserve für die
15
Beseitigung des Fachkräftemangels oder
als Gebärmaschinen, um den demografischen Wandel mit einer Armee Babys zu
stoppen. Das darf nicht der Ansatz der
SPD sein. Wählerinnen haben ein feines
Gespür, wann jemand ehrlich ist und wann
sie angelogen werden. Für die weibliche
Zielgruppe bedeutet das: Durch innere
Haltung die richtigen Inhalte nach außen
kommunizieren, um bei Frauen Vertrauen
erzeugen.
Dafür müssen wir auch unsere eigenen
Mitglieder sensibilisieren. In vielen Vorständen von Ortsvereinen, Kreisverbänden
und Unterbezirken ist echte Gleichstellung
und Sensibilität für Gendergerechtigkeit
noch lange nicht im Alltag angekommen.
Die SPD repräsentiert sehr gut, woran
wir glauben – und repräsentiert gleichzeitig
extrem schlecht, wer wir sind.
Möchte die SPD in 2017 nicht schon
wieder die gleichen Fehler machen, sondern endlich wieder als die Gleichstellungspartei wahrgenommen werden als die
sie gegründet wurde, muss sich einiges ändern. Wir brauchen eine glaubwürdige
Gleichstellungspolitik, in der Frauen als
wahre Partnerinnen auf Augenhöhe, nicht
als hübsche Deko verstanden werden.
Die Quote muss konsequent eingehalten werden. Es darf nicht mehr sein, dass
Vorstände, Ortsvereine oder Listen ohne
(mindestens) 40% Frauen auskommen und
so von höheren Gremien bestätigt werden.
Trotz eines eindeutigen Parteitagsbeschlusses zum Reißverschlussverfahren bei
der Listenaufstellung wurden auch bei den
anstehenden Kommunalwahlen in vielen
16
Unterbezirken und Kreisverbänden Listen
verabschiedet, die nicht unserem Standard
einer sozialdemokratischen Gleichstellungspolitik entsprechen. Eine Partei für
Frauenpolitik muss sich an ihren eigenen
Handlungen messen lassen.
Des Weiteren ist es zentral, Quotierung
auch in inoffiziellen Gremien wie Verhandlungsgruppen einzuhalten. Gerade in
solchen Gruppen, in denen Quoten nicht
offiziell eingehalten werden müssen, sind
Männer weiterhin deutlich überrepräsentiert. Dass Frauen nicht nur beteiligt werden, wenn sie es qua eines Parteitagsbeschlusses müssen, sondern in der Partei
immer eine Rolle spielen, symbolisiert die
wahre Gleichstellungsfähigkeit einer Partei.
Die Vielfältigkeit der SPD muss öffentlich – auch im Wahlkampf – dargestellt
werden. Nur so können wir die Vielfältigkeit der Menschen in Deutschland verstehen und repräsentieren.
Eine weiblichere SPD bedeutet: mehr
Frauen für die Mitarbeit in der SPD gewinnen. Deshalb müssen wir uns gezielt
überlegen, wie wir Frauen für die politische
Arbeit in der SPD werben können. Und
mehr Frauen in der ersten Reihe! Wir wollen die Frauen nicht mehr hinten links zwischen drei Männer-Köpfen hindurchblitzen sehen. Frauen gehören in die erste
Reihe, als Vorsitzende, nicht nur als Stellvertreterinnen. Erst wenn dies realisiert
wird, können auch Gremien wie MinisterpräsidentInnen-Runden oder Zusammenkünfte der Landesparteivorsitzenden ausreichend quotiert sein. Das bedeutet
Glaubwürdigkeit für eine sozialdemokratische Partei.
Alt, männlich, weiß – die SPD muss bunter werden Argumente 1/2014
In unserem Grundsatzprogramm steht:
„Wer die menschliche Gesellschaft will
muss die männliche überwinden“. Dies gilt
auch für die Sozialdemokratische Partei.
Wer die menschliche SPD will, muss die
männliche überwinden. Wir wollen nicht
mehr die Partei der alten, weißen Männer
sein! l
17
ARBEITNEHMERKAMMERN: BAUSTEIN
EINER STÄRKUNG DER
MACHTRESSOURCEN
VON ABHÄNGIG
BESCHÄFTIGTEN
von Melanie Blatter, stellvertretende Landesvorsitzende der Jusos Saar und
Falk Wagner, Landesvorsitzender der Jusos Bremen
Spätestens seitdem mit der Agenda
2010 auch die letzte SPD-geführte
Bundesregierung einem wirtschaftsliberalen Paradigma gefolgt ist, ist ein
verstärktes strukturelles Übergewicht
der ArbeitgeberInnen-Interessen in
wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Entscheidungen Deutschlands
und der EU zu beobachten. Es stellt
sich aus sozialistischer Perspektive die
Frage, wie die Machtressourcen der
ArbeitnehmerInnen-Seite strukturell
gestärkt werden können. Den Unternehmensverbänden stehen im außertariflichen Raum die Industrie- und
Handelskammern zur Seite, die politische Diskurse zugunsten der Unternehmen beeinflussen. Den ArbeitnehmerInnen fehlt ein solches Unterstützungsorgan der Gewerkschaften vie-
18
lerorts noch. Dabei gibt es bereits erfolgreiche Beispiele.
Arbeitnehmerkammern in Deutschland
In Deutschland gibt es aktuell in Bremen die Arbeitnehmerkammer und im
Saarland die Arbeitskammer. Beide Kammern sind Körperschaften öffentlichen
Rechts und die Aufgaben sind in den jeweiligen Kammergesetzen geregelt. Mitglieder sind jeweils alle ArbeitnehmerInnen, die in Bremen und Bremerhaven sowie im Saarland beschäftigt sind – unabhängig vom Wohnsitz. Die Beiträge belaufen sich jeweils auf 0,15 Prozent des Bruttolohns.3
3
http://www.arbeitnehmerkammer.de/ueber-uns/;
http://www.arbeitskammer.de/ueber-uns.html;
Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014
Organisatorisch sind beide Kammern
durch die Verwaltung einerseits und die
Selbstverwaltung andererseits gekennzeichnet. Unterschiede gibt es im Bereich
der Wahl der Selbstverwaltung. Im Saarland werden die Mitglieder der Vertreterversammlung auf Vorschlag der Fraktionen
(CGB und DGB) vom Landtag gewählt,
wohingegen in Bremen eine Urwahl der
Selbstverwaltung stattfindet.
Insgesamt werden somit rund 715.000
Beschäftigte durch Arbeitnehmerkammern vertreten.
Arbeitnehmerkammern in Österreich
und Luxemburg
In Österreich gibt es eine bundesweite
Struktur mit der Dachorganisation Bundesarbeitskammer sowie in jedem Bundesland eine Länderkammer (Arbeiterkammer) für ArbeitnehmerInnen und
Angestellte. Somit vertritt die Arbeiterkammer die Interessen von rund 3,4 Millionen ArbeitnehmerInnen gegenüber Regierung und Wirtschaft. Organisatorisch
sind die Arbeiterkammern auch in Österreich Selbstverwaltungskörper des öffentlichen Rechts und die Mitgliedschaft ist gesetzlich geregelt.4
In Luxemburg vertritt die „chambres
des salaries“ alle ArbeitnehmerInnen und
RentnerInnen (ca. 430.000) mit Ausnahme der BeamtInnen und öffentlichen Angestellten. Die Arbeitnehmerkammer ist
eine öffentlich-rechtliche Institution unter
Aufsicht des Ministers für Arbeit und Beschäftigung. Sie verfügt über eine eigene
Rechtspersönlichkeit und ist finanziell unabhängig.5
Sprachrohr der Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer
Grundsätzlich vertreten die Kammern
in Bremen und dem Saarland die Interessen ihrer Mitglieder, der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im jeweiligen Bundesland.
Beide Kammern müssen jährlich einen
Bericht an die Regierung des Landes zur
wirtschaftlichen, sozialen, ökologischen
und kulturellen Lage der Kammerzugehörigen im jeweiligen Bundesland abgeben
und haben das Recht bei Gesetzesentwürfen, die die Belange der Beschäftigten tangieren, angehört zu werden. Die Kammern
sind aus sozialistischer Perspektive sehr
wertvoll, denn sie verschieben den Diskurs
nach links. Aufgrund der Pflichtmitgliedschaft haben sie auch bei sehr geringen
Beiträgen die Möglichkeit zu Politikberatung durch wissenschaftliche Arbeit, Gutachten und Diskussionsveranstaltungen
mit EntscheidungsträgerInnen.
Die Kammern sind aber auch als
Dienstleister im Bereich der Beratung tätig. So können sich die Mitglieder kostenlos in den Bereichen Arbeits- und Sozialrecht sowie Steuerrecht beraten lassen.
Die Kammern haben darüber hinaus
die Aufgabe, für ArbeitnehmerInnen
Maßnahmen zur Förderung der beruflichen, der politischen und der allgemeinen
Bildung, der Beschäftigung, der Kultur, der
Gesundheit, des Verbraucherschutzes, der
Gleichberechtigung von Frauen und Män4
5
http://www.arbeiterkammer.at/ueberuns/leistungen/Die_AK__Ihre_Interessensvertretung.html
http://www.csl.lu/historique
19
nern und der Integration von AusländerInnen zu treffen. Die Ausgestaltung ist dabei
natürlich von Region zu Region unterschiedlich. So gibt es neben den jeweiligen
Fachabteilungen, die Dienstleistungen und
Politikberatung durchführen, diverse angegliederte Einrichtungen wie beispielsweise
im Saarland das Bildungszentrum der Arbeitskammer in Kirkel oder in Bremen die
Wirtschafts- und Sozialakademie.
Nicht Konkurrenten, sondern verlängerter Arm der Gewerkschaften
Eine gerade aktuell häufig aufgestellte
These ist die Konkurrenz zu den Gewerkschaften. Die Arbeitnehmerkammern jedoch haben nichts mit der Tarifpolitik zu
tun – sicherlich ein originäres Interesse der
Beschäftigten –, das ist das ureigene Hoheitsgebiet der Gewerkschaften.
Vielmehr sind die Gewerkschaften diejenigen, die die Ausrichtung der Kammern
in den jeweiligen Selbstverwaltungen bestimmen und lenken können. Die Stimme
der Gewerkschaften, insbesondere der
DGB-Gewerkschaften, wird durch die
Stimme der Kammern wesentlich gestärkt.
An dieser Stelle lohnt ein Blick in die
Entstehungsgeschichte der Kammern.
Gewerkschaften sind ihrem Ursprung
nach Kampfverbände, entstanden aus dem
Gegensatz zu den Arbeitgebern, denen gegenüber die Ansprüche der abhängigen
ArbeitnehmerInnen auf gerechten Lohn
und angemessene Arbeitsbedingungen
durchzusetzen waren (vgl. BverfGE 38,
281 (305ff.)). Ihrer ganzen Arbeit ist daher
von Haus aus der Bezug auf den sozialen
Gegenspieler eigen, mit dem sie verhan-
20
deln, dem sie fordernd entgegentreten. Ihre
Tätigkeit ist deutlich interessengerichtet.
Die Konzeption, von der aus die Arbeitnehmerkammern ins Leben gerufen
worden sind, ist eine andere. Die Initiative
zu ihrer Gründung ist in Bremen wie im
Saarland vom Staat ausgegangen. Der
Blick der Kammern soll nach der Intention
des Gesetzgebers stets auf die Interessen
der Arbeitnehmerschaft im Ganzen gerichtet sein; das Verbindende bei dieser
Gruppe ist die soziale Stellung als ArbeitnehmerIn ohne Rücksicht, bei welchem
Arbeitgeber gearbeitet wird. Die Kammerarbeit ist immer auf das Ganze von Staat
und Gesellschaft bezogen, nicht auf einen
sozialen „Gegner“.
Die Erfahrungen zeigen, dass sich die
Gewerkschaften und die Arbeitnehmerkammern in der Wahrnehmung ihrer Aufgaben zwar klar abgrenzen, aber in der
Summe sehr gut ergänzen. Hier kann sicherlich die Beratung der Mitbestimmung
von Betriebs- und Personalräten genauso
als positives Beispiel genannt werden wie
die politikberatenden Tätigkeiten der
Kammern, deren Leitlinien über die
Selbstverwaltung von den Gewerkschaften
festgelegt werden.
Vom Konzept der Arbeitnehmerkammern klar abzugrenzen ist der Gedanke
von „Pflegekammern“, deren Einführung
derzeit in einigen Bundesländern debattiert wird. In ihnen sollen alle Pflegenden,
in allererster Linie also abhängig Beschäftigte, zahlende Mitglieder werden, um der
Pflegebranche mehr Aufmerksamkeit und
Geltung innerhalb der Sozial- und Gesundheitsdienstleistungen zu verschaffen.
Dies ist aus zwei Gründen kritisch zu be-
Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014
trachten: Erstens werden keine ArbeitnehmerInneninteressen vertreten, sodass sich
die Frage nach der Gerechtigkeit der Finanzierungsform stellt. Zweitens würde
die politische Durchsetzbarkeit einer weiteren Kammer zur tatsächlichen Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen in
die Ferne rücken.
Pflegekammern: Ablenkungsmanöver
mit Langzeitwirkung und verteilungspolitischer Skandal
Kerngedanke des Pflegekammerkonzeptes ist eine berufsständische Sicht auf
Machtkonflikte: Das Hauptargument der
BefürworterInnen von Pflegekammern ist,
dass die Rahmenbedingungen der Pflege
von Betriebswirten und anderen Fachfremden fremdbestimmt werde, daher solle
„die“ Pflege stärker selbst die Politik zur
Regulierung der Branche beraten und dafür verkammert werden. Ziel ist also eine
Verschiebung von Machtressourcen im
Verteilungskampf zwischen den einzelnen
Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens.
Verschieben sich diese zugunsten des
Pflegesektors, profitiert davon aber nicht
„die“ Pflege – wie BefürworterInnen argumentieren, indem sie die Existenz zweier
Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital
ignorieren –, sondern unmittelbar nur die
Seite der Pflege-ArbeitgeberInnen. PflegeArbeitnehmerInnen können erst durch anschließende Erfolge im Arbeitskampf auf
eine Verbesserung ihrer Situation hoffen.
Auch die weiteren geplanten Aufgaben der
Pflegekammern, soweit hier überhaupt ein
klares Konzept vorliegt, lassen keine Verfolgung von ArbeitnehmerInnen-Interessen erkennen.
So sollen sie die Ausbildungsgänge gestalten und Abschlussprüfungen abnehmen. Dies sind im Bereich der dualen Ausbildung
klassische
Aufgaben
der
ArbeitgeberInnen-finanzierten Industrieund Handelskammern, an denen die Gewerkschaften nach dem Berufsbildungsgesetz paritätisch zu beteiligen sind – und
dies für die Seite der ArbeitnehmerInnen
völlig „kostenlos“. Dieses Modell wäre
auch für die Pflege wünschenswert, weil
Azubis der bisher schulischen Ausbildungsgänge dann endlich eine Vergütung
erhalten würden, was sowohl aus sozial- als
auch gleichstellungspolitischer Sicht geboten scheint. Mit der geplanten Prüfungsübergabe an die Pflegekammer würde ein
solcher Reformansatz zunächst in die Ferne rücken – und gleichzeitig die Kosten der
bisher staatlichen Ausbildungsprüfung
weitestgehend auf die Pflege-ArbeitnehmerInnen abgewälzt.
In Rheinland-Pfalz etwa soll die Pflegekammer die flächendeckende Pflegeversorgung der Bevölkerung durch entsprechende Bedarfsanalysen sicherstellen. Dies
ist bisher Aufgabe der Gesundheitspolitik.
Erneut ist hier der Staat der Gewinner, der
sich einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe dauerhaft auf Kosten der Pflege-Beschäftigten entledigen kann und gleichzeitig den öffentlichen Eindruck vermittelt,
den Missständen in der Pflege handlungsfähig zu begegnen, ohne dafür Geld ausgeben zu müssen – ein Ablenkungsmanöver
mit Langzeitwirkung.
Am eindringlichsten scheint aber, dass
die Pflegekammern Imageförderung für
den Berufsstand der/des Pflegebeschäftigten betreiben sollen. Die Arbeitskräfteknappheit der Branche ist derzeit aber für
21
die Forderung nach Lohnerhöhungen und
besseren Arbeitsbedingungen eines der
wenigen Druckmittel überhaupt. Künftig
würden Pflege-Beschäftigte mit Beiträgen
aus ihrem Arbeitslohn das Abstellen dieses
Problemdrucks bezahlen – ein verteilungspolitischer Skandal.
Ständische Argumentationsmuster
gegen Gewerkschaften
Zwar wäre auch denkbar, dass die Betriebe die Finanzierung dieser ausschließlich in ihrem Interesse und teilweise im
Gegensatz zu den Interessen der Beschäftigten liegenden Aufgaben übernehmen,
derartige Vorschläge sind bisher aber nicht
gemacht worden. Auch die Gewerkschaft
ver.di wendet sich daher gegen Pflegekammern. Von Pflegekammer-BefürworterInnen wird ver.di vielerorts vorgeworfen, sich
nicht an den Belangen der Pflegenden zu
orientieren. Die Gewerkschaft sei keine legitime – weil, so wird implizit argumentiert, angeblich fachfremde -Interessenvertretung der Beschäftigten und habe
lediglich Angst vor eigener Machtbeschneidung6 – wenngleich für jedeN einsichtig ist, dass Kammern die Kernfunktion der Sozialpartner – Tarifpolitik – nicht
berühren. Mit diesem berufsständischen
Argumentationsmuster werden klassische
anti-gewerkschaftliche Ressentiments bemüht. Die strukturelle Schwäche der gewerkschaftlichen Organisation im Pflegebereich und die daraus resultierenden
Defizite in der gewerkschaftlichen Durchsetzungsfähigkeit werden sich gezielt zu
Nutze gemacht. Und dies durchaus erfolgreich: Viele BefürworterInnen von Pflegekammern sind Beschäftigte in der Pflege,
die hier ihre Chance auf eine gezielte Interessenvertretung sehen und Verbesserun-
22
gen ihrer Arbeitsbedingungen erhoffen.
Getrennte Marschrichtungen in den
Bundesländern
Die Zustimmung von Beschäftigten
zum Konzept der Pflegekammer variiert
regional stark und ergibt völlig unterschiedliche Sachstände in den Bundesländern. In einer Reihe von Bundesländern
wird die Forderung nicht in nennenswertem Umfang diskutiert. In anderen sind
hingegen schon konkrete Schritte für eine
Pflegekammer unternommen worden, mit
unterschiedlichem Erfolg.
ln einigen Bundesländern ist im Anschluss an Meinungserhebungen inzwischen eine Pflegekammer geplant, so in
Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz.
Befragungen von Pflegenden (Beschäftigten wie Selbstständigen) ergaben hier jeweils Mehrheiten für die Errichtung einer
Pflegekammer7, wenngleich Pflegende in
Rheinland-Pfalz zunächst ein Registrierungsverfahren durchlaufen mussten und
sich in Schleswig-Holstein die relative
Mehrheit der in einer Umfrage Befragten
gegen jeden Beitrag zu einer Kammer aussprach. Die Gesetzgebungsverfahren sind
in diesen Ländern bereits initiiert.8
6
7
8
z. B.: http://www.pflegekammerrlp.de/2013/07/24/offener-brief-an-ver-di-blockadehaltung-aufgeben/
http://www.schleswigholstein.de/MSGFG/DE/Service/Presse/PI/2014
/140123_msgfg_LTpflegekammer.html;
http://www.pflegekammerrlp.de/2013/09/23/475/
http://www.pflegekammerrlp.de/2014/01/09/gruendungskonferenz-im-dialog/
Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014
Derzeit ungeklärt ist der Stand in Bayern, Sachsen, Niedersachsen und Berlin. In
Bayern, Sachsen und Niedersachsen ergaben sich ebenfalls in Umfragen Mehrheiten für eine Pflegekammer. In Bayern ist
jedoch die Methodik der Befragung umstritten9, in Niedersachsen sprachen sich
die Befragten mehrheitlich gegen die kammerdefinierende
Pflichtmitgliedschaft
aus10, in Sachsen wurde die Methodik der
Befragung nicht offengelegt11 und in Berlin
ist eine Befragung erst noch geplant.
Gescheitert ist das Vorhaben dagegen
in Hamburg. Dort sprachen sich 48 % der
Befragten gegen eine Pflegekammer aus,
nur 36 % dafür. Der Senat entschied daher
Anfang Februar 2014, keine Pflegekammer
einzuführen.12
Aktive Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen wird verhindert
Die Hamburger Entscheidung ist aus
gewerkschaftlicher Perspektive zu begrüßen, denn die Problematik der Pflegekammern beschränkt sich nicht nur darauf, dass
ihr Konzept keine aktive Vertretung von
ArbeitnehmerInnen-Interessen vorsieht.
Eine solche Ausrichtung wäre auch nicht
sinnvoll. Um überhaupt eine tragfähige organisatorische Struktur bilden zu können,
müsste eine branchenspezifische, relativ
kleine Kammer wie die Pflegekammer wesentlich höhere Beiträge erheben als die
branchenübergreifenden Kammern, um
auf denselben Effekt zu kommen. Angesichts des niedrigen Einkommens der potenziellen Mitglieder dürften diese sich –
anders als im Falle von Arbeitnehmerkammern – umso mehr überlegen, ob sie zusätzlich zum Kammerpflichtbeitrag noch
einen Gewerkschaftsbeitrag aufbringen
wollen und können. Die gewerkschaftliche
Organisation geriete noch weiter unter
Druck.
Auch die Einführung von Arbeitnehmerkammern würde mittelfristig blockiert.
Keine der bisher bestehenden Kammern,
denen ArbeitnehmerInnen berufsständisch
zugeordnet werden (etwa Handwerkskammer, Apotheken-, Ärzte- und Architektenkammer) würde einen derart hohen Anteil
abhängig Beschäftigter und gleichzeitig
eine derart niedrige Entlohnungsstruktur
aufweisen. Die Einrichtung und Bezahlung einer weiteren Kammer dürfte den
Pflegebeschäftigten nur schwer zu vermitteln sein.
Fazit: Stärkung gewerkschaftlicher
Machtressourcen statt Symbolpolitik
Die Probleme in der Pflege lassen sich
nicht mit Symbolpolitik lösen. Um bessere
Löhne und Arbeitsbedingungen zu erreichen, braucht es eine konsequente Stärkung der Machtposition der ArbeitnehmerInnen-Seite. Dies bedeutet zuvorderst
eine stärkere gewerkschaftliche Organisation in der Branche, um Forderungen effektiv durchsetzen zu können. Dies ist ein
Prozess, der nicht von heute auf morgen
abgeschlossen werden kann, weder in der
Pflege-, noch in irgendeiner anderen Bran9
10
11
12
https://gesundheit-soziales-bayern.verdi.de/
presse/pressemitteilungen/++co++1cb149d85cce-11e3-b910-52540059119e
http://www.ms.niedersachsen.de/aktuelles/
presseinformationen/antwort-auf-diemuendliche-anfrage-wie-geht-es-weiter-mit-derpflegekammer-116205.html
www.pflegerat-sachsen.de/csdata/download/1/de/
zeitungsartikel_befragung_pflegekammer_13.pdf
http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/
4262544/2014-02-04-bgv-pflegekammer.html
23
che. Aber auch bereits kurzfristig können
die Gewerkschaften die Position der abhängig Beschäftigten im politischen und
sozialen Geschehen stärken: Den grundsätzlichen politischen Willen der jeweiligen Landesregierung vorausgesetzt, wird es
an den Gewerkschaften liegen, ob eine Arbeitnehmerkammer und damit eine strukturelle Stärkung der Machtressourcen abhängig Beschäftigter zustande kommt. l
24
Arbeitnehmerkammern: Baustein einer Stärkung der Machtressourcen von abhängig Beschäftigten Argumente 1/2014
DAS WILLY BRANDT CENTER JERUSALEM 2014 –
IMMER NOCH EINZIGARTIG IM BRENNPUNKT
DES NAHOSTKONFLIKTS
von Christopher Paesen, Projektleiter der Jusos im Willy-Brandt-Center in Jerusalem
Besucht man den Nahen Osten, um
den Konflikt zwischen Israel und Palästina zu verstehen, trifft man die Konfliktparteien in aller Regel in ihrem eigenen Kontext. In Ramallah unterhält
man sich beispielsweise mit Vertretern
der Palästinensischen Autonomiebehörde, in Tel Aviv trifft man sich mit einer Aktivistin von Peace Now oder einer Knessetabgeordneten. Von Tel
Aviv ist es nicht weit nach Sederot, wo
Anwohner in ständiger Angst vor dem
andauernden Raketenbeschuss aus
dem Gazastreifen leben müssen. Im
Aida-Flüchtlingscamp bei Bethlehem
möchten die Bewohner vermitteln,
warum ihnen das Recht auf Rückkehr
zu den Häusern ihrer Eltern, Großeltern und inzwischen sogar Urgroßeltern so wichtig ist. In allen Fällen erfährt man individuelle Geschichten,
die sich bei den Besucherinnen und
Besuchern der Region wie ein Mosaik
zu einem eigenen Bild zusammensetzen.
Besucht man das Willy Brandt Center
in Jerusalem, ist das anders. Hier findet
man junge Israelis und PalästinenserInnen,
die gemeinsam über den Konflikt sprechen, argumentieren und auch streiten. Die
Partner eint das Streben nach einer gewaltfreien Verwirklichung der Zwei-StaatenLösung und die Überzeugung, dass schon
jetzt Chancen genutzt werden müssen, um
die Grundlage für einen kommenden Frieden zu legen. Seit 1996 hat die Kooperation zwischen Young Fateh in Palästina,
Young Labour und Young Meretz in Israel
und den Jusos in Deutschland zahlreiche
Krisen und Gewaltausbrüche überstanden.
Diese dauerhaften Anstrengungen im Wil-
25
ly Brandt Center machen es zu einem einzigartigen Projekt im Brennpunkt des
Nahostkonflikts. Wo steht das Projekt im
Jahr 2014 und in welche Richtung wird es
sich in der nächsten Zeit entwickeln?
Der wichtigste Faktor, um diese Frage
zu beantworten, ist der Fortgang der aktuellen Verhandlungen um ein Rahmenabkommen für eine dauerhafte Lösung des
Konflikts. Seit Ende Juli 2013 sitzt die
Verhandlungsgruppe aus israelischen und
palästinensischen
Regierungsvertretern
nun schon zusammen, um alle in Rede stehenden Fragen, Forderungen und Ansprüche in einen vertraglichen Einklang zu
bringen. Eine Mammutaufgabe, bedenkt
man die Komplexität und die lange Geschichte des Konflikts. Dennoch lassen
sich vier Hauptfelder aus der Summe der
Themen zusammenfassen.
Zunächst ist das Thema Grenzen und
Territorium innerhalb einer Zwei-StaatenLösung von Bedeutung. Grundsätzlich
bleibt die Grüne Linie von 1967 die Basis
für die Gespräche. Jedoch stehen zahlreiche Veränderungen dieser Grenze auf der
Tagesordnung, da seit 1967 Fakten entstanden sind, denen Rechnung getragen
wird, um die Akzeptanz des Abkommens
nicht durch übermäßige Bevölkerungstransfers von vornherein zu untergraben.
Konkrete Vorschläge für einen Landtausch
zwischen Israel und einem künftigen palästinensischen Staat liegen z. B. mit der
Genfer Initiative zwar auf dem Tisch, aber
dennoch ist klar, dass ein Tausch hart errungen werden muss, da keine der beiden
Seiten bereit ist, ihre Ansprüche einfach
aufzugeben. Einen Tausch will man sich
teuer erkaufen. Dazu gehört auch die Frage
nach dem Status Ostjerusalems, das für Pa-
26
lästinenserInnen von der West Bank derzeit nur durch Checkpoints aus zu erreichen ist. Wie eine Grenzziehung durch die
miteinander verwachsenen Stadteile von
West- und Ostjerusalem vonstattengehen
soll, ist ebenfalls eine zu klärende Frage.
Eng mit der Frage der Grenzen ist der
Themenkomplex Sicherheit verbunden.
Im Zuge einer Zwei-Staaten-Lösung wäre
der Jordanfluss die Außengrenze eines palästinensischen Staates. Israel hingegen betrachtet seine militärische Präsenz im Jordantal und die Flugabwehrstellungen auf
den angrenzenden Bergen als essenziell,
um das Land gegen Angriffe aus dem angrenzenden Raum zu verteidigen. Auf dem
Verhandlungstisch liegen nun Vorschläge,
internationalen Truppen die Grenzsicherung am Jordan zu übertragen. Präsident
Abbas brachte sogar öffentlich die NATO
für diese Aufgabe ins Spiel. Auf israelischer
Seite herrscht große Skepsis gegenüber internationalen Truppen an den eigenen und
palästinensischen Außengrenzen. Beispielhaft werden die schlechten Erfahrungen
angeführt, die aus der Sicht Israels mit den
internationalen Grenzsicherungssoldaten
an der libanesischen und ägyptischen
Grenze gemacht wurden.
Drittens ist die Frage nach dem Status
der palästinensischen Flüchtlinge von
1948/49 von Bedeutung. In Palästina hört
man häufig die Forderung „Das Recht auf
Rückkehr ist heilig“. Für viele PalästinenserInnen ist das sogenannte Rückkehrrecht
ein tiefer Bestandteil ihrer Identität. Für
die israelische Seite hingegen ist eine vollständige Rückkehr aller Flüchtlinge und
ihrer Nachkommen zu ihren ehemaligen
Wohnorten nicht tragbar, da aus ihrer
Sicht eine mögliche palästinensische Be-
Das Willy-Brandt-Center Jerusalem 2014 – immer noch einzigartig im Brennpunkt des Nahostkonflikts Argumente 1/2014
völkerungsmehrheit in den Grenzen Israels
den Charakter des Landes als jüdischen
und demokratischen Staat in Frage stellt.
Um diesem Problem zu begegnen, liegen
Vorschläge zur finanziellen Entschädigung
der Flüchtlinge auf dem Tisch. Unklar sind
aber die Höhe, die Berechnungsgrundlage
und der Kreis der Empfangsberechtigten.
Da es um viel Geld geht, sind auch hier
harte Verhandlungen zu erwarten.
Nicht zuletzt steht die Frage des Zugangs zu Ressourcen auf der Tagesordnung. Infrastrukturell sind Israel und Palästina eng miteinander verwoben. Das
betrifft die Schlüsselressource Wasser genauso wie die Frage der Stromversorgung.
Schon im Oslo-Abkommen gibt es grundlegende Regeln zur Nutzung des Wassers
und zum Handel mit Strom. Diese müssen
aber der veränderten Situation 2014 angepasst werden und einen gerechten Zugang
zu den Ressourcen garantieren, damit auf
beiden Seiten eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht wird.
Fragt man danach, wie der Verlauf der
Verhandlungen bewertet wird, so wird
schnell deutlich, dass die Erwartungen im
Vergleich zu den Verhandlungen um das
Oslo-Abkommen in den 90er Jahren wesentlich geringer sind. Eine Begeisterung
für den Verhandlungsprozess findet sich
auf keiner der beiden Seiten. Vielmehr
werden die Gespräche als „schwere Geburt“ wahrgenommen, weil die Fronten
stark verhärtet sind. Als positives Zeichen
wird zumeist die bislang grob gewahrte
Vertraulichkeit der Gespräche gewertet.
Dass nur wenige Inhalte nach außen dringen, dient vielen als Hinweis auf einen
wirklich vorhandenen Erfolgswillen der
Verhandlungsgruppen. Für Young Labour
hat die Vorsitzende und Mitglied der
Knesset, Michal Biran, die treffende Formulierung gefunden, dass im Prinzip sämtliche Fakten für die Verhandlung eines Abkommens auf dem Tisch liegen. Es komme
aber zu keinem Abschluss, weil es an starken politischen Persönlichkeiten fehle, die
vorbildhaft die Implementierung eines finalen Status vorantrieben. In Palästina
macht sich zusätzlich das Gefühl breit, dass
die politische Führung um Präsident Abbas zu schnell Ansprüche aufgebe und dadurch die Position der Palästinenser verschlechtere. Hinzu kommt der ungelöste
Bruch innerhalb Palästinas zwischen der
von Fateh kontrollierten West Bank und
dem von Hamas kontrollierten Gazastreifen.
Dennoch stehen die Chancen, den derzeitigen Status quo durch ein weitergehendes Rahmenabkommen abzulösen, so gut
wie lange nicht. Den meisten Beteiligten
ist klar, dass ein „Weiter so“ keine Alternative ist und ein Scheitern darüber hinaus
negative Konsequenzen nach sich ziehen
könnte. Dies geht soweit, dass manche
Analysten einen sich weit ausbreitenden
Ausbruch von Gewalt in der West Bank
nicht ausschließen, der sich möglicherweise sogar gegen die Autonomiebehörde
selbst richten könnte. Die Folgen wären
größere Instabilität und Unsicherheit als
vor den Verhandlungen, was viele Seiten
vermeiden möchten.
Deswegen gehen nicht wenige davon
aus, dass Ende April 2014 zum geplanten
Ende der Verhandlungen zumindest in irgendeiner Form ein Abkommen auf dem
Tisch liegen wird. Sollten sich die Verhandlungsgruppen möglicherweise vertagen, wäre nach weitverbreiteter Auffassung
27
zumindest noch in diesem Jahr mit der
Vorlage eines Ergebnisses zu rechnen. Unabhängig davon, wer bei den Verhandlungen den besseren Schnitt gemacht haben
wird, bleibt zu erwarten, dass sowohl die
israelische, als auch die palästinensische
Gesellschaft einige „bittere Pillen“ zu
schlucken haben werden.
In Israel könnte beispielsweise die Räumung von Siedlungen in der Westbank zu
großen Verwerfungen führen. In der derzeitigen Regierungskoalition um Benjamin
Nethanjahus Parteienbündnis Likud Israel
Beitnu (Israel unser Haus) ist neben der
Chefverhandlerin Tzipi Livni mit ihrer
Partei Hatnuah (Die Bewegung) auch
Naftali Bennett von der Partei Habeyit
Hayehudi ( Jüdisches Heim) vertreten, die
sich offensiv für die Sache der Siedler engagiert. Zwischen den beiden Polen Livni,
die höchstwahrscheinlich das von ihr verantwortete Verhandlungsergebnis verteidigen wird, und Bennett, der vehement gegen das Abkommen angehen wird, könnte
die Koalition zerbrechen, so dass es zu
Neuwahlen kommt. Dann liegt es in der
Hand der israelischen Bürgerinnen und
Bürger, über den Abschluss des Rahmenabkommens abzustimmen. Wie diese Abstimmung ausgeht ist jedoch, ohne den
konkreten Inhalt der Vereinbarung zu kennen, unmöglich vorherzusagen.
Auf der palästinensischen Seite könnten Widerstände aus einer Verneinung des
Rückkehrrechts für Flüchtlinge resultieren.
Das Narrativ rund um die von den Palästinensern Nakba genannte Vertreibung von
1948/49 ist sehr stark in der gesamten palästinensischen Gesellschaft verbreitet.
Viele würden die Aufgabe dieser Position
als eine große Niederlage für die palästi-
28
nensische Sache verstehen. Die erfolgreiche Akzeptanz des Abkommens hängt wesentlich davon ab, inwiefern es der palästinensischen Führung gelingt, wichtige
nationale Symbole wie Ostjerusalem als
Hauptstadt zu erlangen und die Souveränitätsrechte eines künftigen Staates durchzusetzen. Dies wären die greifbaren Verbesserungen, die sich im alltäglichen Leben der
Menschen bemerkbar machen würden.
In diesem Spannungsfeld kann das
Willy Brandt Center seinen einzigartigen
Ansatz nutzen. Mit den gebauten Kanälen
zwischen Jugendverbänden in beiden Gesellschaften, besteht die Chance, eine Bewegung mit dem Ziel nach vorne zu bringen, den neuen Status auf dem Weg zu
einer Zwei-Staaten-Lösung gemeinsam zu
gestalten. Natürlich hängt der Erfolg des
Projekts stark von den großen politischen
Ereignissen ab, die mit ihrer Dynamik die
Arbeit im Center mit einem Fingerstreich
vom Kopf auf die Füße stellen können.
Und es lohnt sich auch nicht, Illusionen
über die Leichtigkeit dieses Weges zu haben. Im Gegenteil wird es mit einer größeren Anstrengung verbunden sein, die Vorteile eines finalen Status inmitten der
„bitteren Pillen“ zu sehen. Nichtsdestotrotz bleibt es ein erstrebenswertes Ziel, zu
erleben, dass sich die Einzigartigkeit der
Idee des Willy Brandt Centers und die geleistete Arbeit der vergangenen Jahre unter
den Vorzeichen eines tragfähigen Rahmenabkommens auszahlen. l
Das Willy-Brandt-Center Jerusalem 2014 – immer noch einzigartig im Brennpunkt des Nahostkonflikts Argumente 1/2014
DER SCHOCK SITZT TIEF
– ERLEBNISBERICHT ZUR
ABSTIMMUNG ÜBER
SVP-VOLKSINITIATIVE
„GEGEN MASSENEINWANDERUNG“
von Salome Adam, Juso-Mitglied, studiert Biochemie in Basel
Wer in der Schweiz lebt, gewöhnt sich
schnell an die ca. alle drei Monate
stattfindenden Volksabstimmungen
auf kantonaler und/oder nationaler
Ebene. In den Wochen vor der Abstimmung hängen Plakate mit den Argumenten der Befürworter oder Gegner der anstehenden Initiativen und
Referenden, und in den Medien werden entsprechend mehr oder weniger
emotionale Debatten geführt. Ich
selbst, als Nicht-Schweizerin, empfinde diese Kultur meist als sehr erfrischend – wird doch dadurch oft über
konkrete Themen und Ziele debattiert.
Ein gutes Beispiel dafür war zum Beispiel die Initiative „1:12– für gerechte
Löhne“, die von der JUSO Schweiz
lanciert wurde und mit 34,7 % Zustim-
mung einen Achtungserfolg erzielte –
immerhin wollte man mit der Initiative
in der Verfassung verankern, dass in
jedem Unternehmen der höchstbezahlte Angestellte nur noch maximal
das 12fache des am wenigsten verdienenden Angestellten bekommen darf.
Bei der am 9. Februar 2014 durchgeführten Abstimmung über die von der nationalkonservativen/rechtspopulistischen
Schweizerischen Volkspartei (SVP) lancierten Initiative „Gegen Masseneinwanderung“, die zum Inhalt hat, die Aufenthaltsgenehmigungen für Ausländer*innen
zu beschränken bzw. zu kontingentieren,
war es jedoch anders. Ich hatte das Gefühl,
dass am Anfang – ca. drei bis vier Monate
vor der Abstimmung –, zuerst eine gewisse
29
Ruhe vorherrschte. Die SVP schürte wie
üblich bei Initiativen dieser Art und wie es
von einer rechtskonservativen Partei nicht
anders zu erwarten war, die Angst vor
„Überfremdung“. Das NEIN-Lager setzte
sich zusammen aus linken Gesellschaftsinitiativen, Gewerkschaften (vor allem die
UNIA), allen anderen Parteien (am Anfang vor allem SP und Grüne) und Wirtschaftsverbänden, die entweder auf
Grundlage der Menschenrechte oder des
wirtschaftlichen Vorteils des freien Personenverkehrs mit der EU eine Kampagne
gegen die Annahme dieser Initiative führten. Von vornherein war klar, dass eine Annahme der Initiative unangenehme Folgen
haben würde, weil mit der Auflösung der
Personenfreizügigkeit alle bilateralen Verträge mit der EU in Gefahr wären. Jedoch
gab es schon häufiger Initiativen in diese
Richtung und seit Jahren gehen sie, wenn
auch knapp, immer positiv, im Sinne der
Beibehaltung der EU-Verträge und gegen
eine Verschärfung der Beschränkungen für
Aufenthaltsgenehmigungen für EU-Bürger aus. Daher gab es natürlich Kampagnen auf beiden Seiten, aber von großer
Aufregung war keine Spur – vor allem,
nachdem eine Prognose sechs Wochen vor
der Abstimmung 55 % Nein- und 40 % JaStimmen vorhersagte. In der Vergangenheit waren solche auf Umfragen basierenden Prognosen ein verlässlicher Indikator
für das zu erwartende Ergebnis. Die Seite
der Gegner*innen atmete deutlich auf.
Dieses Mal kam es jedoch anders. Im
Januar begannen die Zustimmungsraten
Woche für Woche zu steigen. Genauso
stieg die Anzahl derer, die überhaupt abstimmen wollten, so dass es immer schwieriger wurde, das Ergebnis einzuschätzen.
Die SVP-Kampagne zog immer mehr
30
Der Schock sitzt tief Argumente 1/2014
Leute in ihren Bann. Die Versprechen von
bezahlbarerem Wohnraum, weniger überfüllten Nahverkehrsmitteln, Arbeitsplatzvorrang für Schweizer*innen, einer Eindämmung der „Ausländerkriminalität“ und
des Asylmissbrauchs sowie weniger Lohndumping klangen offenbar zu verlockend –
und die Lösung dieser Probleme durch
eine Beschränkung der Personenfreizügigkeit so einfach. Außerdem wollte man der
EU zeigen, wer eigentlich regiert (nämlich
das Volk und nicht die „EU-Bürokraten“),
dass man als Schweiz eigenständig ist und
sich nicht weiter dem „Diktat der EU“ unterwerfen will.
Wie den medialen Meldungen zu entnehmen war, verfingen diese Argumente
immer stärker. Die Gegner*innen versuchten, dem entgegenzusteuern, fanden jedoch mit ihrer eher technokratischen Argumentationsweise immer weniger Gehör.
Die Befürworter*innen hingegen argumentierten immer emotionaler. Die Probleme, die mit der Annahme der Initiative
folgen würden, wurden ausgeblendet und
die angeblich heilsame Wirkung der Initiative auf immer weitere Aspekte ausgeweitet – es wurde nun auch davon gesprochen,
dass man die Islamisierung stoppen könnte
und weniger „People of Colour“ ins Land
kommen würden. Der Inhalt der Initiative
beschränkt sich dabei jedoch nur auf den
Stopp der Personenfreizügigkeit zwischen
Schweiz und dem EU-Raum. Es wurde auf
unseriöseste Weise hochgerechnet, wie
hoch der Anteil der Ausländer*innen bald
sein würde, insbesondere der Anteil der
Bevölkerung mit islamischem Glauben.
Dass das Schweizer Bundesamt für Statistik diese Zahlen als falsch deklarierte,
wurde nicht mehr wirklich zur Kenntnis
genommen und von den Medien nur unge-
nügend wiedergegeben. Die Angst auf der
Gegenseite wurde im Angesicht dieser
Entwicklungen, die niemand vorausgesehen hat, immer größer und mit ihr auch die
gefühlte Handlungsunfähigkeit. Sachliche
wie emotionale Argumente kamen nicht
mehr durch und so überwog am Ende die
Hoffnung, doch noch mal mit einem blauen Auge davon zu kommen.
Am Sonntag der Abstimmung kam jedoch der Schock. Es wurde nach den ersten
Ergebnissen aus den Kantonen immer
deutlicher, dass das Ergebnis sehr knapp
ausfallen würde. Mit Ausnahme von Zug
stimmten alle ländlichen Kantone der
Deutschschweiz für die Initiative. Das Tessin hatte sogar eine Zustimmungsquote
von 68,0 % und die Wahlbeteiligung lag
überall über 50 %, so dass sehr früh mit einem hohen Absolutstimmenanteil zu rechnen war. Dadurch wurde klar, dass selbst
bei einer Ablehnung der Initiative durch
alle Kantone des französischsprachigen
Teils der Schweiz sowie der Städte in der
Deutschschweiz (die Städte und die Westschweiz zeigen in Migrations- und außenpolitischen Fragen oft ein sehr ähnliches
Abstimmungsverhalten) die Initiative ablehnen würden, der Absolutstimmenanteil
nicht reichen konnte. Am Ende hing alles
am Ergebnis des Kantons Bern, jedoch
hätte nur noch ein Wunder geholfen um
die Stimmendifferenz von 36.500 für die
Initiative ins Gegenteil zu verkehren. Das
Wunder blieb aus – 19.500 Stimmen Unterschied, 50,3 % Zustimmung.
Die Hoffnung, dass man dies jetzt noch
alles irgendwie klären könnte, ist gerade für
Angehörige der Schweizer Hochschullandschaft schnell verflogen. Ende Februar
wurde verkündet, dass die Schweiz nicht
mehr an den Programmen Erasmus+ und
Horizon 2020 partizipieren kann. Weiterhin werden die EU-Förderungen für den
Kulturbereich gestrichen. Das alles passiert
so schnell, weil eine Bedingung für diese
Programme die Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien war, was aber
nun natürlich nicht passieren wird. Die
Auswirkungen sind enorm – wird doch die
Mobilität der Studierenden erheblich eingeschränkt und gehen den Hochschulen
viele Projekte und damit auch viele Wissenschaftler*innen verloren.
Am 1. März sind in Bern 12.000 Menschen auf die Straße gegangen, um für eine
solidarische und offene Schweiz zu demonstrieren und die Verhandlungen zur
Umsetzung der Initiative, die jetzt zügig
stattfinden sollen, positiv zu beeinflussen.
Jedoch sollten wir uns hüten, mit dem
ausgestreckten Finger auf die Schweiz zu
zeigen. Diese Reaktion habe ich leider in
den Medien und in vielen Diskussionen erlebt. Die aktuellen Debatten in vielen EULändern und die EU-Abschottungspolitik
an sich zeigen nur zu deutlich die Entwicklung der Stimmung in Europa. Daher
müssen wir gerade als junge Menschen anderen die „Angst vor dem Fremden“ nehmen, zusammen für eine solidarische EU
einstehen und diese auch fordern! l
Ich empfand einfach nur noch Verzweiflung, genau wie meine Schweizer
Freunde. Was da jetzt wirklich passiert ist
und was folgen wird, konnten wir nicht
fassen.
31
WARUM WIR JETZT
KÄMPFEN MÜSSEN
Internetkonzerne und Geheimdienste wollen den determinierten Menschen.
Wenn wir weiter frei sein wollen, müssen wir uns wehren und unsere Politik ändern.
Von Martin Schulz, Präsident des Europaparlaments und Spitzenkandidat der europäischen SozialdemokratInnen für die Europaparlamentswahl
Schwerpunkt
Anfang der 1980er Jahre prognostizierte Ralf Dahrendorf in einem berühmt gewordenen Essay das bevorstehende Ende der Sozialdemokratie.
Schon damals formulierte er die These, dass die politische Linke ihre historische Aufgabe erfüllt habe, weil in
den OECD-Staaten die sozialdemokratischen Ziele von Freiheit, Gleichheit und Solidarität weitgehend verwirklicht seien. „Mission
accomplished“ könnte man sagen, historische Mission erfüllt. Und tatsächlich: Im Vergleich zum Industrieproletariat, das im 19. Jahrhundert noch
unter den Bedingungen des Manchester-Kapitalismus arbeiten musste, muten die heutigen Arbeitsbedingungen
der meisten Arbeitnehmer in Europa
vergleichsweise paradiesisch an: Das
Verbot von Kinderarbeit, Arbeitszeiten
unter 40 Stunden in der Woche, be-
32
Warum wir jetzt kämpfen müssen Argumente 1/2014
zahlter Urlaub, wirkungsvolle Arbeitsschutzmaßnahmen und Arbeitnehmerrechte sind weitgehend durchgesetzt.
Auch im Bereich der Freiheitsrechte
und beim komplizierten Grundwert der
Solidarität sind wir in Europa weit gekommen. Weltweit werden wir für unser europäisches Gesellschaftsmodell bewundert.
Muss sich also nach ihrem 150-jährigen
Kampf die Sozialdemokratie auf ihren Ruhestand einstellen, weil sie alles erreicht
hat? Ich halte diese These für falsch, weil
unsere Gesellschaft nicht alleine wegen,
aber sicher in besonderer Weise durch die
Digitalisierung und massenhafte Datenerfassung im jungen 21. Jahrhundert vor
mindestens ebenso epochalen Umwälzungen steht, wie unsere Urahnen vor 150 Jahren. Der Aufstieg der Sozialdemokratie ist
verbunden mit einer technischen Revolution im 19. Jahrhundert. Nach der Entwick-
lung der Dampfmaschine entstanden moderne Fabriken und mächtige Konzerne,
big player, die wir teilweise noch heute
kennen. Diese Revolution hat vielen Menschen Wohlstand gebracht und zu epochalen Veränderungen geführt. Vordergründig
krempelte sie zunächst nur die damalige
Arbeitswelt komplett um. Aber die neue
Technologie revolutionierte die alte Gesellschaftsordnung tiefgreifender: Großstädte und neue soziale Schichten entstanden; es bildeten sich bis dahin unbekannte
soziale Bewegungen und Parteien; eine
neue Kunst, Philosophie und ein neues
Denken kamen auf. Es war eine Zeit des
Umbruchs, in der alte Werte durch neue
ersetzt wurden. Diese Entwicklung verlief
aber nicht nur linear in eine Richtung.
Denn die Industrialisierung führte gleichzeitig zu einer Prekarisierung breiter
Schichten, zu neuen Krankheiten und zu
Umweltzerstörung. Als sich im Zeitalter
der Industrialisierung die Maschinisierung
und die mit dem Namen Henry Ford verbundene Arbeitsteilung durchsetze, bedeutete dies eine bemerkenswerte Umkehr in
der Subjekt-Objekt-Beziehung, auch
wenn es bereits im vorindustriellen Zeitalter brutale Formen der Sklaverei und entwürdigenden Arbeiten gegeben hatte.
Aber der Arbeiter, der an der Akkordmaschine in der Fabrikhalle stand, hatte sich
den Regeln, dem Tempo, ja den Bedürfnissen der Maschine anzupassen, die seinen
Arbeitsprozess und Takt unerbittlich vorgab. Selten ist diese Maschine-MenschBeziehung in beeindruckenderen Bildern
dargestellt worden als in den 1920er Jahren
in dem legendären Film Metropolis von
Fritz Lang. Neuer Wohlstand und neues
Elend lagen – oft auch räumlich – nah beieinander. Der Wohlstand und die Freiheit
der einen, waren zunächst einmal die Ar-
mut und Unfreiheit der anderen. Dass dieser Prozess letztlich auf unserem Kontinent
zu einem gesellschaftlichen Fortschritt
führte, der Wohlstand und Freiheit für viele brachte, war das Ergebnis eines langen
politischen Kampfes. Dieser Fortschritt
kam nicht automatisch, war nicht das Ergebnis einer unsichtbaren Hand. So wie
die sozialen Bewegungen im späten 19.
und frühen 20. Jahrhundert die entstehende Industriegesellschaft und den neuen radikalen Kapitalismus zähmen und humanisieren mussten, stellt sich heute wieder
eine vergleichbare Aufgabe. Denn die Digitalisierung der Welt hat bislang nur das
Potenzial, um Wohlstand und große Innovation hervorzubringen. Denn genauso wie
damals, wird durch die rasante technische
Entwicklung nicht zuallererst unsere Arbeitswelt herausgefordert, sondern unsere
Gesellschaft und unser Denken werden in
ihrer Gesamtheit revolutioniert.
Ich habe keine kulturpessimistische
Sicht auf diese technologische Entwicklung. Im Gegenteil, es geht mir um ein
Nachdenken darüber, wie diese atemberaubende Technik zum Nutzen der vielen und
nicht der wenigen in unsere Gesellschaft
integriert werden kann. Meine Frage ist, ob
und wie es uns gelingt, zu einer Zivilisierung und Humanisierung dieser neuen
technischen Revolution zu kommen. Denn
bislang steht nicht fest, ob die neuen Entwicklungen mehr Gutes oder mehr
Schlechtes bringen werden. Viele Fragen
sind noch offen: Bedeutet es ein Mehr an
Unabhängigkeit und Flexibilität, wenn immer mehr Menschen ihre Emails jederzeit
auf ihrem Smartphone lesen und sie per
elektronischem Kalender noch kurz vor
dem Schlafengehen zu einer Teambesprechung am nächsten Morgen einladen?
33
Oder führt dies zu einer Entgrenzung von
Arbeit, wodurch wir das lang erstrittene
Recht auf Freizeit, ohne es zu merken, einfach aufgeben? Macht das Speichern von
Bewegungsbildern und Kommunikationsdaten unsere Welt wirklich sicherer, wie
das seit 9/11 behauptet wird, oder wird damit der Staat, der ein neues „SuperGrundrecht Sicherheit“ schützen will,
nicht vielmehr selbst zum Sicherheitsrisiko
für seine Bürger? Bringt ein permanentes
Online-Voting eine direktere Demokratie
hervor oder führt sie eher zu einer Trivialisierung von komplexen Problemen? Das
sind Fragen, die unsere Gesellschaft beantworten muss, wenn es nicht zu fatalen
Fehlentwicklungen kommen soll. Denn es
klingt zwar verführerisch, wenn ein online
überwachtes Auto automatisch bremst, sobald die Höchstgeschwindigkeit überschritten ist oder wenn herzinfarktgefährdete Menschen im Alltag rund um die Uhr
medizinisch überwacht werden, weil diese
Überwachungen individuelle und kollektiven Vorteile zu bringen scheinen.
Schon jetzt versprechen Versicherungen Beitragsermäßigungen für dieses „vernünftige Verhalten“, in einem nächsten
Schritt werden von denjenigen Risikoaufschläge verlangt werden, die sich dieser
„freiwilligen“ Kontrolle ihres Verhaltens
entziehen. Es ist absehbar, dass am Ende
aus dem Risikoaufschlag ein Zwang zur
Kontrolle werden wird, natürlich immer
mit dem fürsorglichen Argument, dass vernünftiges Verhalten gut für den einzelnen
und billiger für die Gesamtheit sei. Eine
solche Entwicklung wird schlussendlich
aber zum „am Netz hängenden Menschen“
führen, der in allen Lebenssituationen
überwacht wird. Und ein weiterer bedrükkender Trend zeichnet sich ab: Wenn wir
34
Warum wir jetzt kämpfen müssen Argumente 1/2014
Menschen durch diese Vernetzung nur
noch die Summe unserer Daten sind, in
unseren Gewohnheiten und Vorlieben
komplett abgebildet und ausgerechnet,
dann ist der gläserne Konsumbürger der
neue Archetyp des Menschen. Schon heute ist es das Geschäftsmodell von Facebook
und anderen, unsere emotionalen Regungen und sozialen Beziehungen in ein ökonomisches Verwertungsmodell zu überführen und unsere Daten gewinnbringend zu
nutzen. Wenn die Messung unseres Augenzwinkerns oder die Beschleunigung
unseres Pulses beim Ansehen bestimmter
Produkte in Echtzeit in die Datenbank von
multinationalen Konzernen fließen, ist der
neue Mensch nur noch die Summe seiner
Reflexe und wird biologistisch komplett
determiniert. Am Ende könnte eine solche
Entwicklung dazu führen, dass wir nur
noch über jene Kaufangebote informiert
werden, die vermeintlich zu uns passen.
Und der Schritt, dass wir dann auch nur
noch die politischen und kulturellen Informationen erhalten, die unseren vermuteten
Interessen entsprechen, ist ein kleiner. Damit wäre dann die Vorstellung vom Menschen, der sich frei entwickeln und der es
durch Bildung und harte Arbeit nach „ganz
oben schaffen“ kann, endgültig erledigt.
Ein neuer Mensch würde entstehen: der
determinierte Mensch.
Denn die „vermuteten Interessen“, die
angeblichen „Präferenzen“ eines Menschen, sind vielleicht gut und schön, wenn
ein Online-Händler unsere Absichten vorwegnimmt und, wie wir unlängst erfahren
haben, das Paket schon losschickt, ehe wir
überhaupt wissen, dass wir etwas kaufen
wollten. Wie steht es aber mit dieser Entschlüsselung angeblicher Absichten, wenn
Menschen sich um einen Beruf, einen Kre-
dit, eine Ausbildung bewerben? Was bedeutet es, wenn wir bald nicht nur im Büro,
sondern auch im Haushalt, im Auto, überall gelesen werden und ein Abbild von uns
erstellt wird, das der Bundespräsident den
„digitalen Zwilling“ nennt und von dem
wir nicht wissen, was ihn zusammensetzt.
Wie aktuell diese Fragen sind, zeigte sich
unlängst beim BGH-Urteil zu der Frage,
ob Kreditscoring-Unternehmen wie die
Schufa den Menschen mitteilen müssen,
wie sie zu ihren Schlussfolgerungen kommen. Der quantifizierte Mensch wird uns
künftig wie ein Schatten begleiten: Zusammengesetzt aus den Signalen und Daten, die wir und alle anderen senden. Das
wird, wie jeder heute schon bemerkt, dem
Einzelnen durchaus enorme Vorteile bringen. Aber es wird ihn auch zum Bestandteil einer Rechnung machen. Es kann nicht
sein, dass diese Rechnung ohne unsere
Kenntnis, unser Zutun und unsere Interventionsmöglichkeiten gemacht wird.
Um das zu verhindern, müssen wir
handeln. Denn von alleine wird nichts gut
werden. So, wie die „unsichtbare Hand“ eines sich selbst regulierenden Marktes in
der Vergangenheit ein Trugschluss war, ist
die heute so populäre Annahme, dass
durch die Digitalisierung aller Lebensbereiche automatisch ein Mehr an Lebensqualität, Demokratie, Freiheit, Sicherheit
und Effizienz erreicht werden wird, eine
naive Fehleinschätzung. Denn die täglichen Berichte über völlig enthemmte Geheimdienste offenbaren ein zunehmend
paranoides Staatsverständnis und deshalb
scheint die Prognose, dass es zu einem freiheitlichen Rückschritt kommen wird,
wenn die Sammelwut von Daten und die
Digitalisierung aller Lebensbereiche unreguliert fortgeführt wird, wahrscheinlicher
als die These, dass wir am Beginn eines
neuen goldenen Zeitalters stehen.
Noch haben wir es nur mit einer alles
durchdringenden Technologie, aber noch
nicht mit einem totalitären politischen
Willen zu tun. Doch die Verbindung von
big data, also der gewaltigen Sammelleidenschaft von Daten durch Private und
den Staat, und big government, also der
hysterischen Überhöhung von Sicherheit,
könnte in die anti-liberale, anti-soziale und
anti-demokratische Gesellschaft münden.
Wenn der Bürger nur zum Wirtschaftsobjekt degradiert wird und der Staat ihn unter Generalverdacht stellt, kommt es zu einer
gefährlichen
Verbindung
von
neoliberaler und autoritärer Ideologie.
Deshalb wird eine soziale Bewegung gebraucht, die den Mut aufbringt, das Notwendige zu tun und die dafür notwendigen
normativen und historischen Prägungen
mitbringt. Wie am Ende des 19. Jahrhunderts wird eine Bewegung gebraucht, die
die Unverletzlichkeit der menschlichen
Würde ins Zentrum ihrer Überlegungen
stellt, und die nicht zulässt, dass der
Mensch zum bloßen Objekt degeneriert.
Diese Bewegung muss ein liberales, ein demokratisches und ein soziales Staatsverständnis haben. Sie muss im Bereich der
Datensammlung, -speicherung und -weitergabe rechtliche Pflöcke einschlagen, die
klarstellen, dass die Privatheit eines jeden
ein unveräußerliches Grundrecht ist und
einen etwaigen Missbrauch eindeutig
sanktionieren. Sie muss überdies durch
eine kluge Wirtschaftspolitik sicherstellen,
dass wir in Europa technologischen Anschluss halten, damit wir aus der Abhängigkeit und Kontrolle der heutigen digitalen
Großmächte
befreit
werden,
unabhängig davon, ob es sich dabei um
35
Nationalstaaten oder globale Konzerne
handelt. Ein freies Netz, ein an Grundrechten orientierter regulierter Datenmarkt und die Erinnerung daran, dass die
Autonomie des Individuums unser
Mensch-Sein begründet, kann eine bessere, eine neue Welt schaffen. In dieser Welt
könnten die Chancen einer neuen Technologie zum Wohle aller genutzt und die
Ökonomisierung aller Lebensbereiche verhindert werden. Es geht um nichts weniger
als um die Verteidigung unserer Grundwerte im 21. Jahrhundert. Es geht darum,
die Verdinglichung des Menschen nicht
zuzulassen. l
(Der Namensartikel
erschien am 6. Februar 2014 in der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung.)
36
Warum wir jetzt kämpfen müssen Argumente 1/2014
GEMEINSAM
FÜR EIN ANDERES,
BESSERES EUROPA
von Matthias Machnig, Leiter des Europawahlkampfs der SPD
Es gibt ein starkes Signal aus Rom.
Ein Signal der Geschlossenheit, der
Einigkeit, der Demokratie, des Wandels und des Aufbruchs. In Rom ist vor
wenigen Tagen Martin Schulz zum gemeinsamen Spitzenkandidaten der europäischen Sozialdemokratie gewählt
worden. Das gab es noch nie. Über
91 Prozent wollen mit ihm an der Spitze in die Europawahl ziehen, sie wollen, dass er der nächste EU-Kommissionspräsident wird – denn darum geht
es. Nach dem Vertrag von Lissabon
können die Staats- und Regierungschefs die Besetzung dieses wichtigen
Postens nicht mehr im Hinterzimmer
ausklüngeln. Sie kommen nicht mehr
am Votum des Parlaments vorbei.
Europa wird demokratischer.
Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aus 28 EU-Staaten haben sich ein
gemeinsames Programm gegeben, das Manifest für die Europawahl. Ein Manifest
für ein Europa der Menschen, nicht des
Geldes. Ein Europa der Demokratie, nicht
der Bevormundung. Ein Europa für mehr
Miteinander, nicht Gegeneinander. Ein
Europa der Vielfalt – das jungen Menschen eine gute und verlässliche Perspektive gibt.
Wir wollen die Finanzmärkte endlich
wirksam regulieren, wollen mehr gemeinsame Steuer- und Sozialstandards. Wir
wollen bei der Gleichstellung von Frauen
und Männern vorankommen und vor allem
auch bei dem Riesenproblem der Jugendarbeitslosigkeit in weiten Teilen Europas.
Gemeinsam für ein anderes, ein besseres Europa kämpfen. Das ist unser Auftrag.
Und das ist unser Profil. Denn wir sind klar
pro-europäisch – aber eben auch nicht europapolitisch naiv.
Das ist das Signal von Rom und das
macht Hoffnung auf eine gemeinsame gute
Zukunft in einem erfolgreichen und gerechten Europa.
37
Populisten und Skeptizismus...
Aber machen wir uns auch nichts vor.
Das alles ist kein Selbstläufer. In ganz
Europa sind Populisten unterwegs, rechts
ebenso wie links. Sie könnten viele Sitze
im Europäischen Parlament besetzen. Ihr
Antrieb sind Ressentiments, auch bedient
durch ein katastrophales Krisenmanagement konservativer Regierungschefs. Im
Angebot haben sie vermeintlich einfache
Antworten. Sie wollen ausgrenzen, abschotten, zurück zum Nationalstaat. Dagegen kämpfen wir – mit Leidenschaft,
Überzeugung und der Kraft besserer Argumente.
Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, jegliche Kritik an der Struktur der
Europäischen Union zu ignorieren. Denn
es gibt auch ganz berechtigte Vorbehalte
gegen eine überzogene Regelungsdichte
aus Brüssel, gegen zentrale Vorgaben in
Bereichen, die besser regional geregelt werden. Die gezielt zu hinterfragen, ist vernünftig. Martin nimmt diesen Gedanken
auf.
Was kennzeichnet außerdem den Rahmen, in dem wir uns bewegen? Trotz weit
verbreiteter Kritik waren Europawahlen in
der Vergangenheit nur wenig politisiert.
Die Wahlbeteiligung ist seit vielen Jahren
stetig gesunken. Sie lag 2009 nur noch bei
43 Prozent – 15 Jahre zuvor waren es immerhin noch 60. Und eine geringe Teilnahme schadet uns immer mehr als den
anderen. Nur rund ein Drittel der Menschen, die uns bei den letzten Bundestagswahlen ihre Stimme gegeben haben,
machten bei der folgenden Europawahl
dann auch ihr Kreuz bei der SPD – die
meisten blieben einfach zu Hause. Konser-
38
vative Wählerinnen und Wähler zum Beispiel sind schlicht disziplinierter. Für uns
heißt das: Wir müssen jetzt unsere Betriebstemperatur steigern.
Hinzu kommt: Immer weniger Menschen glauben, dass sie mit ihrer Stimme
Einfluss auf europäische Entscheidungen
nehmen können. Und sie vertrauen den
europäischen Institutionen nicht.
...und unsere Antwort
Das sind die Rahmenbedingungen, auf
deren Grundlage wir in den Europawahlkampf ziehen. Schwierig? Allemal. Hoffnungslos? Quatsch! Denn dieselben Menschen stehen nach wie vor Europa und der
EU-Mitgliedschaft Deutschlands sehr positiv gegenüber. Das sagen fast 90 Prozent.
Die Menschen wollen ein anderes, besseres Europa, transparenter, demokratischer, gerechter. Das sind unsere Themen.
Und die Menschen vertrauen Martin
Schulz mehr als Juncker.
Was heißt das alles für unseren Wahlkampf?
Wir führen eine europäische Kampagne und stellen Martin Schulz in den Mittelpunkt. Ein überzeugter Europäer soll
Präsident der Kommission werden. Unser
Ziel ist, stärkste Kraft im Europäischen
Parlament zu werden. Und das ist möglich
– wenn wir es schaffen, den Menschen die
Bedeutung der Wahl zu vermitteln, wenn
wir unsere Stammwählerschaft mobilisieren und auch bisherige Europa-Skeptikerinnen und -Skeptiker erreichen, wenn wir
die Wahlbeteiligung erhöhen!
Gemeinsam für ein anderes, besseres Europa Argumente 1/2014
Eine Chance bieten die zehn Kommunalwahlen, die parallel zur Europawahl am
25. Mai stattfinden. Beides müssen wir
miteinander verzahnen, um noch mehr
Frauen und Männer an die Wahlurnen zu
bringen. Wenn wir mit den Menschen
sprechen, sollten wir dort, wo Kommunalwahlen sind, auch darüber reden, warum
Europa wichtig ist – dass wir gemeinsam
etwas gegen Dumping-Löhne tun können,
dass es Wohlstand und Sicherheit nur miteinander und nicht gegeneinander gibt.
Aber auch, dass wir in Europa nur das entscheiden wollen, was nicht besser vor Ort
geregelt werden kann.
Und viele werden auch überzeugt sein,
wenn sie Martins Leidenschaft für Europa
und für die Bedürfnisse der Menschen erleben. Wenn sie ihn reden hören über seine
Ideen, seine Ziele und Werte. Dafür wird
er in ganz Europa auf Tour sein: in Paris,
Wien, Helsinki, Ljubljana, Warschau,
Ovieda, Prag, Straßburg und an vielen anderen Orten. 17 Großveranstaltungen
macht er allein in Deutschland – los geht’s
am 29. März in Hamburg.
Die Kampagne steht, die Vorbereitungen sind nahezu abgeschlossen. Jetzt geht
es darum, dass wir auf die Straßen und
Plätze gehen. Dass wir mit möglichst vielen Menschen über die Wahl sprechen. Ihnen sagen, dass ihre Stimme Gewicht hat.
Dass sie mitentscheiden können, wer der
nächste Präsident der EU-Kommission
wird. Dass ihre Stimme wichtig ist – für
ein anderes, besseres Europa!
Wenn junge Menschen mit Leidenschaft für diese Ziele kämpfen, werden
auch andere überzeugt sein. Das ist die
Schlüsselrolle der Jusos. l
39
DER GEGENANGRIFF:
FINANZINVESTOREN
ZERSTÖREN DAS
SOZIALE EUROPA
von Ole Erdmann, Wirtschaftsförderung metropoleruhr und Redaktionsmitglied der
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft, spw.
1. Einleitung
Im Februar 2014 debattieren die EUFinanzminister von elf Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, Italien und
Frankreich, die Einführung einer Mehrwehrsteuer auf Finanzdienstleistungen. Was Globalisierungskritiker und
das attac-Netzwerk seit vielen Jahren
fordern (attac 2013: 9), könnte nun
bald Wirklichkeit werden. Die große
Koalition in Berlin hat die Unterstützung für diese Steuer im Dezember
2013 in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Gelingt nun der Durchbruch bei der Regulierung der Finanzmärkte? Haben wir die Krise hinter
uns?
Im Folgenden wird versucht, mit einer
Krisenanalyse deutlich zu machen,
warum die Finanzkrise noch nicht vorbei ist. Die Beschäftigung mit der Krisendeutung und die daraus folgenden
40
Antworten auf die Krise sollen dann
helfen, die grundsätzlichen Probleme
in der derzeitigen Krisenbewältigung
aufzuzeigen. Abschließend werden einige Überlegungen zu inhaltlichen
und strategischen Antworten der Krise
aus jungsozialistischer Sicht zusammengestellt, die aus diesen Problemen folgen müssten.
2. Krisenursachen und Krisendeutung
Kritische Wirtschaftswissenschaftler
sehen in der nachlassenden Wachstumsdynamik und den dadurch einbrechenden
Gewinnen der Unternehmen in den westlichen Industrienationen in den 1970er
Jahren den Ausgangspunkt für die heutige
Krise. Um sich weitere Finanzierungs- und
Profitmöglichkeiten zu erschließen, drängten Großunternehmen und Finanzindustrie aus Europa, Japan und den USA auf
die Deregulierung der Finanzmärkte
Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014
(Scherrer und Beck 2013: 426). Gleichzeitig wurde der Druck auch an die Beschäftigten weitergegeben, in vielen Industrieländern stagnierten die Löhne. Um die
Nachfrage im US-amerikanischen Binnenmarkt trotz dieser Tatsache hoch zu
halten, wurde mit staatlicher Unterstützung die Schuldenaufnahme, insbesondere
für den Immobilienerwerb oder auch für
Hochschulbildung, gefördert. Diese zunehmende Verschuldung der privaten
Haushalte sollte durch die Illusion unveränderter Konsummöglichkeiten der Mittelschichten dafür sorgen, dass die zunehmende Umverteilung von unten nach oben
politisch abgesichert wurde (Stiglitz 2012:
133). Hier entstand der Treibsand, in dem
die Finanzmärkte 2007/2008 einsanken.
Die Situation in Europa unterschied
sich in einigen Bereichen, die Grundzüge
sind jedoch vergleichbar. So stagnierten
seit den 1990er Jahren auch in Deutschland die Löhne, was zu einer lang anhaltenden Nachfrageschwäche führte. Wegen
der lahmenden Binnenkonjunktur exportierten Banken und Investoren ihr Kapital
ins Ausland, u. a. auf die boomenden Finanzmärkte in den USA, statt in die Realwirtschaft zu investieren. Hier nahm die
Vernetzung der europäischen Banken mit
dem US-Markt ihr später in der Krise so
problematisches Ausmaß an. Eine besondere Situation lag in Europa jedoch mit der
Einführung des Euros um den Jahrtausendwechsel vor. Durch die einheitliche
Geldpolitik im Euroraum konnten die Nationalstaaten nicht mehr flexibel auf die
Wettbewerbsfähigkeit ihrer Volkswirtschaften durch Ab- oder Aufwertung der
Währung reagieren. Die Verschuldung
wurde aufgrund der einheitlichen Geldpolitik in Ländern wie Spanien und Irland so
günstig, dass vor allem im Immobiliensektor Vermögenspreisblasen und Überschuldung die Folge waren (böcklerimpuls
8/2013). In Ländern wie Griechenland
oder Italien stiegen zudem die Löhne über
das durch Produktivitätszuwächse gerechtfertigte Maß, was zusätzlich zur oberflächlich guten Entwicklung dieser Länder beitrug. Exportstarke Länder wie Deutschland oder Österreich profitierten durch die
wachsenden Ausfuhren in diese EuroPartnerländer. Die Banken vor allem aus
Frankreich und Deutschland finanzierten
private und öffentliche Schulden in den
heutigen südeuropäischen Krisenstaaten
(Lindner 2013: 7). Als 2008 die Bank Lehman Brothers kollabierte und auch britische und deutsche Banken mit in den Strudel gerieten, nahm diese Marktdynamik
ein jähes Ende.
Die Antworten, die in Europa auf diese
Krise gegeben wurden, lassen sich grob in
zwei Phasen unterteilen. In einer ersten
Phase zog man Konsequenzen aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise nach
1929 und stabilisierte international abgestimmt die Nachfrage durch massive staatliche Ausgabenprogramme. Außerdem
wurden Banken verstaatlicht bzw. mit öffentlichen Mitteln unterstützt, um sie vor
dem Kollaps zu schützen und eine Kreditklemme zu verhindern. Damit wich man
im Moment der akuten Krise von den neoliberalen Glaubenssätzen, dass der Markt
sich am besten allein regulieren sollte, massiv ab. Nachdem sich die Lage zunächst
stabilisiert hatte, traten in einer zweiten
Phase ab 2010 massive Finanzierungsschwierigkeiten der Euro-Staaten auf, denen eine differenzierte, produktive Wirtschaft mit einem stabilen industriellen
Kern fehlte. Ihre vorrangig auf Dienstlei-
41
stungen und/oder Immobilien gegründeten Volkswirtschaften waren nicht in der
Lage, die massiv gestiegene private und öffentliche Verschuldung zu bedienen. Da
nun aber die Krise in den öffentlichen
Haushalten sichtbar wurde, nutzten die
Neoliberalen die Chance zum Gegenangriff, um ihre nach 2008 in Frage gestellte
Deutungshoheit über politisches und ökonomisches Handeln wiederherzustellen.
Eine Krise, die aus ökonomischer Ungleichheit und problematischen Investitions- und Verschuldungsverhalten vor allem von privaten Akteuren entstand, wurde
zu einer Krise umgedeutet, bei der unverantwortlich handelnde Staaten über ihre
Verhältnisse gelebt hätten. Mit den Hilfsprogrammen wurden nun kurzerhand zunächst die Finanzinteressen der Großbanken in den nordeuropäischen Staaten
gesichert, d.h. ein Ausfall von Staatsanleihen der Krisenstaaten, die eben diese Banken in ihren Bilanzen hatten, weitgehend
abgewendet (Lindner 2013: 12). Gleichzeitig wurden durch den Zwang zur Privatisierung von Staatsbetrieben und zu Arbeitsmarktliberalisierung
(den
sog.
„Strukturreformen“) die Interessen privater
Investoren durchgesetzt. Das Lohniveau
und öffentliche Investitionen in den Krisenstaaten brachen ein, was zu einer weiteren und anhaltenden Kontraktion der betroffenen
Volkswirtschaften
führte.
Kündigungsschutz und Tarifverträge wurden beschnitten, Renten gekürzt und die
Gewerkschaften
massiv
geschwächt
(Busch, Hermann, Hinrichs, Schulten
2012). Mit dieser v.a. von Deutschland
durchgesetzten Austeritätspolitik wurde
auf breiter Front ein neoliberales Kampfprogramm in den Krisenstaaten umgesetzt,
wie es Jahre zuvor kaum durchsetzbar gewesen wäre.
42
Dieser neoliberale Gegenangriff ist im
Bereich der Finanzmärkte ebenfalls erfolgreich. Zwar wurden seit 2009 zahlreiche
Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz, dem Verbot einiger Aktivitäten,
Erhöhung der Eigenkapitalverpflichtungen für Banken und der verbesserten Finanzaufsicht (Stichwort Bankenunion)
durch die EU-Mitgliedstaaten, das EUParlament und die EU-Kommission
durchgesetzt. Sie bewegen sich aber ausschließlich im Rahmen der neoklassischen
Krisendeutung: die Herstellung von mehr
Transparenz und von mehr Haftungsverantwortung der handelnden Einzelakteure
würde ein grundsätzlich funktionierendes
System wieder zum Laufen bringen. Weder wurden die Mechanismen des Herdentriebs, der nachgewiesenermaßen die eben
nicht rational handelnden Investoren antreibt (Lux 2013: 17), die nach wie vor unendlich große Komplexität verschiedener
Finanzprodukte und Teilmärkte, noch die
wachsenden Einkommensungleichheiten
innerhalb der Volkswirtschaften und die
Ungleichgewichte zwischen ihnen angegangen. Eben diese drei Aspekte sind jedoch die grundlegenden Krisenursachen
(Dullien 2013: 27). Als Konsequenz ist
eine sich verfestigende Krise mit explodierenden Arbeitslosenraten in den südlichen
Krisenstaaten festzustellen. Dass die Krise
derzeit im Frühjahr 2014 nicht weiter ausgreift und sich im EU-Durchschnitt eine
leichte Erholung abzeichnet, ist derzeit vor
allem mit der Geldpolitik der EZB, d.h.
ihrer Bereitstellung großer Liquidität und
niedriger Zinsen, sowie der stabilen Weltkonjunktur zu erklären.
Private Investoren haben in der Krise
gelernt, dass die Staaten letztlich ihre Risiken übernehmen und die Krisenkosten auf
Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014
Lohnabhängige und Steuerzahler abwälzen. Eine nennenswerte Beteiligung der
privaten Finanzmarktakteure an den Krisenkosten hat bislang nicht stattgefunden.
Die Flutung der Märkte mit Liquidität hat
zwar kurzfristig zur Stabilisierung im
Euro-Raum geführt, birgt aber das Risiko
zum Aufbau neuer Spekulationsblasen.
Angesicht der Lohneinbußen, der eingebrochenen Nachfrage im Euroraum und
ausbleibender privater und öffentlicher Investitionen ist damit die nächste Krise vorprogrammiert (böcklerimpuls 2/2014).
Insbesondere in Deutschland, das zeigt
die Bundestagswahl 2013, hat die Krisendeutung einer selbst verschuldeten Staatsschuldenkrise der betroffenen Länder, bei
einer großen Mehrheit der Wähler gegriffen. Die Erzählung, der deutsche Steuerzahler solle nicht mehr für den unproduktiven Südländer aufkommen, dieser müsste
sich durch Sparanstrengung vielmehr
selbst retten, ist erfolgreich von CDU,
FDP und AfD verbreitet worden. Das
blendet die (fortdauernden) eigentlichen
Krisenursachen und die Vorteile, die die
deutsche Volkswirtschaft aus den Krisenländern gezogen hat, völlig aus. Und es
versetzt hier wie dort die neoliberalen Eliten in die Lage, weiter angeblich zu hohe
Löhne und Steuern, zu umfassende öffentliche Beschäftigung und staatliche Regulierung von Arbeits- und Finanzmärkten
als Ursache für ökonomische Probleme zu
deuten. Die so gegeneinander in Stellung
gebrachten Wählerschaften der verschiedenen europäischen Länder drohen schon
bei der nächsten Europawahl im Mai 2014
mit Abwanderung Richtung anti-europäischer Populisten. Die Fliehkräfte in der
EU nehmen auch auf Seiten der Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten zu, wie etwa
mit der Androhung einer Abstimmung
über den EU-Austritt in Großbritannien.
Diese Situation lässt die Grundlagen der
europäischen Einigung und des europäischen Sozialmodells in dramatischer Art
und Weise erodieren.
Kurzum: die Investoren und Banken an
den Finanzmärkten haben sich von der
Krise erholt, die Kosten weitgehend auf
Steuerzahler und Arbeitnehmer abgewälzt
und bekämpfen die notwendige Regulierung und ihre Kostenbeteiligung auf das
Aggressivste. Die Allianz einer neoliberalneoklassisch geprägten Wirtschaftswissenschaft, den Unternehmerverbänden, konservativ-liberalen Parteien, weiten Teilen
der EU-Kommission und vielen nationalen
Finanz- und Wirtschaftsministerien setzt
die europäische Einigung und die sozioökonomische Existenz großer Teile der
EU-Bevölkerung aufs Spiel, um die Profite
weniger hundert Investoren und Großkonzerne zu sichern.
3. Alternative Krisenantworten und
deren Durchsetzung
Für die JungsozialistInnen stellt sich
die Frage, wie auf diese Gemengelage reagiert werden kann. Zum einen geht es um
die inhaltliche Erfassung der Krise und die
sich daraus ableitenden Maßnahmen. Zum
anderen geht es darum, sich angesichts der
Entwicklung des Krisendiskurses seit 2010
um die Vermittlung und Durchsetzung
dieser Maßnahmen Gedanken zu machen.
Denn selbst das offenkundige Scheitern
der Austeritätspolitik in den südlichen Krisenstaaten und die massive Gefährdung
der Grundlagen der europäischen Einigung, scheinen keine alternative Krisenbearbeitung anzustoßen.
43
Hinsichtlich der inhaltlichen Antwort
auf die Krise, die einen nachhaltigen
Wachstumspfad unter Berücksichtigung
der sozialen und ökologischen Kosten zum
Ziel hat, haben progressive Ökonomen wie
der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, Vertreter des Instituts für Makroökonomie
und Konjunkturforschung (IMK) der
Hans-Böckler-Stiftung oder Globalisierungskritiker von attac zahlreiche Vorschläge gemacht. Im Kern steht für diese
die Stärkung der unteren Einkommen sowie der Investitionskraft der öffentlichen
Hand vor allem in den Krisenstaaten, aber
auch in Deutschland. Die Kosten dafür
sollten die Krisenverursacher und -profiteure aufbringen, also die Finanzinvestoren, große Unternehmen und Banken. Auf
den Finanzmärkten muss die von der EUKommission 2013 vorgeschlagene Finanztransaktionssteuer zügig umgesetzt werden. Durch eine einmalige umfassende
Vermögensabgabe können zusätzlich Einnahmen für die öffentliche Hand zur Bewältigung der Krisenkosten erzielt werden.
Mit einer Genehmigungspflicht für JEDES Finanzprodukt und der Sanktionierung von Geschäften mit Schattenbanken
und Steueroasen kann der Wildwuchs und
das exponenzielle Anwachsen spekulativer
Finanzinstrumente zumindest gedämpft
werden. Natürlich ist auch sowohl in
Deutschland wie auch den Krisenländern
eine effektive Steuerverwaltung und die systematische Bekämpfung von Steuerhinterziehung ein wichtiger Baustein, wobei
dieser jedoch auf die Krisendynamik an
den Finanzmärkten kaum Auswirkungen
haben dürfte.
Die Finanzmarktregulierung ist aber
nur ein wichtiger Schritt hin zu einer alternativen Krisenbewältigung. Für die Attrak-
44
tivität einer alternativen Wirtschaftspolitik
ist eine positive Perspektive entscheidend:
Arbeit, Leistung, technologischer und sozialer Fortschritt müssen zu einer neuen
Erzählung zusammengefügt werden. Anreize für und Förderung von Investitionen
für die Entwicklung und Verbreitung von
ökologisch nachhaltigen Technologien bieten enormes Potenzial für Wachstum und
Beschäftigung. Innovationsfähigkeit und
Produktivität wird durch die gesetzliche
und tarifpolitische Förderung stabiler und
gut bezahlter Arbeitsbeziehungen gesichert
(böcklerimpuls 11/2013). Eine gerechtere
Verteilung der Gewinne würde zur Stärkung der Binnennachfrage im Euroraum
führen und die Krisendynamik in den südlichen Ländern stoppen helfen (EuroMemorandum 2014: 2).
Die immer stärker auf Wissen aufbauende wirtschaftliche Dynamik moderner
Volkswirtschaften verlangt massive öffentliche Investitionen in Bildung und Forschung. Martin Schulz hat dazu schon
2009 die Einführung eines europäischen
Sozialpaktes vorgeschlagen, der analog
zum Stabilitäts- und Wachstumspakt die
Mitgliedstaaten zu einer vergleichbaren
prozentualen Höhe der Sozial- und Bildungsausgaben verpflichten würde. Eine
Angleichung der Leistungsbilanzungleichgewichte, also eine Stärkung der Importe
in den derzeitigen Exportüberschussländern wie Deutschland würde ebenso zur
Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung UND der sozialen Situation in
ganz Europa und vor allem in der EuroZone beitragen. Dies lässt sich über eine so
genannte Clearing Union erreichen, die die
großen Abweichungen in der Handelsbilanz ausgleichen hilft (Dullien 2013: 29;
attac 2013: 15).
Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014
Mit Blick auf die politische Durchsetzung solcher Maßnahmen stellt sich die
schwierigere Frage: Wie kann ein nachhaltiges Bündnis für eine solche Politik geschmiedet und die entsprechende öffentliche Unterstützung gewonnen werden?
Konstantin Vössing analysiert die Stimmungslagen in den verschiedenen europäischen Ländern in einem Artikel in der
Zeitschrift für Sozialistische Politik und
Wirtschaft (Vössing 2013: 33). Er rät
dazu, statt einer Umverteilung zwischen
Staaten die Umverteilung innerhalb der
Staaten in den Mittelpunkt zu stellen. Verschafft man der Logik Raum, dass eben vor
allem die Wirtschaftseliten (und nicht die
Staaten und die abhängig Beschäftigen)
über ihre Verhältnisse gelebt und sich nun
der ökonomischen Verantwortung bei
Steuerzahlung und Investitionen entzogen
haben, kann man dieser sowohl in den Krisenländern als auch in Deutschland folgen.
Es geht im Kern darum, die Profiteure der
Krise zu identifizieren und politisch anzugreifen. Einen Appell an Solidarität mit
den Krisenländern übersetzen in der aktuellen Situation viele Arbeitnehmer und
durchschnittliche Steuerzahler mit einer
weiteren Belastung für ihr eigenes Portemonnaie. Gelingt es stattdessen, italienische, griechische und spanische Milliardäre von den Sympathiewerten eines
Berlusconi, Steuerhinterzieher wie Uli
Hoeneß und manipulativ tätige Banken
wie die Deutsche Bank in den Mittelpunkt
der Kritik zu rücken, die systemischen Ursachen also mit realen Personen und Unternehmen zu verknüpfen und das systemische Versagen damit zu „personalisieren“,
könnte eine andere Diskursdynamik entstehen. Ergänzt werden muss diese mit einer positiven Perspektive. Hier sollte neben
dringend notwendigen Aufwendungen für
höhere Löhne, vor allem die Investition in
Bildung und nachhaltige Technologien
und Infrastrukturen im Mittelpunkt stehen.
Schlussendlich müssen die JungsozialistInnen auch wieder stärker einen alternativen soziökonomischen Wissenschaftsdiskurs verfolgen und dessen Erkenntnisse für
sich nutzen. Vielfach ist in den letzten Jahren selbst unter bislang eher als neoklassisch geprägten Ökonomen wie Prof.
Straubhaar oder Prof. Binswanger, dem
Doktorvater von Josef Ackermann, die Erkenntnis gereift, dass die neoklassisch erstarrte Wirtschaftswissenschaft wie sie bislang vor allem an europäischen Universitäten gelehrt und angewendet wird, keine
brauchbaren Antworten für die Zukunft
hat (Binswanger 2013, Straubhaar 2011).
Neben der Einbeziehung der Disziplinen
der Soziologie, Politikwissenschaft und der
Psychologie bedarf es grundsätzlich anderer Annahmen, um ökonomische Prozesse
zu analysieren und neue Antworten auf die
größte Krise seit 1929 jenseits der neoliberalen Dreifaltigkeit (niedrige Löhne, niedrige Steuern, weniger Staat) zu finden. Der
Soziologe Dirk Helbing weist beispielsweise empirisch nach, dass statt des „homo
economicus“ (der Mensch optimiert egoistisch seinen eigenen Nutzen) oftmals eher
der „homo socialis“ (der Mensch optimiert
den Nutzen für die soziale Gruppe, der er
angehört) wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse und Dynamiken bestimmt.
Ausgehend von dieser grundsätzlichen anderen Sichtweise auf die Entscheidungsdynamik in der Wirtschaft, entwirft er das
Konzept der „partizipativen Marktgesellschaft“, die er auch als „socionomics“ beschreibt. Das Konzept ist inspirierend für
eine moderne (jung)sozialistische Diskus-
45
sion über die Wirtschaft der Zukunft
(Helbing 2013: 31).
4. Fazit
In der Diskussion um die Bewältigung
der europäischen Finanzmarktkrise geht es
längst nicht mehr um nur die Wahl der
richtigen Maßnahmen zur Regulierung der
außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte.
Es geht zum einen um eine grundsätzliche
Kritik des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus, der mit den globalen unregulierten
Finanzmärkten Strukturen, Prozesse und
mächtige Einzelkapitalien erzeugt hat, deren Handeln die produktive Basis und die
soziale und politische Ordnung, die seiner
eigenen Erhaltung dienen, zu zerstören
drohen. Und es geht um realistische Perspektiven für ein neues Wirtschaftsmodell
(vgl. Dullien, Herr, Kellermann 2009:
227).
Der aktuelle öffentliche und politische
Diskurs bewegt sich weiterhin in der geschlossenen Weltsicht neoklassischer
Markthörigkeit und blendet die eigentlichen Ursachen der Krise aus. Aber erste
Elemente einer darüber hinaus gehenden
Logik sind mit der Finanztransaktionssteuer in greifbare Nähe gerückt. Über einzelne Instrumente zur Regulierung der Finanzmärkte und zur Umverteilung hinaus,
wird ein wirtschaftspolitischer Kurswechsel jedoch nur gelingen, wenn auch ein
wirtschaftswissenschaftlicher, um nicht zu
sagen, politökonomischer Paradigmenwechsel forciert wird. Anzeichen für einen
solchen Paradigmenwechsel gibt es.
Europa die Logik der Politik für bestimmte soziale Gruppen (Einkommensschwache, Arbeitnehmer, innovative sozial-ökologische Unternehmer, soziale Entrepreneurs etc.) und gegen bestimmte soziale
Gruppen (Finanzinvestoren, Großkonzerne, Banken, Millionärsclans, Steuerhinterzieher) an die Stelle einer Logik von Politiken für oder gegen bestimmte Staaten zu
setzen. Solidarität funktioniert nur als Solidarität zwischen Menschen bestimmter
Gruppen und nicht zwischen Staaten. Der
Auseinandersetzung um die Regulierung
der Finanzmärkte kommt dabei eine zentrale Rolle zu, da sich dort die problematischen Folgen von Reichtumsumverteilung
und Marktversagen am sichtbarsten und
schnellsten zuspitzen.
Hilfreich dabei ist das Verständnis von
politischen Diskursen und deren Verankerung in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen (Mikfeld, Turowksi 2013:
64ff ). Darauf aufbauend können entsprechende „Narrative“ entwickelt werden, mit
denen die oben nur angedeuteten Allianzen gesellschaftlicher Gruppen anzusprechen und zu mobilisieren sind. Es gilt, den
neoliberalen Gegenangriff abzuwehren
und die verschiedenen Ansätze für ein progressives Wirtschaftsmodell endlich zu einem neuen Fortschrittsprojekt des sozialen
Wachstums (Dauderstädt 2012: 42) zu verknüpfen. Hier sind Ideen, Erfahrungen
und Vorschläge der JungsozialistInnen
dringend gefragt. l
Schlussendlich kommt es aber vor allem darauf an, in der aktuellen Diskursauseinandersetzung um die Krisendeutung in
46
Der Gegenangriff: Finanzinvestoren zerstören das soziale Europa Argumente 1/2014
Quellen:
Joseph Stiglitz: „Der Preis der Ungleichheit“, München 2012.
Attac – Bundes-AG Finanzmärkte und Steuern:
„Vorschläge zur Neuregulierung der Finanzmärkte –
zweite aktualisierte Fassung“, Juni 2013.
Thomas Straubhaar: „Der große Irrtum“ in Financial
Times Deutschland vom 09.10.2011.
Stefan Beck, Christoph Scherrer: „Die Finanzialisierungslücke der Varieties of Capitalism“, prokla 172,
Münster 2013.
Jan Turowski, Benjamin Mikfeld: „Gesellschaftlicher
Wandel und politische Diskurse“, Werkbericht Nr. 3
denkwerk demokratie, Berlin 2013.
Christoph Binswanger: „Wachstum braucht Geld,
Energie und Imagination“, in FAZ vom 09.01.2013,
Frankfurt 2013.
Konstantin Vössing: „Sozialdemokratie und Europäische Integration“ in spw Nr. 199, Dortmund 2013.
Böcklerimpuls 8/2013: „Gemeinsame Währung
braucht Fiskalunion“, nach Hubert Gabrisch, Düsseldorf 2013.
Böcklerimpuls 11/2013: „Das alte Europa punktet
bei Produktivität“, nach Alfred Kleinknecht, Düsseldorf 2013.
Böcklerimpuls 2/2014: „Im Strudel der Deregulierung“, nach Stephan Schulmeister, Düsseldorf 2014.
Klaus Busch, Christoph Hermann, Karl Hinrichs,
Thorsten Schulten: „Eurokrise, Austeritätspolitik
und das Europäische Sozialmodell“, FriedrichEbert-Stiftung – Internationale Politikanalyse, Berlin 2012.
Dr. Michael Dauderstädt: „Soziales Wachstum“, in
Argumente 3/2012; Berlin 2012
Dullien, Herr, Kellermann: „Der gute Kapitalismus,
Kapitel 4.2. Globale Finanzen brauchen globales
Management“, transcript Verlag, Berlin 2009.
Euromemorandum 2014: „Europa spaltet sich. Die
Notwendigkeit für radikale Alternativen zur gegenwärtigen EU-Politik“, EuroMemo Gruppe 2014.
Dirk Helbing: „Economics 2.0: The natural Step towards a self-regulating, participatory market society“,
Institute for New Economic Thinking, Research
Note #032, New York 2013.
Fabian Lindner: „Banken treiben Eurokrise“, IMK
Report 82, Düsseldorf 2013
Thomas Lux: „Effizienz und Stabilität von Finanzmärkten: Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel?“, Wirtschaftsdienst 2013, Sonderheft 93. Jahrgang, Hamburg 2013.
47
„RIGHT2WATER“ –
EINE ERFRISCHUNG
FÜR DIE EUROPÄISCHE
DASEINSVORSORGE!
von Sylvia-Yvonne Kaufmann, Kandidatin der SPD für die Europawahl
Es ist wohl kein Zufall, dass die Europäische Bürgerinitiative (EBI) „Wasser
und sanitäre Grundversorgung sind
ein Menschenrecht“ als eine der ersten Bürgerinitiativen den Zugang zu
einem öffentlichen Gut behandelte.
Sie diente wohl auch als ein Ventil für
das aufgestaute Bedürfnis von Bürgerinnen und Bürgern, sich dem steigenden Liberalisierungsdruck bei der Daseinsvorsorge entgegenzustellen. Man
kann den Initiator/innen und Unterzeichner/innen der EBI „right2water“
für den Einsatz eines direktdemokratischen Instruments für den Aufbau eines sozialen Europas nur danken. Die
bereits verbuchten Erfolge dieser EBI
haben unter Beweis gestellt, dass ein
Bedürfnis besteht, die öffentliche Daseinsvorsorge vor Wettbewerbsfanatikern besser zu schützen – ein klarer
Auftrag für die europäische Sozialdemokratie auch nach der Europawahl.
48
Wie die EBI für das öffentliche Gut
Wasser einen Damm gebrochen hat
Die EBI „Wasser und sanitäre Grundversorgung sind ein Menschenrecht!“ (die
häufig verwendete Kurzform „right2water“
entspringt
dem
Homepagenamen
„www.right2water.eu“) wurde im April
2012 von einem Zusammenschluss europäischer Gewerkschaften bei der EUKommission eingereicht. Im Mai 2013
hatte man nach guter Öffentlichkeitsarbeit
europaweit über 1,5 Millionen Unterschriften gesammelt und in acht EU-Ländern (Belgien, Deutschland, Finnland, Litauen, Luxemburg, Österreich, Slowenien
und in der Slowakei) das notwendige Mindestquorum erreicht. Schließlich hatte die
EBI bereits im September 2013 vor Fristablauf fast 1,9 Millionen Unterschriften.
Die Initiative orientierte sich an der
UN-Resolution 64/292 aus dem Jahr 2010,
„Right2water“ – eine Erfrischung für die europäische Daseinsvorsorge! Argumente 1/2014
welche die Trinkwasser- und Sanitärversorgung als Menschenrecht definiert. Die
Initiator/innen der EBI verwiesen berechtigterweise darauf, dass bei Wasser keine
Liberalisierungspolitik wie bei Handelswaren, sondern der Grundsatz der Daseinsvorsorge gelten sollte. Sie forderten erstens
eine Garantie von der EU und den Mitgliedstaaten auf das Recht auf Wasser und
sanitäre Grundversorgung. Zweitens sprachen sie sich gegen die Unterwerfung der
Versorgung mit Trinkwasser und der Bewirtschaftung der Wasserressourcen unter
die Binnenmarktregeln aus und wandten
sich gegen eine Liberalisierung der Wasserwirtschaft. Schließlich forderten sie verstärkte Initiativen von der EU, um einen
universellen Zugang zu Wasser und sanitärer Grundversorgung zu erreichen.
Warum setzte sich die Bürgerinitiative
für einen Rechtsakt ein, der die erwähnte
UN-Resolution respektiert sowie „eine
funktionierende Wasser- und Abwasserwirtschaft als existenzsichernde öffentliche
Dienstleistung für alle Menschen fördert“?
Es ging um Gesetzesvorschläge der EU,
die auf eine Einschränkung der öffentlichen Daseinsvorsorge hinausliefen. Die
Reformpläne der Kommission behandelten
Dienstleistungskonzessionen, die dazu dienen, kommunale Aufgaben von der Kommune auf einen Dritten zu übertragen.
Diese waren bis dahin von spezifischen
EU-Regelungen ausgeschlossen; ab 2010
lag aber der Kommissionsvorschlag
(KOM(2010) 608) auf dem Tisch, der für
Dienstleistungskonzessionen eine Pflicht
zur Ausschreibung einführen würde. Die
Wasserversorgung sollte nach ersten Kompromissvorschlägen zunächst lediglich bis
2020 und nur bei hundertprozentigen Besitzverhältnissen der öffentlichen Hand
ausgenommen werden. Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Bundestag und im Europäischen Parlament,
auch der gesamte Bundesrat, sprachen sich
jedoch gegen solch weitreichende Pläne
aus.
Vor dem Hintergrund dieses Kampfes
um die Wahrung der Daseinsvorsorge bei
Wasser und Abwasserdiensten war die EBI
nicht nur hilfreich, sondern schließlich
überaus erfolgreich. Die Europäische
Kommission fühlte sich veranlasst, aufgrund des großen öffentlichen Drucks die
öffentliche Wasserversorgung aus der Konzessionsrichtlinie ganz herauszunehmen.
Evelyne Gebhardt (SPD), Sprecherin der
S&D-Fraktion für Binnenmarkt und Verbraucherschutz im Europäischen Parlament, meinte hierzu: „Der Widerstand von
Sozialdemokraten im Europäischen Parlament und von Bürgerbewegungen, wie der
Europäischen Bürgerinitiative ,right2water‘, hat auch bei der Europäischen Kommission zur Erkenntnis geführt, dass der
bisherige Vorschlag politisch nicht akzeptabel war.“
Der Schulterschluss zwischen Zivilgesellschaft und den Sozialdemokraten erwies sich also mehr als zielführend, um ein
öffentliches Gut und Menschenrecht zu
schützen. Das passte bestens zum allgemeinen Anspruch des seit 2012 existierenden, neuartigen Instruments der Europäischen Bürgerinitiative, das es der
Zivilgesellschaft ermöglichen soll, das europäische Projekt selbst in die Hand zu
nehmen (dazu auch meine Rede „Kurze
Geschichte und Genese der Europäischen
Bürgerinitiative“ in „EU-in-BRIEF“, Ausgabe 12-3 in 2012, Europäische Bewegung
Deutschland).
49
Durch die am 17. Februar 2014 durchgeführte öffentliche Anhörung zur EBI
„right2water“ im Europäischen Parlament,
erhielt die breite öffentliche Diskussion
rund um das Thema weitere Impulse. Die
EU-Kommission veröffentlichte am 19.
März (Pressemitteilung der Kommission
vom 19.3.2014; IP-12-277) ihre Stellungnahme, aus der hervorgeht, dass sie die Anliegen der EBI ernst nimmt. Sie kündigte
verschiedene konkrete Maßnahmen an, wo
ihres Erachtens auf EU- und auf nationaler
Ebene Handlungs- bzw. Verbesserungsbedarf besteht. U. a. versprach sie, auch bei
internationalen Handelsverhandlungen sicherzustellen, dass die auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene getroffenen
Entscheidungen über die Verwaltung von
Wasserdienstleistungen respektiert und gesichert werden. Es ist erfreulich, dass das
Thema daher auch in den kommenden
Jahren im Fokus der öffentlichen politischen Debatte bleiben wird.
Öffentliche Daseinsvorsorge im rechtlichen Spannungsfeld
Mit dem in Deutschland gebräuchlichen Begriff der „(öffentlichen) Daseinsvorsorge“ ist gemeint, dass der Staat für
seine Bürgerinnen und Bürger die Grundversorgung mit lebensnotwendigen Gütern
bzw. Leistungen gewährleisten soll. Ganz
allgemein werden darunter Leistungen
verstanden, die im Interesse der Allgemeinheit liegen, wie etwa die Belieferung
mit Strom, Gas oder Wasser.
Die europäischen Verträge kennen den
Begriff der Daseinsvorsorge nicht. Hier ist
vielmehr von „Diensten bzw. Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem
Interesse“ die Rede. Im Vertrag von Lissa-
50
bon wird die besondere Bedeutung der sog.
„Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen
Interesse“ in Art. 14 AEUV und in Protokoll Nr. 26 unterstrichen. Es besteht eine
gemischte Zuständigkeit zwischen der EU
und den Mitgliedstaaten. Auch wird durch
die Protokollbestimmung den nationalen,
regionalen und lokalen Behörden ein weiter Ermessensspielraum zugestanden.
Dennoch, das rechtliche Spannungsfeld
mit den EU-Wettbewerbsregeln des Binnenmarktes und dem Vergabe- und Beihilferecht ist nach wie vor gegeben, und die
Auseinandersetzungen um die Richtlinie
zur Konzessionsvergabe zeigten, dass Leistungen der Daseinsvorsorge unter Verweis
auf Wettbewerbsfragen auch künftig unter
Druck geraten können. Vor diesem Hintergrund bleibt es für uns eine wichtige politische Aufgabe, den Schutz der öffentlichen kommunalen Daseinsvorsorge genau
im Auge zu behalten.
Die Gefahren der schnellen Privatisierung zu Gunsten von einmaligen Finanzspritzen lauern europaweit und entfalten
längerfristig oft verheerende Wirkung. Einige der Daseinsvorsorge ehemals zugerechneten Dienste wurden in der Vergangenheit bereits mit Zustimmung der
Mitgliedstaaten und der Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs zumindest
in Teilen liberalisiert, dazu gehört der Telekommunikations-, Verkehrs-, Post- und
Strom- bzw. Energiebereich. So manche
Kommune hat inzwischen bedauert, voreilig gehandelt zu haben – und ruderte im
Nachhinein wieder zur öffentlichen Daseinsvorsorge zurück.
Es ist an uns mitzubestimmen, wie die
Daseinsvorsorge in der EU künftig aufgestellt ist!
„Right2water“ – eine Erfrischung für die europäische Daseinsvorsorge! Argumente 1/2014
Europäische Fragen der Daseinsvorsorge sind heute aktueller denn je. Jede EUBürgerin und jeder EU-Bürger ist davon
betroffen. So, wenn beispielsweise sichergestellt werden muss, dass kommunale
Dienstleistungen nicht in die laufenden
Verhandlungen zum europäisch-amerikanischen Freihandelsabkommen („TTIP“)
einbezogen werden. Die SPD-Gruppe im
Europäischen Parlament konnte zudem
erst kürzlich vermelden, dass im Zuge der
Revision der Vergaberichtlinie auch die
Rettungsdienste europaweit nicht dem Privatisierungszwang ausgesetzt sein werden
– ein weiterer Erfolg auf dem Weg zu einer
stärkeren Daseinsvorsorge und einem sozialeren Europa, an dessen Fundament wir
weiterbauen müssen.
schen der Zivilgesellschaft und kommunalen Unternehmen und Verbänden aufzubauen, das für die Wahrung der öffentlichen Daseinsvorsorge in Europa aktiv
wird.
Die EBI zum Recht auf Wasser trug
ihrerseits erfolgreich dazu bei, indem sie
durch den Aufbau zivilgesellschaftlichen
öffentlichen Drucks die sozialdemokratischen politischen Kräfte stärkte und mit
verhinderte, dass die Bereitstellung von
Wasserdienstleistungen aus der Richtlinie
der Konzessionsvergabe herausgenommen
wurde. Ich hoffe daher, dass weitere solche
Bürgerinitiativen folgen! l
Die SPD hat sich ebenso auf Bundesebene dafür stark gemacht, im Koalitionsvertrag mit der Union eine Klausel zu verankern, nach der die Daseinsvorsorge in
Europa geschützt und dem Wettbewerbsprinzip des EU-Binnenmarktes zugunsten
des öffentlichen Gemeinwohls Schranken
gesetzt werden sollen: „Wir werden jeder
weiteren Einschränkung der Daseinsvorsorge durch EU-Politiken offensiv entgegentreten. Nationale, regionale und lokale
Besonderheiten in der öffentlichen Daseinsvorsorge dürfen durch europäische
Politik nicht ausgehebelt werden.“
Die EU soll auch nach dem Willen unseres gemeinsamen sozialdemokratischen
Spitzenkandidaten Martin Schulz noch
näher an die Bedürfnisse von EU-Bürgerinnen und -Bürger rücken. Eine konsequente Anerkennung der öffentlichen Daseinsvorsorge würde hierfür einen
wichtigen Beitrag leisten. Wichtig wäre
zudem, ein europaweites Bündnis zwi-
51
BEKÄMPFUNG VON
STEUERHINTERZIEHUNG
UND STEUERVERMEIDUNG
von Lothar Binding, finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion
Der Preis für eine zivilisierte
Gesellschaft
„Steuern sind der Preis, den wir für
eine zivilisierte Gesellschaft zahlen“
äußerte 1870 Oliver Wendell Holmes
im Juso-Alter von 29 Jahren, ab 1902
Richter am obersten US-Bundesgericht. Diese Einsicht scheint bei einigen derjenigen, die sich Elite nennen
und bei vielen international tätigen
Unternehmen verloren gegangen zu
sein. Bürger entziehen sich ihrer Steuerpflicht vor allem, indem sie ihre Gelder in Staaten mit einem strikten
Bankgeheimnis parken und indem sie
Stiftungskonstruktionen nutzen, die
den wahren Eigentümer im Dunkeln
lassen. Der Umfang der Steuerhinterziehung, d.h. der rechtswidrigen Entziehung vor der Steuerpflicht, lässt
sich nur vage schätzen. Die Deutsche
Steuergewerkschaft schätzt die Steuerhinterziehung in Deutschland auf rd.
52
50 Mrd. Euro pro Jahr. Bei international tätigen Unternehmen lassen sich
immer komplexere Strategien zur
Steuervermeidung feststellen, durch
die Gewinne in Niedrigsteuerländer
verlagert werden. Im Unterschied zur
Steuerhinterziehung handelt es sich
bei der Steuervermeidung um eine
missbräuchliche, aber formal legale
Ausnutzung von Lücken im Steuersystem. Dieses Verhalten rechtfertigt
sich aus der Annahme, es sei alles erlaubt, was nicht verboten ist. Wäre
diese Annahme jedoch richtig, könnte
es keine zivilisierte Gesellschaft geben.
Das Ausmaß illegaler Steuerhinterziehung und formal legaler Steuervermeidung
gefährdet die Handlungsfähigkeit des
Staates. Wichtige öffentliche Leistungen
wie Bildung, Infrastruktur, die sozialen Sicherungssysteme aber auch die öffentliche
Sicherheit, können auf Dauer nur erbracht
werden, wenn alle Bürger und Unterneh-
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014
men entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit
zur Finanzierung des Staates beitragen.
Wer Steuern hinterzieht, lebt somit auf
Kosten seiner Mitbürger. Ein vom Staat
geduldeter Steuerbetrug verletzt das Gerechtigkeitsgefühl vieler Menschen und
untergräbt die Akzeptanz des Steuersystems. Steuerbetrug ist gelebte Ungerechtigkeit.
In den letzten Jahren sind Steuerhinterziehung und Steuervermeidung wieder
stärker ins Visier geraten. Den ersten Versuch, eine Brücke in die Steuerehrlichkeit
zu bauen, unternahm Hans Eichel. Reumütige Steuerhinterzieher, die Geld in
Steueroasen transferiert hatten, konnten
zwischen dem 1. Januar 2004 und 31. März
2005 straffrei und sogar zu günstigen Konditionen das Geld repatriieren, also nach
Deutschland zurückholen und hier künftig
legal versteuern. Das Ergebnis dieser Ehrlichkeitsoffensive war niederschmetternd.
Der Beweis war erbracht: Mit sanften Mitteln würden sich die Betrüger nicht überzeugen lassen, wieder steuerehrlich zu werden. Deshalb müssen wir auch kein
Mitleid haben, wenn sich Zehntausende
trotz Selbstanzeige heute schlechter stellen
oder ohne Selbstanzeige mit einer Gefängnisstrafe rechnen müssen – sie haben die
damalige Chance nicht nutzen wollen.
Die im Zusammenhang mit dem Ankauf von Steuer-CDs bekannt gewordenen
Fälle von Steuerhinterziehung Prominenter haben eine breite öffentliche Debatte
über Steuerhinterziehung ausgelöst. Durch
das Rechercheprojekt „Offshore Leaks“ des
International Consortium of Investigative
Journalists wurde ein bisher kaum vorstellbares Ausmaß an Steuerhinterziehung aufgedeckt.
Bekämpfung der Steuerhinterziehung
Die SPD tritt schon lange für eine effektivere Bekämpfung von Steuerhinterziehung ein. In einer Zeit, in der aus
schwarz-gelber Richtung bevorzugt der
„Sozialschmarotzer“, der „Sozialhilfe-Betrüger“ thematisiert und Steuerhinterziehung eher als Kavaliersdelikt angesehen
wurde, hat sich die SPD-Fraktion darum
gekümmert, die nationalen Kontroll- und
Sanktionsmöglichkeiten der Finanzverwaltung zu erweitern. Noch vor wenigen
Wochen wurde in der CDU- Arbeitsgruppe Finanzen von „Jugendsünde“ gesprochen – aber Steuerhinterziehung ist nichts
für den Beichtstuhl, Steuerhinterziehung
ist eine Straftat. Durch die Einführung des
Kontenabrufs wurde das Bankgeheimnis in
Deutschland
praktisch
geknackt.
CDU/CSU und FDP hatten Tränen in
den Augen beim wehmütigen Blick in die
Schweiz, die ihr Bankgeheimnis damals
mit Zähnen und Klauen verteidigte. Seit
2005 kann das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) Anfragen für die Finanzbehörden und andere Behörden durchführen,
wenn ein Steuerpflichtiger keine hinreichenden Angaben über seine Einkommensverhältnisse geben kann oder will. Bei
Verdacht auf bandenmäßige Umsatz- und
Verbrauchsteuerhinterziehung wurde die
Möglichkeit der Telekommunikationsüberwachung eingeführt. Die Verjährungsfristen für die Verfolgung besonders
schwerer Steuerhinterziehungsfälle wurden verlängert.
Steuerhinterziehung erfolgt aber vor allem durch Flucht in ausländische Steueroasen. Für die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ist deshalb vor allem die
Durchsetzung eines wirksamen, d.h. auto-
53
matischen internationalen Informationsaustausches über die von Steuerpflichtigen
im Ausland gehaltenen Vermögen und erzielten Einkünfte entscheidend.
einschließlich der Schweiz, Luxemburg
und Österreich haben mittlerweile bilaterale Abkommen mit den USA über die
Umsetzung von FATCA abgeschlossen.
Die Durchsetzung eines automatischen
internationalen Informationsaustausches
scheiterte bisher am Widerstand der Steueroasen. Innerhalb der Europäischen Union soll ein solcher Informationsaustausch
durch die EU-Zinsrichtlinie und die EUAmtshilferichtlinie schrittweise eingeführt
werden. Echte Fortschritte wurden aber
bisher vor allem durch Luxemburg und
Österreich blockiert. Eine Revision der
EU-Zinsrichtlinie, die eine Ausweitung
ihres Anwendungsbereichs auf sämtliche
Zinseinnahmen und eine Verminderung
der Abschirmwirkung zwischengeschalteter Stiftungskonstruktionen vorsieht, wird
von beiden Ländern mit dem Verweis auf
die fehlende Einbindung von Drittländern
abgelehnt. Umgekehrt nehmen Drittländer wie die Schweiz, Liechtenstein, San
Marino, Monaco und Andorra diese beiden EU-Länder als Vorwand, um sich einem automatischen Informationsaustausch
zu entziehen.
Einen weiteren Durchbruch stellt der
neue globale OECD-Standard für einen
automatischen Informationsaustausch zwischen den Steuerbehörden der Staaten dar,
den die Finanzminister der G20 auf ihrem
Treffen in Sydney begrüßten. Nach diesem
Standard sollen alle Arten von Kapitalerträgen wie auch Kontostände und Verkaufserlöse aus Finanzgeschäften ausgetauscht werden. Betroffen sind natürliche
und juristische Personen, auch Einzelunternehmen. An einer Zielsetzung, dass
auch bei Stiftungen bzw. Trusts der wirtschaftlich Berechtigte identifiziert werden
muss, ist zu erkennen, welche enorme Aufgabe dabei angepackt wird.
Den USA ist es allerdings gelungen,
mit ihrem „Foreign Account Tax Compliance Act“ (FATCA) eine Bresche für den
automatischen Informationsaustausch zu
schlagen. Mit dem Gesetz wird das USSteuer-Reporting von ausländischen Finanzinstituten deutlich verschärft. Um einem Quellensteuerabzug von 30 Prozent
auf alle US-Einnahmen zu entgehen, müssen sich die Finanzinstitute gegenüber der
US-Steuerverwaltung zu einer umfangreichen Berichterstattung über Auslandskonten und Auslandserträge von US-Bürgern
verpflichten. Die europäischen Staaten,
54
Nachdem sich die Staats- und Regierungschefs der G20-Staaten auf ihrem
Gipfeltreffen im September auf diesen
OECD Standard verständigt haben, muss
er in nationales Recht umgesetzt werden.
Im Falle der Europäischen Union wird dies
durch eine Anpassung der EU-Amtshilferichtlinie geschehen. Damit dürfte der Widerstand von Luxemburg und Österreich
gegen einen automatischen Informationsaustausch endgültig überwunden werden.
CDU/CSU/FDP – den Rechtsstaat auf
den Kopf gestellt
Aber auch bei Union und FDP mangelte es in der Vergangenheit am Willen,
sich für eine konsequente Verfolgung
grenzüberschreitender
Steuerhinterziehung einzusetzen. Dies wurde im Streit um
die Steuer-CDs und bei den Verhandlun-
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014
gen über das Steuerabkommen mit der
Schweiz besonders deutlich. Vertreter von
Union und FDP versuchten, den Ankauf
von Steuer-CDs als Hehlerei hinzustellen.
Damit wurde der Rechtsstaat auf den Kopf
gestellt. Finanzbeamte wurden kriminalisiert, während die Steuerhinterzieher ungeschoren davon kommen sollten. Die
Diffamierungen endeten erst, als das Bundesverfassungsgericht die Rechtmäßigkeit
des Ankaufs von Steuer-CDs bestätigte.
Auch bei den Verhandlungen über ein
Steuerabkommen mit der Schweiz hätten
Union und FDP auf eine lückenlose Aufdeckung von Steuerhinterziehung verzichtet. Die Täter wären straffrei und anonym
geblieben. Der Steuerbetrug über Schweizer Banken wäre auch nach Abschluss des
Abkommens nicht durchgängig beendet
worden. Die SPD lehnte das löchrige
Steuerabkommen mit der Schweiz konsequent ab und stoppte es mit der rot-grünen
Ländermehrheit im Bundesrat.
wir aber weitere Maßnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung. Diese zusätzlichen Maßnahmen wurden bereits im
Bundestagswahlkampf im Rahmen der
„Braunschweiger Erklärung für mehr Steuergerechtigkeit“ aufgezeigt. Von zentraler
Bedeutung ist vor allem der Aufbau einer
bundesweiten Steuerfahndung, die für die
Ermittlungen in Fällen grenzüberschreitender Steuerkriminalität zuständig ist. Sie
soll außerdem die Finanzbehörden der
Länder bei der Aufdeckung und Verhinderung von Steuerstraftaten unterstützen.
Notwendig ist auch ein bundesweit gleichmäßigeres Vorgehen der Finanzbehörden
gegen Steuerhinterziehung. Die Länder
müssen insbesondere die Betriebsprüfung,
die Steuerfahndung, die Bußgeld- und
Strafsachenstellen und die Staatsanwaltschaften mit mehr Personal ausstatten. Außerdem sollten einheitliche bundesweite
Standards bei der Steuererhebung mit den
Bundesländern vereinbart werden.
Gestützt auf die öffentliche Diskussion
in Deutschland und die internationalen
Debatten rund um von der OECD vorgeschlagene Maßnahmen gegen Steuergestaltung, gelang es der SPD-Delegation in
den Koalitionsverhandlungen, dass die
Große Koalition im Unterschied zum
schwarz-gelben Vorgänger entschlossen
gegen Steuerhinterziehung vorgehen wird.
Im Koalitionsvertrag haben SPD und Union vereinbart, dass sie für einen automatischen steuerlichen Informationsaustausch
als internationalem Standards eintreten.
Der Anwendungsbereich der EUZinsrichtlinie soll auf alle Kapitaleinkünfte
und alle natürlichen und juristischen Personen ausgedehnt werden. Der Umsatzsteuerbetrug soll durch den gezielten Einsatz verschiedener Instrumente eingedämmt werden. Durch Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) soll künftig vor
allem eine doppelte Nichtbesteuerung verhindert werden. Die Regelungen zur strafbefreienden Selbstanzeige sollen verschärft
werden. Wie vorsichtig, ja ängstlich mit
solchen Vorschlägen noch immer umgegangen wird, ist daran zu erkennen, dass im
Koalitionsvertrag nur eine „Weiterentwicklung“ statt einer „Verschärfung“ formuliert wurde. Ein Kompromiss eben. Dabei soll unter anderem der Offenbarungszeitraum für den Steuerpflichtigen auf
SPD für Steuergerechtigkeit –
Sisyphos war ein glücklicher Mensch
Über die vage Kompromissformulierung im Koalitionsvertrag hinaus brauchen
55
zehn Jahre verlängert werden. Schließlich
sollten die Verjährungsfristen für Steuerbetrug weiter verschärft werden. Verstöße gegen das Steuerrecht sollen künftig nicht
mehr spätestens nach zehn Jahren verjähren, sondern zumindest die Laufzeit verdächtiger Finanzkonstrukte abdecken. Bei
der strafbefreienden Selbstanzeige muss
die Schwelle für schwere Steuerhinterziehung abgesenkt und die in diesen Fällen zu
entrichtenden zusätzlichen Zuschläge
(Strafen) erhöht werden.
Bei systematischen Verstößen von Banken gegen das Steuerrecht sollen aufsichtsrechtliche Sanktionen bis hin zum Lizenzentzug verhängt werden.
Bekämpfung der Steuervermeidung
internationaler Konzerne
Außer der Steuerhinterziehung gehen
den Staaten durch die Steuervermeidung
internationaler Konzerne umfangreiche
Steuereinnahmen verloren. Internationale
Konzerne weisen in vielen Fällen trotz hoher Gewinne nur niedrige Steuerquoten
aus. Dies gilt speziell für die ausländischen
Einkünfte von US-Konzernen.
Die Hauptursache für die Möglichkeit
zur Steuervermeidung liegt darin, dass die
nationalen Steuersysteme mit der wirtschaftlichen Globalisierung nicht Schritt
gehalten haben. So bieten die unabgestimmten nationalen Besteuerungsregime
den international tätigen Konzernen eine
Vielzahl von Angriffspunkten für Steuergestaltungen. Außerdem berücksichtigen
traditionelle steuerliche Regelungen weder
die gestiegene Bedeutung des geistigen Eigentums noch den eCommerce im Internet
für die Wertschöpfung in der gebotenen
56
Weise. Daneben unterstützt der Steuerwettbewerb zwischen den Staaten die
Steuerumgehung internationaler Konzerne. Schädliche Steuerpraktiken sind dabei
durch niedrige effektive Steuersätze, die
Privilegierung ausländischer Einkünfte,
fehlende Transparenz und mangelnden
grenzüberschreitenden Informationsaustausch gekennzeichnet. Schädliche Steuerpraktiken finden wir u. a. in den Niederlanden, Luxemburg und Großbritannien. Als
Beispiel möchte ich Patent- und Lizenzboxen nennen. Damit wird eine weitgehende
Steuerverschonung für Lizenzeinnahmen
vorgesehen und der grenzüberschreitenden
Gewinnverlagerung Vorschub geleistet.
Die Unternehmen wenden ausgeklügelte Strategien zur Steuervermeidung an.
Gewinne werden durch überhöhte Fremdkapitalaufwendungen und unangemessene
konzerninterne Verrechnungspreise aus
dem Quellenstaat in Steueroasen mit vorteilhaften Steuersystemen abgesaugt. Eine
andere Vorgehensweise besteht in der Umgehung des Betriebsstättenstatus, um auf
diese Weise die Steuerpflicht in einem
Staat ganz oder teilweise zu vermeiden. Es
werden außerdem Unstimmigkeiten zwischen zwei oder mehreren nationalen Steuersystemen ausgenutzt, um die Steuerschuld zu senken. Diese Strategien zielen
auf einen doppelten Abzug ein und derselben Aufwendung in verschiedenen Staaten. Sie können aber auch auf einer doppelten Nichtbesteuerung beruhen, bei der
Einkünfte weder im Quellen- noch im
Ansässigkeitsstaat des Unternehmens besteuert werden.
Die SPD und die SPD-Bundestagsfraktion haben in der Vergangenheit bereits verschiedene nationale Maßnahmen
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014
gegen diese grenzüberschreitende Steuervermeidungsstrategien der Konzerne vorgeschlagen und ergriffen. Im Rahmen der
Unternehmenssteuerreform 2008 wurde
die sogenannte Zinsschranke eingeführt,
die den Abzug überhöhter Zinsaufwendungen beschränkte. Um nicht marktgerechte Verrechnungspreise leichter korrigieren zu können, wurde der Fremdvergleichsgrundsatz (Dealing-at-Arm'sLength-Grundsatz) im deutschen Außensteuergesetz präzisiert. Steuerpflichtigen,
die Geschäftsbeziehungen zu nicht kooperativen Steueroasen unterhalten, wurden
erhöhte Mitwirkungs- und Informationspflichten gegenüber der deutschen Steuerverwaltung auferlegt. In jüngerer Zeit wurden Maßnahmen zur sogenannten korrespondierenden Besteuerung eingeführt.
Eine Steuerbefreiung von Dividenden wird
danach von Deutschland nur gewährt,
wenn diese bei der leistenden Körperschaft
im Ausland nicht als Betriebsausgaben abziehbar sind. Alle diese unilateralen Maßnahmen haben aber nur eine beschränkte
Wirksamkeit. Einzelne Maßnahmen wurden von der schwarz-gelben Koalition im
so genannten Wachstumsbeschleunigungsgesetz verwässert – beispielsweise die
Funktionsverlagerung oder der Mantelkauf. So müssen die nationalen Instrumente gegen Steuergestaltung erneut geschärft
und den grenzüberschreitenden Steuervermeidungsstrategien der Konzerne mit international abgestimmten Ansätzen begegnet werden.
Internationale Unterstützung durch die
OECD und die Europäische Kommission
Angesichts der zunehmenden Aggressivität bei Steuergestaltungen internationaler Konzerne haben sich die Industriestaa-
ten erstmals zu einem abgestimmten Vorgehen verabredet.
Die Europäische Kommission hat im
Dezember 2012 einen „Aktionsplan zur
Verstärkung der Bekämpfung von Steuerbetrug und Steuerhinterziehung“ vorgelegt. Darin schlägt sie konkrete Schritte zur
Verstärkung der Zusammenarbeit der Finanzbehörden und bezüglich des Umgangs
mit Steueroasen und aggressiver Steuerplanung vor. Der Aktionsplan bezieht auch
die Initiativen der G20 und der OECD
mit ein und unterstützt diese aktiv.
Die OECD hat im Februar 2013 den
Bericht „Adressing Base Erosion and Profit-Shifting“ (BEPS) zum Umfang und zur
Funktionsweise der aggressiven Steuerplanung veröffentlicht. Auf der Grundlage
dieses Berichts wurde auf dem Gipfel der
Staats- und Regierungschefs der G20 in
Moskau am 19./20. Juli 2013 ein Aktionsplan mit 15 Maßnahmen verabschiedet.
Mit dem Aktionsplan verfolgt die OECD
vor allem das Ziel, die Konsistenz bei der
Unternehmensbesteuerung auf internationaler Ebene sicherzustellen. Die Besteuerung der Einkünfte und die wirtschaftliche
Substanz, die der Entstehung der Einkünfte zugrunde liegt, sollen miteinander in
Einklang gebracht werden. Außerdem soll
die Transparenz hinsichtlich der Aktivitäten internationaler Unternehmen verbessert und damit den nationalen Finanzbehörden die Aufdeckung aggressiver
Steuergestaltungen ermöglicht werden.
Die 15 Vorschläge der OECD lassen
sich in fünf Maßnahmenpakete gliedern:
1. Besteuerung der digitalen Wirtschaft,
57
2. Bekämpfung der aggressiven Steuergestaltung,
3. Überarbeitung der OECD-Verrechnungspreisrichtlinie,
4. Verbesserung der Transparenz und
5. Verbesserung der Konfliktlösungsmechanismen bei abkommensrechtlichen
Streitigkeiten zwischen den Staaten.
Die Maßnahmen des Aktionsplans sollen möglichst schnell ausgearbeitet und
umgesetzt werden. Die OECD hat deshalb
für jede Maßnahme eine Frist gesetzt, die
zwischen September und Dezember 2015
liegt.
Im Koalitionsvertrag wird der Kampf
gegen grenzüberschreitende Gewinnverlagerungen internationaler Unternehmen
und gegen den schädlichen Steuerwettbewerb als zentrale steuerpolitische Aufgabe
herausgestellt. Die BEPS-Initiative der
OECD wird ausdrücklich unterstützt.
Der Aktionsplan der OECD ist die erste umfassende multilaterale Initiative zur
Bekämpfung der Steuervermeidung internationaler Konzerne. Allerdings greifen die
Maßnahmen des Aktionsplans zu kurz.
Die Maßnahmen des Aktionsplans beziehen sich zum großen Teil auf die Abgrenzung der Besteuerungsrechte zwischen den
Staaten.
Es bleibt noch viel zu tun
Langfristig kann schädlichem Steuerwettbewerb nur durch die Festlegung einer
einheitlichen Gewinnermittlung bzw. Bemessungsgrundlage und der Vereinbarung
von Mindeststeuersätzen bei der Körperschaftsteuer begegnet werden. Entscheidend für die Eindämmung des schädlichen
58
Steuerwettbewerbs ist vor allem die Beseitigung von steuerlichen Präferenzregelungen für bestimmte Einkünfte oder Gewinne, z. B. die erwähnten Zins- und
Lizenzboxen.
Sollte eine allgemeine Ächtung dieser
Präferenzregelungen nicht gelingen, wäre
vor allem die Ablösung der alten Strategien
zur Steuervermeidung durch neue Gestaltungen zu befürchten. Wie bei allen internationalen Initiativen werden die beteiligten Staaten auch beim Aktionsplan BEPS
eigene Interessen verfolgen. Echte Fortschritte im Kampf gegen die Steuervermeidung lassen sich aber nur erzielen,
wenn sich die Verhandlungspartner auf
Lösungen einigen, die über den kleinsten
gemeinsamen Nenner hinausgehen.
Angesichts dieser Gefahr sieht der Koalitionsvertrag vor, dass weitergehende nationale Maßnahmen ergriffen werden, falls
sich unsere Ziele im Rahmen des Aktionsplans bis Ende 2015 nicht realisieren lassen. Der Bekämpfung der Steuervermeidung, insbesondere auch der von
internationalen Konzernen wollen wir
oberste Priorität einräumen. Ich bin sehr
gespannt, wie weit wir damit in der Großen Koalition kommen werden.
In jüngster Zeit nehmen wir den inflationären Gebrauch der Worte „Kultur“ und
„Kulturwandel“ wahr. Selbst aus der
Schweiz bzw. aus Schweizer Banken, aber
auch international und in der deutschen
Bankenlandschaft hören wir, dass eine
neue Kultur helfen soll, „weiße Einkünfte“
zu vermeiden. Mit den über Jahrzehnte gemachten Erfahrungen ist es sicher klug, zu
beobachten, wie ernst solche Ankündigungen gemeint sind.
Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuervermeidung Argumente 1/2014
Aber noch wichtiger ist ein gesellschaftlicher Kulturwandel. Bisher scheint
erlaubt, was nicht verboten ist. Deshalb
sind jenseits von Regulierung, Verordnung,
Abkommen und Gesetz ethische Grundsätze und Maßstäbe für gesellschaftsdienliches Verhalten von viel größerer Bedeutung – und verdienen einen eigenen
Aufsatz. l
59
FRAUEN IN EUROPA –
EIN EUROPA FÜR
FRAUEN?
von Constanze Krehl, stellv. Vorsitzende der SPD-Abgeordneten im Europäischen Parlament
Vor 95 Jahren sprach Marie Juchacz,
Sozialdemokratin und Gründerin der
Arbeiterwohlfahrt, vor dem deutschen
Reichstag. Sie war damit die erste
Frau, die eine Rede vor einem deutschen Parlament halten sollte. Überhaupt erst kurz zuvor hatten mutige
Genossinnen das aktive und passive
Frauenwahlrecht in Deutschland erstritten. Marie Juchacz sagte in ihrer
ersten Rede vor dem Reichstag, dass
sie es als eine Selbstverständlichkeit
betrachte, dass „die Frau als gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin neben dem Manne stehen wird“. Es sollte in vielen Teilen Europas jedoch
noch Jahrzehnte dauern, bis die aktive
Beteiligung von Frauen am politischen, ja gesellschaftlichen Geschehen zu einer Selbstverständlichkeit
wurde.
60
Noch bis weit in die 60er und 70er Jahre hinein waren Frauen vor allem auf die
Sphäre des Haushalts beschränkt; die gesellschaftlichen Realitäten blieben hinter
der formalen politischen Anerkennung,
gegeben durch das aktive und passive
Wahlrecht, zurück. Ein selbstbestimmtes
Leben, getragen von gesellschaftlicher
Teilhabe und eigener Berufstätigkeit,
konnten weiter nur wenige Frauen leben.
Dies trifft auf Deutschland, mit Ausnahme
der DDR, sowie eine Vielzahl der Staaten
in Europa zu. Erst die aufkommende Frauenbewegung in den späten 60er Jahren ermöglichte einen grundsätzlichen Sinneswandel. Doch auch der zweite Schritt, das
heißt die gesellschaftliche Teilhabe, brachte noch lange keine allgemeine Gleichberechtigung für die Frauen in Europa. Weiterhin verwehrt blieb den Frauen im
Großen und Ganzen der Griff nach politi-
Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? Argumente 1/2014
scher Macht. Noch bis in die frühen 80er
Jahre war es ganz selbstverständlich, dass
Frauen im Bundeskabinett völlig unterrepräsentiert waren, bis 1991 gab es höchstens zwei Ministerinnen gleichzeitig in einer Legislaturperiode. 1993 wurde mit
Heide Simonis die erste Frau Ministerpräsidentin. Dies ist zwar heute gemessen an
der Zahl der Ministerpräsidentinnen
(vier!) weiterhin keine Selbstverständlichkeit, doch hat sich die Einstellung der meisten Menschen hier geändert – immerhin
hat Deutschland heute eine weibliche
Bundeskanzlerin. Sind Frauen allein deshalb schon im Begriff, nach der politischen, vielleicht sogar nach der gesellschaftlichen Macht zu greifen? Sind
Frauen wirklich schon gleichberechtigte
Staatsbürgerinnen neben den Männern?
Zwar haben viele engagierte Frauen
dazu beigetragen, das gesellschaftliche Bild
zu verändern und die politische Teilhabe
von Frauen zur Norm zu machen. Dennoch gibt es ein unbestreitbares Gefälle
zwischen den Geschlechtern. Deutschland
ist damit jedoch nur ein Spiegelbild der
Entwicklungen in Europa. Sicherlich, es
gibt große Unterschiede zwischen Ost und
West, Nord und Süd. Der holprige Pfad
hin zu mehr gesellschaftlicher, beruflicher,
sozialer und politischer Gleichstellung lässt
sich jedoch in ganz Europa beobachten.
Gleichstellung in Europa
Wenn wir heute auf die vergangenen
Jahrzehnte zurückblicken, können wir feststellen, dass in Europa bereits viel für die
Gleichberechtigung erreicht wurde. Innerhalb der Europäischen Union stellt die
Gleichstellung der Geschlechter mittlerweile scheinbar eine Selbstverständlichkeit
dar – soweit die Theorie. Bereits die Römischen Verträge verpflichteten die Unterzeichner darauf, nicht nur allgemein die
Gleichstellung von Mann und Frau sicherzustellen. Speziell war auch die Entgeltgleichheit bei gleicher Arbeit festgeschrieben. Immerhin, dieses Ziel wurde bereits
1957 formuliert. Mehr als 50 Jahre später
ist es jedoch immer noch nicht erreicht.
Auch wenn in den darauf folgenden Verträgen über die Europäische Integration
das Thema Gleichstellung immer wieder
ein selbstverständlicher Bestandteil selbiger gewesen ist, sind wir von einer wirklichen Gleichstellung in unseren Gesellschaften, allen voran in der Arbeitswelt,
noch weit entfernt. Es fehlt nicht an Forderungen nach einer wirklichen Gleichstellung der Geschlechter – allein, oft fehlt
der politische Wille zur Umsetzung beziehungsweise zur konsequenten Durchsetzung bestehender Rechtsakte. Die Entgeltgleichheitsrichtlinie von 1975 und
2006 wurde zwar beispielsweise umgesetzt,
jedoch bleibt die nationale Gesetzgebung
hinter den europäischen Vorgaben zur
Entgeltgleichheit zurück.
Auffällig ist insbesondere im Bereich
der Gleichstellungspolitik Folgendes: Immer wieder bringen die Mitgliedstaaten bei
Vorstößen, die für mehr Gleichstellung in
der Arbeitswelt sorgen sollen, Subsidiaritätsbedenken an. Die Argumentation ist
einfach: Die geforderten Maßnahmen und
Ziele könnten auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten getroffen werden, europäische
Regelungen seien nicht nötig. Zuletzt haben wir diese Bedenken von Seiten der
Mitgliedstaaten und Teilen der Europäischen Kommission gehört, als Justizkommissarin Viviane Reding, zuständig auch
für Fragen der Gleichstellung, einen Vor-
61
schlag zur Frauenquote in Aufsichtsräten
vorgelegt hatte. Dieser wurde insbesondere
von Seiten der Mitgliedstaaten torpediert.
Natürlich ist eine Regelung auf Ebene der
Mitgliedstaaten denkbar. Jedoch auch nur
dann, wenn die Mitgliedstaaten wirkliche
Ambitionen hätten, diese Regelungen zu
treffen. Das ist aber bei Maßnahmen, die
auf eine tatsächliche Verbesserung der Situation von Arbeitnehmerinnen zielen,
schlichtweg nicht ersichtlich. Vielmehr
gibt es eine ganze Reihe von unterschiedlichen sowie wenig bis gar nicht ambitionierten einzelstaatlichen Gesetzgebungen.
Und gerade deshalb sind EU-weite Regelungen notwendig – auch mit Blick auf die
Bundesrepublik.
Mehr Gleichberechtigung in der
Arbeitswelt
Die Europäische Union hat seit ihrem
Bestehen eine große Anzahl von Gleichstellungsmaßnahmen beschlossen. Allen
voran die Gleichbehandlungsrichtlinie hat
für eine deutliche Besserung der Stellung
von Frauen in der Arbeitswelt geführt, vor
allem im Bereich der Antidiskriminierung
auf Grundlage des Geschlechts. Dennoch
ist gerade die Arbeitswelt derjenige Bereich, der noch weit von einer wirklichen
Gleichstellung der Geschlechter entfernt
ist.
Seit vielen Jahren steigt die Erwerbstätigenquote bei Frauen stetig an, in der EU
bis 2013 auf 63 Prozent. Sie liegt damit
aber noch immer mehr als zehn Prozentpunkte unter der Erwerbstätigenquote von
Männern. Ein genauer Blick auf die Art
der Beschäftigung enthüllt auch, dass die
hohe Erwerbsbeteiligung unter Frauen
insbesondere auf eine große Zahl an Teil-
62
zeitarbeitsverhältnissen und geringfügigen
Beschäftigungen zurückgeht. Frauenarbeit
ist oft auf Minijobs und Teilzeitbeschäftigung beschränkt. Noch 2008 ging fast die
Hälfte aller erwerbstätigen Frauen in
Deutschland einer Teilzeitbeschäftigung
nach. Bei den männlichen Kollegen waren
dies nur etwa ein Zehntel aller Beschäftigten. Erschreckend ist auch, dass die überwiegende Mehrzahl der Minijobs von
Frauen gefüllt wird: fast zwei Drittel waren
es 2008. In der EU ist etwa ein Drittel der
Frauen in Teilzeitarbeitsverhältnissen beschäftigt.
Gerade die Arbeitszeit hat dabei entscheidenden Einfluss auf die unterschiedlichen Karriereverläufe von Frauen und
Männern. Eine vereinbarte Verringerung
der Wochenarbeitszeit in Führungspositionen stellt noch immer die Ausnahme
dar und eine Erwerbsunterbrechung wirkt
sich in Deutschland noch immer negativ
auf die Karriere aus. Insbesondere Frauen
sind durch Schwangerschaft und Erziehungszeit davon betroffen. Dies wirkt sich
für Frauen negativ auf die in Deutschland
übliche betriebsinterne Rekrutierung aus.
Darüber hinaus ist auch das Lohngefälle
zwischen Männern und Frauen auf häufige
und lange familienbedingte Erwerbsunterbrechungen von Frauen zurückzuführen.
Schon ein Jahr Unterbrechung durch Kindererziehung kann zu einer Verringerung
des Lohnniveaus um 5% im Vergleich zu
einer durchgängig erwerbstätigen Frau
führen. Die Geburt eines Kindes und die
folgende Erziehungszeit wird also in vielerlei Hinsicht zu einem Hemmschuh für
die Erwerbskarriere von Frauen – und darüber hinaus. Denn Erwerbsunterbrechungen wirken sich auch auf eine spätere Rente aus. Noch immer erreichen Frauen in
Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? Argumente 1/2014
Deutschland im Durchschnitt ein spürbar
geringeres Rentenniveau als Männer. Oft
geht die Rente nicht einmal über ein existenzsicherndes Minimum hinaus. Auch
hier wirken sich geschlechtsspezifische
Ungleichheiten, vor allem Erwerbsunterbrechungen und Einkommensunterschiede, direkt auf die Höhe der Rente aus. In
einer Gesellschaft, die zwar in immer wiederkehrenden Phasen den Rückgang der
Geburtenstärke beklagt, gleichzeitig aber
unfähig erscheint, diese Sachlage auch vom
Ende her zu denken, gibt es anscheinend
eine Schieflage.
Alternative Arbeitszeitmodelle, auch
Teilzeitbeschäftigung, sind weiterhin
wichtig. Sie erst ermöglichen die Vereinbarung von Familie und Beruf – für Männer
und Frauen. Der Schlüssel zu einer geschlechtergerechteren Arbeitswelt bleibt
jedoch eine gleiche und gerechte Entlohnung. Das Hauptproblem ist immer noch
die Lohnungleichheit zwischen Männern
und Frauen. Vor allem hierzulande liegt
diese weit über dem EU-Durchschnitt.
Auch in Deutschland ist ein Großteil der
Lohnunterschiede auf die unterschiedlich
langen Erwerbsunterbrechungen durch Elternzeiten zurückzuführen. Die Regierungsfraktionen aus CDU/CSU und FDP
im Bundestag haben in der vergangenen
Legislaturperiode ein Entgeltgleichheitsgesetz jedoch immer abgelehnt. Um eine
gleiche Entlohnung von Frauen und Männern zu erreichen und um den Anteil von
Frauen in Führungspositionen zu erhöhen,
so der Vorschlag, sollte die Bundesregierung entsprechende Strategien mit Tarifpartnern, Frauen- und Wirtschaftsverbänden entwickeln – auf freiwilliger Basis. Es
scheint also weiterhin angebracht, auch die
Lohnungleichheit auf europäischer Ebene
zu thematisieren und die Mitgliedstaaten
zumindest an die Inhalte der europäischen
Verträge zu erinnern. Auch in Europa verdienen Frauen im Durchschnitt 16 Prozent
weniger als Männer.
Geringere Löhne, verkürzte Arbeitszeiten und Arbeitszeitunterbrechungen sowie die generell niedrigere Erwerbstätigenquote führen dazu, dass Frauen in Europa
eine etwa 39 Prozent niedrigere Rente erhalten als Männer – hier müssen EU und
Mitgliedstaaten zwingend gegensteuern.
Altersarmut wird damit zunehmend zu einem originär weiblichen Problem.
Die Europawahl und Gleichstellung
Doch die fehlende Gleichstellung ist
nicht nur in der Arbeitswelt zu beobachten. Wir müssen uns fragen, ob wir effektive Gleichstellungsmechanismen in der Europäischen Union überhaupt durchsetzen
können, wenn schon auf der politischen
Ebene noch immer mehrheitlich Männer
die Entscheidungen treffen. Auch ein
Blick auf die Europawahl lässt hier aufhorchen.
Die SpitzenkandidatInnen für die Europawahl am 25. Mai stehen fest. Auffällig
ist, dass nur die europäischen Grünen
überhaupt eine weibliche Spitzenkandidatin bestimmt haben. Frauen sind in der europäischen politischen Landschaft noch
immer ein unterrepräsentiertes Geschlecht. Nur ein Drittel aller Mitglieder
der jetzigen EU-Kommission sind Frauen.
Dass die europäische Exekutive, die immerhin die europäischen Verträge überwacht – in denen, ganz nebenbei, auch die
Geschlechtergleichstellung ihren Platz hat
– und die auch die Europäische Bevölke-
63
rung repräsentieren sollte, nicht einmal annähernd zur Hälfte durch Frauen besetzt
ist, entspricht schlichtweg nicht mehr den
heutigen Realitäten. Auch dass der Präsident des Europäischen Parlaments, der
Ratspräsident und der Kommissionspräsident jeweils männlichen Geschlechts sind,
steht der Europäischen Union schlecht zu
Gesicht. Die deutschen SozialdemokratInnen haben zwar eine Bundesliste gewählt,
die fast durchgängig das Reißverschlussprinzip anwendet. Die allermeisten Listen
der Parteien, die zur Europawahl antreten,
bestechen jedoch weiterhin durch Männlichkeit. Bereits auf nationaler Ebene mangelt es an der Rekrutierung weiblichen
Spitzenpersonals für die europäische Politik – nur 27 Prozent der Abgeordneten in
den nationalen Parlamenten sind weiblichen Geschlechts. Es ist also kaum verwunderlich, warum so wenige Frauen den
Weg auf die europäische Bühne finden. Im
Europäischen Parlament sind immerhin
etwa 35 Prozent der Abgeordneten weiblich.
Mehr Frauen in Spitzenpositionen der
Europäischen Union würden dabei mitnichten die Politik als solche verändern.
Die Macht- und Interessenfrage stellt sich
für Frauen genauso wie für Männer. Dennoch, die Art und Weise, wie politische
Entscheidungen errungen werden, könnte
einer Veränderung unterzogen werden –
das habe ich in meiner eigenen politischen
Karriere bereits erlebt. In langwierigen
Verhandlungen mit dem Europäischen Rat
und der Europäischen Kommission hat
sich der erfolgreiche Fortgang von Verhandlungen nicht zuletzt daran bemessen,
wie viele Personen im Raum weiblichen
Geschlechts waren. Es geht letztlich darum, ein gemischtes Publikum mit ganz un-
64
terschiedlichen Erfahrungshorizonten zusammenzubringen.
Auch die Europawahl selbst wird zur
grundlegenden Entscheidung für mehr
oder weniger Gleichstellung, für mehr oder
weniger Frauenrechte. Insbesondere die
vergangenen Monate haben gezeigt, dass
es im Europäischen Parlament noch immer
eine Mehrheit für rückwärtsgewandte Politik gibt. Immer wieder wurden fortschrittliche Berichte, die ein Mehr an
Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung gefordert haben, von einer
konservativen und erz-konservativen
Mehrheit niedergestimmt. Wir müssen die
Europawahl auch zu einer Abstimmung
darüber machen. Wir können nicht hinnehmen, dass die Gesetzgebungen zum
Schwangerschaftsabbruch in einem Mitgliedsland der Europäischen Union, wie
aktuell in Spanien und Kroatien, wieder
umgekehrt werden und in alte konservative
Muster zurückfallen. Wir müssen uns hier
für europaweite Regelungen einsetzen.
Auch deshalb brauchen wir eine sozialdemokratische Mehrheit im Europäischen
Parlament.
Wir müssen die Europawahl also auch
zu einer Abstimmung über Frauenrechte
und damit über die grundlegenden Menschenrechte machen! Wir benötigen eine
öffentliche und breite Debatte über die
Rechte der Frauen in Europa. Dies müssen
wir im Wahlkampf thematisieren und auch
über unsere SpitzenkandidatInnen in den
Mitgliedstaaten und über Martin Schulz
transportieren. Ziel muss es sein, eine
nachhaltige gesellschaftliche Debatte in
Europa anzustoßen. Nur eine Gesellschaft,
in der die Geschlechter gleichberechtigt
miteinander leben, ist eine moderne Ge-
Frauen in Europa – ein Europa für Frauen? Argumente 1/2014
sellschaft. Nur eine Gesellschaft von
gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern kann auch eine solidarische Gesellschaft sein. Wir kämpfen für eine moderne
europäische und solidarische Gesellschaft.
Bestandteil der Ausschussarbeit im Parlament werden. Gleichstellungspolitik ist
eine Querschnittsaufgabe – diese Rolle
sollte ihr im Parlament auch zu teil werden.
Effektive Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung ergreifen
Viertens benötigen wir eine langfristige
Debatte über die Rolle und das Selbstverständnis von Frauen und Männern in unseren europäischen Gesellschaften. Dazu gehört nicht nur eine Debatte über Entgeltund Rentengleichheit, sondern auch über
sexuelle Selbstbestimmung, Schwangerschaftsabbruch und nicht zuletzt über Gewalt gegen Frauen.
Wir haben in den vergangenen Jahren
auf europäischer Ebene bereits eine große
Anzahl von Maßnahmen für eine gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben
getroffen. Trotzdem ist das Ziel zur Schaffung von gleichberechtigten Bürgerinnen
und Bürgern noch nicht erreicht. Mit Blick
auf die Europawahl müssen wir weitere
Anstrengungen unternehmen, um dieses
Ziel zu erreichen.
Erstens müssen wir die bestehenden
europäischen Regelungen, die auf eine
Gleichstellung der Geschlechter abzielen,
konsequenter durchsetzen. Hier ist auch
die Kommission stärker gefragt. Sie zeichnet für die Einhaltung der Regelungen verantwortlich.
Noch immer werden Frauen in Europa
nicht in allen Lebensbereichen als gleichberechtigte Bürgerinnen behandelt. Es
scheint also, als wäre es fast 95 Jahre nach
der Rede von Marie Juchacz keineswegs
eine Selbstverständlichkeit, dass Frauen als
„gleichberechtigte und freie Staatsbürgerin
neben dem Manne“ stehen. l
Zweitens muss die europäische Gesetzgebung noch konsequenter auf die Gleichstellung der Geschlechter ausgerichtet
werden. Wenn die Mitgliedstaaten nicht in
der Lage sind, die in den Verträgen garantierte Gleichstellung zu gewährleisten,
muss die EU einspringen.
Wir müssen, drittens, die Frage der
Chancengleichheit in der europäischen
Gesetzgebung weiter stärken. Die Geschlechterfrage sollte in allen Richtlinien
und Verordnungen eine herausragende
Stellung haben und selbstverständlicher
65
#15JAHREBOLOGNA:
#FTW ODER #MEGAFAIL?
von Julian Zado und Erkan Ertan, Julian Zado war Mitglied im Bundesvorstand der
Juso-Hochschulgruppen von 2006 – 2008 und stellvertretender Juso-Bundesvorsitzender
von 2011 – 2013. Erkan Ertan war Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen von 2008 – 2010 und kooptiert im Juso-Bundesvorstand von 2009 – 2010.
Im Jahr 1999 unterzeichneten in der
italienischen Universitätsstadt Bologna
Vertreter(-innen) aus 29 europäischen
Staaten die sog. „Bologna-Erklärung“,
mit der das Projekt der Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulraums in Gang gesetzt wurde. 15
Jahre später hat sich viel verändert –
aber wenig zum Guten.
Der Bologna-Prozess als europäische
Idee
nen wie „Überforderung“, „Verschulung“,
„schlechte Studienbedingungen“ oder auch
„Burn-Out“ hervor. Natürlich sind diese
negativen Zuschreibungen oft medialer
Effekthascherei geschuldet. Allerdings
zeigt der Umstand, dass viele Hochschulangehörige, allen voran die Studierenden,
seit Beginn des Prozesses immer wieder die
Umsetzung des Prozesses kritisieren, dass
wohl nicht alles richtig laufen kann mit
dem Bologna-Prozess. Aber was ist eigentlich dran an der Kritik?
Vor mittlerweile eineinhalb Jahrzehnten wurde der „Bologna-Prozess“ gestartet.
Nachdem die Europäische Union etabliert
war und der europäische Integrationsprozess kontinuierlich voran schritt, lag es
nahe, auch die Hochschullandschaft in
Europa zu europäisieren. Heute ruft das
Stichwort „Bologna“ vor allem Assoziatio-
Der Bologna-Prozess sollte an seinen
Zielen gemessen werden. Hauptziele des
Bologna-Prozesses waren die Förderung
der Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Bildungssystems und die Erhöhung
von Mobilität und Beschäftigungsfähigkeit. Dazu wurde vereinbart, Studienabschlüsse zweistufig auszugestalten und
66
#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? Argumente 1/2014
grundsätzlich vergleichbarer zu machen.
Außerdem sollte ein „credit-point“-System
eingeführt sowie Mobilitätshindernisse für
Studierende und Lehrende beseitigt werden. Auf den zweijährigen Bologna-Konferenzen kamen weitere Ziele dazu, u. a.
die stärkere Berücksichtigung der ,sozialen
Dimension‘ des Bologna-Prozesses. Der
Grundgedanke der Bologna-Reform war,
dass die Hochschulen, also Forschung und
Lehre, enger zusammen wachsen. Bildung
sollte weniger nationalstaatlich ausgestaltet
sein. Was ist hiervon umgesetzt worden?
Was hat sich getan?
Erreicht werden sollten diese Ziele bis
zum Jahr 2010. Schon im Jahr 2010 war
aber klar, dass diese Zielmarke verfehlt
wurde.13 Der Grund hierfür war jedoch
nicht mangelnder politischer Antrieb. Im
Gegenteil: Insbesondere die rot-grüne
Bundesregierung mit ihrer SPD-Bildungsministerin Edelgard Bulmahn hat einen
enormen Reform-Eifer an den Tag gelegt.
Umgesetzt wurde eine einschneidende Reform der Hochschulen. Bekanntes Beispiel
hierfür ist die Einführung eines zweistufigen Abschlusssystems: Mittlerweile wurden fast alle Studiengänge auf das Bachelor/Master-System umgestellt. Ausnahmen bilden hier im Wesentlichen nur einige Staatsexamens-Studiengänge, in denen
sich eine Umstellung der Abschlüsse bisher
nicht abzeichnet. Auch das Kreditpunktesystem wurde eingeführt. Prüfungsleistungen werden nun nicht mehr in Form von
„Scheinen“ abgebildet, stattdessen erhält
man eine gewisse Anzahl von „creditpoints“, also Leistungspunkten. Die Idee
dabei ist, Studienleistungen vergleichbarer
zu machen. Anstatt einen genau umrissenen Schein für eine bestimmte Prüfungs-
leistung zu erhalten, die bei einem Hochschulwechsel erst in einem aufwändigen
Verfahren auf „Anrechnungsfähigkeit“ hin
untersucht werden muss, sollten pauschal
Kreditpunkte anerkannt werden. So sollen
Hochschulwechsel und Studienaufenthalte
im Ausland leichter gemacht werden.
Die Umsetzung brachte Probleme
Die Ziele sind durchaus diskutierbar.
Es war die deutsche Umsetzung an den
Hochschulen und Vorgaben der Kultusministerkonferenz (KMK), die Studierenden
wie Lehrenden gleichermaßen Kopfschmerzen und Probleme bereitete. Ein
Grund hierfür ist – gerade mit Blick auf die
europäische Perspektive – die Länderhoheit in der Bildungspolitik. Ein anderer ist,
dass die Umsetzung von radikalen Änderungen der Studiengänge und Curricula
nicht zentral organisiert, sondern oftmals
wissenschaftlichen Mitarbeiter/innen zusätzlich und ohne einen unterstützenden
und befähigenden Prozess aufgebrummt
wurde. Die unterschiedliche Ausgestaltung
der Studiengänge durch die Bundesländer
führte trotz einheitlicher Abschlüsse und
„credit-points“ dann dazu, dass schon innerhalb Deutschlands kaum noch ein Studienortwechsel möglich war, zum Beispiel,
wenn Studiengänge stark spezialisiert und
Leistungen anderer Universitäten deshalb
nicht anerkannt wurden.
Fakt ist: Studierende sind heute weniger mobil als noch in den traditionellen
Studiengängen. 22 % der Bachelor-Studierenden haben bis zum Ende des 8. Hochschulsemesters einen Auslandsaufenthalt
13
Vgl. Zado, 10 Jahre Bologna-Prozess II, in: Neue
Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 3/2010, S. 37-39.
67
absolviert. Bei Master-Studierenden liegt
diese Quote ab dem 12. Hochschulsemester bei 42 %.14 Die politische Zielmarke,
dass 50 % der Absolventinnen und Absolventen Auslanderfahrungen sammeln sollen, ist damit noch immer in weiter Ferne.
Vieles spricht dafür, dass es auch das
starre System der Studienleistungen ist, das
viele auf einen Auslandsaufenthalt verzichten lässt. Sozialerhebungen zeigen zudem
immer wieder, dass vor allem die schlechte
finanzielle Situation von Studierenden
hemmend auf einen Auslandsaufenthalt
wirkt. Die weiterhin unzureichende Studienfinanzierung durch das Bafög ist hierfür
ein Beispiel. Die soziale Schere geht hier
weit auseinander, denn Studierende aus einem wohlhabenden Haushalt sind doppelt
so häufig im Ausland unterwegs. Das aktuelle Auslands-BAföG scheint angesichts
dieser Fragen für die gewünschte politische
Zielsetzung völlig unzureichend. Eine weitere Verbesserung ist dringend geboten.
Ein anderes Problem ist die allgemein
schlechte Ausstattung der Hochschulen.
Das alles führte eher zu einer „Kleinstaaterei“ als zu einer Europäisierung. Diese
Umstände haben mit dem eigentlichen
Bologna-Prozess nichts zu tun, auch wenn
er in den Augen vieler dafür verantwortlich
ist. Unterschieden werden muss zwischen
den Zielen und der Umsetzung bestimmter
Maßnahmen. Zu kritisieren ist hier die
deutsche Hochschulpolitik, nicht der Bologna-Prozess als solcher.
Auch wenn nicht immer offen zugegeben, so war für viele Rektor/innen die Bologna-Reform von Anfang an eng verbunden mit dem Ziel, die Verweildauer von
Studierenden an den Hochschulen zu minimieren und an vorgegebene Regelstudi-
68
enzeiten anzupassen. Schon im Prozess der
Einführung des gestuften Studiensystems
wurde aktiv in die Gesellschaft kommuniziert, dass im internationalen Vergleich
Studierende in Deutschland deutlich länger für ihr Studium benötigten und deutlich später für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Mit starr festgelegten
Regelstudienzeiten für Bachelor und Master, die nicht mehr einen Richt-, sondern
einen Pflichtwert darstellten, sollten schon
früh Studierende zu einem effizienteren
Studienablauf „erzogen werden“. Die Regelstudienzeiten wurden – außer bei wenigen Ausnahmen – auf sechs Semester im
Bachelor und zwei bis maximal vier Semester im Master gestrafft. Die Curricula der
Studiengänge wurden mit Pflichtwissen
und unter den neuen Fokus der Informationsvermittlung sowie Controllingverfahren z. B. durch Prüfungen gesetzt.
In den auslaufenden Studiengängen
Diplom und Master dagegen herrschte
häufig die Philosophie, der Studienverlauf
sei nur der Weg zum Ziel. Das Studium
bestand oft aus wählbaren „Herausforderungen“. Innerhalb eines Prüfungsbereichs
konnte zwischen Seminarangeboten frei
gewählt werden. Insbesondere in den Geisteswissenschaften stand die Entwicklung
von „kritischem Denken“ und die Befähigung zu „Eigenständigem Arbeiten“ im
Fokus der Curricula. Studierende lernten
wohl oder übel, mit ihrem Zeitbudget
selbstverantwortlich umzugehen, ein mittel- bis langfristig angesetztes Projekt erfolgreich zum Abschluss zu führen und die
Notwendigkeit wie auch die Qualität einer
wissenschaftlichen Herangehensweise an
14
20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks, S.161.
#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? Argumente 1/2014
Problemstellungen. Ebenso war in der Semesterwoche Zeit für die selbstbestimmte
Beschäftigung, sei es ehrenamtlich oder
universitär, vorgesehen. Der freie Mittwochnachmittag als Gremientag z. B. war
vielerorts ein hohes Gut, das selbst von
Professor/innen oft verteidigt wurde.
Teilnahmescheine waren ebenso gewichtiger Teil des Studiums. Man bekam
sie in den Sozial- und Kulturwissenschaften z. B. für die regelmäßige Anwesenheit
an Seminaren und Vorlesungen und ohne
das Bestehen von Prüfungen. Dies ist heute deutlich seltener anzutreffen. Selbstverständlich existierten auch andere Studienvoraussetzungen und Curricula. Insbesondere zwischen Fachbereichen und Hochschulen konnten große Differenzen in der
Ausgestaltung liegen – wie heute. Generell
aber waren entscheidende Prüfungsphasen
auf Zwischenprüfung/Vordiplom und auf
den Abschluss gelegt. Dazwischen waren
Studierende in ihrer Entwicklung und
Wissensanreicherung mehr oder weniger
auf sich gestellt.
Dieses Konzept passte nicht in die neue
Form. Mit Bachelor und Master wurde
nun auch der Weg zum Ziel erklärt. Die
Anzahl der abzuleistenden Prüfungen
nahm exponenziell zu, der Prüfungszeitraum zieht sich deshalb bis heute in den so
genannten „vorlesungsfreien Raum“ – früher „Semesterferien“ genannt. „Verschultes
Studium“ wurde zum neuen Modewort.
Das Studium erstreckt sich heute nun über
das gesamte Jahr. Deutlich erhöhte Inputund Controlling-Verfahren forderten ihren
zeitlichen Tribut – auf Kosten der freien
Zeit und Psyche der Studierenden. Stress,
Überlastung und Depressionen nehmen
seitdem zu. Psychologische und Sozialbe-
ratungsangebote von Studentenwerken
und ASten sind bis heute gut besucht. Ein
Ergebnis dieser Entwicklung ist die erhöhte Anzahl an Studienabbrüchen. Vor den
Bologna-Reformen lag die Quote durchschnittlich bei 23 %, heute an Universitäten bereits bei 35 %15, insbesondere im Bachelor.
Ein anderes Modewort der BolognaReformen ist die so genannte „employability“, die Berufsbefähigung. Während die
Verkürzung der Regelstudienzeiten und
ein gestuftes Studiensystem mit Bachelor
als erstem berufsqualifizierenden Abschluss einen schnelleren Zulauf von akademischer Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt sichern sollten, diente die
Anpassung der Curricula auch einer passgenauen Ausbildung und Verwertung für
den späteren Arbeitgeber. Die „Bummelstudentin“, die sich jahrelang eher mit
selbsterkenntnisreichen Studien, als mit
qualifiziertem und verwertbarem Wissen
auseinandersetzte, sollte der Vergangenheit
angehören. Ziel war es, dass Studierende
jenes Wissen erlernten, welches später
auch im Beruf benötigt wurde- zeitlich
konzentriert und effizient. Die Curricula
der Studieninhalte wurden dem angepasst.
Qualifizierende und evaluierbare Inhalte
wurden bevorzugt, freier Entwicklungsraum und Interdisziplinarität (gegen die
ursprünglichen Ziele des Prozesses) gekürzt. So kam die kürzere Studiendauer
ganz von alleine…
15
Die Entwicklung der Schwund- und Studienabbruchquoten an den deutschen Hochschulen,
HIS, S. 12
69
Was ist mit den Jugendverbänden?
Welchen Einfluss hatte Bologna auf Jugendverbände? Ohne Frage stellen Studierende einen großen Anteil an Aktiven etwa
bei den Jusos. Bei den Juso-Hochschulgruppen ohnehin. Viele junge Menschen
nutzen die flexiblere Zeit des Studiums,
um sich politisch zu engagieren. Doch
bleibt dafür heute noch Zeit? Diese Frage
ist nur sehr subjektiv zu beantworten. Auch
vor Bologna gab und gibt es Studiengänge,
die schon immer ein höheres Zeitpensum
abverlangten. Trotzdem war ein ehrenamtliches Engagement möglich. Jedoch ist
nach subjektiver Einschätzung bundesweit
ein Rückgang der Kontinuität in Ämtern
und Strukturen erkennbar. Vorstände werden immer jünger und Verweildauern immer kürzer. In AStA-Referaten sind
Wechsel innerhalb von sechs Monaten
eher Regel als die Ausnahme. Jusos erleben
vor Ort immer häufiger wechselnde Aktivenkreise. Es ist ohne Frage nicht verkehrt,
sich als Jugendverband mit dem Thema zu
beschäftigen und allen Interessierten, trotz
stressiger Prüfungsphasen, ein flexibles
Angebot zum Engagement zu bieten. Die
Zeit für Muße und Engagement für Studierende ist knapper geworden, ohne Frage. Das Entscheidende aber ist und bleibt
der eigene Wille, in ein politisches und ehrenamtliches Engagement Zeit zu investieren – auf Kosten anderer Lebenswelten.
Das war schon immer so.
Welches Fazit ziehen wir?
Nach 15 Jahren Bologna-Prozess sind
die Ergebnisse in der deutschen Umsetzung ernüchternd: Studienzeiten sind verkürzt, feste Regelstudienzeiten bei Bachelor und Master mussten Stück für Stück
70
flexibilisiert werden. Studienabbrüche haben zugenommen. Der „Run“ auf die Master-Studiengänge nach dem Bachelor hält
ungebrochen an, denn wer auf dem Arbeitsmarkt eine angemessene Chance haben will, benötigt zwingend den Master.
Der öffentliche Dienst hat es vorgemacht:
Wer in den höheren Dienst möchte, benötigt zwingend einen Master-Abschluss.
Der Bachelor scheitert an den formalen
Voraussetzungen. Dies gilt für Landes- wie
auch für die Bundesebene. Die Wirtschaft
hat dieses Denken übernommen. Das Vorurteil, Bachelor-Absolvent/innen hätten
gar keine vollständige wissenschaftliche
Ausbildung, ist allgegenwärtig. Dies führt
zu einer deutlich schlechteren Entlohnung
für Bachelor-Absolvent/innen im Beruf.
Dieser Punkt geht an die „employability“.
Doch wäre es ein Fehler, die Ziele des
Prozesses zu einseitig zu betrachten. Ein
besser vorgegebener Rahmen bietet Studierenden heute eine Wegmarkierung. Er
bietet ihnen die Möglichkeit, Lehrende in
die Verantwortung zu nehmen und ein studierbares Angebot einzufordern.
Das Studium ist heute transparenter.
Durch das „credit-point“-System ist die
Anerkennung von im Ausland erworbenen
Studienleistungen vereinfacht worden. Ein
mit den Jahren verkrustetes System wurde
gelüftet. Nicht umsonst hat es auch vor
Bologna schon bundesweite Studierendenproteste gegeben. Zwar verbessert sich laut
aktueller Studie – auch sicherlich mangels
noch real existierender Alternativen – die
Zufriedenheit der Bachelor-Studierenden
mit Ihrem Studiengang. Die Entwicklung
ist aber nur von „ausreichend“ zu einem zaghaften „befriedigend“ zu verzeich-
#15JahreBologna: #ftw oder #megafail? Argumente 1/2014
nen.16 Die Ansprüche der Reformen wirken im Nachhinein überzogen. Die Ziele
wurden aufgrund von Verwertungswünschen priorisiert. Die Studienzeitverkürzung wurde restriktiver und intensiver umgesetzt als z. B. die soziale Dimension. Die
Entscheidungen folgten einem TopDown-Prinzip. Die Umsetzung jedoch
wurde jedoch einerseits zum Fleckenteppich, andererseits lastete sie vornehmlich
auf den Schultern einzelner wissenschaftlicher Mitarbeiter/innen. Das war ein großer
Fehler, der erst durch Studierendenproteste
aufgegriffen, in nationalen Bologna-Konferenzen diskutiert und mit Gremien vor
Ort unter Beteiligung der Studierenden
nachgebessert wurde. Der Prozess ist nicht
zu Ende. Er wird noch lange fortgeführt
werden, spätestens ab der nächsten großen
Hürde, die das Fass zum Überlaufen
bringt: Dem Zeitpunkt, an dem auch faktisch nicht ausreichend Master-Plätze für
bewerbende
Bachelor-Absolvent/innen
zur Verfügung stehen. l
Quellen:
20. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks
Das Bachelor- und Masterstudium im Spiegel des
Studienqualitätsmonitors – Entwicklungen der Studienbedingungen und Studienqualität 2009 bis 2012,
Deutsches Institut für Hochschul- und Wissenschaftsforschung
Die Entwicklung der Schwund-und Studienabbruchquoten an den deutschen Hochschulen, HIS
Hochschul Information System, 03/2012
Zado, 10 Jahre Bologna-Prozess II, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, 3/2010, S. 37-39
16
Das Bachelor- und Masterstudium im Spiegel des
Studienqualitätsmonitors – Entwicklungen der
Studienbedingungen und Studienqualität 2009
bis 2012 , Deutsches Institut für Hochschul- und
Wissenschaftsforschung, S. 142ff.
71
STANDORTWETTBEWERB:
DER IMPERIALISMUS
UNSERER ZEIT
von Leonhard Dobusch, Juniorprofessor für Organisationstheorie am ManagementDepartment der Freien Universität Berlin und Nikolaus Kowall, wissenschaftlicher
Mitarbeiter am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf
Genau 100 Jahre nach dem Beginn
des „Großen Krieges“ ist nicht nur ein
Gedenkjahr, es ist auch ein Jahr der
Analogien. Und tatsächlich gibt es
eine Reihe von Parallelen zwischen
1914 und 2014. Wie Stefan Zweig in
„Die Welt von Gestern“ so eindrücklich beschrieben hat, blickten Europas
Intellektuelle 1914 auf eine lange, vergleichsweise friedliche Phase zurück
und waren von der Welle kriegerischen Nationalismus zumindest überrascht, so sie nicht von ihr erfasst und
mitgerissen wurden. War zuvor von
europäischer Einigung die Rede gewesen, lag der Kontinent wenige Jahre später in Trümmern und die nationalistische Saat ging auf.
2014 erwartet auch trotz Krim-Krise
niemand eine militärische Eskalation.
Dennoch mag ein Blick zurück im Sinne
einer Reflexionsanalogie (vgl. Münkler
72
2014) dabei helfen, Ideologien und Dynamiken zu identifizieren, die ein respektvolles und menschwürdiges Zusammenleben
der Völker gefährden. Bei der herrschenden Konjunktur an Analogieschlüssen gibt
es erstaunlicherweise ein Themenfeld, das
kaum Erwähnung findet, trotz dessen entscheidender Bedeutung für die Ereignisse
1914. Denn völlig unabhängig von der derzeit wieder einmal diskutierten Frage, ob
die europäischen Staaten als „Schlafwandler“ (Christopher Clark; vgl. Clark 2012) in
den Krieg „geschlittert“ (Lloyd George)
waren oder vor allem der deutsche Griff
nach der Weltmacht als ursächlich zu sehen ist (Fritz Fischer; vgl. Fischer 1961),
maßgeblich für die Katastrophe war jedenfalls eine dominante imperialistische Ideologie. Unsere These ist, dass wir es 2014
mit einem vergleichbaren, allerdings weniger militärisch und dafür stärker wirtschaftlich ausgeprägten Imperialismus zu
tun haben.
Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit Argumente 1/2014
Imperialismus als Wettbewerbsideologie
Imperialismus sogar in erster Linie mit
dem ‚Primat der Innenpolitik‘ erklärt [hat]“
Kern imperialistischer Ideologie vor
1914 war die Überzeugung, dass für Wohlstand und Erfolg einer Großmacht Expansion in Form von Kolonien und die damit
verbundene Erschließung ausländischer
Bezugs- und Absatzmärkte erforderlich
sind. Die imperialistische Ideologie war
aber nie nur eine wirtschaftliche. Für die
Eliten der wilhelminischen Ära waren
Kolonien und Weltmachtstreben immer
auch eine Frage „des Prestiges, der Ehre,
der weltpolitischen Gleichberechtigung“
(Winkler 2008). Eine Einstellung, die in
der Forderung des späteren deutschen
Reichskanzler Bernhard von Bülow nach
einem „Platz an der Sonne“ für Deutschland besonders deutlich wurde. In seiner
Reichstagsrede im Jahr 1897 erklärte es
von Bülow zu „eine[r] unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und
zu pflegen.“ Als roter Faden durch die ganze Rede17 zieht sich die Überzeugung, dass
Deutschland im Wettbewerb mit den anderen „Großmächten“ steht. So sollte „der
deutsche Unternehmer, die deutschen Waren, die deutsche Flagge […] geradeso geachtet werden wie diejenigen anderer
Mächte.“ Der Blick über die Grenzen des
deutschen Reiches hinaus erlaubte außerdem, von wachsenden sozialen Spannungen im Inneren abzusehen, wenn nicht sogar abzulenken. So stellte der britische
Imperialist Cecil Rhodes 1895 fest, dass,
wer den Bürgerkrieg vermeiden wolle, zum
Imperialisten werden müsse. Der britische
Historiker Hobsbawm ergänzt dazu, dass
man „für manche Länder – insbesondere
Deutschland – […] das Aufkommen des
Ein Blick auf die herrschende (Wirtschafts-)Ideologie des Jahres 2014 offenbart erstaunliche Parallelen. Der zentrale
Orientierungspunkt deutscher Politik ist
jener der „Wettbewerbsfähigkeit“, wie sich
schön anhand von Angela Merkels Rede
beim Weltwirtschaftsforum in Davos
201318 illustrieren lässt. Merkel forderte
dort „eine Wettbewerbsfähigkeit, die sich
daran bemisst, ob sie uns Zugang zu globalen Märkten ermöglicht.“ Der Blick richtet
sich wie damals vor allem nach außen,
zweimal warnt Merkel in ihrer Rede davor,
dass Wettbewerbsfähigkeit nicht „irgendwo im Mittelmaß“ oder „beim Durchschnitt aller europäischen Länder“ liegen
dürfe. Indikator für Wettbewerbsfähigkeit
seien „Überschüsse in den Leistungsbilanzen“, die „wir auf gar keinen Fall aufs Spiel
setzen“ dürften. Nur so könne man „ein
wichtiger Spieler am Weltmarkt“ mit Unternehmen sein, „die als schlagkräftige Akteure auch weltweit agieren könn[t]e[n].“
Wieder geht es um den Platz an der Sonne,
wenn er auch nicht mit militärischen Mitteln, sondern durch die in der Rede an erster Stelle erwähnten Lohnzusatzkosten
und Lohnstückkosten erkämpft werden
soll.
Sozialdemokratie und Imperialismus
Interessant ist in beiden Fällen das Verhalten der Sozialdemokratie. Auch vor
17
18
Vgl. https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Deutschlands_Platz_an_der_Sonne&oldid=2058341
Vgl. http://www.bundesregierung.de/ContentArchiv/DE/Archiv17/Reden/2013/01/2013-01-24merkel-davos.html
73
1914 stand die SPD den imperialistischen
Abenteuern skeptisch gegenüber und beklagte die hohen Kosten der Kolonien. Der
internationalistische Anspruch der Partei
spielte eine größere Rolle als heute, die
Ausrichtung der Sozialdemokratie war
klassenkämpferischer. Noch am 25. Juli
1914 warnte der SPD-Parteivorstand im
Vorwärts, dass „die herrschenden Klassen,
die euch in Frieden knechten, verachten,
ausnutzen, euch als Kanonenfutter mißbrauchen [wollen]“, und ließ „die internationale Völkerverbrüderung“ hochleben.
Etwas mehr als eine Woche später begründete der Parteivorsitzende Hugo Haase jedoch die Zustimmung der SPD-Fraktion
zu den Kriegskrediten im Reichstag damit,
„das eigene Vaterland in der Stunde der
Gefahr nicht im Stich zu lassen.“ Der
Wunsch, nicht als vaterlandslose Gesellen
dazustehen, dominierte, die prinzipielle
Ablehnung des Imperialismus wurde im
konkreten Fall den vermeintlich nationalen
Interessen untergeordnet. Eine Spaltung
der Sozialdemokratie in MSPD und
USPD war die Folge.
Knapp 100 Jahre später lässt sich ein
ähnliches Muster im Umgang der SPD mit
der herrschenden Wettbewerbsideologie
beobachten. Zwar werden Unternehmen
dafür kritisiert, Staaten gegeneinander auszuspielen („Heuschrecken“), und die negativen Auswirkungen des Standortwettbewerbs in Form von Lohn- und
Steuersenkungswettläufen durchaus als
solche erkannt. Im konkreten Krisenfall
aber verfolgte die deutsche Sozialdemokratie wieder eine nationalistische Steuersenkungs- und Lohnzurückhaltungspolitik.
Das neoimperialistische Denkmuster, das
der deutschen Agenda 2010 zu Grunde lag
und zu einer neuerlichen Spaltung der So-
74
zialdemokratie in Deutschland geführt hat,
wird in Gerhard Schröders Plädoyer für
eine Agenda 2020 deutlich: „Deutschland
kann seinen Vorsprung gegenüber aufstrebenden Wirtschaftsmächten wie Brasilien
und China nur verteidigen, wenn wir hart
an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten.“19
Die Gründe für sozialdemokratische
Zustimmung zu imperialistischen Politikkonzepten waren damals wie heute ähnlich. Angesichts von äußerer Bedrohung –
dem zaristischen Russland, dem vermeintlich wettbewerbsfähigeren China – gilt es
das bisher Erreichte zu schützen und dafür
Kompromisse zu machen. Bleibt die Frage,
ob diese Kalkulation aufgehen kann. Was
den militärischen Imperialismus betrifft,
ist sie eindeutig beantwortet und der imperialistische Krieg geächtet. Der ökonomische Imperialismus ist hingegen lebendiger
denn je.
Imperialismus als ökonomisches
Null-Summen-Spiel
Eric Hobsbawm ist der Auffassung,
dass der überzeugendste allgemeine Beweggrund für die koloniale Expansion die
Suche nach neuen Märkten war. Dabei war
schon vor 1914 umstritten, ob sich Imperialismus in Form von Kolonien überhaupt
rechnet. Hobsbawm ist beispielsweise der
Meinung, es gebe „keine stichhaltigen Anhaltspunkte, dass koloniale Eroberung als
solche einen besonderen Einfluss auf die
Beschäftigungsquote oder die Realeinkommen der meisten Arbeiter in den Mut19
Vgl. http://www.welt.de/wirtschaft/article114310644/Muessen-hart-an-der-Wettbewerbsfaehigkeit-arbeiten.html
Standortwettbewerb: Der Imperialismus unserer Zeit Argumente 1/2014
terländern gehabt hätten (…) Weit bedeutsamer war die gängige Praxis, den Wählern
Ruhm statt Reformen, die weit kostspieliger gewesen wären, anzubieten.“ (Hobsbawm 2008, S. 94) Karl Kautsky, Chefideologie der SPD um 1900 belegte mit
statistischen Aufschlüsselungen über die
Ausweitung der Eisenbahnkilometer, dass
die Ausdehnung des Weltmarkts und der
Produktion nicht in den Kolonien, sondern
im Zentrum stattgefunden hat. Die Kosten
für die Überseekriege würden hingegen die
Erträge bei weitem übertreffen (vgl. Kautsky 1909, S. 76 f.). Ähnlich argumentierte
Eduard Bernstein die britischen Kolonien
betreffend: „Nun kann man es gewiß als
sehr zweifelhaft bezeichnen, ob das englische Volk in seiner Masse von der Herrschaft Englands über Indien wirtschaftlichen Vorteil hat. Nach meiner Ansicht ist
das Gegenteil der Fall.“ (Bernstein 1907)
Die wirtschaftliche Rechtfertigung des
Imperialismus beruhte auf der heute noch
unter vielen Ökonomen gängigen Fehlannahme, die Triebfeder ökonomischer Entwicklung beruhe auf der globalen Expansion des Handels. Der deutsche Imperialismus war getrieben von der Vorstellung, im
Wettbewerb um die Aufteilung einer
knappen Erde im Hintertreffen zu liegen
und dadurch langfristig ökonomisch zu
unterliegen.20 In der Spätphase des Imperialismus erschien 1912 J.A. Schumpeters
„Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“, die die kapitalistische Dynamik in
erster Linie in Innovationen und Produktivitätsfortschritten erkennt. Diese endogene Entwicklungstheorie erklärt ökonomischen Fortschritt primär mit kapitalistischen Dynamiken der „schöpferischen
Zerstörung“ und unterscheidet sich von
merkantilistischen oder imperialistischen
Entwicklungstheorien, die die Rolle des
Außenhandels in den Vordergrund stellen.
Der Aufholprozess des deutschen Reichs
und der USA gegenüber der Kolonialmacht England zur vorletzten Jahrhundertwende ist ein Indiz dafür, dass globale
Präsenz wohl eher die Folge als die Ursache
wirtschaftlicher Dynamik ist. Diese Unterscheidung ist von großer Bedeutung: Ist
die wirtschaftliche Entwicklung endogen,
also von inneren Ursachen getrieben, dann
kann der Kuchen für alle wachsen. Ist Entwicklung hingegen im Rahmen eines handelsbasierten Nullsummenspiels zu verstehen, dann kann A nur gewinnen, was B
verliert. Die Entwicklung des einen ist hier
immer die Regression des anderen.
Die imperialistische Logik
des Standortwettbewerbs
Die Rechtfertigung für das Primat der
Wettbewerbsfähigkeit in der deutschen
Wirtschaftspolitik folgt der expansiven
Logik des Imperialismus. Wenn Deutschlands Löhne stärker steigen und deshalb
die Wettbewerbsfähigkeit sinkt, bekommt
es ein kleineres Stück des Kuchens und es
gibt weniger zu verteilen. Die Weltwirtschaft wird als Nullsummenspiel gesehen,
in dem Europa nur überleben kann, wenn
die europäischen ArbeitnehmerInnen im
globalisierten Wirtschaftskrieg gegen China und Brasilien auf Lohnerhöhungen verzichten. Obwohl das jährliche globale
BIP-Wachstum augenscheinlich zeigt,
dass der chen für alle wachsen kann und es
vor allem darum gehen muss, dieses
Wachstum ökologisch nachhaltig zu ge20
http://www.bpb.de/geschichte/deutschegeschichte/kaiserreich/139653/aussenpolitik-undimperialismus
75
stalten, ist die Diskussion in Deutschland
und Europa geprägt von Verlust- und Untergangsängsten. Zur wichtigsten rhetorischen Figur des zeitgenössischen Neoimperialismus wurde der Standardortwettbewerb – ein Kampf um Direktinvestitionen
und Marktanteile am Welthandelsvolumen. Rainer Land und Ulrich Busch betonen, dass beim Standortwettbewerb Motive der Umverteilung im Vordergrund
stehen: „Hier versuchen die Marktteilnehmer durch Wettbewerbsvorteile (Lohnniveau, Steuerniveau, Regelungsdichte, Umwelt- und Sozialstandards usw.) anderen
Marktanteile wegzunehmen, also Effekte
durch Umverteilung statt durch Produktivitätssteigerungen zu erreichen.“ (Busch/
Land 2010, S. 19)
Der Verweis darauf, dass das Ganze
mehr ist als die Summe seiner Teile, dass
Kooperation Europa und die Weltwirtschaft voranbringen würde, ohne Deutschland zu schaden, kommt führenden SPDPolitikerInnen nicht über die Lippen. Von
einer Öffentlichkeit, die angeblich nicht
weiter zu blicken bereit ist als um die nächste Ecke, würde ein solcher Vorstoß als
wirtschaftsschädlich und unpatriotisch
aufgefasst werden. Sigmar Gabriels Besuch
bei Frankreichs Wahlsieger Francois Hollande wurde etwa von Cicero-Redakteur
Wolfram Weimer in der ARD so kommentiert: „Wieso fällt der in dem Moment,
wo die Kanzlerin einigermaßen tapfer für
deutsche Interessen kämpft, ihr in den
Rücken bei dem ärgsten Widersacher?“
Wenn die SPD internationale Kooperation
auch nur andenkt, wird sie mit dem Stigma
der vaterlandslosen Gesellen gebrandmarkt, ohne dem kraftvoll argumentativ
entgegenzutreten.
76
Ohne deutschen Sinneswandel zerbricht die Eurozone
Die Wirtschaftskrise 2008, die vor allem in Europa auch eine drastische Krise
des Neoimperialismus darstellte, wurde
kaum als solche interpretiert. Um die abstrakte Materie zu popularisieren, fehlte in
der linken Mitte das politische Verständnis. Stattdessen setzten sich Interpretationen durch, die konkrete Feindbilder anbieten konnten. Bildlich und plastisch ist das
Bild des faulen Griechen mit Sonnenbrille
in der Hängematte, der auf unsere Kosten
ein gemütliches Leben führt. Klischees ergossen sich über die südeuropäischen Länder. Niemand interessierte sich dafür, dass
Spaniens Exporte vor der Krise stärker
wuchsen als die deutschen, niemand beachtete, dass der Anteil der Löhne am italienischen Volkseinkommen vor der Krise
rückläufig war. „Die Party im Süden ist zu
Ende“, so der Vorurteile schürende Befund
des Mainstream-Ökonomen Hans-Werner Sinn an die Adresse der Krisenstaaten.
Noch krasser als Südeuropa wurde aber
ein anderes Land in Deutschland Opfer einer sagenhaften Propagandakampagne.
Seit Jahren ist die deutsche Berichterstattung über Frankreich geprägt von nationaler Überheblichkeit und Geringschätzung.
2011 warnte Der Spiegel: „Nun gerät auch
die europäische Wirtschaftsgroßmacht
Frankreich ins Wanken. Jahrzehntelang
hat das Land geprasst und seinen Konsum
auf Pump finanziert.“21 Und weiter: „Neidisch blicken die Franzosen neuerdings auf
das >modèle allemande<, das deutsche
Modell. Die Zeitungen sind voll von Ta21
Der Spiegel 42/2011, http://www.spiegel.de/
spiegel/print/d-81136842.html
15 Jahre Bologna: ftw oder megafail? Argumente 1/2014
bellen und Grafiken, in denen Deutschland immer vorn liegt.“ 2014 titelt Die Zeit
schließlich wenig originell mit „Der kranke
Mann Europas“, fordert „Frankreich
braucht Reformen“ und bedauert, dass
„eine Reformagenda à la Schröder“ immer
noch als nicht auf Frankreich übertragbar
angesehen wird. Auf die deutsche Sozialdemokratie ist aber in wirtschaftlich-nationalen Fragen Verlass und der diesbezügliche Burgfriede bislang nicht in Gefahr: Im
Kern unterscheidet sich die Position der
SPD nur wenig von der der Kanzlerin.
Euro-Bonds, wie Hollande sie sich vorstellt, haben in der SPD-Spitze wenig Fürsprecher. Zudem hält die SPD Reformen
in Frankreich genau wie die Kanzlerin für
unumgänglich. „Die Franzosen sind in einem Zustand, wie wir es 2001 waren“, sagt
Steinmeier.22 Wenn Deutschland noch vor
zehn Jahren als kranker Mann Europas
galt, wie hat sich Frankreich innerhalb kurzer Zeit in diese unterlegene Position manövriert?
Vor der Euroeinführung war es die
deutsche Bundesbank, die durch ihre
Geldpolitik den makroökonomischen
Herzschlag in Europa vorgab. Die Währungsunion war weniger ökonomisch motiviert, als eher ein politischer Wunsch der
französischen Regierung, diese Währungsvorherrschaft Deutschlands über Frankreich zu beenden. Aus heutiger Sicht ein
Schuss ins Knie, denn das Konstrukt „gemeinsame Währung – nationale Wirtschaftspolitik“ hatte fatale Folgen. Es war
Deutschland, das Ende der 90er-Jahre einen Lohnwettbewerb startete, wodurch die
heimische Nachfrage nach Exporten der
Partnerländer sank und die deutschen Ausfuhren günstiger wurden. Hätten Frankreich und die anderen damals gleich ge-
handelt wie Deutschland, wäre Deutschlands Vorsprung niemals zur Geltung gekommen. In Anbetracht dieser Tatsache ist
es besonders perfide, der Grand Nation die
Verantwortung für Probleme mit der
Wettbewerbsfähigkeit umzuhängen. Überhaupt ermöglichte erst die Euroeinführung
den Erfolg der deutschen Strategie – zu
Zeiten der DM-Mark hätten Aufwertungen die deutsche Kaufkraft im Ausland gestärkt und preisliche Vorsprünge wieder
zunichte gemacht. Damit es genau zu keiner dramatischen Auseinanderentwicklung
der Preisniveaus kommt, ist eine synchrone
Entwicklung von Lohnstückkosten und
Preisen das eigentliche Geheimnis einer
Währungsunion. Im Gegensatz zu den weniger wichtigen Staatsschulden gibt es aber
für eine gemeinsame Inflationsentwicklung keine europäische Steuerung.
Wie überall, wo es keine Regeln gibt,
herrscht das Faustrecht. Die europäische
Wirtschafts- und Finanzpolitik wird von
jenen vorgegeben, die ökonomisch am wenigsten Rücksicht nehmen. In der Bundesrepublik wurde der Standortwettbewerb so
lange beschworen, bis sie ihn selbst lostrat.
Deutschland hat mit seiner aggressiven
Handelsstrategie in Europa eine Hegemonialstellung erreicht wie seit 1945 nicht
mehr. Während deutsche Regierungen unter Helmut Schmidt oder Helmut Kohl
ihre wirtschaftliche Vorherrschaft im Geiste des Nachkriegskonsens noch politisch
abgemildert haben, fehlt der deutschen
Öffentlichkeit mittlerweile jegliche Sensibilität für herrisches Gehabe. Diese Rohheit ist ein direktes Resultat von zwei Jahrzehnten unter dem permanenten Eindruck
22
Der Spiegel, 18/2013 http://www.spiegel.de/
spiegel/print/d-93419360.html
77
der martialischen Rhetorik des Standortwettbewerbs. Aus ihm speist sich der neu
erwachenden Wirtschaftsnationalismus in
Deutschland. Das zeitgenössische Gesicht
des Nationalismus heißt Standortwettbewerb. Durch das Fehlen einer europäischen
Autorität, in der europäische Interessen
vermeintlichen nationalen Interessen übergeordnet sind, hat die Kombination aus
Standortwettbewerb und Währungsgefängnis den großmannssüchtigen Deutschen wieder seine Schatten über den Kontinent werfen lassen. Es läge vor allem an
einer wieder zur Besinnung kommenden
deutschen Sozialdemokratie, die zunehmenden Herrschaftsdiskurse in ihrem Heimatland empört zurückzuweisen. Dazu
müsste sie aber jene ökonomischen Auffassungen hinter sich lassen, die Deutschland
als natürlichen Gewinner eines fairen
Wettbewerbs erscheinen lassen. Der
Schritt von einer einzelwirtschaftlichen
hin zu einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtungsweise wird zur entscheidenden
Herausforderung für einen Wandel von
Deutschland als Führungsmacht hin zu
Deutschland als Partner.
Wie 1914 bewegen wir uns auf eine politische Eruption in Europa zu und wie
1914 ist das deutsche Streben nach Dominanz eine wesentliche Ursache der Polarisierung. Noch erkennen die Regierungschefs von Frankreich, Italien und Spanien
nicht, dass sie sich für ihr wirtschaftliches
Überleben entweder des Euros oder der
marktradikalen deutschen Vorherrschaft
auf europäischer Ebene entledigen müssen
(was wiederum auf einen Austritt
Deutschland aus dem Währungsverband
hinauslaufen würde). Wenn diese Erkenntnis jedoch reift, werden die politischen Folgen fatal sein. Wohl wird es keinen Krieg
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in Europa geben, aber die Währungsunion
wird zerbersten und die europäische Integration wird um eine Generation zurückgeworfen werden. Es gibt natürlich einen
anderen Weg – auf diesen haben aber die
südeuropäischen Länder keinen Einfluss.
Es könnte sein, dass sich in Deutschland
die Erkenntnis durchsetzt, dass man mit
den anderen europäischen Ländern in einem Boot sitzt und der kurzfristige Vorteil
Deutschlands ein langfristiger Nachteil
Europas ist, während ein kurzfristiger Vorteil Europas auch zu einem langfristigen
Vorteil Deutschlands werden könnte. Die
jüngste Anerkennung der dramatischen
deutschen Leistungsbilanzüberschüsse als
eventuelles Problem durch das Bundeswirtschaftsministerium ist in dieser Hinsicht ein erster kleiner Lichtblick23. Der
Konsens der Eliten, das deutsche Heil im
internationalen Wettbewerb zu suchen,
scheint jedoch 2014 nicht viel schwächer
zu sein als 1914. l
23
http://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/aussenhandel-bundesregierung-sieht-exportplus-als-problem/9570660.html
15 Jahre Bologna: ftw oder megafail? Argumente 1/2014
Quellen:
Bernstein (1907): http://marxists.org/deutsch/referenz/bernstein/1907/11/kolonial.htm
Clark, C. (2012): The Sleepwalkers. How Europe
went to War in 1914. London: Allen Lane.
Fischer, F. (1961): Griff nach der Weltmacht. Die
Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland
1914/18. Düsseldorf: Droste
Hobsbawm, E. (2008): Das imperiale Zeitalter.
Frankfurt am Main: Campus
Kautsky, K. (1909): Der Weg zur Macht: Politische
Betrachtungen über das Hineinwachsen in die Revolution, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/kautsky/1909/macht/index.htm
Münkler, H. (2014): Geschichte wiederholt sich
nicht. The European, http://.de.theeuropean.eu/herfried-muenkler/7926-historische-analogie-als-politische-orientierung
Winkler, H. A. (2008): ZDF-Serie Die Deutschen,
Teil 19: Wilhelm und die Welt
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Notizen
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Notizen Argumente 1/2014
ARGUMENTE 1/2014 Europawahl 2014
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April 2014
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ARGUMENTE
1/2014
Europawahl 2014