Weltsozialforum in Nairobi / Kenia 20.-25.01.2007

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Weltsozialforum in Nairobi / Kenia 20.-25.01.2007
Weltsozialforum in Nairobi / Kenia 20.-25.01.2007
Vierteiliger Bericht von Roman Huber
Hallo liebe Leute,
ich möchte euch vom Weltsozialforum (genaueres unter www.wsf2007.org) in Kenia /
Nairobi berichten. Das Forum ist bereits vorbei, aber während der riesigen Veranstaltung war
kaum Zeit, ein Internetcafe zu besuchen, vor allem, weil man am Abend auch nicht ohne
weiteres in Nairobi durch die Strassen schlendert. Ab ca. 19:00 Uhr ist hier alles dicht und
kaum jemand ist unterwegs...
Es wird kein objektiver und mit dem nötigen Abstand verfasster Bericht sein. Ich möchte euch
meine Eindrücke, Gefühle und Gedanken so schildern, wie ich sie hier erlebt habe, auch wenn
es teilweise ein wenig widersprüchlich ist. Das ist ein Teil des Erlebens hier: Ein hin und her
gerissen sein zwischen Faszination, Betroffenheit und manchmal Ärger, wenn etwas
überhaupt nicht klappt.
Ein bisschen schräg ist es schon, hier in Ostafrika bei über 30 Grad im Internetcafe des
Providers Safaricom (ja wirklich) zu sitzen, während in Hamburg vermutlich bei Eis und
Schnee Unterschriften für die Briefeintragungen fürs Volksbegehren gesammelt werden....
Nur um es noch einmal zu erwaehnen, hier in Nairobi am WSF nehmen teil: Michael Efler,
Roman Huber von Mehr Demokratie und Arjen Nijeboer von der Referendum Platform
Niederlande (Teil von Democracy International = DI). Wir tragen alle Kosten der Reise (Flug,
Unterkunft etc.) selbst. Lediglich die Registrierungsgebuehr fuer die Teilnahme und die zwei
angemeldeten Workshops wird von MD gezahlt. Immerhin verlangt das WSF dafuer von
westlichen NGOs 390 Euro, von afrikanischen NGOs 15 Euro, aber selbst dieser Betrag ist
fuer viele unbezahlbar.
WSF Bericht Teil 1:
Wir brechen am 18.01.2007 auf: Um vier Uhr aufstehen bzw. haben meine Freundin Sonya
(die privat mitgekommt) und ich ueberhaupt nicht geschlafen, weil wir die ganze Nacht noch
mit Packen beschaeftigt waren. Der Flieger hebt um 6:00 frueh bei stroemenden Regen in
Muenchen ab und landet 1,5 Stunden spaeter in Amsterdam. Hier treffen wir Arjen aus
Amsterdam und Michi aus Berlin. Um zehn Uhr sollte es weitergehen nach Nairobi und jetzt
beginnt unsere kleine Odyssee. Aufgrund des aufkommenden Orkans wird der Flug
halbstundenweise nach hinten verschoben. Irgendwann ist voellig unklar, ob wir es heute
ueberhaupt noch schaffen zu starten. Ca. um fuenf Uhr, also nach 7-8 Stunden Warten, wird
der Flug ploetzlich freigegeben. Ein paar Minuten spaeter allerdings der Schock: Aufgrund
von arbeitsrechtlichen Bestimmungen koenne die aktuelle Crew, die ebenfalls die ganze Zeit
gewartet hat, den Flug nicht bestreiten, da sie nach – was weiss ich wieviel Stunden –
verpflichtend eine Pause machen muessten. Diese Regelung sei nun um 10 Minuten
ueberschritten... Leichte „Mobstimmung“ macht sich breit.... Kurz darauf gibt es Entwarnung.
Es geht also endlich los. Wir heben bei boeigem Wind ab und landen sicher um vier Uhr
Nachts Ortszeit (2:00 Uhr in Deutschland) in Nairobi. Wir haben nun in den letzten 48
Stunden fast nicht geschlafen und sind entsprechend geraedert.
Unsere Visa kriegen wir fuer 50 Dollar gleich im Flughafen, alles laeuft reibungslos. (Auf
dem WSF erzaehlt uns dann allerdings ein afrikanischer Journalist, dass die Visa
normalerweise 10-15 Dollar weniger kosten, die Preise speziell fuer das WSF erhoeht wurden
und sich ein hoher Flughafenbeamter damit ganz schoen die Taschen vollmachen wuerde. Ob
es stimmt weiss ich nicht, die Preisschilder fuer die Visa waren aber tatsaechlich provisorisch
mit neuen Preisen ueberklebt .... )
Wir machen das Taxi bereits in der inneren Zone des Flughafens klar, um all den „tollen
Angeboten“, die nach Verlassen des Securitybereichs auf uns einstuermen, zu entgehen und
sind kurze Zeit spaeter in unserem Appartement. Es ist geraeumig, kuehl, liegt gegenueber der
Universitaet und 200 Meter von der Hauptpolizeiwache in Nairobi entfernt. Beruhigend.
Kleiner Exkurs: Nairobi ist eine der unsichersten Staedte in Afrika, bestimmte Viertel sollte
man definitiv in der Nacht meiden, viel Trickdiebstahl, aber auch viele Raubueberfaelle. Wir
lesen dann auch hier spaeter jeden Tag in der Zeitung, dass die Polizei 4-5 Gangster
erschossen hat.
Nachdem wir ein paar Stunden geschlafen haben, brechen wir per Taxi zum Konferenzort
nach Kasarani, ca. 15 km ausserhalb von Nairobi, zum Daniel Arap Moi- Sportstadion (der
zweite Praesident Kenias von 1978 bis 2002) auf. Bilder von der Vorbereitung des Stadions
koennt ihr unter www.wsf2007.org/picture-gallery sehen.
Waehrend und vor der Fahrt prasseln die Eindruecke auf uns herein: Wahnsinniger Verkehr,
unglaublich viele Menschen, Dreck und Abfall, fruchtbare rote Erde, alle moeglichen
religioesen Gebaeude und Kirchen in geringem Abstand zueinander: Baptist Church, Sikh
Tempel (Indien), Amayyaden Moschee, viele auch sichtbar arme Menschen sind sehr
ordentlich gekleidet, die Maenner mit gebuegltem Hemd und Hose, die Frauen mit
unglaublich kunstvollen Frisuren, einige mit ganz glatten Haaren. Die Haarpracht scheint
sowas wie ein Statussymbol zu sein. Sie geben viel Geld aus, um sie plaetten, also glatt zu
machen, aequivalent zur europaeischen Dauerwelle... Alle Koerperpartien sind bedeckt, auch
auf den Plakaten, spuerbar nicht so oversexed wie bei uns, man sieht nie Nacktes, das ist
ziemlich angenehm. Alles mutet anders an, die Haeuser, die Gerueche, die Menschen, keine
Weissen, nur allgegenwaertig vermutlich ueberall auf der Welt: Shell und BP Tankstellen, die
global Player und grossen Erdoelkonzerne. Jedes bessere Gebaeude, jede Firma umgeben von
Stacheldrahtverhauen und bewacht von Guards in Uniform, teilweise schwer bewaffnet. Wir
hoeren im Radio Werbung fuer den Beginn des WSFs morgen und freuen uns. Die Stimmung
in der Stadt ist angenehm, die Menschen alle sehr offen und freundlich, immer mit einem
Laecheln im Gesicht: „Hello brother, hello sister, hello my friend“ (ausgesprochen brothaa,
sistaa). Sie kommen einem naeher, als man dies aus Europa gewoehnt ist, fassen einen gleich
an, umarmen einen, lachen viel, ich mag es.
Am Venue angekommen, erfahren wir, dass die Registrierung am KICC = Kenyatta (der erste
Praesident Kenias seit der Unabhaengigkeit 1963 bis zu seinem Tod 1978) International
Conference Centrum im Zentrum der Stadt stattfindet. Also fahren wir wieder in die Stadt und
trauen uns zum erstenmal ein Matatu, ein Sammeltaxi zu nehmen. Matatus sind in der Regel
Nissan-Kleinbusse – oft nicht mehr so richtig verkehrstuechtig. In Europa wuerde man
vielleicht 9 Sitzplaetze reinbekommen, hier sind es ungefaehr 20 Plaetze. Das Taxi kostete
zum Venue 1000 Keniatische Schilling, das Matatu kostet pro Person 20 Schilling. Es sind
abenteuerliche Gefaehrte, die Fahrer haben teilweise eine Kamikaze-Fahrstil. Matatus fahren
erst los, wenn sie voll sind. Waehrend der Fahrt gellt oft bruellend laute (wie ich finde gute,
Michi als Metallic Fan findet das nicht) Musik aus den Lautsprechern. Das Ein- und
Aussteigen geht rasend schnell. Man weiss irgendwie nie, wann sie halten, es gibt keine
Haltestellen in dem Sinn. Man sagt also dem „Schaffner“ der an der Seitentuer sitzt und die
Leute rein- und rauslotst, wann man raus will. Dann klopft der mit einer Muenze an die
Karosserie, das hoert der Fahrer und haelt an. Ein Matatu Speed Song hat den Refrain „God
will take care of you“ und „Lord, I am coming home“..... Dennoch: Die Matatus sind das
Rueckgrat des oeffentlichen Verkehrs, sie sind schnell, effizient und billig und haben den
zusaetzlichen Transport von Zehntausenden von WSF-Participants hinaus aus der Stadt nach
Kasarani spielend bewaeltigt.
Wir kommen in Ostnairobi in der Daemmerung an, also genau in dem Viertel, in dem man zu
dieser Zeit nicht unterwegs sein soll und haben ein mulmiges Gefuehl in dem Gewusel von
Menschen, ... die einzigen Weissen, die unterwegs sind... Aber schon bald pickt uns ein
Schwarzer aus „Hessen“, der deutsch spricht, auf und bringt uns ein paar Ecken weiter zum
naechsten Matatu, das uns wohlbehalten zum Methodist Guest House bringt, in dem das
Treffen der deutschen Organisationen vor dem WSF stattfindet.
Wir treffen Altbekannte: Philipp Hersel von Attac, Manfred Brinkmann von DGB und
Juergen Reichel vom EED (evangelischen Entwicklungsdienst – u.a. Misereor), die das
Treffen einleiten. Juergen Reichel ist als einziger Deutscher im International Council des
WSF und berichtet: Das International Council (IC) mit ueber 100 Mitgliedsorganisationen
leitet die einzelnen WS-Foren nicht operativ, das machen die jeweiligen LaenderOrganisationskomitees, also diesmal das Kenyan oder Afrikan Organisation Comitee. Das IC
ist sozusagen das historische Gedaechtnis des WSF, es bestimmt die Strategie und die
Themenachsen fuer die Workshops, in welchem Turnus und wo das naechste WSF stattfindet.
Pling – jetzt gab es grade einen Totalstromausfall, ich hatte nicht rechtzeitig gesichert und als
die anderen das mitbekommen, lacht heimlich das ganze Internetshop ueber mich. Es wird
uebrigens von (teilweise muslimischen) Frauen betrieben, die Aelteste von ihnen bringt alles
wieder in Ordnung. Die Maenner stehen rum. Jedes Klischee schlaegt fehl. Ich bin wohl der
einzige, der sich (zumindest innerlich) aufregt und nervoes ist, ob jetzt nicht alles seit der
letzten Sicherung weg ist. Alle anderen warten voellig laessig und gleichmuetig. Afrika meets
Europe. Naja, als dann wieder alles laeuft, zeigt sich: die Schnellsicherung von Word hat alles
gespeichert und es gab keinen Datenverlust bei mir...
Weiter im Text: Reichel stellt dar, wie die Wahl fuers WSF auf Kenia fiel. Das IC hatte 2004
nur beschlossen, dass das WSF in 2007 in Afrika stattfinden soll, die afrikanische
Ziviulgesellschjaft sollte selbst unter sich ausmachen in welchem Land. Zuerst haben sich das
anglo- und frankophone Afrika gegenseitig blockiert. Es waren Senegal und Mali im
Gespraech, allerdings begannen dann auch die ehemaligen Kolonialmaechte Belgien und
Frankreich Einfluss zu nehmen. Das kam im IC nicht gut an. Kenya empfahl sich nicht zuletzt
wegen seiner juengeren demokratischen Entwicklung, dem laufenden Verfassungsprozess
(dazu spaeter mehr) und der frischen Einstellung der Organisatoren bezueglich der
zukuenftigen Entwicklung, sinngemaess: „Wir muessen endlich aufhoeren, uns ueber unser
schlimmes koloniales Erbe zu beklagen, sondern auch die Fehler bei uns suchen: die
unglaubliche Korruption bekaempfen und uns selbst veraendern, weil sich nur dann etwas
aendern wird.“ Zudem beguenstigt natuerlich ein englischsprachiges Land die
Internationalisierung. Juergen Reichel laesst hoeflich, wie er als Pfarrer nun mal ist, durch die
Blume durchblicken, dass das uns erwartende WSF etwas chaotischer wird als vorherige. Das
Programm ist immer noch nicht fertig, es gibt nur eine Internetversion. Als ich meinen
Missmut darueber ausdruecke, ist mir klar, dass dies schnell als typisch deutsche Kritikasterei
ohne Kenntnis der lokalen Verhaeltnisse abklassifiziert werden kann. Mein Argument ist
allerdings, dies sei kein typisch afrikanisches Phaenomen, sondern ich haette dies auch schon
in Brasilien und Indien erlebt und er muesse doch mittlerweile in der WSF Organisation eine
langjaehrige Organisationspraxis geben. Dieses Know How sollte doch an die jeweiligen
Laender Organisationen weitergegeben werden, damit nicht alle das Rad wieder neu erfinden.
Ich bat das IC als „historisches Gedaechtnis“, doch kuenftig dafuer Sorge zu tragen. Manfred
Koch, der schon seit 1.12.2007 in Nairobi bei der Vorbereitung hilft, nahm sich dann nach der
Veranstaltung kein Blatt vor den Mund. Er berichtete: All diese Hilfestellungen ans
afrikanische Organisationskomitee haette es weit im Vorfeld gegeben und zwar nicht nur von
noerdlichen Laendern, sondern vor allem von den brasilianischen und indischen (nicht durch
koloniale Vergangenheit vorbelasteten) Kollegen. Aber die verantwortlichen Afrikaner
haetten dies weit von sich gewiesen, sie haetten alles im Griff, .... Genau Diegleichen wurden
aber im Laufe der Zeit immer kleinlauter und zu guterletzt arbeiteten einige brasilianische
Datenbank-Spezialistinnen Tag und Nacht daran, doch noch alles hinzubekommen. Sie
wuerden es aber nun auch nicht mehr hundertprozentig schaffen. Er wolle nun auch auf
gewisse Befindlichkeiten keine Ruecksicht mehr nehmen und spraeche dies direkt an.
Nach einem anschliessenden Barbecue fallen wir ins Bett und sind gespannt auf den morgigen
ersten tag des WSF:
Teil 2 folgt morgen 
Roman
WSF Bericht Teil 2
Heute am 20.01.2007 beginnt das WSF.
Die Registrierung ist absolut problemlos, alles britisch gepraegt – wie bei allen „amtlichen“
Vorgaengen in Kenia – lange geordnete Warteschlangen, Formulare, Stempel. Jeder
Teilnehmer bekommt ein Namensschild zum Umhaengen mit Angabe aus welchem Land er
kommt, bemerkenswertes Detail daran: Der „batch“ ist nicht nur an einer Kordel befestigt,
wie auf den anderen WSFs, sondern an einer Perlenkette mit unterschiedlichen Mustern.
Um den taeglichen Transport vom Stadtzentrum zum Stadion ausserhalb der Stadt zu
organisieren, wende ich mich an den offiziellen WSF Transport Service. Erst wollen sie uns
Transport Gutscheine fuer 50$ Dollar pro Person (!) verkaufen. Dann bin ich ganz „schlau“:
Ich buche zusammen mit sechs Tansaniern einen Bus, der uns vier jeden Tag von unseren
Appartement abholen soll. Ich gehe davon aus, die Tansanier wissen, wie es laeuft hier in
Afrika, wir haengen uns dran, machen einen Vertrag, alles miteinander kostet immerhin 3600
Schilling (ca. 40 Euro) fuer die ganze Woche. Ein guter Deal, wie ich meine, Arjen ist von
vorne herein skeptisch. Wie es ausgeht, werdet ihr noch hoeren.
Als alte WSF Profis lungern wir dann in der Naehe des Info-Standes mit den ueblichen WSFTragetaschen herum, Berge von Taschen, nur eines fehlt, das Programm. Seit Stunden warten
ehrenamtliche Helfer auf die Anlieferung der ersten druckfrischen Programme, damit sie in
die Haengetaschen verpackt und verteilt werden koennen. Und tatsaechlich: Um zwei Uhr
kommt die Lieferung, wir sind in den Warteschlangen ganz vorne und ergattern die
heissbegehrten Programme. Sie sind fuer die Planung der naechsten Tage unentbehrlich. Alle
Workshops, Veranstaltungen und was sonst alles laeuft, ist auf geballten 150 Seiten im A3
Format zu finden. Es gibt vier Einheiten a zweieinhalb Stunden, gefolgt von einer halben
Stunde Pause, Beginn um 8:30 Uhr, Ende um 20:30 Uhr.
Danach beginnt die grosse Eroeffungsveranstaltung im Uhurupark mit viel Kultur,
Ansprachen, bekannten Musikern und NGO Aktivisten aus ganz Afrika, verschiedensten
Taenzen und toller Musik. Es waren meiner Schaetzung nach aber hoechstens 40.000
Menschen da, zum Schluss eher nur noch 25.000. Die Moderatorin ist eine Frau, powervolle
Ausstrahlung, das ganze ist eh Frauen dominiert. Aber auch Chico Whitacker – der „Father of
WSF“ aus Brasilien durfte kurz vorsprechen. Die Ansprachen mehr Aufforderungen zu
Sprechgesaengen (Another World is possible – Chanting) und parolenhaft („Bush out of the
world“). Gute Stimmung, die Sonne brennt herunter. Das ganze im Zentrum Nairobis neben
Parlament, City Hall und unterhalb des Gesundheitsministeriums. Das Forum wird in Kenia
medial ganz anders wahrgenommen, als z.B. in Indien. Jeden Tag sind Berichte in allen
Tageszeitungen zu lesen.
Ein Spruch, der bei mir haengenbleibt: „My heroes have always been killed“. Viele Nonnen
sind unterwegs, die Kirchen sehr praesent, keniatische Flaggen werden geschwenkt. Susanna
Owiyo (?), eine phantastische Saengerin meinte: „We africans are blessed, we have a rich
culture, we are energetic and despite poverty you see woman and man with a smile“. (Wir
Afrikaner sind gesegnet, wir haben eine reiche Kultur und sind voller Energie. Trotz aller
Armut tragen Frauen und Maenner ein Laecheln auf den Lippen). Genau das ist auf dieser
Oeffnungsveranstaltung zu erleben.
Auf dem Heimweg: Mir fallen mehr behinderte Menschen auf als in unseren Strassen, viele
mit krummen Beinen, wohl Folge von Mangelernaehrung. Teilweise auch postkoloniales
Verhalten: Ich werde auf der Strasse etwas devot gegruesst: „Good evening, Sir“. Beim
Einkaufen im Supermarkt wird der Ueberfluss an billigen Arbeitskraeften sichtbar: Einer, der
an der Kasse die Waren aufs Fliessband stellt, ein Kassierer, Einer, der die Waren nach dem
Fliessband in Plastiktueten packt.
Bei der Zeitungslektuere faellt auf: Die Sterbeanzeigen zeigen fasst nur junge Gesichter.
Schockierend. Das kann doch nicht sein. Im Reisefuehrer lese ich nach, dass die
durchschnittliche Lebenserwartung in Kenia 48 Jahre (!) betraegt, mitunter wegen AIDS, ich
habe danach also nur noch acht Jahre zu leben.... Zusaetzlich ungewoehnlich: In den
Sterbeanzeigen werden bis zu vierzig Namen erwaehnt, die ganze Verwandtschaft wird
inklusive Berufen aufgezaehlt. Die Familie, die Clan- bzw. Stammeszugehoerigkeit spielt eine
viel staerkere Rolle hier in Kenia.
Fazit des ersten Tages: Alles hat bestens geklappt, gut organisiert, von wegen Chaos, wie
Reichel gestern prognostizierte. Wir freuen uns auf die Workshops, unsere eigenen sind
morgen und uebermorgen jeweils ab 17:30 Uhr terminiert, Gott sei Dank nicht schon um
8:30, die sind vermutlich gekniffen.
21.01.2007 zweiter WSF-Tag, die Workshops beginnen:
Um 7:30 stehen wir vor unserem Appartement und warten gespannt auf den teuer bezahlten
WSF-Transport-Bus. Um es kurz zu machen: Er kam an diesen Tag nicht, er kam am
naechsten nicht, er kam nie. Der Chef der sechs Tansanier, die mit uns abgeholt werden
sollten, rief mehrfach das WSF-Transport-Team an und beschwerte sich fuerchterlich, drohte
an zur Polizei zu gehen und zog eine beeindruckende Show ab. No effect. Wir
verabschiedeten uns und nahmen ab sofort ein Matatu fuer ein Zehntel des Preises.
Im Stadion angekommen, weitere Ernuechterung: Arjen und ich suchen bis Mittag insgesamt
sechs verschiedene Workshops und finden entweder die Raeume nicht, die sind einfach nicht
markiert oder es gibt sie gar nicht oder es findet kein Workshop darin statt. Das Geruecht geht
um, dass eine vorlaeufige (!), somit falsche Version des Programms gedruckt wurde, na super.
Was laeuft: Das riesige, eigene Zelt der Human Rights Aktivisten ist immer voll, sie sind
bestens organisiert und machen ihr eigenes Ding, genauso die Kirchen. Langsam trudeln
immer mehr Menschen auf dem Gelaende ein. Viele Volunteers (Ehrenamtliche) stehen
herum, sind total freundlich, wissen aber allesamt fast gar nix. Einer in Uniform zaehlt Sonya
stolz seine Aufgaben auf: Er soll Sorge tragen, dass erstens alle einen Sitzplatz bekommen ->
er stand in einem leeren Zelt mit 6000 Stuehlen, dass zweitens alle Wasser haben -> man wird
alle zehn Meter von Wasserverkaeufern angesprochen, dass drittens es alle bequem haben....
Das war schon wieder lustig.
Am Infodesk moechte ich mir in den folgenden Tagen dann auch die 3600 Schilling fuer die
WSF-Transportgutscheine zurueckerstatten lassen, ich frage zig (schwarze) Ehrenamtliche,
sie schicken mich zu allen moeglichen Plaetzen, an denen meistens ueberhaupt gar nichts ist.
Wenn ich dies beim zurueckkommen etwas vorwurfsvoll bemerke, stoert sie das nicht im
geringsten. Bevor sie sagen, dass sie nichts wissen schicken, sagen sie scheinbar einfach
irgendwas. Ich glaube langsam gar nichts mehr, bleibe aber dran. Also verweisen sie mich auf
ihren grossen „Boss“. Der kommt dann auch in Gestalt einer ca. 20-jaehrigen (weissen)
Kanadierin. Tja... Sie weiss Bescheid und ruft den WSF-Transport-Verantwortlichen Mwaura
an.
Kurzer Exkurs: Manches in dem Bericht klingt vielleicht nicht ganz “politisch korrekt”. Hier
begegnen einem in Gespraechen ueber die Misere Afrikas als K-Kontinent (K fuer Kriege,
Korruption, Kriminalitaet und Krankheit) eine ganze Bandbreite von Erklaerungen. Von der
Position, Afrikaner seien in erster Linie Opfer von Sklaverei, Kolonialzeit und heute
neoliberaler Ausbeutung bis hin zur Aussage (von Afrikanern selbst), Afrikaner haetten ihr
heutiges Elend ueberwiegend selbst verschuldet, 40-50 Jahre Unabhaengigkeit seien genug,
um etwas aufzubauen. Vermutlich liegt die “Wahrheit” irgendwo dazwischen und ist
komplexer.
Weiter auf dem WSF: Ich verabrede mich mit Mwaura. Er kommt nicht zum Treffpunkt. Da
wird mir langsam klar, dass wir das Geld nicht zurueckbekommen werden. Ich bleibe
dennoch hartnaeckig und betrachte es als Experiment. Mwaura kommt auch zu allen weiteren
Treffpunkten nicht. Seine letzte Story war: er muesse Ruecksprache mit Prof. Ojugi halten,
dem (tatsaechlich) over-all-Verantwortlichen des WSFs, nur er koenne die Rueckerstattung
genehmigen. Das glaube ich gerne, da ich mittlerweile nicht der einzige bin, der sein Geld
zurueckfordert. Das ganze Nachhaken war fuer mich interessant, weil es das offizielle WSFTransport-Angebot war. Aus so einem kleinen persoenlichen Beispiel kann man durchaus
Schluesse auf die Gesamtorganisation ziehen. Wir haben unsere Transportgutscheine dann mit
nach Hause genommen und werden einen offziellen Brief an Prof. Ojugi schreiben.... <grins>
Ich habe hiermit die wesentlichen Nervgeschichten auf einmal berichtet, ab jetzt geht es
positiv, zumindest aber nachdenklich weiter.
Einschub: Die ganze Geschichte erzaehle ich ja in der Rueckschau, im Bericht ist „heute“ der
21.01.2007, tatsaechlich ist aber heute der 27.01.2007. Mittlerweile ist in meinem Internetcafe
zum zweitenmal der Strom ausgefallen. Diesmal bin ich derjenige, der cool bleibt. Ich bin
naemlich zwischenzeitlich in Mombasa an der Kueste und die meisten meiner InternetNachbarn sind Moslems, sie regen sich erst auf, bis sie sich auf „Allah ist gross“ besinnen und
lachen. In den Stromausfallpausen fuehren wir heisse Religionsdiskussionen ueber das
Christentum, der Koran und die Juden. Da fallen Saetze wie: „es waren keine sechs Millionen
Juden, die im Holocaust umkamen.“ Als ich ihnen dann erzaehle, dass ich persoenlich KZs
besucht habe und die herausgebrochenen Zaehne und Haare gesehen habe, die
Verbrennungsoefen etc. beindruckt das einige nicht wirklich. Sie zeigten einen extrem tief
verwurzelten Hass auf die Juden, nicht auf die Christen, denn wir Christen als eine
Gemeinschaft des Buches (Bibel) stehen laut Koran unter Schutz. Beim Frauenthema wurde
mir genau die untergeordnete Rolle der Frau gegenueber dem Mann erklaert. Ich fragte nach
den Koransuren, in denen steht, was sie behaupteten, aber die wussten sie dann leider nicht so
genau. Also verblieben wir, dass wir alle Brueder und Schwestern sind, dann gaebe es Frieden
auf der Welt.
Dann ging der Strom wieder an und ich schicke euch den zweiten Teil des Berichtes vom
WSF 2007.
Roman
WSF Report Teil 3
Mit erheblicher Verspätung schicke ich den dritten Teil des WSF Berichts. Die Internetcafes
waren immer rarer gesäht, die Übertragungsraten wurden immer langsamer.... auf dem Weg
zum Mount Kenya gab es dann gar nichts mehr.
Auf dem WSF, der zweite und dritte Tag (Tage der Workshops)
Es waren ca. 1500 Organisationen vertreten und 1400 Veranstaltungen angemeldet. Bei der
Auswahl der von uns besuchten Workshops haben wir uns natürlich auf den
Themenzusammenhang Demokratie, Partizipation, politische Strukturen etc. konzentriert. Die
Vielzahl von Eindrücken und Erlebnissen chronologisch wieder zu geben, ist kaum möglich,
so fasse ich ein wenig zusammen:
Eines der ersten, intensiven Gespräche fand mit einem sehr engagierten Lehrer aus dem
Westen Kenias statt: Er hat schon in vielen Teilen Kenias gewohnt, da sein Vater als Beamter
oft versetzt wurde, hatte also einen gewissen Überblick über das Land. Er leitete eine NGO
mit ca. 20 Mitarbeitern und berichtete: Die Mädchen sind zuständig für das Wasserholen und
sind dazu oft stundenlang unterwegs. Deswegen haben sie weniger Zeit in die Schule zu
kommen als die Buben und sind alleine schon deswegen benachteiligt. Seine einfache, aber
höchst wirksame Maßnahme: Er organisierte, dass an den Schulen Wassertanks aufgestellt
werden. So können die Mädchen Wasser holen UND zur Schule gehen.
Er wollte wissen, ob tatsächlich stimme, dass in den Niederlanden oder Deutschland
tatsächlich niemand unversorgt sei. Sogar die Behinderten bekämen etwas, das konnte er sich
gar nicht vorstellen. Wenn in Kenia jemand behindert sei, nobody cares.
Das Konzept der direkten Demokratie war ihm völlig neu. Nach anfänglicher Skepsis und
Unverständnis, dass tatsächlich die Menschen selbst und verbindlich über bestimmte Themen
entscheiden können und nicht die Eliten, Leader oder Parteien, war er völlig begeistert. „I
have never seen this, that is powerful, you have the power...“ Mir wurde dadurch klar, dass
vermutlich Millionen von Menschen auf der Welt das Konzept von direkter Demokratie von
unten nicht einmal KENNEN.
Er hatte allerdings auch den naiven Glauben, dass bei uns im Westen alles toll ist und es
genügt, lediglich dorthin zu kommen und alles wird gut.
In vielen Beiträgen stellten die Redner die Geschichte, Errungenschaften oder Tragik ihres
Heimatlandes dar, z.B. die Geschichte des Senegals unter Leopold Senghor und seinem
Konzept der negritude (Konzept der kulturellen Selbstbehauptung aller Menschen Afrikas),
oder Ägypten unter Nasser, die Geschichte des Tschads oder von Malawi. (Ich hab vor dem
WSF mal sicherheitshalber die Afrika Karte auswendig gelernt, um zumindest zu wissen, WO
die Länder alle liegen ...). Wahnsinnig interessante Länderportraits abseits der üblichen
Medienberichterstattung.
Im Forum für Alternativen wurden viele positive (teilweise bekannte) Beispiele wurden, z.B.
Porto Alegre aus Brasilien, Provinz Kerala oder Beispiele der demokratischen
Wasseraufteilung entlang an Flüssen in Indien, die Zapatisten in Mexiko, die
Arbeiterbewegung im Kongo. Wie üblich auf WSFs teilweise auch eine Überbetonung von
linken, fragwürdigen Beispielen, wie das tolle kubanische System, in dem alle Politiker alle
sechs Monate einen Rechenschaftsbericht abgeben müssen und dann abgewählt werden
können (mit Ausnahme natürlich des maximo leader etc.).
Die Zelte, in denen Voträge stattfanden waren nach afrikanischen Freiheitskämpfern benannt
wie Thomas Sankara oder Amilcar Cabral, Namen, die bei uns – zumindest mir – bislang
vollständig unbekannt waren. Thomas Sankara war z.B. ein 33 jähriger Offizier, der in
Obervolta an die Macht kam. Er nannte sein Land um in Burkina Faso, Republik der
aufrechten Menschen. 1984 ließ er in fünfzehn Tagen 2,5 Mio. Kinder impfen, 1985 startete
er ein Programm zur Pflanzung von 10 Mio. Bäumen. Personenkult und Privilegien wurden
abgeschafft, die Limousinen der Minister wurden durch Renault 5 ersetzt etc. Er verkündete
richtige Reformen allerdings per Order und mit Zwang. Sein engster Kampfgefährte Blaise
Compaoré verriet ihn, stürzte ihn und ließ ihn hinrichten. Compaoré ist heute noch Präsident
des Landes.
Gut auf dem Forum war, dass der Schwerpunkt auf den vielen kleinen und mittleren
Workshops lag, es gab kaum große Veranstaltungen mit den „Stars“ der Globalisierungskritik,
die die Aufmerksamkeit abziehen. Negatives Beispiel dafür war auf dem letzten WSF 2005 in
Porto Alegre der Auftritt von Venezuelas Präsident Hugo Chavez.
Die Formen der Darbietung waren breit gefächert, gerade afrikanische NGOs stellten Ihre
Themen in musikalischen, kulturellen Performances, Tänzen oder Straßentheater dar. Die
gespielten Szenen waren lebensnah, Konflikte wurden an einer bestimmten Stelle eingefroren
und die Zuschauer konnten verschiedene Lösungsstrategien selbst mit schauspielerisch
darstellen und weiterentwickeln. Die von den Zuschauern gebotenen Auswege rangierten
zwischen naiver Einfachheit und bodenständiger Lebensnähe, ohne übliche intellektuelle
Analyse oder Theoretisieren.
Exemplarisch der Ablauf des afrikanischen Workshops „Building democracy from below“.
Zu Beginn tanzte eine Jugendgruppe, dann ein kurzes Willkommen und das gemeinsame
Singen eines Liedes, es folgt eine Theaterperformance. Anschließend die statements von ca.
10 Vertretern von lokalen Gruppen, z.B. der Föderation der Slumbewohner, der Fischer, ein
Hiphopper, eine Massai-Mama etc. (Mama oder Papa wird als ehrenvolle Anrede für Ältere
verwendet, irritiert hat mich, dass ich auch öfter als papa angesprochen wurde...) Das ganze
endet mit einem vorgetragenem Gedicht.
Beeindruckend der Bericht der Massai in mehrerlei Hinsicht: der Inhalt Ihrer Präsentation, die
Art Ihrer Präsentation, konsekutiv aus Ihrer Sprache auf englisch übersetzt, das ganze im
vollen Ornament. Der übliche Tagesablauf einer Massaifrau: um 3 Uhr aufstehen und Feuer
machen, Melken, Tee machen, Frühstück machen, die Kinder fertig machen für die Schule,
Kühe versorgen, Teemachen für den Ehemann usw. Sie berichtete exakt chronologisch, was
geschah, keinerlei Abstraktion oder Metaebene. Das wirkt sehr einfach, hat aber richtig Kraft,
man spürt das Leben durch. Wenn es in der Nacht regnet, das Dach undicht ist und es
hereintropft, müssen die Frauen aufs Dach steigen und das Loch mit Lehm zuschmieren,
damit ihre Männer weiter schlafen können... Sie wollten etwas ändern, aber ihre Männer
hörten nicht auf sie. Ich fasse jetzt zusammen: Also haben sich 26 Massaifrauen
zusammengetan, sich selbst ein paar Ziegen oder andere Viecher gekauft, sie großgezogen
und mit Gewinn verkauft, vom Gewinn ein erstes Haus gebaut...dann ein nächstes Haus etc.
.... ihre Männer waren mißtrauisch... haben aber in den Häusern geschlafen, denn schließlich
gehört den Frauen nichts, sondern den Männern, auch wenn es die Frauen gebaut haben... Die
Häuser bekamen Wassertanks, damit sie nicht immer soviel Wasserschleppen müssen. So
haben sich die Frauen langsam gegen den Widerstand der Männer emanzipiert ....
Zwischendrin gab ich Reportern der Deutschen Welle ein fünfzehnminütiges, englisches
Interview, das auf Kisuaheli übersetzt und gesendet werden sollte. Witzig. Sonya wurde vom
Kenyianischen Fernsehen interviewt, ob sie Barack Obama oder Hillary Clinton besser findet.
(Über Obama, den demokratischen Präsidentschaftskandidaten wird viel berichtet, da sein
Vater Kenianer war.)
Sehr starke Präsenz von kirchlichen, christlichen Gruppen auf dem WSF, sie waren gut
ausgestattet und organisiert. Es fanden sogar Gottesdienste auf dem WSF statt. (In Indien
wäre dies undenkbar gewesen, sofort wären interreligiöse Eifersüchteleien zu befürchten
gewesen.) Das spiegelt auch die Situation im Land wieder. Fast alle Kindergärten und
Grundschulen werden kirchlich getragen, in ordentlichen Gebäuden mit oft gepflegten
Grünflächen und Vorgärten. Der Deal ist kostenlose Bildung gegen Glauben.
Die neu gewählte Regierung Kibakis erließ 2002 den kostenfreien Zugang zu Grundschulen.
Daraufhin strömten 1,3 Mio. Kinder mehr in die Schulen. Allerdings konnten aufgrund von
IWF-Vorgaben die Staatsausgaben nicht weiter erhöht werden, so dass 60.000 ausgebildete
Lehrer nicht eingestellt werden konnten. Die Klassenstärken liegen jetzt zwischen 100 und
150 Kindern. Unglaublich. Gewerkschaften und die etwas moderatere Weltbank versuchen
etwas daran zu verändern (Informationen von Georg Wiesmeier von der GEW).
Unsere beiden Workshops
a) Democracy and economic development
Unsere Thesen waren:
1. Demokratie stärkt und unterstützt die (wirtschaftliche) Unterstützung
2. Je direkter und partizipativer die Demokratie, desto besser die Entwicklung
3. Je dezentralisierter die Demokratie, desto bessser die Entwicklung.
Weitere wesentliche Faktoren:
- Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte
- Eigentumsrechte geklärt
- Frieden
Diese Thesen versuchten wir anhand von drei konkreten Beispielen zu untermauern: Kerala,
ein Bundesstaat in Südindien, Porto Alegre in Brasilien und der Schweiz.
Dieser Workshop fand am ersten, noch etwas chaotischen Tag statt, es waren ca. 15
Teilnehmer da, die Hälfte Europäer. Gute Diskussion.
b) Democracy an the power of the people
Ablauf:
- Die Krise der repräsentiven Demokratie (Eliten, Parteiendominanz, 1x wählen – 4 Jahre
zuschauen, Einfluß des Geldes / Wirtschaft, Korruption, Postengeschacher, reines
Machtstreben)
- Aber wir brauchen keinen Leader, oder „bessere“ Menschen, sondern ein besseres
System, dass die schlechten Seiten im Menschen eindämmt und die guten fördert.
- Woher kommt Demokratie, urspünglich war sie direkt.
- Formen der Mitbestimmung
- Diskussion
Hier waren ca. 30 Teilnehmer aus mindestens 15-20 Ländern die Hälfte davon aus
Schwarzafrika. Sehr gute Diskussion, Erfahrungsaustausch, Begegnung. Wir hatten keinerlei
Werbung gemacht und waren mit diesem Workshop sehr zufrieden.
Weitere Eindrücke und Gedankensplitter
Viele hoffen auf den starken Führer, den „Leada“, der es richten wird. We need Leadership.
“As a Leada, I need four “D”, Direction, Determined, Disciplin, Depend on God.” Zitat einer
zwanzigjährigen Leiterin einer Jugendgruppe.
Aus einem Wortbeitrag: Die Feinde der Demokratie sind die Religionen und unsere Kultur.
Die Religionen, weil sie die Menschen aufs Jenseits vertrösten und nicht zu Partizipation
ermutigen, die Kultur, weil wir Afrikaner immer noch glauben, dass man als Leader geboren
wird (Abstammung, Blut). Dies predigen uns diese Leader, kings und chiefs auch. Sie haben
soviel Power, auch soviel supernatural power, dass niemand glaubt, dass dies je geändert
werden kann. Die Abhilfe seiner NGO: Sie laden Religionsführer etc. an ihr Institut und
arbeiten dort gemeinsam die spirituellen und heiligen Texte auf demokratierelevante Stellen
durch, um so einen eigenen Zugang zum Thema Demokratie zu gewinnen. Dies fand ich
einen wahnsinnig interessanten Beitrag, ich wollte ihn nach dem Workshop ansprechen und
konkreter nachfragen, wurde aber dann selbst auf einen Beitrag von mir angesprochen und
weg war er.
Statement eines WSF Teilnehmers aus Burma:
Er hätte während seines gesamten Studiums in Burma = umbenannt in Myanmar (seit 15
Jahren Militärdiktatur) nie etwas über Demokratie und Menschenrechte gehört.
Beim Heimfahren am Abend:
Ein riesiger, moderner Shell-Tankzug fährt an einem afrikanischen Massai-Markt in Nairobi
vorbei, pflügt sich durch die Massen. Er sieht übermächtig aus, wie ein Symbol aus einer
anderen Welt.
Damit sind wir am Ende des dritten Tages des Weltsozialforums angelangt. Im vierten
Bericht, der schon fast fertig ist, könnt Ihr über DIE Entdeckung auf dem WSF für Mehr
Demokratie überhaupt lesen. Weitere Themen sind spezifische Probleme der Demokratie in
Kenia / Afrika, ein Report über einen Slumbesuch und ein Fazit.
Kwa heri
Roman
WSF Bericht Teil 4
Probleme der Demokratie in Kenia / Afrika
Auch in Afrika stellt sich die berühmte Frage: „Brauchen wir drei Parteien oder drei
Mahlzeiten am Tag?“ Und tatsächlich, wie sollen Wahlen in sogenannten „failed states“, also
zerfallenen Staaten stattfinden? In denen Bürgerkriege und Warlords herrschen? Urnengänge
ohne Infrastruktur, Lokalverwaltung, Wählerregister? Wahlkämpfe ohne Medien? Auch das
eigentliche Subjekt fehlt teilweise, der aufgeklärte Bürger, die Mittelschicht, die
Zivilgesellschaft, die demokratische Reformen nachhaltig einfordert.
Ich hatte öfter das Gefühl auf dem WSF, das viele Menschen, die höchstengagiert auf lokaler
Ebene arbeiten, mit dem abstrakten Zeug, von dem wir reden, gar nichts anfangen können. Es
geht in erster um sauberes Wasser, Armut, Schule, familiäre Probleme, Krankheit etc.
Viele Menschen sind sich Ihrer grundlegenden Bürgerrechte nicht bewusst, deshalb ist sicher
Bildung und civic education zentral.
Unsere voll ausgebaute dreistufige Volksgesetzgebung ist oft kaum vermittelbar. Eine
wichtige Zwischenstufe könnte sein: Die Möglichkeit von recall = Abwahl. Das versteht jeder
und bietet einen potentielle Lösungsansatz für Machtmissbrauch und Korruption. Außerdem
entspricht das eher der „Leaderorientierung“ vieler Afrikaner.
Stammesstrukturen / Tribes
Ein für mich ganz neues Problem ist die extreme Ausrichtung der Parteien entlang der
ethnischen Grenzen. Alle großen Parteien sind reine Stammesvertretungen und keine
Programmparteien. Mitglieder des eigenen Stammes werden bei der Besetzung von Posten in
Politik und Verwaltung bevorzugt. Schon der erste Präsident Kenyatta ein Kikuyu, der größte
Stamm Kenias, praktizierte dies exzessiv. Die folgenden Präsidenten taten es ihm gleich. Als
wir später in der Gegend des Mount Kenya unterwegs waren und über Politik sprachen, hörte
ich nie ein kritisches Wort über die jetzige Regierung. Oh Wunder, wir befanden uns im
Stammgebiet der Kikuyu und der aktuelle Präsident Kibaki ist wieder Kikuyu.
Ein Journalist von TV Nation erläuterte uns die verschiedenen Stämme und meinte aber
erstaunlicherweise, dass sie gar nicht so unterschiedlich seien. Viele Traditionen und Riten
seien ähnlich, die Sprache sei in einigen Fällen der Hauptunterschied. Dennoch ist die
Stammeszugehörigkeit eines der wichtigsten Identitätsmerkmale eines Afrikaners und wird
beim Kennen lernen untereinander meist im ersten Gespräch erwähnt. Kenianer würden die
jeweilige Zugehörigkeit bereits am Namen erkennen. (Ich als Angehöriger eines
traditionsbewussten süddeutschen Stammes kann dies vermutlich noch besser nachvollziehen
als viele von euch postmodernen Entwurzelten. Eine Stammespartei gibt es bei uns auch und
das mit der Spezlwirtschaft haben wir längst schon drauf.)
Ohne es zu wissen, vermute ich, dass die Zugehörigkeit zum Stamm oft künstlich
hochgespielt wird, um konkrete politischen und sozialen Probleme zu übertünchen. Das
beliebte „wir“ gegen „die da drüben“ wird sicherlich auch in Kenia perfekt gespielt.
Extended Family
Die Familie, der Clan, die Verwandten, das Heimatdorf sind die noch engere Struktur
innerhalb des Stammes, in die jeder eingebunden ist. Jeder Verdiener ist verpflichtet zu
helfen, nicht nur in der Politik. Medikamente für die Tante, die Schuluniform für die
Cousinen, die Rate fürs Auto vom Bruder. Was wir Vetternwirtschaft nennen gebietet hier die
Sitte. Die extended family stellt in der traditionellen Gemeinschaft das soziale Netz dar und
sichert das Überleben. Für viele Aufsteiger sicherlich unwahrscheinlich lästig. Wer aus der
Gleichheit der Armut aufsteigt, wird potentiell wieder hinuntergezogen. Solange sich kein
funktionierendes Wohlfahrtssystem bildet, wird sich das auch nicht ändern.
Mir drängten sich Parallelen zum Kastensystems Indiens oder Sri Lankas auf. Denn einerseits
ist die Familie Sozialsystem, aber andererseits, wer nebenan im Dreck liegt und nicht zur
Familie gehört, interessiert nicht. (Dies erzählte mir zumindest ein Paar, das seit eineinhalb
Jahren in Afrika unterwegs war).
Altafrikanische Demokratie bzw. Regierungsformen
Eine These war: Die westliche Demokratie passe nicht zur Tradition der Konsens- und
Palaverdemokratie Afrikas (Palaver in seiner ursprünglichen Bedeutung einer religiösen oder
gerichtlichen Versammlung). Ältestenräte, Konzile, teilweise mit matrilinearen
Auswahlverfahren seien der eigene Weg und Zugang zur Demokratie.
Die Autoritäten des alten Afrika sind die Hüter der Tradition, sie kommunizieren mit den
Ahnen, schlichten Streit, regeln Streit und interpretieren die mündliche Überlieferung.
Man müsse an die früheren, vorkolonialen Traditionen anknüpfen und den eigenen Weg zur
Demokratie finden. Teilweise werden diese Zeiten meines Erachtens auch etwas verbrämt,
wir waren alle Brüder und Schwestern, alles war gut.
Gegen-These eines Senegalesen: Die Existenz von früheren, demokratischen Reichen sei ein
Mythos. Wir müssen unsere jetzige Schwachheit erst einmal realisieren, erst dann können wir
sie im nächsten Schritt überwinden. Um sie überwinden zu können, braucht es Demokratie.
Im Nationalarchiv Kenias habe ich mir viele Originalfotos aus der Zeit des Mau-MauAufstandes vor der Unabhängigkeit, von vielen früheren Chiefs und den politischen
Honoratioren angeschaut. Eine zentrale Person war Jomo Kenyatta, charismatischer, erster
Präsident Kenias, der für die Unabhängigkeit kämpfte, aber letztlich vollständig autokratisch
war. Präsident Kenyatta im feinen Zwirn hatte auf fast jedem offiziellen Bild seinen
Häuptlingsstab in der Hand, wie ein König sein Zepter. Magie und Moderne = Macht
Neuere Geschichte Kenias
Kenyattas Nachfolger, Daniel arap Moi, war noch diktatorischerer. Er regierte von 1978 bis
2002. Bemerkenswert an ihm war jedoch, dass er seine Wahlniederlage im Jahre 2002
akzeptierte und ein gewaltloser Regierungswechsel stattfand. Nicht gerade üblich für einen
Big Man in Afrika. Die übermächtige KANU (Kenya African National Union) verlor
erstmalig seit der Unabhängigkeit die Macht. Der neue Präsident Kibaki ist allerdings auch
Vertreter des Establishment, er war Minister unter Kenyatta und Stellvertreter Mois bis er
ausscherte und mit einem neuen Parteienbündnis die Wahl gewann.
Verfassungsprozess in Kenia
Nach 2002 wurde eine neue Verfassung mit intensiver Beteiligung der Zivilgesellschaft in
einer Art Nationalversammlung ausgearbeitet (der sogenannte Bomas Draft). Dieser
Verfassungsentwurf wurde dem Volk allerdings in stark veränderter Form vorgelegt (als
sogenannter Wako-Draft) und konsequenterweise abgelehnt. Umfragen zeigten eine DreiViertel-Mehrheit für den ursprünglichen Bomas-Entwurf. Nun steht die Regierung vor einem
ähnlichen Dilemma wie die EU: irgendwie muss sie eine neue Verfassung durchkriegen und
will sicher aber vor grundlegenden Reformen im Sinne der Bürger und einem neuen
Referendum drücken.
Medienlandschaft
Kenianer sind passionierte Zeitungsleser. Jede Zeitung wird zig mal gelesen. Auf der oberen
Hütte (4300 m) auf dem Mount Kenya bereiteten wir unserem Caretaker (=Hüttenwirt)
William eine riesige Freude, als wir ihm eine Daily Nation (die angesehenste Zeitung Kenias)
überreichten. Die Daily Nation ist übrigens im Besitz des Aga Khans, dem ismaelitischen
Glaubensführer.
Democracy Audit / Bestandsaufnahme der Demokratie
Nun zur versprochenen Entdeckung, zur fruchtbarsten Begegnung auf dem WSF: MS
Denmark (www.ms.dk) ist eine der großen dänischen Entwicklungshilfeorganisationen, die
seit den Fünfzigern in Afrika aktiv sind. Vor ca. fünf Jahren haben sie eine massive Korrektur
ihrer Vorgehensweise vorgenommen. Aus der Erkenntnis heraus, dass Entwicklungshilfe
Projekte u.a. langfristig nur dann etwas bringen, wenn gleichzeitig die politischen Strukturen
verändert werden, konzentrieren sie sich jetzt auf Demokratisierung und den Aufbau von
Management Skills.
Mehrere Tochterorganisationen (MS Kenia, MS Uganda, MS Botswana etc.) waren mit
eigenen Ständen präsent. Alle mit dem gemeinsamen starken Slogan „Democracy is a way of
life“. Sie verschenkten T-Shirts und gute Materialien und boten eine Reihe von Workshops
an.
Ein zentraler Baustein ihrer Demokratiearbeit ist der sogenannte Democracy Audit, also eine
Prüfung und Bestandaufnahme der Demokratie im jeweiligen Lande (bisher in 10 Ländern).
Dazu wurde ein von der Universität von Essex (UK) von Prof. Stuart Weir in
Zusammenarbeit mit International IDEA (International Institute for Democracy and Electoral
Assistance) entwickelter, achtseitiger Fragebogen verwendet: www.ms.dk/sw47133.asp In
England entstand aufgrund dieses Audit bereits eine breite Diskussion über den Stand der
Demokratie in den Medien.
Zur Beantwortung wurden nach dem Zufallsprinzip Fokusgruppen im jeweiligen Lande
gebildet (ähnlich wie bei Planungszellen). Bevor die Audit-Fragen beantwortet werden, klären
„facilitators“ mit den Teilnehmern die Grundlagen der Demokratie. Dieser Prozess des Klären
von demokratischen Werten und Prinzipien stellt bereits einen Wert in sich dar. Die
Auswertung der Ergebnisse in den einzelnen Ländern erfolgte in der Regel qualitativ und
nicht statistisch repräsentativ. In einigen Ländern (wie z.B. Uganda) wurde zusätzlich eine
statistisch repräsentative Umfrage gemacht und deren Ergebnisse wichen kaum von der
qualitativen Auswertung ab.
Vom Demokratieverständnis ist uns MS Denmark nahe: „popular control over decision maker
and decision making.“ Unseren Voten und Redebeiträgen bezüglich von unten initiierten,
verbindlichen Volksentscheiden stimmte zumindest der auf dem WSF Verantwortliche völlig
zu, in den Materialien fehlen diese Punkte jedoch.
Die Auditergebnisse eignen sich nicht, um Länder untereinander zu vergleichen, vielmehr den
Fortschritt innerhalb des jeweiligen Landes von Jahr zu Jahr zu messen. Beispiel: Die Dänen
bewerten derzeit ihre Demokratie recht schlecht mit „3,2“, hingegen sind die Jordanier –
aufgrund einiger demokratischer Verbesserungen in ihrer Monarchie (!) – derzeit sehr
euphorisch und geben die Note „1,7“.
Der Unterschied gegenüber dem bekanntesten Demokratie- und Freiheits-Index von Freedom
House, einer amerikanischen NGO, die seit den 50ern weltweit die Freiheits- und
bürgerlichen Rechte in allen Ländern der Erde misst, besteht in der Betonung der
Gleichheitsdimension der Demokratie gegenüber der Freiheitsdimension.
Erstaunlich ist, wie ähnlich die Unzufriedenheit der Menschen mit der realen Demokratie in
den zehn verschiedenen Ländern sind, MS leitete davon mehrere konkrete
Verbesserungsschritte ab.
Nachtrag: Ich habe eben im Internet recherchiert, dass MS Denmark im Jahr 2004 Einnahmen
von 26 Mio. Euro (!!) hatte, 85 Prozent davon stammen vom dänischen Außenministerium.
Klar, dass sie nicht ganz politisch ungebunden sind, wie Lars einmal andeutete.
Meine Überlegung: Demokratie Audit in Deutschland
Ich denke, Mehr Demokratie sollte in Deutschland eine solche Bestandaufnahme der
Demokratie durchführen und einen jährlichen oder zweijährlichen Demokratiebericht
vorlegen.
Rahmenbedingungen
Wir erweitern den bestehenden Fragebogen auf unsere Bedürfnisse, d.h. um den
direktdemokratischen Aspekt. (MS hat den ursprünglichen Fragebogen ebenfalls erweitert um
die Dimensionen Armut und internationale Dimension für ihre Arbeit in
Entwicklungsländern). Wir arbeiten mit der Universität Essex und ggf. IDEA zusammen. Das
Projekt wird auf mehrere Jahre anlegt und jedes Jahr (oder jedes zweite Jahr) legen wir DEN
Demokratiebericht vor.
Vorteile dieses Projektes
- Wir weisen die demokratischen Defizite nach, wie sie von den Bürgern erlebt werden.
- Dies wäre eine weitere strategische Erweiterung des Profils von MD, ein erster
wichtiger Schritt zum demokratischen Gewissen Deutschlands.
- Wir legitimieren unsere Forderungen und unsere Arbeit durch die Bürger (nicht wir
sind die Schlauen).
- Im Idealfall machen wir dann Kampagnen, um die ermittelten Defizite zu verbessern
und weisen dann im nächsten Audit die Verbesserung nach.
- Eine Kooperation mit MS Denmark ist möglich. Der Fragebogen existiert und wurde
bereits international getestet. Kinderkrankheiten und erste Fehler sind bereits
ausgemerzt.
- Das Projekt kann von all unseren Partnern im Democracy-International-Netzwerk
übernommen und adaptiert werden.
- Eigenständiges Fundraising für das Projekt ist sehr gut möglich und vermutlich
erfolgversprechend.
- Studien, Hintergrundberichte etc. laufen unserer bisherigen Erfahrung nach medial
vergleichsweise gut.
- Wenn es uns gelingt diesen Audit absolut unabhängig und seriös aufzusetzen, hat so
ein (zwei)jährlicher Demokratiebericht hat das Zeug zu einer Institution zu werden.
Ich werde das ganze natürlich noch weiter ausarbeiten und Vorstand und
Mitgliederversammlung zur Diskussion und Entscheidung vorlegen.
Slumreport
Eine Selbsthilfegruppe von Slumbewohnern organisierte für Teilnehmer des WSFs Besuche
in einem nahegelegenen Slum. Von über 3 Mio. Einwohnern Nairobis wohnen ca. die
HÄLFTE in Slums, der größte Slum heißt Kibera mit 700.000 Einwohnern
http://commons.wikimedia.org/wiki/Image:Kibera.jpg Die Hauptprobleme in Slums sind
Verbrechen, Drogen und Prostitution. Bei einer Arbeitslosenrate von 80% kaum
verwunderlich. Die meisten Bewohner sind unter 20 Jahre alt. In den Slums haben sich
informelle, selbstorganisierte Schulen gebildet. Von der Selbsthilfegruppe werden
Müllsammlern Overalls gestellt, Trommeln bereit gestellt, um damit auf der Straße Geld
verdienen zu können, Sport, Theater und Artwork wird unterstützt. Das Land, auf denen sie
leben, gehört ihnen nicht, d.h. sie sind potentiell ständig von Räumung durch Bulldozer
bedroht, was auch ab und zu vorkommt. Pistolen kosten 20 Dollar. (In der Zeitung stand, eine
AK 47, also eine Kalschnikov kostet 2000 Schilling = 24 Euro). Mit Schnüffeldrogen (brown
sugar) und billigstem Fusel versuchen viele Slumbewohner der Realität zu entfliehen.
Global Day of Democracy
Der letzte WSF-Tag war ab Nachmittag von Workshops freigehalten. In diesem open space
konnten auf dem WSF entstandene Begegnungen vertieft, neue Ideen weiterdiskutiert und
Allianzen geschmiedet werden. Die Demokratiebewegungen mit ca. 50 Vertretern trafen sich,
um eine gemeinsame Aktionen zu besprechen.
Wir einigten uns auf einen gemeinsam durchgeführten Global Day of Democracy im Herbst
2007. Dazu trugen wir nicht unwesentlich bei. Ich bin im Vorbereitungskomitee und SEHR
gespannt, was aus diesem Vorhaben wird.
Am letzten Tag fand ein Marathon (15 km) durch die Slums Nairobis statt und eine
Abschlusskundgebung mit kulturellem Schwerpunkt im Zentrum Nairobis.
Kurzes Fazit
Im freute mich darauf, die Kolumne im East African Standard zu lesen, die ein Fazit des
WSFs für Kenia zog: Zu meiner Überraschung war der Tenor, das WSF war Erfolg, weil es
ein Riesengeschäft war. Endlich waren einmal wieder die Hotels ausgebucht, die
Gastronomen und Transportgewerbler verdienten und Nairobi hat sich als internationaler
Konferenzausrichter empfohlen. Klar, auch eine nicht unwichtige Sicht der Dinge.
Leider haben die Organisatoren, wie das International Council berichtete, noch ein Defizit
von 550.000 US Dollar. Für mich besteht ein gewisser Widerspruch, wenn das WSF einerseits
mit erheblichem Aufwand an gemeinnütziger Arbeit und Geld organisiert und finanziert wird
und sich dabei verschuldet, andererseits wirtschaftliche Strukturen in der Region massiv
ökonomisch davon profitieren. Man müsste kreative Möglichkeiten überlegen, dies
auszugleichen.
In den Zeitungen waren aber auch profunde Analysen zu lesen, welche ideellen Fortschritte
und Anregungen das WSF für Kenia gebracht hat, z.B. eine vertiefte Diskussion über den
Zusammenhang von Menschenrechten, Armut und Korruption und der Notwendigkeit von
breiten Informationsrechten. Weitere Artikel wie „Putting african issues into the global
agenda“ und „Life will never be the same“... Über das WSF wurde in Kenias Medien generell
sehr prominent berichtet. Auch wenn wir auf unserer weiteren Reise über unsere Teilnahme
am Forum berichteten, war dies Vielen ein positiver Begriff.
Die internationale Zivilgesellschaft und WSF-Bewegung wurde um die spezifisch
afrikanischen Themen und Diskurse bereichert. Was Viele sonst nur aus abstrakten Statistiken
über Armut und Elend kannten, wurde mit konkreter Erfahrung aufgefüllt. Die Hauptthemen
auf dem WSF waren die existentiellen Alltagsprobleme der afrikanischen Realität: sauberes
Wasser, HIV/Aids, Gewalt, Korruption, Verschuldung usw.
Für mich persönlich war es (gemeinsam mit dem indischen WSF) die weitaus
beeindruckendste Erfahrung, die ich diesem Bereich überhaupt gemacht habe.
Das nächste WSF wird im Jahre 2009 stattfinden. Mein persönlicher Vorschlag wäre in
Südostasien in der Nähe Chinas. Ich kann nur jedem empfehlen, einmal an einem WSF
teilzunehmen.
Ganz herzliche Grüße
Roman
P.S. Im Anschluß fuhren wir an die Küste nach Mombasa, machten eine Safari im Tsavo
Nationalpark und Michi und ich bestiegen unter großen Mühen den Mt. Kenya. Viele tolle
Erfahrungen, aber das ist eine andere Geschichte.
Anhang: Gedanken zur Situation in Afrika
Im Grunde beschäftigte mich auf Schritt und Tritt die Frage, WARUM? Warum ist
Schwarzafrika der einzige Kontinent der Erde, in dem es, zumindest nach den herrschenden
wirtschaftlichen Kriterien, bergab geht.
Auszug aus dem Buch von Bartholomäus Grill „Ach Afrika“:
„Der schwarze Erdteil ist das Schlusslicht der Weltwirtschaft, sein Anteil am globalen Handel
ist auf knapp ein Prozent gesunken. Das gesamte Bruttoinlandsprodukt der Subsaharastaaten
liegt nur unwesentlich über dem von Belgien, wobei ca. ein Drittel davon alleine auf
Südamerika fallen. Die Mehrzahl der subsaharischen Länder steht heute schlechter da als zum
Ende der Kolonialära. Drei Viertel der 650 Millionen Afrikaner leben in Armut, jedes dritte
Kind ist unterernährt. Die Nahrungsmittelproduktion hält nicht mit dem
Bevölkerungswachstum Schritt.“
Grills Buch hat mich sehr inspiriert und mir viele Zusammenhänge klarer gemacht, Grill war
von 1993 bis 2006 Afrika-Korrespondent der ZEIT.
Im folgenden habe ich alle gehörten, beobachteten und gelesenen Faktoren, die für die
beschriebene Malaise im Subsahara-Afrika eine Rolle spielen können, zusammengetragen.
Das ganze ist natürlich nicht vollständig, nicht durchstrukturiert, nicht überprüft, aber regt
vielleicht zum Nachdenken an.
300 Jahre Sklaverei und Sklavenhandel in Afrika:
- 50 Millionen Menschen wurden verschleppt oder umgebracht.
- Der Sklavenhandel wäre ohne die Beteiligung von afrikanischen Eliten nicht möglich
gewesen.
- Laut Wikipedia: Opfer des innerafrikanischen Sklavenhandels (als Afrikaner versklaven
Afrikaner) 10-15 Millionen, Opfer des orientalischer Sklavenhandels (Araber / Moslems
versklaven Afrikaner) 6-17 Millionen, Opfer des atlantischen Sklavenhandels (Weiße
versklaven Afrikaner) ca. 12 Mio. Opfer.
100 Jahre Kolonialismus:
- Nach hundert Jahren Plünderei wurden nur künstliche Staatshülsen übrig gelassen in
willkürlich mit dem Lineal gezogenen Staatsgrenzen, die verschiedene Ethnien
zusammenzwingen. Schwere Konflikte waren vorprogrammiert.
- Wirtschaftliche Strukturen und Landwirtschaft waren einseitig auf Ausbeutung
ausgerichtet: monokulturell ausgelegter Export von Agrarprodukten und Bodenschätzen.
- Entwurzelung aus Traditionen (vielleicht teilweise auch positiv, weil archaisch und
unmenschlich, aber zu schnell und radikal)
Afrikanische postkoloniale Despoten = Big Man
- Nach der Unabhängigkeit Alleinherrscher wie Mobutu, Idi Amin, Bokassa, Kenyatta
- Übernahmen nach der Fremdausbeutung die Selbstausbeutung
- Weitverzweigtes, klientelistisches Pfründe-System
- Unterstützung dieser Diktatoren bis 1989 durch Washington, Moskau, Paris und Peking
(Hauptsache „unser“ Schweinehund“)
- Komplotte z.B. gegen demokratisch gewählten Patrice Lumumba im Kongo
Nach 1989
- Teilweise Sturz der Big Man, danach Machtkämpfe, Anarchie und Chaos
- Failed states
- Warlords finanziert von Waffenhändlern, Söldneragenturen, Geldbeschaffern
- Multinationals, die an natürlichen Ressourcen verdienen (Bodenschätze, Tropenholz,
Agrarprodukte). Bestes Beispiel ist D.R. Kongo
AIDS / HIV und andere Krankheiten
- Nahezu 30 Millionen Menschen sind HIV-infiziert oder an AIDS erkrankt. Die
durchschnittliche Lebenserwartung ist auf 48 Jahre gesunken.
- Für Big Pharma lohnt es nicht Medikamente für dritte Weltkrankheiten zu entwickeln,
Fettabsaugtechniken etc. bringen mehr Gewinn
Frauen
- Haben teilweise überhaupt nichts zu melden. Sonya und ich haben das teilweise auf den
Märkten genutzt. Viele Händler sind ja extrem penetrant, wenn ich dann aber als Mann zu
meiner Frau (Sonya) streng „nein“ sagte, war für weibliche Händler der Fall erledigt (HE
said „no“, also Ende)
- Frauenbeschneidungen, schockiert war ich in Nairobi über Schilder auf der Strasse wie
„circumcision here“ (Beschneidung hier)
Klima:
- Extreme Klimabedingungen, Wüste, Dürreperioden, Missernten
Landwirtschaft
- 80% der Bevölkerung (zumindest Kenias) ist in der Landwirtschaft beschäftigt, allerdings
nur in kleinen Subsistenzbetrieben
- Landwirtschaft zur Nahrungsmittelsicherung wird vernachlässigt, altes Wissen geht
verloren bzw. neue Anbaumethoden waren nie da
-
-
Die cash crops, d.h. die Exportpflanzen, die Geld bringen wie Tee und Kaffee (machen
20% des gesamten Exports Kenias aus) werden nur auf großen Plantagen produziert, die
im Besitz von weißen oder schwarzen Eliten sind.
Die Landflucht führt zu verödeten Landschaften und unregierbaren Megacities mit
riesigen Slums
Wirtschaft
- Kaum Direktinvestitionen aus dem Ausland (rein ökonomische Rahmenbedingungen sind
in anderen Kontinenten wesentlich besser)
- Entwicklungshilfeprojekte haben auch negative Effekte, hemmen Unternehmertum,
zerstören lokale Märkte, unterstützen lokale, repressive Regimes etc.
- Mir ist kaum ein größeres börsennotiertes, schwarzafrikanische Unternehmen bekannt
(Ausnahme Ashanti Gold Fields)
- Die informelle Ökonomie ist stark ausgeprägt, sie heißt auf Kisuaheli „Jua Kali“ =
stechende Sonne, weil meist im Freien gearbeitet wird, aus Autoreifen werden Sandalen
gefertigt, Schreinerwerkstätten und Tausende von fliegenden Händlern. Dies ist kein
Negativargument, eher ein positives, weil es zeigt mit welcher Kreativität die Armut
bekämpft wird.
- Es wird wenig produziert und fast keine Qualitätsprodukte gefertigt. Viel Ramsch kommt
billig aus Asien, auch Textilien und Lebensmittel etc.
- Wenig Vorausschau, kaum mittel- oder langfristige Planung
Psychische, kollektive Trauma
- Durch Sklaverei, Kolonialismus, Entwurzelung, Identitätsverlust
- Aber auch Weigerung das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen.
- Opfermentalität
Religionen
- Aberglauben, als Hexer verdächtigte Personen werden noch heute gesteinigt (war in der
Zeitung zu lesen), teilweise wird dadurch aber auch versucht missliebige Personen aus
dem Weg zu räumen
- Geister, Ahnen, Kobolde etc. (teilweise Bräuche ähnlich wie im strengen alpenländischen
Katholizismus wie z.B. das Haberfeldtreiben als kollektive Bestrafung für einen Lump)
- Das Leben findet in einer magischen, vor aufgeklärten Welt statt, z.B. AIDS kommt von
der Wolke auf der Bergspitze
Zum Abschluss:
Was in Afrika zu zählen scheint ist das Hier und Jetzt. Expressiv. Voller Ausdruck und
Humor. Gelassen. Optimistisch, trotz allem.
Das Wort auf kongolesisch für gestern, heute und morgen ist das gleiche, alles ist im Fluss.
R.