Sichtweisen - Landkreis Esslingen
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Sichtweisen - Landkreis Esslingen
Sichtweisen Heft 10 | Älter werden mit Behinderung Berichte, Meinungen, Informationen, Themen aus der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie Sichtweisen 10/2009 Sichtweisen Editorial mit dieser neuen Ausgabe der Sichtweisen erscheint jetzt das Heft mit der Nummer 10, das wir Ihnen als kleines, aber engagiertes Redaktionsteam hiermit überreichen. Wir, das sind vor allem Betroffene und ehrenamtlich Engagierte. Die Koordination erfolgt über mich als den Sozialplaner in der Behindertenhilfe- und Sozialpsychiatrie des Landkreises Esslingen. Wir hoffen, dass wir mit Ihnen wieder eine interessierte Leserschaft ansprechen können. Gerne nehmen wir Ihre Anregungen, Kritik und Rückmeldungen entgegen. Vielleicht haben Sie beim Lesen Lust bekommen, bei uns mit zu arbeiten oder einmal selbst etwas zu schreiben. 2007 auch bei den Sichtweisen einen Neuanfang gemacht. Redaktionsmitglieder sind ausgeschieden, andere erstmals hinzugekommen. Einige Redakteure standen für Kontinuität und haben den neuen Teilnehmerinnen und Teilnehmern den Einstieg erleichtert. Gerade für ein Projekt wie die Sichtweisen ist solch ein Wechsel nicht einfach zu gestalten. Er birgt die Gefahr, dass das Engagement „einschläft“ und sich nicht mehr genug ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter finden. Dieser Gefahr konnten wir gemeinsam widerstehen. Die Veränderungen werden mit Erscheinen des Heftes 10 auch durch ein anderes Layout dokumentiert. Wir hoffen, dass dieses neue Erscheinungsbild Ihnen als Leserinnen und Leser zusagt. Nach der beruflichen Veränderung von Frau Nora Burchartz, die gemeinsam mit einigen „Volunteers“ das Magazin aufgebaut und eine Vielzahl von Themen aufbereitet hat, haben wir im Herbst Auf das Thema „Älter werden mit Behinderung“ haben wir uns rasch verständigt und waren motiviert, Informationen und Artikel zu sammeln. Der Schwerpunkt unseres Heftes hat somit nicht nur Liebe Leserinnen, liebe Leser, Älter werden mit Behinderung 2 Sichtweisen 10/2009 in Fachkreisen der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie eine gewisse Aktualität inne. Mitglieder der „Sichtweisen“ im Eingangsbereich Bedingt durch den schrecklichen Holocaust unter der Naziherrschaft erreicht erst jetzt eine größere Zahl unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Behinderungen das Rentenalter, Ältere stellen bislang die Ausnahme dar. Mit alt gewordenen Menschen mit Behinderungen gibt es in Deutschland noch kaum Erfahrungen. Ihre Lebenswelten, ihre Bedürfnisse und Wünsche sind noch wenig bekannt bzw. erforscht. Das vorliegende Heft möchte aus unterschiedlichen Blickwinkeln einen kleinen thematischen Beitrag leisten, aus fachlicher Sicht, aus persönlicher Betroffenheit und aus der Perspektive von Angehörigen. Aufschlussreich und sehr anschaulich sind meines Erachtens die Interviews mit Betroffenen und Fachleuten. Das aktuelle Heft wird in Anknüpfung an alte Traditionen durch einen Infoteil und durch Artikel zu beratenden und helfenden Diensten ergänzt. des Johanniterstifts in Plochingen – dem langjährigen Domizil von Redaktionsbesprechungen. Im Namen des Redaktionsteams danke ich allen Mitwirkenden, den Co-Autorinnen und -Autoren für die interessanten Beiträge, den Redaktionsmitgliedern und besonders meiner Praktikantin Frau Kerstin Junginger, die wesentlich zum Erscheinen dieses Heftes beigetragen hat, für die Vorarbeiten und konstruktiven Impulse. Liebe Leserinnen und Leser, Ihnen wünsche ich, dass Sie dem Heft 10 mit Interesse und Neugier begegnen. Ihr Michael Köber Inhalt Vorwort...........................................................2–3 Die Redaktion stellt sich vor ...................4–5 Älter werden mit Behinderung............................. Aufbruch in die Dritte Lebensphase .......6–7 Fachlichkeit in der Lebensbegleitung von Menschen, die als geistig behindert gelten, mit Demenz..............8–10 Die Sicht einer Familie ..............................11 Erfahrungen aus dem Wohnbereich der Lebenshilfe Esslingen...................12–13 Texte „Älter werden“ ...............................14 Was ist doch aus meinem Kind geworden ....................15 Wenn ich einmal alt wär .....................16–17 Die Bedeutung von Erinnerungen für autistische Menschen ...................18–20 Interviews ........................................................... mit Annerose Klingmann ....................20–21 mit Bewohnern der Lebenshilfe Esslingen ..................22–25 mit einem Besucher des Zentrums für Arbeit und Kommunikation ...........26–28 Sichtweisen 10/2009 mit Dr. Martin Roser...........................29–32 mit Klaus Dinter..................................33–34 Gedicht Depression..................................34 Infoteil .................................................................. Regionaltag ........................................35–37 Stadtteilgang in Nellingen ........................38 Tage der Menschen mit Behinderungen...................................39 Gustav Mesmer .................................40–41 Garrincha ..................................................42 Beratende und helfende Dienste im Landkreis Esslingen ................................ Beratungsstelle für Ältere und deren Angehörige..............................43 FUGE........................................................44 Wohnberatung – auch ein Thema für Menschen mit Handicap ............................................45 Marktplatz............................................................ Büchermarkt & Reisen .......................46–49 Impressum.................................................5 3 Sichtweisen Die Redaktion stellt sich vor Michael Köber Die „Sichtweisen“ sind ein Forum für einen Gedankenund Erfahrungsaustausch zum Leben mit Behinderungen. Kreativität, Ideenvielfalt, persönliche Verbundenheit und Begeisterung zeichnen das kleine Redaktionsteam aus. Die gemeinsame Arbeit bereitet mir Freude, sie stellt eine besondere Ebene in den Aufgaben der Behindertenhilfe- und Psychiatrieplanung dar. Die „Sichtweisen“ regen für Veränderungen an, sie bilden Erfahrungen aus dem Alltag von Menschen mit Behinderungen ab. Ich bin auf die nächsten Ausgaben gespannt. Annerose Klingmann Über die neue Ausgabe der Sichtweisen freue ich mich besonders, weil ich von Anfang an dabei bin. Ich bin selbst durch Behinderung betroffen und engagiere mich bei den Sichtweisen, weil mir der Austausch mit anderen Menschen wichtig ist und ich etwas Positives für behinderte Menschen beitragen möchte. Ich war früher sehr aktiv bei der „Amsel“ tätig, über die ich dann zu den Sichtweisen gekommen bin. Die Arbeit bei den Sichtweisen ist mir sehr wichtig und ich wünsche mir, dass noch viele Ausgaben dazu kommen, an denen ich mitarbeiten kann. Martina Bell Die zehnte Ausgabe ist „meine“ dritte Ausgabe. Und es macht immer noch Spaß. Die Artikel unterschiedlichster Menschen, die Redaktionsmitglieder, die Unterhaltungen, das Erscheinen des Heftes – viele Dinge, die die Sichtweisen für mich spannend machen. Mittlerweile habe ich die Rubrik Reisen und Bücher übernommen und ich hoffe, dass ich ein paar gute Anregungen geben kann, rund ums Reisen und Lesen, die Lust auf mehr machen. 4 Daniela Goth Ich bin 38 Jahre alt und mehrfach behindert, gehe seit 2004 in eine Werkstatt in Zell! Ich möchte auf die Lebenssituationen behinderter Menschen hinweisen. Es beschäftigt mich besonders, dass behinderte Menschen so große Probleme haben, Arbeit zu finden. Über Integration darf nicht nur gesprochen werden. Handeln ist angesagt! Irmtraut Altenmüller Aus meinem Berufsleben heraus habe ich noch viele Kontakte zu Menschen mit Behinderungen, zu einigen, die einmal meine Schüler waren, ab und zu auch zu anderen. Seit einigen Jahren arbeite ich bei den „Sichtweisen“ mit. Ich möchte in meinen Beiträgen nicht über Menschen mit Behinderungen schreiben, sondern ich möchte mit ihrer Hilfe dazu beitragen, dass sie selbstverständlich anerkannt in ihrer Art und als Mensch geachtet, unter uns leben können. Manfred Tretter Mit der Literatur bin ich in fremden Ländern und anderen Zeiten schon ganz schön weit herumgekommen. Von Jugend an begleiten mich Bücher. Im Beruf gab es viele Gelegenheiten für mich zum fachbezogenen Schreiben. Jetzt entdecke ich die vielfältigen Anregungen aus dem Bereich des kreativen Schreibens, um zur eigenen literarischen Produktion zu gelangen. Für die „Sichtweisen“ fühle ich mich doppelt vorgeprägt: Ich bin blind und kann mich als behinderter Mensch äußern und ich kann meine beruflichen Erfahrungen aus der Sozialarbeit damit verbinden. Sichtweisen 10/2009 Kerstin Junginger Ich studiere Soziale Arbeit an der Evangelischen Fachhochschule Ludwigsburg und war bis August im Rahmen meines Praxissemesters im Landratsamt bei der Behindertenhilfe- und Psychiatrieplanung tätig. Für mich ist die Mitarbeit bei den Sichtweisen eine sehr spannende Aufgabe. Vor allem die Zusammensetzung der Redaktion mit den unterschiedlichen Persönlichkeiten und Zugängen zu der Thematik empfinde ich als sehr wertvoll. Wenn Sie uns schreiben wollen oder wenn Sie Fragen zu unserem Projekt haben, wenden Sie sich bitte an die Telefon (0711) 3902-2634 Sekretariat (0711) 3902-2503 Markus Pelkmann Computerspezialist in der Softwareentwicklung. Ich bin 48 Jahre alt, verheiratet und lebe seit 2001 mit meiner Familie in Ostfildern, Scharnhauser Park. Unser 10-jähriger Sohn Dennis ist aufgrund einer seltenen Stoffwechselkrankheit von Geburt an mehrfach behindert. Ich bin vor ca. 1 ½ Jahren zur Redaktion der „Sichtweisen“ gestoßen und werde versuchen, meine Erfahrungen und „Sichtweisen“ einer betroffenen Familie in die jeweiligen Themen einzubringen. E-Mail: [email protected] Neumann.Dagmar2@ lra-es.de Marco Heinz Altenpfleger und kreativer Ausdauersportler. Durch meinen Beruf als Altenpfleger erfahre ich viel über Menschen, die mit Einschränkungen leben müssen. Neben der Altenpflege fasziniert mich der Sport. Zu meinen sportlichen Ideen gehören ein „Netz“ von Fahrradtouren und Wanderungen durch Deutschland und Teile der Nachbarländer und zwei Schwimmreisen mit Gepäck auf einem Surfbrett im Schlepp in Bodensee und Lahn. Bei den Sichtweisen interessieren mich insbesondere historische Themen. MitarbeiterInnen: Irmtraut Altenmüller, Martina Bell, Daniela Goth, Marco Heinz, Annerose Klingmann, Kerstin Junginger, Markus Pelkmann, Manfred Tretter Sichtweisen 10/2009 Redaktion »Sichtweisen«, Michael Köber c/o Dagmar Neumann Landratsamt Esslingen 73726 Esslingen am Neckar Sichtweisen 10 2009 ein Projekt der Behindertenhilfeund Psychiatrieplanung des Landkreises Esslingen Herausgeber: Landratsamt Esslingen Redaktion: Gesamtverantwortlich: Michael Köber Satz und Gestaltung: www.logowerbung.de Abbildungsnachweise: Landratsamt Esslingen (1, 2, 17, 28, 43, 50), Michael Köber (3), Lebenshilfe Esslingen (12, 13, 18, 22, 23, 24, 25, 34), ARBES (35, 36, 37), Jürgen Zimborski (38), Stefan Hartmaier (40, 41), Stadt Esslingen (45) 5 Aufbruch in die Dritte Lebensphase „Jeder Mensch möchte alt werden, aber niemand möchte alt sein.“ Wenn über das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung im Alter gesprochen wird – ein Thema, das aufgrund der Besonderheiten unserer deutschen Geschichte ziemlich neu ist und das uns zu überfordern scheint – dann könnte man manchmal den Eindruck gewinnen, dass für sie dieser Spruch aus dem Volksmund in besonderer Weise zu gelten scheint. Denn in der Regel werden dann die Gesichter lang, die Stirnen gerunzelt, die Stimmen besorgt. Es ist vom Abbau die Rede, vom „altersbedingten Pflegeaufwand“ und wenn es um die Suche nach Lösungen geht, von „tagesstrukturierenden Maßnahmen“. Natürlich, auch bei Menschen mit geistiger Behinderung nehmen im Alter die Gebrechen tendenziell zu. Auch sie werden vielleicht vergesslicher, brauchen für manches mehr Zeit, dafür umso häufiger den Arzt. Aber wäre es nicht eigentlich auch schön, wenn man es mal so sehen könnte: Im Alter muss Herr Müller nicht mehr jeden Tag zum Arbeiten gehen, also auch nicht zwangsläufig um sechs Uhr aufstehen. Endlich hat er Zeit, mal wieder einen alten Freund anzurufen – oder vielleicht auch zu besuchen? Mittwochs nachmittags gibt es einen Malkurs in der Volkshochschule, den kann Herr Müller jetzt auch endlich besuchen. Die Kursleiterin setzt sich manchmal zu ihm, sieht ihm über die Schulter und ruft aus: „Herr Müller, Herr Müller, wie konnten Sie nur all die Jahre Ihre Begabung so vor der Welt verstecken und nicht malen?“ „Ich wusste ja gar nicht“, sagt dann Herr Müller, „dass ich die habe.“ Dabei zwinkert er Frau Schmidt am Nebentisch zu, eine nette ebenfalls ältere Dame, die er hier im Malkurs kennen gelernt hat. Hin und wieder gehen die beiden zusammen einen Kaffee trinken, und vielleicht wollen sie im Herbst sogar gemeinsam an einer Städtereise nach Wien teilnehmen. Eine Sozialromanze, die mit der Lebenswirklichkeit von alten Menschen mit geistiger Behinderung nichts zu tun hat? Da ist was dran, die Frage ist nur, woran das eigentlich liegt. Wenn Menschen mit Behinderung nach ihrer Pensionierung 6 nicht so leben können, dann dürfen wir das nicht vorschnell damit erklären, dass das nun mal an ihrer Behinderung läge. Oder vielleicht doch, aber Sie wissen ja: „Behindert ist man nicht, behindert wird man.“ Wer oder was behindert Menschen mit geistiger Behinderung also an einem Leben, das sich so ähnlich gestaltet wie dasjenige von dem erfundenen Herrn Müller? Nun, fangen wir mal bei der eigenen Nase an: Es sind zum Teil sicherlich die Einrichtungen für behinderte Menschen, die sich manchmal eher von dem Gedanken leiten lassen, wie die nach dem Ausscheiden aus der WfbM entstandene „Versorgungslücke“ zu füllen ist. Die Herrn Müller nicht ausschlafen lassen, denn um 8:15 Uhr beginnt ja die „tagesstrukturierende Maßnahme“. Diese versorgt Herrn Müller, bis der reguläre Gruppendienst des Wohnheims ihn dann übernimmt. Ein Besuch des Malkurses der VHS wird gar nicht erforderlich, denn Angebote im jahreszeitlichen Basteln finden ja auch regelmäßig in der Tagesgruppe statt. Ich bin mir der Polemik meiner Worte durchaus bewusst, aber es fällt mir auch nicht schwer, nun mit Blick auf die kommunale Seite ausgleichende Gerechtigkeit walten zu lassen: Denn der KVJS setzt in Sachen „Behinderung“ noch eins drauf und empfiehlt Herrn Müller – und zwar als Ausdruck von „Normalität“ und zur Deckung seines „altersbedingten Pflegeaufwands“ – den Umzug ins „Fachpflegeheim“. Am geschicktesten wäre dieser Umzug direkt nach dem Ausscheiden aus der Werkstatt. Wir drücken dabei mal ein Auge zu, dass das nicht ganz der „Normalität“ entspricht (denn das durchschnittliche Aufnahmealter im Pflegeheim liegt derzeit schon bei mehr als 85 Jahren). Der Betreiber des benachbarten Altenpflegeheimes freut sich übrigens über den Vorschlag des KVJS, denn in seinem Haus stehen ohnehin viel zu viele Betten leer. Und als Zeichen des guten Willens zur Einstellung auf die neuen fachlichen Anforderungen bringt er an seiner im Augenblick ungenutzten Station schon einmal ein Schild mit der Aufschrift „Fachpflegeheim für Menschen mit geistiger Behinderung und/oder psychischer Erkrankung“ an. Sichtweisen 10/2009 Im Ernst: die von manchen schon als „Last-Minute-Inklusion“ bezeichnete Idee des Fachpflegeheims wird sich hoffentlich nicht durchsetzen, denn sie beraubt Menschen mit Behinderung nicht nur ihres Anspruchs auf Teilhabe, sie ignoriert einfach auch die Erkenntnis, dass man einen alten Baum nicht verpflanzt. Warum sollte denn gerade für Menschen mit geistiger Behinderung die Zielsetzung nicht gelten, ihnen ihren Wohnort, der Heimat bedeutet, wo immer es irgendwie geht, zu erhalten? Als einziger Grund für eine Ausnahme von diesem Prinzip käme eine Situation im Einzelfall in Frage, in der ein Bedarf an medizinischer Behandlungspflege besteht, der so erheblich ist, dass die Einrichtung, in welcher der behinderte Mensch bisher gelebt hat, von sich aus erklärt, dass sie diesen Hilfebedarf nicht mehr decken kann (und sie sollte sich eine solche Erklärung überhaupt nicht leicht machen, denn selbstverständlich sind Einrichtungen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen auf Pflege eingestellt, und das nicht erst im Alter). Die Rechtslage ist hier übrigens eindeutig: die „Verlegung“ eines behinderten Menschen in ein Pflegeheim gegen seinen Willen kann nach § 55 SGB XII, wenn überhaupt, nur dann in Frage kommen, wenn die bisher betreuende Einrichtung eine solche Erklärung abgibt. Wenn Sozialhilfeträger (bislang gottlob nur im Einzelfall) Wohnheimbewohner ab – sagen wir mal – 55 Jahren systematisch daraufhin überprüfen wollen, ob überhaupt noch ein Bedarf an Eingliederungshilfe besteht oder ob nicht schon „die Pflege im Vordergrund stünde“, dann ist das nicht nur rechtswidrig. Ich finde es auch beschämend. Der Gesetzgeber hat es übrigens an anderer Stelle mit Herrn Müller auch nicht sehr gut gemeint und behindert ihn dadurch, dass er vor ein paar Jahren den so genannten „Zusatzbarbetrag“ für Heimbewohner abgeschafft hat. Im Klartext: von seiner Rente darf Herr Müller jetzt nichts mehr behalten. Was ihm einzig bleibt, ist ein monatliches Taschengeld von wenig mehr als 90 Euro, von dem er auch noch immer häufiger Medikamente bezahlen muss, welche die Krankenkasse nicht mehr übernimmt. Ein gelegentlicher Sichtweisen 10/2009 Kaffee wird vielleicht noch drin sein. Der Malkurs ist schon grenzwertig, und für die Wienreise wird es ganz sicher nicht mehr reichen. Sie finden, ich habe nun genug gelästert und könnte mal positiv formulieren, worauf es für Herrn Müller ankommt? Da will ich es kurz machen: 1. Herr Müller muss auch im Alter selbst entscheiden, wo er wohnen will. Das gilt übrigens auch, wenn er bislang nicht im Wohnheim lebte, sondern ambulant betreut in der eigenen Wohnung. Auch dort soll er so lange bleiben können, wie er es wünscht. Wenn es trotz aller ambulanten Unterstützung einmal nicht mehr gehen sollte, kommt er dann in ein Heim für behinderte Menschen oder „ins Pflegeheim nebenan“? Fragen wir ihn doch einfach selbst, was er will! 2. Ein „Fachpflegeheim für Menschen mit Behinderung“ brauchen wir nicht. Bestehende Wohneinrichtungen für behinderte Menschen sind, wo dies noch nicht geschehen ist, räumlich, ausstattungsmäßig und personell so zu qualifizieren, dass sie auch einen ansteigenden Pflegebedarf ihrer Bewohner decken können. 3. Betrachten wir das Alter von Herrn Müller als Chance zur Inklusion, zur gesellschaftlichen Teilhabe. Hierzu bedarf er nicht so sehr einer Versorgung in „tagesstrukturierenden Maßnahmen“, sondern individueller Möglichkeiten der Teilhabe an Angeboten in seiner Heimatgemeinde. Realistisch kann das nur dann funktionieren, wenn professionelle Begleitung und bürgerschaftliches Engagement miteinander vernetzt werden. (Die Begleitung zu einer Tasse Kaffee ist nicht immer eine anspruchsvolle heilpädagogische Aufgabe.) 4. Am wichtigsten für Herrn Müller ist ohnehin Frau Schmidt. Sie wünsche ich ihm mehr als alles andere. Rudi Sack, Geschäftsführer der Lebenshilfe Baden-Württemberg 7 Fachlichkeit in der Lebensbegleitung von Menschen, die als geistige behindert gelten, mit Demenz. Als die Literaturnobelpreisträgerin, Pearl S. Buck im Jahr 1950 ein Buch über ihre kognitiv beeinträchtigte Tochter herausbrachte, gab sie der schmalen englischsprachigen Originalausgabe den Titel „The Child Who Never Grew“[1]. Seltsam alterslos erschien der Schriftstellerin sogar noch die zur Frau Herangewachsene. Ein Arzt versicherte ihr, nie könnten Menschen mit angeborener geistiger Behinderung intellektuell über die Gedankenwelt eines Vorschulkindes hinausgelangen und nie würden sie aller Voraussicht nach ein hohes Lebensalter erreichen. Mittlerweile ist die Lebenserwartung dieser Menschen, die sich selbst als Menschen mit Lernschwierigkeiten[2] bezeichnen, deutlich gestiegen. Die Sterbeziffern näheren sich denen der Gesamtbevölkerung an.[3] Unterstützungssysteme für Menschen mit Lernschwierigkeiten und oft auch mehrfacher Behinderung[4] sind also gehalten, sich auf den demographischen Wandel mit einzustellen. Sie sind gehalten, die Erfahrungen, die sie mit Menschen mit so genannter geistiger Behinderung machen konnten, nämlich, dass diese Menschen selbstverständlich einen Erwachsenenstatus erreichen können, auch auf die Phase des Alterns zu übertragen. Und sie sind darüber hinaus gehalten, sich mit einer möglichen Erkrankung im Prozess des Alterns auseinanderzusetzen, die auch Menschen mit Lernschwierigkeiten/mehrfacher Behinderung betreffen kann, nämlich mit Demenz. Von dieser Form der Erkrankung sind Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung prozentual ähnlich stark betroffen, wie Nichtbehinderte, eine Ausnahme bilden Menschen mit einem Down-Syndrom, die demgegenüber ein deutlich erhöhtes Risiko aufweisen, an Demenz zu erkranken.[5] Was dies für die Fachlichkeit bedeutet, sei im Folgenden anhand eines Fallbeispiels[6] erläutert: Herr H. lebte bis vor wenigen Jahren in einer offenen Wohngruppe mit anderen Menschen mit eher leichten kognitiven Beeinträchtigungen im Rahmen einer Großeinrichtung. Auf einer anderen Wohngruppe in der Einrichtung hatte er die Funktion eines Haushaltsmitarbeiters inne. Er übernahm selbstän- 8 dig Einkäufe, führte einfache handwerklich Reparaturen durch (Glühbirnenwechsel, Aufhängen von Bildern, etc.), stets zur Zufriedenheit der MitarbeiterInnen. Die „Entlastung“ von dieser Tätigkeit erfolgte für ihn abrupt und unfreiwillig aufgrund einer Umstrukturierungsmaßnahme. Schon bald bemerkten die MitarbeiterInnen der Wohngruppe, in der Herr H. lebte, Veränderungen an ihm. Er wurde vergesslich. Auch fielen ihm immer öfter Worte, die er zuvor problemlos aus dem Gedächtnis abrufen und aussprechen konnte, nicht mehr ein – ein Umstand, der ihn zusehends ungeduldig mit sich und anderen werden ließ. Während eines Ausflugs zeigten sich bei Herrn H. nun auch zeitliche und räumliche Orientierungsprobleme, so musste er sich mehrfach nach dem Tagesplan erkundigen und fand nach einem Toilettengang in einer Gastwirtschaft nicht mehr allein zur Gruppe zurück. Nach einiger Zeit traten die räumlichen Orientierungsschwierigkeiten auch in seinem gewohnten Umfeld auf. Er konnte nicht mehr den Weg ins nahe gelegene Einkaufszentrum finden. Die MitarbeiterInnen unterbanden somit ein selbständiges Einkaufen. Bald gelang auch die Orientierung auf dem Außengelände der Einrichtung nicht mehr. Es erfolgte die Verlegung in eine Wohngruppe mit höherer personaler Ausstattung. Herr H., der noch vor zwei Jahren im lebenspraktischen Bereich über hohe Kompetenz verfügt hatte, kleidete sich unvollständig, mochte sich aber nicht beim Ankleiden helfen lassen, auch vergaß er zuweilen, dass er etwas gegessen hatte und forderte erneut eine Mahlzeit, zudem wurde er inkontinent. Nach Aussagen der MitarbeiterInnen nahmen Verwirrtheit und motorische Unruhe im nächsten halben Jahr auf der neuen Wohngruppe stetig zu. Mittlerweile gab er lediglich noch Satzfragmente von sich, wie „arbeiten, arbeiten…“, oder „Cola kaufen…“, oder „sortieren, sortieren …“. Nach einem schweren Sturz, bei dem sich Herr H. eine Platzwunde zuzog, wurde eine nächtliche Fixierung diskutiert und nachdem Herr H. mehrfach gelungen war, die Wohngruppe unbegleitet zu verlassen, wurde sogar eine vorübergehende Fixierung bei Tag in Zeiten personeller Unterbesetzung gefordert. Das Zusammenspiel zwischen Herrn H. und den MitarbeiterInnen der Einrichtung kann nicht als optimal betrachtet werden. Einige Aspekte sollen hier Sichtweisen 10/2009 angesprochen werden, die in der professionellen Arbeit mit Menschen mit Lernschwierigkeiten / mehrfacher Behinderung und Demenz bedacht werden müssen. Differentialdiagnostik: Eine sorgfältige differentialdiagnostische Abklärung erweist sich als notwendig, da Demenzen in Zusammenhang mit spezifischen Erkrankungen wie z. B. Tumoren oder Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems unter Umständen rückbildungsfähig sind, während Demenzen vom Alzheimer Typ (DAT) sowie Multi-Infarkt-Demenzen (MID) von medizinischer Seite aus lediglich in ihrem Voranschreiten abgemildert werden können. Im Fall von DAT oder MID erweist sich der Verlust kognitiver Fähigkeiten als gering beeinflussbar, während jedoch auf die sekundär sich entwickelnden psychosozialen Probleme durch fachgerechte heilpädagogische und sozialpädagogische Interventionen deutlich eingewirkt werden kann.[7] Diese Differentialdiagnostik mit Menschen mit geistiger Behinderung durchzuführen, erfordert eine enge Kooperation zwischen Fachkräften der Medizin und der Behindertenhilfe. Erfassen von Stärken: Die Fallgeschichte des Herrn H. erzählt sich schnell als eine Geschichte des Verlustes, eine Geschichte der zunehmenden Sprachlosigkeit, Verwirrung, Desorientierung. Gerade hier gehört es entscheidend zur Fachlichkeit von MitarbeiterInnen der Behindertenhilfe, den Blick auch immer wieder gerade auf die Stärken zu richten. Denn über Stärken verfügt Herr H. durchaus. Immer noch interessiert sich Herr H. für das Einkaufen („Cola kaufen…“), er will weiterhin eine anerkannte Tätigkeit leisten („arbeiten, arbeiten …), sein Ankleiden selbst durchführen, er fordert Essen, außerdem ist er in Bewegung. Bildung: Eine Heilpädagogik, die sich ausschließlich am Paradigma des Förderns orientiert, hat dem Faktum einer Demenz nichts entgegenzusetzen. Ein ganzheitlich ausgerichteter Bildungsbegriff jedoch geht über den Aspekt des Förderns weit hinaus. Der Humboldtsche Bildungsbegriff – in der Zusammenfassung von Hartmut v. Hentig – definiert: „Bildung sei die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Sichtweisen 10/2009 Welt in wechselseitiger Ver- und Beschränkung harmonisch proportionierlich entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität oder Persönlichkeit führen, die in ihrer Idealität und Einzigartigkeit die Menschheit bereichere“[8]. Wenn Bildung als unteilbar[9], d. h. für alle Menschen zugänglich, angesehen werden sollte, dann bedeutet es für die Fachlichkeit in der Behindertenhilfe, diesen Ansatz auf die Situation von Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz zu übersetzen. Bildung ist hier ganzheitlich aufgefasst, es geht um die Anregung von Kräften im Sinne eines Empowerment[10] also um Selbstbestimmung, wobei Selbstbestimmung nicht autonomes Handeln voraussetzt. Fachliche Assistenz, auf die ein Mensch mit geistiger Behinderung und Demenz angewiesen ist, kann vielmehr eine Bedingung dafür sein, dass Selbstbestimmung sich entfalten kann. Betont wird bei Humboldt die Anregung aller Kräfte, also nicht nur derjenigen, die sich in eine Institution stromlinienförmig einfügen. Hier gilt es, bei den Interessen von Betroffenen, bei ihrer Individualität und Persönlichkeit anzusetzen. Herr H. zeigt für ein Bildungsangebot zahlreiche Ansatzpunkte. So hätte ein Bildungsangebot, das den Übergang in den Ruhestand zum Thema macht, Herrn H. sicherlich unterstützen können, Alternativen zu entwickeln.[11] Später hätte ihm begleitetes Einkaufen unter Zuhilfenahme von Fotos der gewünschten Lebensmitteln seine Fähigkeiten und Neigungen in diesem Bereich noch über einen langen Zeitraum hinweg erhalten können. Auch hätte er zu kleineren Hilfestellungen im Alltag, wie z. B. beim Anbringen von Bildern an einer Pinwand in der Wohngruppe hinzugezogen werden können. Hilfsmittel an seiner Kleidung, wie beispielsweise Klettverschlüsse, hätten ihm noch länger die Selbstständigkeit beim Ankleiden ermöglichen können. Kochen im Alltag der Gruppe mit allen Sinnen, das Abschmecken und das Kosten zwischendurch verlängern den Essvorgang und könnten möglicherweise für deutlicheres Gefühl von Sättigung sorgen.[12] In der Phase der leichteren Demenz hätte ein Realitätsorientierungstraining[13] (ROT) die zeitliche und räumliche Orientierung erleichtert. Während in der Phase der sich verstärkenden Demenz die Methode der Validation[14], welche insbesondere darauf abzielt, dass Fachkräfte Betroffene in ihrem Gefühlserleben verstehen und begleiten, Herrn H. 9 Fachlichkeit in der Lebensbegleitung von Menschen, die als geistige behindert gelten, mit Demenz. geholfen hätte, etwas besser mit den Gefühlen von Verärgerung und wohl auch mit seinen Ängsten umzugehen. Gut ausgebildete Fachkräfte der Behindertenhilfe, die wissen, dass Menschen mit geistiger Behinderung und Demenz bis zuletzt bei ihren Bedürfnissen abgeholt werden können, sei es durch das Bildungsangebot der basalen Stimulation[15], welches insbesondere über Berührung Betroffenen hilft, den eigenen Körper in angenehmer Weise zu spüren, oder der basalen Kommunikation[16], welche die nicht-sprachliche Verständigung festigt, erleben sich in der Arbeit als handlungsfähig und durch die Arbeit mit Betroffenen durchaus bereichert. Problem der Fixierung: Fachlich versierte Kräfte wissen, dass eine Fixierung nur bei Gefahr für Betroffene bzw. Dritte gerechtfertigt werden kann.[17] Aus der Forschung hinsichtlich der Sturzprophylaxe sollte mittlerweile bekannt sein, dass Fixierung bei Gangunsicherheit eben gerade keine geeignete Vorbeugemaßnahme darstellt, sondern dass im Gegenteil ein stetig durchgeführtes Gehtraining zur Erhaltung der Gehfähigkeit wesentlich beiträgt.[18] Wohnen: Gemeindenahes Wohnen in kleinen Gruppen von vier bis höchstens acht Bewohnerinnen und Bewohnern mit Lernschwierigkeiten / mehrfacher Behinderung gerade für ältere behinderte Menschen und gar für behinderte Menschen, die auch noch von Demenz betroffen sind, hat in Deutschland noch nicht die Verbreitung gefunden, die aus fachlicher Sicht geboten wäre. Der Anteil der älteren Menschen mit geistiger Behinderung, die in Großeinrichtungen untergebracht sind, ist derzeit allen fachlichen Empfehlungen zum Trotz, überproportional hoch.[19] Sinnvoll wäre ein Wohnmodell, das mehrere kleinere Einheiten in einem Wohnge[1] Buck, P. S. (1952): Geliebtes unglückliches Kind, Wien [2] vgl.: Kniel, A. / Windisch, M. (2005): People First. Selbsthilfegruppen von und für Menschen mit geistiger Behinderung, München/Basel; insbesondere: Kap. 3.1 Zum Begriff „Menschen mit geistiger Behinderung“, S. 16ff [3] vgl.: Havemann, M. / Stöppler, R. (2004): Altern mit geistiger Behinderung. Grundlagen und Perspektiven für Begleitung, Bildung und Rehabilitation, Stuttgart [4] vgl.: Theunissen, G. / Schirbort, K. / Hoffmann, C. (2002): Altenbildung und Behinderung. Impulse für die Arbeit mit Menschen, die als lern- und geistig behindert gelten, Bad Heilbrunn, S. 7ff [5] vgl.: Havemann, M. / Stöppler, R. (2004); insbesondere Kap. 2.3 10 biet umfasste, sodass bei einem Mehrbedarf an Personal in den einzelnen Wohnungen auf einen größeren Personalstamm zurückgegriffen werden könnte, damit Betroffenen länger in vertrauter Umgebung leben und vielleicht erst bei hohem Pflegeaufwand in eine Kleinstpflegeeinrichtung, welche in das Wohnmodell integriert ist, umziehen können. Selbstsorge von Fachkräften: Zur Fachlichkeit von MitarbeiterInnen auf allen Ebenen der Behindertenhilfe gehört es, regelmäßig Fort- und Weiterbildungen wahrnehmen zu können, die das professionelle Wissen erweitern, auf den neuesten Stand bringen und Sicherheit geben können für das Handeln im beruflichen Alltag. Auch Supervision, Fallbesprechungen, kollegiale Beratung helfen, sich im praktischen Handeln professionell verhalten zu können und das Privatleben nicht über Gebühr zu belasten. Zur Fachlichkeit von MitarbeiterInnen auf allen Ebenen der Behindertenhilfe gehört ferner der Einsatz in Fachverbänden, das vehemente Eintreten für inklusive Ansätze in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung, und zur Fachlichkeit von MitarbeiterInnen auf allen Ebenen der Behindertenhilfe gehört, eine fachgerechte Personal- und Sachausstattung zu fordern, um gemeindenahes Arbeiten z. B. in kleinen Wohneinheiten überhaupt erst realisieren zu können. Nur MitarbeiterInnen, die für fachlich begründete Konzepte und für die Bereitstellung entsprechender Ressourcen eintreten, können Empowerment tatsächlich glaubhaft an Menschen mit Behinderung weitergeben. Prof. Dr. Nina Kölsch-Bunzen Hochschule Esslingen Sozial-demografische Entwicklungen und Lebenserwartung [6] Hierbei wird auf ein Beispiel zurückgegriffen, das sich bei Theunissen et al. (2002) , S. 143–145 findet [7] vgl.: Stoppe, G. (2006): Demenz, München/Basel; insbesondere das Kap. 6 Diagnose und Differentialdiagnose des Demenzsyndroms [8] v. Hentig, H. (2004): Bildung. Ein Essay, München/Wien, S. 39 [9] vgl.: Rödler, P. / Berger, E. / Jantzen, W. (Hg.) (2000): Es gibt keinen Rest! – Basale Pädagogik für Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen, Neuwied/Kriftel/Berlin [10] vgl.: Theunissen, G. / Plaute, W. (2002): Handbuch Empowerment und Heilpädagogik, Freiburg i. Br. [11] vgl.: Hollander, J. / Mair, H. (2006): Den Ruhestand gestalten. Case Sichtweisen 10/2009 Älter werden mit Behinderung. Die Sicht einer Familie, die noch nicht alt ist! Zu dem Schwerpunkt dieser Ausgabe gehen mir viele Aspekte durch den Kopf, die sich andere Familien nicht stellen müssen. Ich stehe als Familienvater gemeinsam mit meiner Frau von einem schwer mehrfach behinderten Sohn zwar noch nicht heute und morgen, aber dennoch mittel- und langfristig betrachtet vor mehreren Problemen, die durch das Älterwerden von Eltern behinderter Menschen entstehen. Sohn als viele andere Eltern mit gesunden Kindern. Da ist zum Beispiel unser Sohn. Er wächst und wächst, wird größer und schwerer während die Eltern kontinuierlich an Kraft verlieren. Physisch gesehen: unsere Rücken erfahren immer mehr Belastung und auch Schmerz, auch wenn es viele Hilfsmittel gibt, die die tägliche Pflege erleichtern. Aber auch psychisch gesehen: wie lange können wir den täglichen Belastungen noch standhalten? Dem Druck, immer bereit zu sein, auch in der Nacht. Aber auch dem Druck der Behörden oder Krankenversicherung, immer und immer wieder Streit um die erforderlichen Hilfsmittel, Medikamente oder sonstigen Maßnahmen. Auch die finanziellen Fragestellungen schwirren mir durch den Kopf. Heute leben wir in unseren eigenen vier Wänden, einer nach unseren Vorstellungen und Bedürfnissen geplanten und gebauten Wohnung, glücklich und zufrieden. Wo wird unser Sohn mal in seinem zweiten Lebensabschnitt wohnen, während wir uns langsam auf unser Rentendasein vorbereiten? Was geschieht mit der Eigentumswohnung, wenn wir einmal nicht mehr da sein werden? Erbt alles „Vater Staat“, der ja auch viel Geld für unseren Sohn ausgibt und ausgeben wird für Pflegegeld, Pflegeheim, Pflegepersonal etc. Oder schaffen wir es, mit einem durchaus möglichen Testament, am Staat vorbei das Geld so verwalten zu lassen, dass es unserem Sohn zur Verfügung steht. Zur Verbesserung seiner Lebensbedürfnisse über die staatliche Versorgung hinaus? Dürfen wir als Eltern aber so etwas überhaupt in Erwägung ziehen bzw. so einen Weg wählen, oder ist das ethisch gesehen bedenklich, denn der Staat zahlt viel, warum soll er nicht einen Teil davon von den Eltern bekommen oder nehmen? Wer beantwortet solche Fragen? Irgendwann wird der Tag kommen, an dem wir die täglich erforderlichen Hilfs- und Pflegeleistungen nicht mehr erbringen können. Wie wird es dann weitergehen? Wer wird unseren Sohn dann pflegen? Wird er verstehen, warum wir das nicht mehr selbst tun können? Werden wir damit klar kommen, den letzten Lebensabschnitt ohne unseren Sohn zu verbringen, auch wenn dieser gut untergebracht ist und wir ihn jederzeit besuchen können? Können wir loslassen? Denn wir leben, so glaube ich zumindest, viel intensiver mit unserem Sie, liebe Leserinnen und Leser wissen sicher oft auch selbst, wovon ich hier schreibe. Älter werden mit Behinderung heißt eben nicht nur, dass behinderte Menschen älter werden und aus der Behindertenwerkstatt in die Rente wechseln, wie Gesunde aus dem Arbeitsplatz ausscheiden. Auch die Angehörigen behinderter Menschen werden älter und müssen dabei Wege finden, für die es keine vorgefertigten Formulare gibt oder Landkarten, wo man den Weg nachlesen kann, den man einschlagen soll. Markus Pelkmann Management in der Unterstützung von Menschen mit Behinderungen, Düsseldorf; und vgl.: Mair, H. / Roters-Möller, S. (2007): Den Ruhestand gestalten lernen – Menschen mit Behinderung in einer alternden Gesellschaft; in: Cloerkes, G. / Kastl, J. M.: Leben und Arbeiten unter erschwerten Bedingungen. Menschen mit Behinderungen im Netz der Institutionen, Heidelberg, S. 211 – 240 [12] vgl.: Biedermann, M. (20042): Essen als basale Stimulation, Hannover [13] Ruff, R. (2004): Realitätsorientierungstraining (ROT); in: Lauber, A. / Schmalstieg, P. (Hg.): Prävention und Rehabilitation, Stuttgart, S.152 – 161 [14] vgl.: Feil, N. (20044): Validation in Anwendung und Beispielen. Der Umgang mit verwirrten alten Menschen, München/Basel [15] vgl.: Bienstein, Ch. / Fröhlich, A. (2003): Basale Stimulation in der Pflege. Die Grundlagen, Seelze-Velber [16] vgl.: Greving, H. / Niehoff, D. (2003): Methoden der Heipädagogik und Heilerziehungspflege. Basale Stimualtion und Kommunikation, Toisdorf; insbesondere Kap. 5 Basale Kommunikation (nach Winfried Mall) [17] vgl.: Stolz, K. / Warmbrunn, J. / Schmolz, J. /Elsbernd, A. (2008): Betreuungsrecht und Pflegemanagement. Konzepte – Beratung – Unterstützung, Stuttgart/New York [18] vgl.: Elsbernd, A. (2008): Konzeptentwicklung in der Pflege; in: Stolz, K. et al., S. 52 – 66 [19] vgl.: Havemann, M. / Stöppler, R. (2004); insbesondere das Kap. 13 Wohnen im Alter Sichtweisen 10/2009 11 Älter werden mit Behinderung. Erfahrungen aus dem Wohnbereich der Lebenshilfe Esslingen Seit mehr als 30 Jahren bietet die Lebenshilfe Esslingen Wohnplätze für erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung. Wer in eine der Wohngruppen einzieht, bleibt häufig bis ans Lebensende dort wohnen. Besonders Bewohnerinnen und Bewohner mit sehr hohem Hilfebedarf leben bis jetzt dauerhaft im Wohnheim. Nur wenige der Bewohnerinnen und Bewohner, die in den vergangenen 30 Jahren aufgenommen wurden, sind bisher verstorben. Während manche von ihnen bei bester Gesundheit ihr Rentnerleben genießen und die Angebote der Tagesbetreuung für Senioren bis ins hohe Alter begeistert in Anspruch nehmen, spüren andere genauso wie nichtbehinderte Menschen die Lasten des Alters. Die Beobachtungen und Erfahrungen zeigen, dass die Lebenserwartung von Menschen mit geistiger Behinderung genauso gestiegen ist wie in der gesamten Bevölkerung. Häufig jedoch beginnt das Altern früher. Inzwischen ist bekannt, dass z.B. Menschen mit Down-Syndrom oft schon um das 50. Lebensjahr Anzeichen einer Demenzerkrankung aufweisen. Dennoch erreichen sie häufig ein Alter von bis zu 70 Jahren. 12 Menschen mit geistiger Behinderung scheinen ein höheres Maß an Toleranz und Geduld für ihre eigenen, aber auch für die Gebrechen und Leiden anderer Menschen aufzubringen. Im Zusammenleben einer Wohngruppe kann man erleben, wie groß das gegenseitige Verständnis ist, wenn eine Mitbewohnerin oder ein Mitbewohner erkrankt oder alt wird und ihm seine bisherigen Fähigkeiten nach und nach verloren gehen. Mit liebens- und bewundernswerter Selbstverständlichkeit werden Hilfestellungen untereinander angeboten und der alternde Freund wird so angenommen, wie er ist. Gewiss spielt die Haltung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohnstätten dabei eine wichtige Rolle. Mit viel Engagement setzen sie sich dafür ein, dass „ihre“ alten Wohngruppenbewohner in der eigenen Gruppe bleiben können und lehnen eine Verlegung in eine „Pflegegruppe“ ab. Gegenseitiges Geben und Nehmen wird gefördert und vorgelebt, so dass jüngere Bewohner nicht selten schwächer werdende Mitbewohner unterstützen wollen. Im Rahmen der Eingliederungshilfe versuchen Mitarbeiter der Wohngruppen, alle Fähigkeiten des alternden Bewohners so weit und so lange wie möglich zu erhalten. Solange Bewohne- Sichtweisen 10/2009 rinnen und Bewohner schlucken können, wird ihnen unabhängig von der Zeit, die sie zur Nahrungsaufnahme brauchen, dass Essen gereicht und nicht mit der Sonde zugeführt. Zuwendung und die lebensnotwendige und lebenserhaltende zwischenmenschliche Kommunikation werden den alten Bewohnern in dieser Zeit entgegengebracht, während die jüngeren und mobilen Bewohner Aufmerksamkeit und Förderung beim gemeinsamen Verrichten von hauswirtschaftlichen Tätigkeiten oder im Freizeitbereich erhalten. Die derzeitigen Angebote in der wohnheiminternen Tagesbetreuung für Senioren reichen für die sehr unterschiedlichen Bedürfnisse behinderter Menschen nicht aus. Während die Einen aktive Angebote im Bereich der Erwachsenenbildung außer Haus wünschen, bevorzugen andere Beschäftigungsangebote im Haus. Da Menschen mit geistiger Behinderung sehr häufig nicht lesen können, sind sie auf Information und Begleitung bei Freizeitangeboten angewiesen. Wer nicht lesen kann, sich aber für die Tageszeitung interessiert, braucht Menschen, die ihm – in einfache Sprache übersetzt – vorlesen. Wer sich räumlich nicht orientieren kann, braucht ebenfalls Begleitung. Wer nicht zählen kann, benötigt beim scheinbar einfachen „Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel“ Unterstützung. Während nichtbehinderte alte Menschen ihre Lebensphase als Rentner selbst gestalten können, benötigen die meisten Menschen mit geistiger Behinderung Anregung, Motivation, Begleitung oder Assistenz. Dies erfordert ausreichend Personal. Die Erfahrungen der Lebenshilfe Esslingen zeigen, dass auch Menschen mit geistiger Behinderung bis ins hohe Alter an Angeboten und zwischenmenschlichen Begegnungen teilhaben wollen. Hierzu benötigen sie Begleitung und Hilfestellung. Da die Familienangehörigen der Wohnheimbewohner inzwischen mehrheitlich verstorben sind, erhalten nur noch wenige regelmäßige Besuche. Es gilt deshalb, ehrenamtliche Helfer und Menschen, die Wohnheimbewohner besuchen zu gewinnen. Im Jahr 2018 wird das Durchschnittsalter der jetzigen Bewohner bei 60 Jahren liegen. Bis dahin müssen die Angebote der Tagesbetreuung weiter differenziert und ausgebaut werden. Antonia Romero Bereichsleitung Wohnen Inklusion Dazugehörigkeit!? Ach wirklich? Und warum sind wir Behinderte noch in einer Werkstatt? Finden keinen Platz auf dem ersten Arbeitsmarkt!? Weil wir „unvermittelbar“ sind! „Das ist ja der Witz“, wenn man nur lachen könnte!!! Dann würde ich das machen, aber mir bleibt es wie ein Kloß im Hals stecken!!! Und dazu kommt noch, dass man, je älter man wird immer weniger die Chance bekommt, sich mal wenigstens vorzustellen. Eingeschlossen! Das trifft mehr den wunden Punkt! Es muss zuerst in den Köpfen „klick“ machen! Und dann wäre es möglich, in Kontakt mit uns zu treten, uns so zu akzeptieren, wie wir sind und was wir tun! Dann ist es möglich, dass wir den Begriff „Dazugehörigkeit!“ gestalten können! Hoffentlich finden wir einen Spross, der stetig wächst und farbig aufblühen kann! Daniela Goth Sichtweisen 10/2009 13 Älter werden Gedicht Mit 13 Jahren fing es an, das Leben ganz anders wie geplant! Das Leben mit Behinderung! Konfrontiert mit meiner Halbseitenlähmung, meiner totalen Stummheit und meiner Bettlägerigkeit, musste ich mich auf den Weg machen alles neu zu erlernen! Wie ein Baby eben! 15 Jahre später hab’ ich gedacht, jetzt alles hinzubekommen, was wichtig ist für ein Leben mit Behinderung!!! Jedoch hab’ ich mich getäuscht! Ich musste mich wegen meines Augeninfarktes umkrempeln von visuell auf taktil! Mit 28 Jahren, die Diagnose zu bekommen: „Glaukom an beiden Augen!!!“ war hart für mich, denn mein inniger Wunsch nach Kindern war für immer ausgeträumt!!! Zusätzlich musste ich mich auch noch umschulen lassen! In eine ganz fremde Stadt Namens: „Veitshöchheim“! Und da ein Internat für Blinde und Sehbehinderte besuchen! Am 38. Geburtstag dann endlich sagt meine Schwester als ich wieder einmal geklagt habe über meine „Wehwehchen“: „Du wirst halt alt und Du hast halt Arthrose!“ Mit 38 Jahren Arthrose? „Super, toll und genial!“ Sonst noch was im Angebot? „Danke für das Gespräch!!!“ Für wie alt hält sie mich denn überhaupt? Und wenn ich mal in den Genuss komme und 70 Jahre werde, wie wird’s dann aussehen mit meinem Leben mit Behinderungen? Ich komme z.B. kaum noch raus, sitze den ganzen lieben langen Tag bloß im Haus herum und sinniere, was ich noch lukratives machen könnte?! Weil ich Angst habe wieder mal hinzufallen, bleib ich stocksteif auf meinem Sessel sitzen und warte was passiert!!! Werde ich ganz gebückt mit Krücken oder aber per Rollstuhl ins Altersheim eingeliefert werden? Wie wird es da sein? Geht es mir dort gut? Lerne ich da Menschen kennen mit denen ich auch reden und fortgehen kann? Und wie sieht’s dann mit meiner medizinischen Versorgung aus? Wird sie mir komplett ersetzt? Oder muss ich sie teilweise immer noch brav bezahlen? Werde ich das ganze überhaupt finanzieren können? Oder muss ich mich machtlos aus Fördermitteln bezahlen lassen? Älter werden mit Behinderungen ist echt schwer! Und ich muss mich immer wieder aufraffen, das Leben zu nehmen so wie es ist!!! „Denn, schlimmer geht immer!“ Daniela Goth Mit dem Alter kommen manche „Wehwehchen!“ und „Zipperlein“. Man kann sich nicht mehr so bewegen , weil alles schmerzt! Logischerweise muss man häufiger zum Arzt rennen! „Aber Moment mal“: ist die Praxis auch barrierefrei oder mit Aufzug bestückt? Man ruft in der Praxis an und fragt nach! Die meisten Praxen sind im 1. oder im 2. Stock ohne Aufzug. Und jetzt? Was soll man tun, wenn man einen Rollator hat oder sogar im Rollstuhl sitzt, ohne Aufzug? Wie kommt man dann zu dem Dr.? Bei vie- len Internisten ist es besonders ärgerlich, weil man dort auch keinen Aufzug, nur Treppen vorfindet! Endlich hat man eine Praxis mit Aufzug gefunden, ist der Aufzug zu eng für einen Rollstuhl! Oder aber mit ein paar Stufen bevor man in den Aufzug hinein kommt! Also wieder nix!!! Frustration breitet sich aus! Aus Verzweiflung ruft man die Klinik an, die spezialisiert ist für das Leiden, dass man hat. Ob’s klappt steht in den Sternen! Schwierigkeiten überall, wohin man nur schaut! Denkt man sich! Das ist zum Haare ausreißen! Verflixt noch mal! Soll man trotzdem mit einem Lächeln dann älter werden? Drei Jahre blieb ich dort! Es waren drei sehr schöne Jahre! Nach einem Jahr „daheim“ entschloss ich mich für eine Werkstatt!!! Diese Werkstatt verfolgt mich vermutlich bis zum „bitteren Ende“! Durch meine vielen Unfälle bin ich noch eingeschränkter geworden, als ich von vorne herein schon war! 14 Wenn was passiert!!! Und wenn was passiert, dann sind das meine ständigen Unfälle!!! Und die Wunden, die ich mir einheimse gehen sehr, sehr langsam zu! Fast eine Ewigkeit und „drei Tage“ dauern sie bis sie endlich zu sind! Kaum verheilt kommen neue Wunden hinzu!!! Das ist jetzt mein „tagtägliches Brot!“ Tätowieren brauche ich mich nicht. Weil ich schon genug Farben an mir hab! Sichtweisen 10/2009 Älter werden mit Behinderung Was ist doch aus meinem „Kind“ geworden? Die Frage an mich lautete: Was wünschen sich Menschen mit Behinderung für ihren Lebensabend? Wie verhält es sich mit der Sorge von Eltern: Was passiert mit meiner Tochter bzw. meinem Sohn, wenn ich nicht mehr kann? Wie steht's mit Selbständigkeit und Selbstbestimmung im Alter? Eine Antwort kann aus meiner Sicht nicht allgemeingültig für „die“ Menschen mit Behinderung gegeben werden. Sie ist abhängig von Art, Schwere und Zeitpunkt der Schädigung und damit Art und Schwere der Beeinträchtigung. Ein Beispiel: Die Probleme und Fragestellungen der Menschen mit geistiger Behinderung und ihrer Eltern sind andere als die einer Person, die z.B. durch Kinderlähmung „nur“ körperlich behindert ist, ansonsten aber einen vollwertigen Beruf ausüben und ihr Leben weitgehend selbst in die Hand nehmen kann – also selbstständig und selbstbestimmt. Dagegen sind Menschen mit geistiger Behinderung – und auf die möchte ich meinen Beitrag beschränken – in der Regel lebenslang auf gezielte Förderung und fürsorgliche Begleitung angewiesen. Mit umfassender Förderung in den Anfangsjahren sind Eltern und Angehörige in der Regel überfordert, hierfür gibt es ergänzend „Familienentlastende Dienste (FeD)“ und z.B. Kindergärten sowie Schulen mit besonderem Lehrplan, wie es auch für andere Kinder und Heranwachsende die Schulpflicht und verschiedene schulische Angebote gibt. Was kommt dann nach der Schule? Den Sprung in den „normalen“ Arbeitsmarkt schaffen nur sehr wenige. Deshalb wünschen sich die Heranwachsenden und ihre Eltern auch hier Möglichkeiten, bei denen die „Kinder“ – ohne dass das seither Erlernte verkümmert – eine ihnen gemäße sinnvolle Arbeit leisten können. Wenn auch dies wegen der Schwere der – oft auch mehrfachen – Behinderung nicht möglich ist, sind Förder- und Betreuungsgruppen hilfreich. Beides bieten z.B. die Werkstätten Esslingen-Kirchheim W.E.K. an, die von den Lebenshilfen Esslingen und Kirchheim und dem Verein für Körperbehinderte getragen werden. Wenn die Eltern oder Angehörigen die lebenslange Begleitung zu Hause nicht mehr leisten können oder wollen, wünschen sie sich genau so Sichtweisen 10/2009 wie die Menschen mit geistiger Behinderung selbst geeignete Wohnformen, wie sie z.B. die Lebenshilfe Esslingen in sehr differenzierter Form anbietet. Und wenn dann der „Lebensabend“ beginnt, wünschen sich die Menschen mit geistiger Behinderung, dass sie in ihrer gewohnten Umgebung verbleiben können und dies in angenehmer Gesellschaft, aber auch der Möglichkeit, sich in ein eigenes Zimmer zurückziehen zu können – und diesem Wunsch gilt auch die Sorge der Eltern. Hier stellt sich heute vermehrt die Frage nach einer geeigneten, begleiteten Tagesstruktur. Da die Finanzierung hierfür noch nicht befriedigend geregelt ist, sind wir von der Lebenshilfe dankbar für Ergänzung der hauptamtlichen Fachkräfte durch ehrenamtliche Helfer/innen, die hier ihr Engagement und ihre Hilfsbereitschaft sinnvoll einbringen können. Dies gilt auch für die Freizeitgestaltung aller Altersgruppen. Auch hierfür engagieren sich Junge und Ältere, Gruppen und Einzelpersonen in dankenswerter Weise, koordiniert und organisiert von unseren „Offenen Hilfen/Familienentlastenden Diensten“. Bleibt noch die Frage nach Selbständigkeit und Selbstbestimmung im täglichen Leben. Richtig verstanden sollten sie ein Ziel jeder verantwortungsvollen Betreuung, Förderung und Begleitung aller Kinder und Heranwachsenden von Anfang an sein. Wie weit dieses Ziel erreicht werden kann, hängt wiederum von Art und Schwere der Behinderung ab. Für uns von der Lebenshilfe ist es erfreulich und beglückend, wie selbstbewusst und freundlich viele derer, die als Kind vor 45 Jahren von ihren Eltern in unsere Sirnauer Tagesstätte für geistig behinderte Kinder gebracht wurden, heute auch in der Öffentlichkeit auftreten. Nicht zuletzt tragen sie dadurch selbst viel dazu bei, dass dieser Personenkreis immer besser von ihren Mitmenschen, der Gesellschaft, angenommen und akzeptiert wird. Und darüber sind auch die Eltern, so sie noch leben, froh und glücklich: „Was ist doch aus meinem „Kind“ geworden – so habe ich mir’s gewünscht!“ Eugen Fritz Wagner, Ehrenvorsitzender der „Lebenshilfe Esslingen e.V.“ 15 Älter werden mit Behinderung Wenn ich einmal alt wär… Kennen Sie Tevje? Tevje war ein jüdischer Milchmann. Er lebte mit seiner Frau und seinen drei Töchtern im ukrainischen Dorf Anatevka. Tevje war arm. Und wer arm ist, sehnt sich meist nach Reichtum. So auch Tevje. Seine Sehnsucht brachte er in einem Lied zum Ausdruck: „Wenn ich einmal reich wär’.“ Tevjes Wunsch nach finanziellem Reichtum blieb unerfüllt, wie so manche seiner anderen Sehnsüchte auch. Seine traditionsbewusste Lebensgestaltung geriet im Laufe der Zeit ins Wanken, der politische Druck nahm zu, und als er alt war, wurden er und all die anderen Juden aus ihrem Dorf vertrieben. Zu diesem Zeitpunkt war ihm möglicherweise der finanzielle Reichtum nicht mehr wichtig. Im Alter verändern sich Wünsche, Sehnsüchte und Maßstäbe. Alt zu werden, diese Sehnsucht hat kaum jemand! Viele Menschen möchten selbstverständlich alt und auch älter werden. Aber das Altsein dann auszuhalten und zu akzeptieren, das ist schon etwas Besonderes. Wie es sein kann, alt zu sein, zeigt das Märchen der Gebrüder Grimm. Der alte Großvater und der Enkel. Es war einmal ein steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen musste sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu nicht einmal satt! Da sah er betrübt nach dem Tisch, und die Augen wurden ihm nass. Einmal auch konnten seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kauften sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus musste er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst Du da?“ frage der Vater. „Ich mache ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus sollen 16 Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen endlich an zu weinen, holten allsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an immer mitessen, sagten auch nichts, wenn er ein wenig verschüttete.“ Wir können aus diesem Märchen mindestens drei aktuelle sozialpolitische Bezüge herauslesen: 1. Der Großvater wohnt nicht im Heim. Damit ist die Forderung erfüllt: ambulant vor stationär. 2. Der Alte lebt in einem Mehrgenerationenhaus. 3. Ausgrenzung wandelt sich in Integration. Gute äußere Lebensbedingungen sind im Alter wichtig. Daneben hat das individuelle Empfinden des Altseins auch eine große Bedeutung. Haben Sie sich schon einmal konkret vorgestellt, wie Sie sich erleben werden, wenn Sie selbst einmal alt sind? Wie wird Ihr Leben dann aussehen? Ich stelle mir das so vor: Wenn ich dann einen Artikel über das Altsein schreiben soll, werde ich das Ansinnen möglicherweise zurückweisen, weil es ein fast unüberwindbares Hindernis zu werden scheint. Und wenn ich es dann trotzdem tue, werde ich Angst haben, meinen und anderen Ansprüchen an gutes Schreiben nicht gerecht zu werden. Ich werde am Ende eines formulierten Satzes nicht mehr wissen, wie der Anfang war. Mir werden täglich Missgeschicke passieren, die mich in Aufruhr versetzen und mich gleichzeitig lähmen. Ich werde Gegenstände und gute Gedanken verlegen und vergessen. Die Alltagsgestaltung, die ich jetzt routiniert erledige, wird mich Anstrengungen und einen großen Teil meiner Zeit kosten. Gesundheit wird ein nicht mehr erreichbares Gut sein. Krankheit wird meine Gedanken und Gefühle beherrschen. Die Funktion von technischen Apparaten werde ich möglicherweise nicht mehr verstehen. Vielleicht wird es meine größte Herausforderung sein, mich selbst neu kennen zu lernen als ein Mensch mit Behinderung, der ich derzeit nicht bin. Dann werde ich denen anders nahe sein, die ich heute beruflich begleite. Sichtweisen 10/2009 Das alles klingt nicht so erfreulich. Keine Spur von Sehnsucht. nicht mehr“. Dadurch könnte ich zum Meister in der Gestaltung meines Abhängigseins werden. In Geschichten und Märchen werden einem manchmal drei Wünsche verheißen. Für mein Altsein hätte ich die drei folgenden: 3. Auch wenn ich es mir nicht vorstellen kann und will, muss ich in Betracht ziehen, dass möglicherweise ein millimetergroßes Blutgerinnsel über meine Zukunft entscheidet. Vielleicht werde ich dann auf Pflege angewiesen sein. Aber ich möchte kein Pflegefall werden. Und ich möchte dann Menschen um mich herum haben, die diesen Unterschied verstehen, die mir Halt geben und die nicht nur den Menschen, sondern – und das ist ein anspruchsvoller Wunsch – auch den Sterbenden lieben. 1. Ich möchte nicht ausgeschlossen werden, weder vom Tisch noch von Kommunikation, Einflussnahme, Eigenaktivität und Kultur. Partizipation am gesellschaftlichen nahen und fernen Umfeld soll Bestand meines Lebens bleiben. In Anlehnung an Tevje, wäre das mein Reichtum 2. Ich möchte mich auch noch im Alter weiterentwickeln. Zum Beispiel dadurch, dass ich eine Haltung herausbilde, die dem „Ich kann es noch“ mehr Bedeutung beimisst, als dem „Ich kann es Sichtweisen 10/2009 Kai Hölcke ist Supervisor, 57 Jahre alt und lebt in Schwäbisch Hall 17 Die Bedeutung von Erinnerungen für autistische Menschen von Dietmar Zöller Als ich damit begann, über das Thema „Autismus und Alter“ nachzudenken und dazu meine Gedanken tagebuchartig aufschrieb, beschäftigte mich die Frage, welche Bedeutung für mich Erinnerungen haben und im Alter haben könnten. Es wurde mir klar, dass bei meiner Förderung alles getan wurde, um mir Erinnerungen zu ermöglichen, obwohl das zu keinem Zeitpunkt ein erklärtes Therapieziel war. Rückblickend staune ich über den Einfallsreichtum meiner Mutter, die Zeit meines Lebens meine wichtigste Therapeutin war. Sie hat nämlich zu einer Zeit, als sie über meine Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen noch gar kein detailliertes Wissen haben konnte, mir geholfen, Ordnung in mein Wahrnehmungschaos zu bekommen. Als ich schreiben konnte, habe ich den Satz geprägt: „Am Anfang war das Chaos.“ Und so war es auch. Was ich hörte, sah und fühlte, passte nicht zusammen, war unverständlich. Und nun wurde mir in einem verhaltenstherapeutischen Training beigebracht, wie ich einzelne Wahrnehmungen isolieren und mit Namen versehen konnte. 18 Ich bekam mehr und mehr eine Ordnung in mein Bewusstsein und konnte mich dann auch an Einzelheiten erinnern. Ich möchte die Hypothese aufstellen, dass es keine Erinnerung geben kann, wenn es bei dem „Wahrnehmungsbrei“ bleibt, den offensichtlich viele Kinder mit einer autistischen Behinderung aushalten müssen. Wer das Alter bestehen will, sollte etwas haben, an das er sich erinnern kann. Alte Menschen leben von ihren Erinnerungen. Sonst haben sie ja in der Regel nicht viel, womit sie sich beschäftigen können. Bei autistischen Menschen ist das alles noch viel schlimmer. Sie hatten Zeit ihres Lebens Mühe, Beziehungen aufzunehmen, Kontakte zu pflegen. Sie werden zwangsläufig im Alter sehr einsam sein. Man muss unbedingt den autistischen Menschen, während sie noch jung sind, Erlebnisse verschaffen, an die sie sich erinnern können. Sichtweisen 10/2009 In meinem Fall haben gemeinsame Reisen mit meinen Eltern einen positiven Erinnerungswert. Ich werde davon zehren bis an mein Lebensende. Man könnte aber auch regelmäßig wiederkehrende Rituale so gestalten, dass der autistische Mensch sie nicht vergessen kann. Ich denke zum Beispiel an Rituale im Zusammenhang mit dem Zubettgehen: Musik hören, ein Gebet sprechen, in den Arm genommen werden. Ich könnte mir auch regelmäßige Spaziergänge vorstellen, bei denen jemand ausschließlich für den autistischen Menschen da ist, sich ihm zuwendet, mit ihm redet, auch wenn er keine Antwort erwarten kann. Wichtig ist, dass das alles sprachlich in einer Weise begleitet wird, dass die unterschiedlichen Wahrnehmungen geordnet werden. Vielleicht hilft es auch, wenn man am nächsten Tag an das gemeinsam Erlebte erinnert. Ich habe die Vermutung, dass nur das Erlebte vom Langzeitgedächtnis bewahrt wird, was eine Struktur bekommen hat. Ich erinnere mich gut an Episoden einzelner Reisen, über die ich etwas geschrieben habe, was ich also strukturiert habe, als das Erlebte noch neu war. Vielleicht erinnere ich mich besser an das, was ich geschrieben habe, als an das Erlebte selbst, was durchaus auch chaotisch war. Ich möchte daraus einen Schluss ziehen: Man sollte autistische Menschen, wenn es eben geht, zum Schreiben bringen. Schreibend lassen sich nämlich die chaotischen Wahrnehmungen bewältigen. Bei dem Streit um die gestützte Kommunikation, bei dem es immer nur um die Frage ging, ob die Probanden wirklich selbst schreiben oder ob sie sich vom Stützer beeinflussen lassen, hat man viel zu wenig bedacht, welche Bedeutung das Schreiben haben kann, um besser mit dem Wahrnehmungschaos zurecht zu kommen. Erinnerung setzt immer Zeitgefühl voraus. Wer sich an etwas erinnert, muss ein Bewusstsein dafür haben, dass etwas vergangen ist und dass das Selbst jetzt in einer anderen Zeit lebt. Sichtweisen 10/2009 Ich selbst habe im Vorschulalter gelernt Zeitbegriffe zu verstehen und konnte später diese Begriffe richtig einsetzen. Ich lernte das nicht spontan, sondern meine Mutter dachte sich Übungen aus, um mir die Zeitbegriffe nahe zu bringen. Ich lernte mit Hilfe von Fotos, dass meine Eltern auch einmal Kinder waren, also eine Vergangenheit hatten. Auch lernte ich im Laufe der Zeit, was es bedeutet alt zu sein. Irgendwann begriff ich, dass meine Eltern alt werden und dass ich selbst eine Zukunft habe. Ein autistischer Mensch lernt das alles nicht von allein. Man sollte das Thema bei der Förderung berücksichtigen. Es reicht aber nicht aus, einmal mit dem Thema konfrontiert zu werden. Man muss immer wieder darauf gestoßen werden, dass unser Leben ein Leben in der Zeit ist, dass unser Leben einen Anfang und ein Ende hat. Ich halte es nicht für sinnvoll, wenn das Thema Tod ausgeklammert wird. Auch der autistische Mensch hat ein Recht darauf, auf das Sterben vorbereitet zu werden. Ich kann mich, wie ich an anderer Stelle schon erwähnt habe, sehr gut an den Tod meines Opas erinnern. Ich habe damals täglich darüber etwas geschrieben, so dass das Erlebte und meine Gefühle eine Ordnung bekamen. Ich kann mich sehr gut an alle Einzelheiten erinnern und bin sicher, dass ich diese für mich wichtigen Erinnerungen auch noch im Alter haben werde. Meine Einstellung zum Sterben ist maßgeblich von diesen Erinnerungen bestimmt. Ob ich mich an das Erleben damals auch erinnern könnte, wenn ich nicht darüber geschrieben hätte, bezweifle ich. Ähnlich ist es mit meinen Erinnerungen an die Geburt und die ersten Lebensjahre meines ersten Neffen, dessen Pate ich wurde. Schreibend verarbeitete ich meine Eindrücke. Unvergesslich ist mir das Staunen über die Entwicklung eines kleinen Menschen. Ich wurde mir bewusst, was Zeit bedeutet und wie Lebenszeit vergeht. Ich finde es auch wichtig, dass sich ein alter Mensch geborgen fühlt. Das ist aber nur möglich, 19 Die Bedeutung von Erinnerungen für autistische Menschen von Dietmar Zöller wenn er als Kind Geborgenheit sinnlich erfahren hat. Die Erfahrung von Geborgenheit ist eine Erfahrung, die über den Körperkontakt zustande kommt. Das kleine Kind fühlt sich in den Armen von Mutter oder Vater geborgen. Am Ende muss es möglich sein, das Kind in den Armen zu halten. Dieses positive Erlebnis führt dazu, dass ein Gefühl der Geborgenheit aufgebaut wird, das bis ins hohe Alter erinnert werden kann. Was ist nun, wenn ein autistisches Kind den Körperkontakt gar nicht verträgt und ablehnt? Eine Zeit lang wurde das forced holding propagiert und man knüpfte hohe Erwartungen daran. Richtig war sicherlich an diesem Ansatz die Überlegung, dass das Kind die Erfahrung machen muss, geborgen zu sein. Aus: Dietmar Zöller (Hrsg.), Autismus und Alter Was autistische Menschen, ihre Angehörigen, Menschen, die mit ihnen arbeiten und Verbände zu diesem Thema zu sagen haben, Weidler Buchverlag Berlin, 2006 Ich lehne aber das gewaltsame Festhalten ab und propagiere stattdessen, dass man sich allmählich mit Berührungen, die richtig dosiert sein müssen, dem Kind annähert. Man muss ausprobieren, ob das Kind eher feste Berührungen braucht oder sanft angefasst werden muss. Ich selbst hätte von Anfang an fest angefasst werden müssen. Interview mit Annerose Klingmann „Wie es mir heute geht“ Da ich von Anfang an bei den Sichtweisen dabei bin, haben diese mich bei meinem Alt-Werden begleitet. Ich habe bereits viel über mein Leben berichtet und so habe ich auch in dieser Ausgabe zum Thema „Älter werden mit Behinderung“ etwas beizutragen. Ich bin mittlerweile 55 Jahre alt und lebe aufgrund meiner Multiple-Sklerose-Erkrankung, seit meinem 39. Lebensjahr, auf einer Spezialstation für junge MS-Kranke im Johanniterstift in Plochingen. Es heißt so schön, dass man auch im Alter selbstbestimmt leben soll. Doch auch ich merke, dass heute vieles anders ist als früher. Es wird immer viel dem Alter zugeschoben. Ich will es nicht wahrhaben, aber dennoch ist es so. Als ich ins Johanniterstift mit 39 Jahren kam, konnte ich mich noch selbstständig duschen. Heute geht das und vieles andere nicht mehr, da ich meine Hände und Arme nicht mehr bewegen kann. Aufgrund meiner Erkrankung ist meine Selbstbestimmung in vielen Dingen eingeschränkt. 20 Sichtweisen 10/2009 Jedoch ist es mir noch möglich, Dinge wie z.B. Arztbesuche und Fahrdienste, selbst zu organisieren. Zum selbstbestimmt Altern gehört meiner Meinung nach auch dazu, selber zu entscheiden, wann man ins Bett gebracht werden will oder die Akzeptanz des Pflegepersonals, wenn man den Wunsch äußert, dass die Körperpflege nur durch weibliche Pflegerinnen durchgeführt werden soll. Darauf wird im Johanniterstift Rücksicht genommen. Ein wichtiger Teil meines Lebens ist die Amsel-Selbsthilfegruppe. Früher war ich noch sehr aktiv dabei, doch jetzt musste ich auch hier kürzer treten. Der wöchentliche Termin am Dienstagmittag ist für mich jedoch immer noch ein fester Programmpunkt, in meinem Wochenplan. Dann fahren zwei weitere Frauen aus dem Johanniterstift und ich, zusammen mit unserem „Gruftiezivi“, nach Wernau. Hinter der liebevollen Bezeichnung Gruftiezivi, steht ein Herr der im Rahmen seines Rentner-Daseins bei uns bürgerschaftlich engagiert tätig ist. Unsere Kontaktgruppe Wernau trifft sich einmal die Woche in der St. Magnus Kirche in Wernau. Mittlerweile sind wir Dienstagnachmittag immer an die 25 Personen. Wir trinken dann gemeinsam Kaffee, unterhalten uns, manchmal wird uns vorgelesen oder wir bekommen Besuch vom Gemeindepfarrer. Hin und wieder machen wir Ausflüge. Im Mai waren wir in Tripsdrill und diesen Herbst fahren wir z.B. nach Elzach in den Schwarzwald. Die Amsel-Gruppe ist sehr wichtig für mich. Die Gemeinschaft tut unglaublich gut und es ist schön, wenn man von den anderen gefragt wird, ob man beim nächsten Mal auch wieder dabei ist. Auch in meiner Familie ist der Alterungsprozess deutlich spürbar. Mein Vater hat mittlerweile das stolze Alter von 90 Jahren erreicht und lebt in Sichtweisen 10/2009 einem Altersheim in Kirchheim. Mein Sohn hat vor kurzem erneut geheiratet. Früher hat er mich sehr häufig besucht. Jetzt hat er mir mitgeteilt, dass er nun durch seine eigene Familie nicht mehr so oft kommen kann. Das ist für mich als Mutter schwer zu verstehen. Ich habe Sehnsucht nach meinem Sohn! Aber ich muss lernen, es zu akzeptieren! Das geht anderen Müttern bestimmt auch so, nur ich habe wahrscheinlich mehr Zeit darüber nachzudenken. Ich habe meinen Sohn all die Jahre sehr in Anspruch genommen. Er musste mich viel unterstützen und mir unzählige Male vom Boden aufhelfen. Er musste als junger Mensch schon immer sehr zuverlässig sein und mir immer sagen, wohin er geht und wann er wieder kommt. Vielleicht benötigt er jetzt einfach eine gewisse Zeit und den Abstand für sich. Er weiß ja, dass ich hier gut betreut werde. Hin und wieder telefoniere ich mit ihm. Was mir immer sehr gut tut! Wenn er mir z.B. solche Dinge erzählt, wie dass er bald in Urlaub geht, dann kann ich an seinem Leben teilhaben. Das macht mich glücklich! Mein Sohn ist mir sehr wichtig, aber ich habe auch viele Bekannte und Freunde, die für mich da sind und die mich ablenken. Jedoch muss ich auch daran arbeiten, dass ich und mein Körper das Wichtigste sind. In unserer Abteilung für junge Schwerbehinderte wird sehr darauf geachtet, dass man nicht bettlägerig wird. Durch meine Mitbewohner, die auch alle MS haben, habe ich aber die Verschlechterung der „Krankheit der 1000 Gesichter“ immer vor Augen und die Angst davor ist dauerhaft präsent. Annerose Klingmann 21 Interviews mit Bewohnern der Lebenshilfe „Ich bin auch bald alt. Ich habe schon graue Haare!“ Auch in der Esslinger Lebenshilfe leben mittlerweile viele ältere Menschen mit geistiger Behinderung. Viele von ihnen arbeiten in Werkstätten für behinderte Menschen. Mit dem Austritt aus der Arbeit und dem Eintritt in den Ruhestand entfällt auch für sie die gewohnte Struktur und ein bedeutender Inhalt ihres Lebens. In ihr fanden sie meist Bestätigung, Anerkennung, Struktur, Halt und soziale Kontakte. Damit der Verlust nicht allzu gravierend ausfällt, muss diesem im Vorfeld und in der folgenden tagesstrukturienden Maßnahme der Tagesbetreuung entgegen gewirkt werden. rend hinzu, dass in den meisten Fällen auch keine Kinder vorhanden sind und zu Geschwistern nur noch sporadischer Kontakt besteht. Um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten bzw. neue zu knüpfen, benötigen sie hierbei Unterstützung durch Mitarbeiter, Freunde, Angehörige oder Bürgerschaftlich Engagierte. Um einen kleinen Einblick in das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung zu bekommen, habe ich das Wohnheim der Lebenshilfe Esslingen in der Palmstrasse besucht. Hier leben zurzeit insgesamt 24 erwachsene Personen auf drei Wohngruppen verteilt. Jede Wohngruppe be- An den wenigsten Menschen, auch Menschen ohne Behinderung, geht dies reibungslos vorbei. Auch sie müssen versuchen, den durch den Wegfall der Arbeit, nun fehlenden Lebensinhalt zu füllen. Sie müssen ihre Freizeitgestaltung organisieren, bereits bestehende Hobbys intensivieren oder neue Freizeitgestaltung finden. Es gibt viele ältere Menschen, deren einziger sozialer Kontakt der zu den Arbeitskollegen war. Fällt auch dieser noch weg, so ist eine Vereinsamung schnell die Folge. Die Sozialen Kontakte zu den Arbeitskollegen, Angehörigen, Freunden müssen weiter gepflegt bzw. neue Kontakte erschlossen werden. Auch alten Menschen ohne Behinderung fällt dies oftmals schwer. Bei vielen Menschen mit einer geistigen Behinderung sind oftmals die Eltern bereits verstorben oder selbst pflegebedürftig. Hier kommt noch erschwe- 22 Sichtweisen 10/2009 steht aus acht Einzelzimmern, einem großem Wohnzimmer und großer Küche mit Eßbereich. Jeweils zwei Bewohner teilen sich ein Bad, welches an ihr Zimmer grenzt. Sowohl die drei Terrassen wie auch der Hinterhof werden bei schönem Wetter häufig genutzt. Brigitte Fricker Im Untergeschoss befindet sich seit 2001 die Tagesbetreuung für Senioren. Es haben sich 4 Bewohner bereit erklärt, auf meine Fragen Rede und Antwort zu stehen, so dass wir kleine Steckbriefe erstellen konnten. Wir erfahren ein wenig aus ihrem Leben, ihrer Arbeit, zu Ihren Hobbys und ihren Freunden. Mit 46 Jahren bezog sie 1992, als eine der ersten Bewohnerinnen, die Palmstrasse. ist 62 Jahre alt und zog mit 32 Jahren ins Karl-Reiz-Haus der Lebenshilfe. Wo arbeiten Sie? Ich arbeite in der Neckartalwerkstatt in Stuttgart-Hedelfingen. Was arbeiten Sie dort gerade? Wir arbeiten gerade mit Schläuchen. Die Schläuche sind in Tüten verpackt und da müssen wir Zettel, zwei Knüppel und noch eine Tüte Schrauben hinzufügen. Wie verstehen Sie sich mit den Kollegen? Haben Sie auch außerhalb ihrer Arbeit Kontakt zu ihnen? Ich verstehe mich gut mit ihnen. Wir treffen uns dann auch immer in der Pause oder beim Mittagessen in der Kantine. Wenn man ein gewisses Alter erreicht, muss man ja nicht mehr arbeiten gehen. Wissen Sie wie alt man da sein muss? Ja, 65 Jahre alt. Das dauert bei Ihnen ja nicht mehr allzu lange. Freuen Sie sich darauf? Ja Warum? Ich habe lange gearbeitet. Haben Sie dann schon eine Idee wie Sie ihren Tag verbringen wollen? Dann werde ich auch wie die anderen in die Tagesbetreuung gehen. Dann haben Sie ja auch noch mehr Zeit für ihre Hobbys. Was machen Sie denn gerne? Stricken und Häkeln und ich interessiere mich für Fußball. Ich bin ein großer VFB-Fan. Gibt es irgendwelche Tätigkeiten auf ihrer Gruppe die Sie besonders gern machen? Ja. In der Küche mithelfen. Sichtweisen 10/2009 23 Haben Sie noch regelmäßigen Kontakt zu ihren Angehörigen oder Freunden, außerhalb der Wohngruppe? Ja zu meinen Eltern. Zu denen gehe ich noch oft heim. Ich fahre dann ganz alleine mit dem Bus in die Stadt. Peter Schanbacher ist 1988 in die Außenwohngruppe der Lebenshilfe in der Schorndorferstrasse gezogen und lebt nun seit 2000 in der Palmstrasse. Wie alt sind Sie? Ich bin 66 Jahre alt. Und Sie wohnen auch in der Palmstrasse? Ja unter dem Dach. Aber ich habe zu Hause auch noch ein Haus. Wenn Sie 66 Jahre alt sind, dann sind Sie ja schon seit einem Jahr in Rente? Nein, ich bin schon seit zwei Jahren in Rente Wo haben Sie gearbeitet? In der Neckartalwerkstatt in Stuttgart Hedelfingen. Was für Aufgaben hatten Sie dort? Ich habe Schrauben gemacht, Schläuche verpackt und andere Sachen. Hat Ihnen die Arbeit Spaß gemacht? Ja Und fehlt sie Ihnen jetzt? Nein! Ich gehe immer noch mittwochs zum Arbeiten hin und verpacke dann Schrauben. Aus welchem Grund gehen Sie noch mittwochs dort hin? Ich hol mittwochs immer meine Freundin von dort ab. Und meine Mitarbeiter sehe ich dann auch immer und ein bisschen arbeiten kann ich ja noch. Und wenn Sie frei haben, wie verbringen Sie dann ihren Tag? 24 Wenn das Wetter schön ist, dann gehe ich Fahrradfahren oder gehe runter in die Stadt. Ich fahre dann alleine mit dem Bus. Ansonsten bin ich in der Tagesbetreuung. Und was machen Sie in der Tagesbetreuung? Ich spiele Melodica oder Klavier. Ich habe das in der Schule gelernt. Beim Tischdecken helfe ich auch. Und wenn Sie keine Lust auf Tagesbetreuung haben. Ist es Ihnen dann auch möglich, nicht hin zu gehen? Ja, das geht, ich muss mich halt abmelden. Und was machen Sie noch gerne? Ich gehe sonntags immer in Hohenkreuz in die Kirche zum Gottesdienst. Manchmal geh ich auch auf den Friedhof zu meiner Mama oder ich sitz auf dem Balkon und rauche meine Pfeife. Auch meine Freundin Inge besuche ich oft oder sie kommt zu mir. Jetzt wo Sie nicht mehr arbeiten müssen haben Sie ja viel Zeit. Gibt es da irgendwas besonderes was Sie gerne machen wollen oder wo Sie gerne hinfahren wollen? Ja, bei schönem Wetter kann man auf die Alb fahren oder ins Kino. Ich geh manchmal auch ins Dick runter, zum Bier trinken. Jürgen Kott lebt seit 2006 in der Palmstrasse. Wie alt sind Sie? Ich bin 54 Jahre alt. Und wo arbeiten Sie? In Zell in der Werkstatt Was für Arbeiten müssen Sie da zurzeit machen? Ich tüte Schrauben ein. Sie sind ja einer von den ersten der morgens das Haus verlässt, um mit dem Fahrdienst pünktlich in die Werkstatt zu kommen. Wenn Sie dann mal nicht mehr arbeiten gehen müssen, können Sie ja dann z.B. länger schlafen. Freuen Sie sich darauf, Sichtweisen 10/2009 nicht mehr arbeiten gehen zu müssen? Ja, Ja! Und glauben Sie, dass Sie die Arbeit vermissen werden? Nein! Nein, die vermiss ich nicht. Und was machen Sie dann? Dann bleib ich hier in der Tagesbetreuung oder oben in der Wohnung. Haben Sie Hobbys, die sie gerne machen? Immer samstags gehe ich zum Club82 nach Denkendorf. Da bin ich Mitglied und gehe schon lange hin. Da machen wir verschiedene Sachen, Ausflüge und manchmal Sport. Ich schaue auch gerne fern mit meinen Mitbewohnern oder gehe gern ins Kino. Vor kurzem waren wir erst im Kino. Helfen Sie gerne auf der Wohngruppe mit? Ja, ich koche und backe gerne. Haben Sie noch Kontakt zu Angehörigen oder Freunden außerhalb der Wohngruppe? Ich habe noch einen Bruder, der in Freiberg bei Stuttgart lebt. Der kommt ab und zu hier her. Zum Geburtstag und ab und zu auch so. Manchmal schreibe ich auch Karten an ihn, wenn ich z.B. im Urlaub bin. Letztens war ich in Heilbronn. Elke Wörz zog 1984 ins Karl-Reiz-Haus und lebt seit 1992 in der Palmstrasse. Wie alt sind Sie? 45 Jahre alt Wo arbeiten Sie? In Hedelfingen in der Neckartalwerkstatt Welche Aufgaben müssen Sie dort zurzeit machen? Ich schneide gerade Schläuche. Wie kommen Sie mit ihren Kollegen zurecht? Und haben Sie da jemanden mit dem Sie sich besonders gut verstehen? Klappt gut. Ja, mein Manne, das ist mein Sichtweisen 10/2009 Freund. Der wohnt im Haus Elizabeth. Wenn Sie mit 65 Jahren nicht mehr arbeiten gehen müssen, was machen Sie dann? Ich weiß auch nicht. Hier in der Palmstrasse gibt es ja schon einige die nicht mehr arbeiten gehen müssen. Was machen die? Die gehen in die Tagesbetreuung. Da geh ich dann auch hin. Wissen Sie was man in der Tagesbetreuung macht? Ja, wir basteln, kochen, singen oder spielen. Wenn Sie dann nicht mehr in die Werkstatt müssen, glauben Sie dass Sie die Arbeit, Kollegen und Mitarbeiter vermissen werden? Net immer, manchmal bin ich schon müde. Was machen Sie gern, wenn Sie frei haben? Tisch-Deckelchen häkeln und fernsehen, z.B. die Sportschau. Wir waren auch schon im Fußballstadion. Dort müssen alle laut schreien, dass der VFB gewinnt! Bei der Theatergruppe bin ich auch dabei. Ich tanze auch gerne, aber ins Ake zum tanzen gehen wir nicht mehr, jetzt tanzen wir einmal die Woche hier. Helfen Sie gerne auf der Gruppe mit und wenn ja, was? Bett machen, Küchendienst, Vesper richten. Das mache ich alles alleine. Patricia und ich machen den Küchendienst für den Heinz, der kann das nicht mehr, weil es ihm nicht gut geht, der ist alt. Bei manchen Menschen, die alt werden, ist es so, dass sie manche Sachen nicht mehr so gut können oder alles etwas langsamer geht, dann muss man demjenigen helfen oder ihm mehr Zeit lassen. Ja. Mein Papa ist auch alt gewesen und ist gestorben. Die Mama ist jetzt alleine, das geht doch nicht! Der Mama geht es auch nicht so gut. Sie ist auch schon alt. Und wenn die Mama stirbt, hab ich keinen mehr. Ich bin auch bald alt. Ich habe schon graue Haare. Papa war auch alt und hatte graue Haare. Die Interviews wurden geführt durch Kerstin Junginger 25 Hans Egbert Baldszus: Landmarken auf unsicherem Grund – Bekenntnisse „Als psychisch Kranker machst du doch keine Karriere“ Ich bin in eine schlimme Zeit hineingeboren, das war in Ostpreußen im Jahr 1939. Mit dem deutschen Überfall auf Polen hatte eben der zweite Weltkrieg begonnen. Wir, das war die Mutter mit vier Kindern. An meinen Vater kann ich mich nicht mehr erinnern, ich kenne ihn nur von Bildern. Er kam wohl in den Heimaturlaub von der Front, zurückgekehrt ist er dann nicht mehr. Die Mutter hat später nicht mehr geheiratet. Dann kamen die chaotischen Jahre der Flucht vor der Roten Armee in den Westen, die schließlich in Esslingen endete. Diese Jahre, die wir heute als schlimm und lebensbedrohlich kennen, waren für uns Kinder spannend und abenteuerlich; jedenfalls blieben wir am Leben. Durch die Schule bin ich gut durchgekommen. Das Lernen fiel mir damals nicht schwer. Naturwissenschaften waren meine Stärke. Da lag es nahe, nach dem Abitur Physik zu studieren. Als Studienort entschied ich mich für Frankfurt am Main. Aus dieser Zeit erinnere ich mich an erste psychische Zusammenbrüche mit Krankenhausaufenthalten. Ich lief oft verwirrt, von großer Unruhe angetrieben und ganz abgerissen in der Stadt herum. Da brachte ich auch nicht mehr die Konzentration auf, das Studium in den gesundheitlich besseren Phasen zu beenden. Später habe ich verschiedene Jobs gehabt; längere Zeit hielt ich es bei der damaligen Deutschen Bundespost aus. Immer wieder habe ich mich gefragt, ob ich doch noch etwas Vernünftiges hätte lernen sollen, nachdem die schlimmste Zeit meiner Erkrankung vorüber war. Aber Arbeit gab es damals immer, so dass ich lieber Geld verdienen ging, ohne über den Tag hinaus zu planen. 26 „Als psychisch Kranker machst du was mit“ Ich bin froh, dass es mir schon lange ganz gut geht, und dass ich seit bald 40 Jahren psychiatrische Kliniken nur noch als Besucher sehe. Schlimm waren meine Jahre zwischen 20 und 30. Es war wie eine doppelte Folter, da war meine Zerrüttung im Innern und von außen die Härte, mit der darauf reagiert wurde. Also ich meine die Überwältigung durch die Männer in weiß, die Sanitäter, wenn ich unruhig war und dann im Krankenhaus die Isolierung und das festgebunden werden. Die Medikamente wirkten früher wie Keulenschläge, wurde doch gleich mal eine große Dosis angesetzt, um die Patienten matt zu setzen. Nachdem ich mich dann ein wenig von den akuten Krisen erholt hatte, konnte ich mich mit dem Leben in den Anstalten ganz gut arrangieren. Ich erinnere mich noch lebhaft an den Kehrtrupp und die Gärtnerei in Zwiefalten, wo ich zur Arbeit eingeteilt war. Zur Belohnung gab es in den sechziger Jahren in der Woche ein Päckchen Zigaretten. Ich bin ein guter Esser, und damals wurden die Mahlzeiten auf den Stationen noch aus großen Kesseln geschöpft und nicht vorportioniert angeliefert, wie das heute oft der Fall ist. Ich will damit sagen, dass ich mir wenigstens in diesen Häusern den Magen vollschlagen konnte. Beinahe hätte ich mich daran gewöhnt und wäre in Zwiefalten als sogenannter Langzeitpatient hängen geblieben. Man hat mich dann doch eines Tages hinauskomplimentiert. Mit den wenig tröstlichen Abschiedsworten, dass das Leben zwar grausam sei, aber ich sollte es doch draußen probieren, ging diese Zeit zu Ende. Mir ist es gelungen, seither in Esslingen weitgehend stabil zu bleiben. Psychopharmaka nehme ich nun schon bald 50 Jahre und ich bin überzeugt davon, dass es mir damit besser geht, als wenn ich die Medikamente weglassen würde. Natürlich ging das nicht alles spurlos an mir vorbei. Mein Weg durch die Psychiatrie hat auch dazu geführt, dass ich meiner Geschäftsfähigkeit beraubt wurde, also ich unterstand einer Pflegschaft, wie das damals hieß. Heute ist das die gesetzliche Betreuung. Ich danke es Hermann Schwarz, dass er mir geholfen hat, meine Bürgerrechte wieder zu erlangen, indem er dafür sorgte, die Pflegschaft aufzuheben. Überhaupt danken Sichtweisen 10/2009 wir Hermann Schwarz in Esslingen viel, der als Sozialarbeiter in Heime und Krankenhäuser fuhr, um Menschen aus Esslingen zu suchen, die man dort verwahrte. Die Anfänge der Gemeindepsychiatrie gehen auf ihn zurück. Also mir ist es in den letzten Jahren gut gegangen und ich habe viel Schönes erlebt. „Reicher könnte ich auch sein“ Wenn man so in eine unruhige Existenz hineingeworfen ist, dann ist es schwer zu planen und sich vorzustellen, was in Zukunft sein wird und wie man das am besten angehen könnte. Das verdiente Geld ist schnell wieder draußen gewesen. Ich habe schöne Reisen gemacht und andere Freuden nicht verachtet. Lange ging das mit dem Arbeiten auch nicht gut. Als ich 50 war, hat man mich in Rente geschickt. In diesem Zusammenhang hatte ich sogar gegen das damalige Arbeitsamt beim Sozialgericht ein Verfahren gewonnen. Aus der Eigentumswohnung oder dem Reihenhäusle auf dem Zollberg, wo sich viele Vertriebene niedergelassen haben, ist also bei mir nichts geworden. Aber bei der Baugenossenschaft wohne ich auch gut. Die Familiengründung ist auch so eine Sache, wofür man ein gewisses Maß an Zukunftsfestigkeit braucht. Davor habe ich zurückgeschreckt, war ich mir doch nicht sicher, erneut krank zu werden. Chancen hätte ich wohl gehabt, aber dann Kinder in die Welt setzen, denen ich als psychisch kranker Vater vielleicht nicht gerecht geworden wäre. Diesem Risiko wollte ich mich nicht aussetzen. Ich habe das Gefühl gehabt, von diesen Träumen Abstand nehmen und auf dem Boden meiner Realität bleiben zu müssen. Jetzt macht mich das Wissen ein wenig traurig, dass mir niemand nachfolgt. „Ich kann nicht glauben, dass bald alles aus sein soll“ Ich lese viel in philosophischen Büchern und auch in der Bibel. Von meinem protestantischen Glauben bin ich nicht abgefallen, wenn ich auch vieles in der Religion nicht ganz wörtlich nehmen kann. Dass mit meinem Tod alles aus sein soll, kann ich nicht annehmen, ob vielleicht doch etwas Sichtweisen 10/2009 Geistiges bleibt? Manchmal frage ich mich auch, wie das nach dem irdischen Jammertal verheißene Paradies aussehen soll. Ich kann mir davon kein rechtes Bild machen. Das mit dem Jammertal empfinde ich besonders schmerzlich, wenn Freunde oder Bekannte sterben. Besonders wühlt es mich auf, wenn sich jemand aus meinem Umkreis selbst tötet. Während der ganzen Jahre, da ich an den Menschen in der Gemeindepsychiatrie Anteil nehme, musste ich schon oft hinter einem Sarg hergehen. Ich versuche dann, mich moralisch wieder aufzurichten, wobei mir die Freunde und die Mitarbeiter der Gemeindepsychiatrie wichtige Gesprächspartner sind. „Zu guter letzt“ Es ist schon einige Jahre her, da musste ich für einige Zeit in der Wohnung bleiben, Fuß verstaucht, glaube ich. Es dauerte nicht lange, bis eine „Suchaktion“ gestartet wurde. Man fand mich dann schnell zu Hause und alles war in Ordnung. Die Sorge war unbegründet, mir wäre schlimmeres geschehen. Über die vielen Kontakte in der Gemeindepsychiatrie bin ich sehr froh. Da habe ich Menschen gefunden, mit denen ich mich schon viele Jahre verbunden fühle. Ein paar Mal in der Woche gehe ich ins ZAK, der Esslinger Tagesstätte zum Schraubendrehen, wofür ich einen kleinen Lohn bekomme. Der ist mir ein willkommenes Zubrot. Dann spielen wir auch Schach und zur Tasse Kaffee kommt bei mir die obligatorische Zigarette. Ein Laster muss man haben, sage ich mir, und der Internist auf dem Zollberg hat noch nichts Kritisches gefunden. Ich weiß, damit soll man nicht spaßen, denn das kann schon morgen anders sein. Das Rauchen also, das werde ich mir wohl nicht mehr abgewöhnen. Ich lade auch gerne Freunde in meine Wohnung ein; wir essen dann meist eine Kleinigkeit und schauen uns Filme an. Jetzt im Alter von 68 fühle ich mich noch ganz rüstig, wenn es einmal nicht mehr so gut laufen sollte, dann – so haben mir die Sozialarbeiter versprochen – könnte mich der psychiatrische Pflegedienst daheim unterstützen. Ich halte mir auch ganz nüchtern vor Augen, einmal in ein Altenheim zu ziehen, wenn es selbstständig in der Wohnung gar nicht mehr geht. Aber daran 27 Hans Egbert Baldszus: Landmarken auf unsicherem Grund – Bekenntnisse brauche ich jetzt hoffentlich noch nicht zu denken. Wenn wir im Freundeskreis zusammensitzen und uns wieder mal Geschichten von früher erzählen, dann sage ich gerne so als zusammenfassende Erfahrung, dass mir das Lachen auch schon vergangen ist. Aber dann dauert es gewiss nicht sehr lange, bis meine innere Fröhlichkeit wieder durchkommt und mich ein Lachen schüttelt. Das ist dann ein Lachen dessen, der Bescheid weiß, was man schweres erleben kann. Dieses Lachen wird manchmal von einer klammheimlichen Freude beflügelt, wenn die Medien melden, dass einer von den Schönen und Reichen ins Straucheln gekommen ist. Aber das ist nur ein kurzer Moment, der schnell verfliegt. Sicher hat es niemand, sage ich dann und man muss mit den Gegebenheiten fertig werden, ohne mit dem Schicksal zu hadern. Ich denke oft an berühmte Persönlichkeiten, mit deren Werken ich in Berührung gekommen bin und denen ein Krankheitsschicksal auferlegt war. 28 Erst vor kurzem habe ich beispielsweise erfahren, dass der Gründer der deutschen Kulturwissenschaften, der Hamburger Bankierssohn Aby Warburg, schwer erkrankt war. Mit diesen großen Leuten vergleiche ich mich natürlich nicht. Aber ich erkenne etwas allgemeingültiges, das zur menschlichen Existenz gehört – und meine Ärzte haben mir es oft bestätigt – psychische Erkrankungen kommen auf der ganzen Welt vor und auch aus geschichtlicher Zeit sind sie bekannt. Mit diesem Wissen gelingt es mir besser, mein eigenes Leben anzunehmen. Der Seismograph meiner Nervosität schlägt jetzt im Alter schwächer aus. Da bleibt mir mehr geistige Kraft für das Interesse und die Anteilnahme an den Menschen und der Welt um mich. Daran möchte ich mich noch einige Jahre erfreuen. Dieser Text entstand in Zusammenarbeit mit Manfred Tretter von der „Sichtweisen“-Redaktion Sichtweisen 10/2009 Interview mit Dr. Roser Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Im Landkreis Esslingen gibt es 2 Psychiatrien, die auch für ältere Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose zuständig sind. Eine davon ist die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Kirchheim-Nürtingen. Sie ist für die stationäre Vollversorgung der Räume Kirchheim, Nürtingen und für das Fildergebiet zuständig. Aufnahmen aus Esslingen, dem Raum Plochingen und von außerhalb finden im Rahmen freier Kapazitäten statt. Unter anderem verfügt sie auch über ein Gerontopsychiatrisches Zentrum mit einer Tagesklinik für ältere Menschen. Herr Dr. med. Martin Roser erklärt sich bereit für die Sichtweisen zum Thema „Älter werden mit Behinderung“ Rede und Antwort zu stehen. Er ist seit 1. März 2007 neuer Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Klinikums Kirchheim-Nürtingen und damit Nachfolger von Dr. Andreas Schlingensiepen, der Ende Februar 2007 in Ruhestand ging. Erzählen Sie doch ein wenig aus ihrem persönlichen Leben. Das interessiert unsere Leser natürlich auch deshalb, weil Sie noch relativ neu als Arzt beim Landkreis Esslingen arbeiten. Sie sind jetzt 46 Jahre alt und so etwa in der Mitte ihres beruflichen Lebens. Dass ich Arzt werden wollte, wusste ich schon ziemlich früh, so mit 15/16. Mein Vater war zu der Zeit schwer erkrankt, und ich war damals sehr beeindruckt, wie ihm die Medizin helfen konnte. Als ich dann Abitur machte, war mir klar, dass Psychiater oder Kinderarzt für mich in Frage kommen. Ich war dann als Zivildienstleistender in Sichtweisen 10/2009 der Kinderklinik und merkte, dass mir die Erkrankungen und die Schicksale der Kinder zu nahe gingen. Es ist mir schwer gefallen, die nötige Distanz, die man im Arztberuf braucht, einzuhalten. Der Weg zum Psychiater lag für mich auch deshalb sehr nahe, weil ich schon als junger Mensch viel in dieser Richtung gelesen hatte, Freud natürlich und die anderen Psychoanalytiker. Auch die Gehirnforschung hat mich sehr angezogen. Überhaupt haben mich die Grundfragen des menschlichen Seins schon früh in ihren Bann geschlagen. Und wie verlief dann Ihr weiterer beruflicher Weg? Ich war zuletzt ärztlicher Direktor in der Klinik Nordschwarzwald in Calw-Hirsau. Dort war ich für das gesamte Haus mit 400 Behandlungsplätzen zuständig und gleichzeitig leitete ich die Gerontopsychiatrie. Wie kamen Sie dann nach Nürtingen? Mich hat bei meiner Bewerbung besonders gereizt, an einem Haus arbeiten zu können, das sehr eng mit den Einrichtungen und Diensten für psychisch erkrankte Menschen im Landkreis verbunden ist. Das ist für die Menschen, die zu uns kommen, besonders wichtig. Betrachtet man die Lebensläufe unserer Patienten, dann sehen wir, dass die Behandlung im Krankenhaus sehr kurz ist, im Durchschnitt gerade mal einen Monat. Der Normalfall ist also das Leben in den Gemeinden und dort verfügt der Landkreis Esslingen über ein sehr dichtes Netz an Hilfsangeboten. Nürtingen teilt sich, wie sie wissen, die psychiatrische Versorgung mit Plochingen, so dass es meist kurze Wege für Angehörige und die Dienste gibt, den Kontakt zu Patienten aufrecht zu erhalten. Das war in Calw schwieriger, denn die Klinik dort hat ein viel größeres Einzugsgebiet und versorgt eine Million Einwohner. Unser Heft legt den Schwerpunkt dieses Jahr auf behinderte Menschen, die älter werden. Das ist natürlich auch ein Thema für Sie in der Klinik. Welche Bedingungen finden ältere Patienten vor, die bei Ihnen behandelt werden? 29 Interview mit Dr. Roser Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie In diesem Zusammenhang muss ich etwas über unsere Struktur sagen. Große psychiatrische Krankenhäuser gliedern sich intern nach den Krankheitsbildern; das nennt man Spezialisierung. Hier in Nürtingen hat man eine andere Entscheidung getroffen. Wir sagen dazu im Fachjargon Sektorisierung, d. h. wir haben Stationen, die nach der Herkunft der Patienten eingeteilt sind. Wir wollen damit künstliche Situationen vermeiden und den gesellschaftlichen Alltag abbilden, wo auch ganz unterschiedliche Menschen aufeinander treffen oder zusammenleben. Alle Altersgruppen und Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen werden auf einer Station behandelt. Sektorisierung bedeutet also den Bezug auf den Wohnort, von wo die Patienten kommen. Wenn man erneut ins Krankenhaus kommt, sollte man auf das gleiche Personal treffen, das man von früheren Aufenthalten kennt. Die meist entspannte Atmosphäre auf den Stationen ist ein positiver Effekt der persönlichen Bindungen zwischen Personal und Patienten. Die Türen sind im Jahresdurchschnitt zu 80 % offen. Um zum Thema der alten Menschen zu kommen, bei uns gelangen auch die älteren Patienten auf die für ihren Wohnort zuständige Station, nicht auf eine Spezialabteilung. Für uns ist die Nähe zu den örtlichen Hilfsangeboten und deren Mitarbeitern wichtig und natürlich geht es auch um die Einbeziehung der Familien in die Behandlung. Zu diesem Arbeitsprinzip gibt es auch kritische Stimmen: ein Durcheinander auf den gemischten Stationen, die unterschiedlichen Ansprüche der Patientengruppen usw. Aber in einem kleinen Haus ist die Organisation kaum anders zu machen und wie ich schon sagte, wir leben vom Austausch mit der Welt um uns. Mit welchen Problemen kommen die alten Menschen zu Ihnen? Ganz allgemein kann man sagen, Krankheit bedeutet immer einen Verlust von Freiheitsgraden. Das wirkt sich bei den einzelnen Erkrankungen unterschiedlich aus. Die beiden größten Gruppen von Erkrankungen bei alten Menschen sind Depressionen und dementielle Erkrankungen. Im Mittelpunkt unserer Überlegungen steht immer der einzelne Mensch und die Frage, was in seiner 30 besonderen Situation helfen könnte. Noch ehe eine vollstationäre Aufnahme erfolgen muss, gibt es im Vorfeld eine sehr gute Behandlungsmöglichkeit, das ist die gerontopsychiatrische Tagesklinik, die wir in Nürtingen haben; sie wird sehr gut angenommen. Es besteht ein eigener Fahrdienst, der morgens und nachmittags die Patienten fährt. Die Menschen bleiben mit ihrem Lebensumfeld in Kontakt und können ihren Verpflichtungen zu Hause so weit wie möglich nachkommen. Dieses Angebot ist in Zukunft bestimmt ausbaufähig und soll natürlich auch mit an unseren neuen Standort in Kirchheim umziehen. Was muss man in der therapeutischen Begegnung mit alten Menschen besonders beachten? Ja, da gibt es Besonderheiten. Man muss viel Geduld haben. Man muss auf Veränderungen der Befindlichkeit achten und natürlich muss die Therapie den Bedingungen der älteren Menschen gerecht werden. Beispiele dafür, was in der Therapie zur Sprache kommt, sind die Grundsatzfragen ans Leben, Sinnfragen, Ängste vor dem Tod, Auseinandersetzungen mit Kindern, ungelebte Wünsche, frühere Lebenskrisen usw. Um psychotherapeutisch mit älteren Menschen arbeiten zu können, muss man sich speziell weiterbilden. Wir haben im Haus ein Programm, das nahezu wöchentlich stattfindet. Dabei geht es natürlich auch um die Themen, über die wir gerade sprechen. Die Ärzte durchlaufen auf dem Weg zum Facharzt eine mehrjährige psychotherapeutische Ausbildung. Auch für das Pflegepersonal gibt es einen Weiterbildungsgang im Fach Psychiatrie in Tübingen. Wir beschäftigen in der Gerontopsychiatrie auch Altenpfleger, denn auch das ist eine sinnvolle Qualifikation für uns. Wie sieht es mit der Medikamentenbehandlung bei älteren Menschen aus? Die körperlichen Abläufe sind bei älteren Menschen verändert. Der Stoffwechsel läuft langsamer. Man muss generell viel vorsichtiger dosieren, z.B. die Hälfte oder ein Drittel gegenüber einer jüngeren Person. Man muss EKG und Laborkontrollen machen und auch mit Dosissteigerungen Sichtweisen 10/2009 sehr vorsichtig umgehen. Es kommt hinzu, dass ältere Menschen häufig eine Reihe internistischer Medikamente verordnet bekommen. Da muss man Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Präparaten beachten. Wir Ärzte sagen, dass man für jedes Lebensjahrzehnt im Alter ein Medikament ansammelt. Da muss man schon gut aufpassen und abwägen, was für den Menschen im Vordergrund steht. Natürlich haben wir das Ziel, möglichst wenig Medikamente zu geben. Auch die Nebenwirkungen der Psychopharmaka können bei alten Menschen stärker zur Geltung kommen. Kommen Psychosen im Alter vor? Psychosen im klassischen Sinne sind im Alter selten. Es sind meistens begleitende Symptome oder Vorposten einer beginnenden Demenz. Es kann zu Wahnbildungen kommen, z.B. bestohlen, bestrahlt oder vergiftet zu werden, auch optische Halluzinationen kommen vor. Das sind dann aber oft Symptome, die zur Demenz in Beziehung stehen. Mit dem älter werden der Menschen kommen auf die Psychiatrie neue Herausforderungen zu, woran denken Sie in diesem Zusammenhang besonders? Ja, das liegt auf der Hand, da die Demenzerkrankungen mit steigendem Alter stark zunehmen. Die wissenschaftlichen Prognosen sind bei der Frage uneinheitlich, wie die Gesellschaft auf dieses Problem reagieren wird. Einige Szenarien gehen von gewaltigen Belastungen aus, denen man nicht gewachsen sein wird, andere wiederum sehen die kommenden Herausforderungen auch als Chance an, dass Medizin und Politik positive Antworten finden werden. Schon heute besteht die Tendenz zur Vereinzelung und ich sehe viele Leute, die zu uns kommen, allein alt werden. Da braucht man in Zukunft Wohnmodelle, die von alten Menschen akzeptiert werden. Einen Umzug ins Heim möchten viele Menschen möglichst lange aufschieben. Man muss respektieren, dass die allermeisten alten Menschen in ihrer Wohnung bleiben wollen, wenn das eben auch zur Folge hat, dass Vereinzelungstendenzen weiter zuneh- Sichtweisen 10/2009 men werden. Können Sie bei der sozialen Integration den älteren Menschen helfen? Die Übersichtlichkeit unserer Klinik und die Kleinräumigkeit der Region schaffen da schon Möglichkeiten. Wenn man sich beispielsweise in der Klinik getroffen hat, kann man Kontakte weiter pflegen. Der Sozialpsychiatrische Dienst für Alte Menschen (SOFA) hat dabei auch eine wichtige Aufgabe. Er kann Menschen zu Hause aufsuchen und die sozialen Netze unterstützen. Die Behandlung in der Klinik soll die Menschen in die Lage versetzen, wieder selbst mehr Möglichkeiten wahrnehmen zu können. Wir haben in der Klinik z. B. die Gesprächsgruppe für alte Menschen, es gibt Gedächtnistraining und andere Angebote. Wie beurteilen Sie die Möglichkeiten der Behandlung also das, was man erreichen kann? Man muss da sehr genau die Ressourcen der Einzelnen sehen. Wir haben auch die Haltung von fordern und fördern. Geht man immer nur von Einschränkungen und von Hilfsbedürftigkeit der Patienten aus, dann kann das dazu führen, dass sie in ihren eigenen Aktivitäten nachlassen und sich verschlechtern. Man muss auch die bisherige Lebenssituation sehen, an die die Menschen gewöhnt sind. Da gibt es langjährige Prägungen des Lebensstils, die ganz große Veränderungen nicht mehr erwarten lassen. Wir sind auch damit konfrontiert, dass unsere Arbeit an Grenzen stößt. Wir wollen den Menschen nichts aufdrängen, was sie nicht annehmen können oder wollen, auch wenn wir es für sinnvoll halten. Als wir dieses Interview im Mai führen, findet zeitgleich der deutsche Ärztetag in Ulm statt. Eine Frage an Sie, Herr Dr. Roser, die von dort herüberkommt. Können sie den Patienten noch das bieten, was für die Behandlung notwendig und von Forschungsstand her wünschenswert ist? Die Krankenhäuser müssen seit Jahren mit einem Budget leben, das kaum angepasst wurde, obwohl alle Kosten stark gestiegen sind. 31 Interview mit Dr. Roser Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Das hat dazu geführt, dass wir in den letzten 15 Jahren einen erheblichen Personalabbau hinnehmen mussten. Wir haben natürlich viele Abläufe rationalisiert. Aber das geht hier in der Psychiatrie nur begrenzt, denn wir brauchen ja keine teuren Apparate. Bei uns geht es um leibhaftige Menschen, Mitarbeiter, die mit den Patienten in einen therapeutischen Dialog treten. Die Versorgung ist auf dem Weg in die Rationierung; auf die Dauer ist das nicht vermeidbar. Wir haben z. B. einen erheblichen Nachwuchsmangel bei Ärzten. Ich habe das Glück, dass hier in Nürtingen alle Stellen besetzt sind. Das Arbeiten hier ist attraktiv und ebenso das Umfeld. Aber der Ärztemangel ist ein genereller Trend, den wir auch hier in Südwestdeutschland zu spüren bekommen werden. Was jetzt schon an Rationierung spürbar wurde, das wird von den Beschäftigten im Gesundheitswesen aufgefangen, die Überstunden machen und deren Arbeitsabläufe intensiviert wurden. Viele Mitarbeiter sind daher an ihrer Belastungsgrenze. Im Grunde ist das deutsche Gesundheitswesen nicht schlecht. Aber es muss Konsens in der Gesellschaft sein, dass wir dafür auch entsprechend Geld aufbringen wollen. Wenn, wie man gerne sagt, Gesundheit das höchste Gut ist, dann muss einem das auch etwas wert sein. Wir stehen im internationalen Vergleich ganz gut da und wir sollten uns das Gesundheitswesen auch nicht Schlechtreden lassen. Das Gesundheitswesen ist doch auch ein großer Beschäftigungssektor mit vielen Arbeitsplätzen. Verändern sich auch die Patienten im Hinblick auf das, was sie vom Gesundheitswesen erwarten? Ja, das Arzt-Patient-Verhältnis ist heute nicht mehr so hierarchisch wie früher. Aber die Annahme des mündigen Patienten, der sich seine Behandlungsbausteine selbst zusammenstellt, ist eine Illusion. Die Patienten müssen das Wissen und die Erfahrung des Arztes anerkennen, der das Fach jahrelang studiert hat und in der Praxis steht. Man kann Behandlungsverfahren nicht einfach so vergleichen, wie man es beim Kauf eines Elektrogerätes oder eines Autos tut. Dass Patientenrechte gestärkt werden, finde ich richtig. Dass 32 man sich im Internet sehr gut über Gesundheitsfragen informieren kann, ist prima. Da hatten wir in der Medizin einen Nachholbedarf. Für die Psychiatrie hat das noch einen besonderen Akzent. Das, was wir tun müssen, ist nicht immer angenehm. Es geht immer um die Konfrontation mit schwierigen Lebensfragen in der Therapiesituation. Wenn eine Gefahr besteht, muss man eingreifen, wenn der Betroffene es im Moment nicht einsehen kann. Dass man sich unter diesen Voraussetzungen nach eigenem Geschmack Behandlungsleistungen einkauft, ist nicht sehr realistisch. Gerade in der Psychiatrie wird das nicht funktionieren. Patienten verfügen über wenig Geld, erkranken bereits im frühen Erwachsenenalter mit der Gefahr der Chronifizierung. Manche Patienten lassen bereits wegen 10 Euro Zuzahlung die Medikamente weg. Möchten Sie zum Schluss des Gespräches noch über Ihre aktuellen Nürtinger Erfahrungen berichten? Ich bin sehr gerne hier im Landkreis. Ich erlebe eine sehr produktive Zusammenarbeit mit den Gremien des Landkreises und der gemeindepsychiatrischen Versorgung. Ich habe hier eine lebendige Vielfalt vorgefunden. Aber ich bin durchaus besorgt, dass ein Rückbau der Angebote die Situation von Mitarbeitern und Patienten verschlechtern könnte. Wir müssen das Erreichte unbedingt erhalten und zum Teil brauchen wir noch einen Ausbau. In Planung befindet sich z. B. die Tagesklinik auf den Fildern. Wir ziehen mit der Klinik von Nürtingen nach Kirchheim in einen Neubau. Darauf freue ich mich schon sehr, denn die baulichen Verhältnisse hier an der Stuttgarter Straße entsprechen nicht mehr dem heutigen Stand. Wenn ich an die Zukunft denke, dann bin ich froh, dass ich vieles, was kommen wird, noch nicht weiß. Ich hoffe, dass man das solidarische Gesundheitswesen nicht aufgibt, sondern noch ausweitet. Wir bedanken uns für das Gespräch. Das Interview führten Kerstin Junginger und Manfred Tretter aus der „Sichtweisen“-Redaktion. Dieser Text entstand nach einer Digitalaufnahme des Gespräches. Sichtweisen 10/2009 Interview mit Klaus Dinter Älter werden im Hilfenetz der Gemeindepsychiatrie Klaus Dinter, Sprecher des Gemeindepsychiatrischen Verbundes Esslingen, berichtet über psychisch erkrankte Menschen, die älter werden. Hier folgt die Zusammenfassung eines Gespräches mit den „Sichtweisen“. Aus der Redaktion nahm Manfred Tretter teil. 1. Wege des Älterwerdens: Die Entwicklung des Älterwerdens verläuft individuell ganz verschieden. Es gibt psychisch erkrankte Menschen, die bis ins hohe Alter mobil bleiben und selbstständig leben können. Um diese Autonomie zu unterstützen, bestehen unterschiedliche Möglichkeiten z. B. Alltagsbegleitung durch den Sozialpsychiatrischen Dienst, Bereitstellung einer Haushaltshilfe, Hausbesuche durch den psychiatrischen Pflegedienst. Wenn diese Möglichkeiten nicht mehr ausreichen, kann schließlich eine Heimaufnahme in Frage kommen. 2. Krisenbewältigung bei älteren Menschen: Erkrankungsverläufe sind im Alter oft gemildert. Die Betroffenen können Krisenanzeichen aufgrund ihrer Erfahrung besser erkennen und darauf reagieren, z.B. zeitweise mehr Hilfe in Anspruch nehmen. Langjährige und tragfähige Beziehungen zu den gemeindepsychiatrischen Diensten erleichtern die Begleitung in Krisenzeiten. Netzwerke untereinander tragen wesentlich zur Stabilisierung der Lebensverhältnisse auch im Alter bei. Eine wichtige Plattform hierfür ist die Tagesstätte, in Esslingen das ZAK, Zentrum für Arbeit und Kommunikation. 3. Spezialangebote für ältere Menschen Für diejenigen Personen, die bereits über längere Zeit erkrankt sind und jetzt älter werden, ändern sich die Zuständigkeiten nicht. In der Beratung und bei den Gruppenangeboten besteht der Sichtweisen 10/2009 Raum dafür, Fragen des Älterwerdens aufzugreifen. Wer hingegen im Alter erkrankt, tritt mit dem Sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen (SOFA) in Kontakt. Dort gibt es auch ein spezielles Gruppenangebot. Psychisch erkrankte Menschen in Heimen erfahren dort oft nicht die nötige Ansprache und Anregung zum tätig werden, so dass über Spezialangebote nachgedacht werden müsste. 4. Besondere Wohnformen im Alter: Es gibt heute viele Projekte des gemeinschaftlichen Wohnens auch außerhalb des Hilfesystems für Behinderte. Es muss dabei persönliche Rückzugsräume und Möglichkeiten der Begegnung geben. Einzelzimmer sind heute Standard. Im Betreuten Wohnen fehlen noch Finanzierungsmöglichkeiten für höheren Bedarf an Hilfe im Alter. Auch in Heimen schafft man Gruppenbezogene Wohnsituationen, die den Kontakt fördern. 5. Gesundheitspolitische Aspekte: Auf Grund der steigenden Zahl älterer Menschen wird es zukünftig mehr Angebote der Gesundheitsvorsorge und der sinnvollen Lebensgestaltung geben. Ob davon auch psychisch erkrankte Menschen profitieren können, ist fraglich. Das liegt daran, dass privat finanzierte Leistungen zunehmen werden. Dabei sind psychisch erkrankte Menschen benachteiligt; sie erhalten doch häufig nur geringe Renten, weil es im Erwerbsleben größere Beschäftigungslücken gab. 6. Chancen des Älterwerdens: Wenn es gelingt, ein solidarisches Gesundheitswesen zu erhalten und auszubauen, können auch psychisch erkrankte Menschen die Chancen des Älterwerdens nutzen. Notwendig ist vor allem ein Ausbau ambulanter Pflegedienste. Im Behandlungssektor sind gerontopsychiatrische Tageskliniken sehr erfolgreich; sie fehlen noch weitgehend in der Region Esslingen. Die Organisation der Psychiatrie-Erfahrenen und der Angehörigen müssen mehr politisches Gewicht erlangen, damit die Interessen psychisch 33 erkrankter Menschen im Alter mehr Aufmerksamkeit erhalten. Für den Einzelnen ist es oft schwierig, über das belastende Thema der Erkrankung öffentlich zu sprechen. Depression Wie die Zeit mir zerrann. Aus dem Kind ward ein Mann. 7. Frühe Abschiede: Die andere Seite des langen Lebens ist der frühe Tod. Wer mit psychisch erkrankten Menschen beruflich zusammenarbeitet oder private Kontakte hat, wird damit konfrontiert, dass eine menschliche Existenz plötzlich ausgelöscht wird. Die Rede ist von Suiziden und davon, dass Mehrfacherkrankungen zum frühen Tod führen können. Mit diesen vorzeitigen Abschieden werden berufliche und private Beziehungsnetze zerrissen, die sich über die Verluste hinweg neu finden müssen. 34 Und es schmerzt immer mehr. Alle Träume sind nun leer. Aus dem Mann wird ein Greis. Was wird sein? Und wer weiß, wie ich meine Tage zähle, wie ich mich im Alter quäle. 6.8.85 aus: Dietmar Zöller: Ich gebe nicht auf Sichtweisen 10/2009 Bericht über den Regionaltag in Offenburg Arbeitsgemeinschaft des Bürgerschaftlichen Engagements Die Integration von Menschen mit Behinderung und das Bürgerschaftliche Engagement wurden beim Regionaltag der ARBES, am Ersten in Offenburg, in den Mittelpunkt gestellt. Wir – die Redaktion der Sichtweisen, vertreten durch zwei Redaktionsmitglieder, wurden zu diesem Regionaltag eingeladen, um unser Projekt vorzustellen. Bevor wir hier nun aber vom Regionaltag berichten, möchte ich kurz über Inhalt und Arbeit der ARBES informieren. Die ARBES – Arbeitsgemeinschaft des Bürgerschaftlichen Engagements, ist ein freiwilliger Zusammenschluss bürgerschaftlich engagierter Gruppen in Baden-Württemberg. 1994 bildete sie sich aus staatlich gestützten Senioreninitiativen und unabhängigen, örtlichen und kommunalen Projekten. Sie entwickelte sich weiter und bietet nun vielfältige Angebote und Projekte, die inzwischen generationsübergreifend, raumund themenumfassend sind. Ihre Aufgabe ist es als Dachverband des Bürgerschaftlichen Engagements die gemeinsamen Ziele der Initiativen zu unterstützen und die Vernetzung zu fördern. Sie ist ein Teil des Landesnetzwerk Bürgerliches Engagements, das nicht nur allen Initiativen, sondern auch interessierten Kommunalvertretern und Verbänden die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch bietet. Die ARBES vertritt die Interessen des Bürgerschaftlichen Engagements durch Mitarbeit im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (BBE) in Berlin und beim Centre Europeen Du Volontariat (CEV) in Brüssel. Es finden regelmäßig Regionaltage, lokale Konferenzen und Fortbildungsveranstaltungen statt, die die Entwicklung der verschiedenen Initiativen un- Sichtweisen 10/2009 terstützen wollen. In diesem Jahr hat sich die ARBES das Thema Integration und Migration zum Schwerpunktthema gemacht. In ihrem Flyer zum Regionaltag führen sie ein Zitat von Prof. Dr. Alfred Sander auf, Forscher und wissenschaftlicher Begleiter von Modellprojekten zur Integration behinderter Menschen an der Saar-Uni Saarbrücken, der „Behinderung“ folgendermaßen definiert: „Behinderung liegt vor, wenn ein Mensch mit einer Schädigung oder Leistungsminderung ungenügend in sein vielschichtiges Mensch-Umfeld-System integriert ist.“ Er führt folglich die Behinderung nicht auf eine körperliche, geistige oder seelische Schädigung des einzelnen Menschen zurück, sondern auf die Unfähigkeit des Umfeldes des betreffenden Menschen, diesen zu integrieren. Wie eine Teilhabe von behinderten Menschen am gesellschaftlichen Leben durch bürgerschaftliches Engagement ermöglicht werden kann, sollte beim Regionaltag dargestellt werden. Hierfür wurde ins Landratsamt nach Offenburg geladen. Ca. 80 Teilnehmer, die bürgerschaftlich engagiert sind, reisten aus ganz Baden-Württemberg an. Um 10.15 Uhr fand die Begrüßung durch den Landrat des Ortenaukreis, Herrn Klaus Brodbeck und das Seniorenbüro statt. Darauf folgte ein Referat von Heinz Rosié Geschäftsführer des Club 82, zum Thema „Inklusion und Bürgerschaftliches Engagement, zwei Seiten einer Medaille?“ Der Club 82 ist ein gemeinnütziger Verein, Mitglied im Paritätischen, der Lebenshilfe und bei Special Olympics Deutschland. Er hat seinen Standort in Haslach. Der Verein bietet ein vielseitiges Angebot für Menschen mit einer geistigen Behinderung und deren Angehörigen: - Beratungsstellen - Kurse und Sportveranstaltungen in homogenen und heterogenen Gruppen - Familienunterstützende Dienste - Fachdienst Integration 35 Bericht über den Regionaltag in Offenburg Arbeitsgemeinschaft des Bürgerschaftlichen Engagements - Bildungsassistenz; Begleitung bei Kursen in öffentlichen Bildungsträgern wie z.B. die Volkshochschule - Partnervermittlung „Herzenssache“ mit Hilfe von Aktion Mensch - Reisen; dieses Jahr werden 50 verschiedene Reisen angeboten, der Club 82 ist der drittgrößte Anbieter für Reisen für Menschen mit geistiger Behinderung Herr Rosié stellte beispielhaft dar, wie unterschiedlich die Einsatzmöglichkeiten für Bürgerschaftlich Engagierte bei ihnen im Club 82 sind. Angefangen bei der Betreuung von Kleinkindern, zur Entlastung der Eltern, über Einkaufsbegleiter(in), Unterstützer(in) für Sportgruppen, Freizeitgestalter(in) bis hin zur Reisebegleiter(in). In seinem Vortrag wies er darauf hin, dass Menschen mit Behinderung eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung fordern. Sie wollen Bürger sein – uneingeschränkt und unbehindert. Er betonte jedoch, dass Visionen Fahrpläne bräuchten. Diese sollten mittels bürgerschaftlichen Engagements umgesetzt werden, denn Bürgerschaftliches Engagement sei entscheidend für Nähe, Vertrautheit, das Kontaktknüpfen von Menschen mit Behinderung zu Menschen ohne Behinderung. Nur so könnte Teilhabe an der Gesellschaft gewährleistet werden. Und nur so könnte die Inklusion von Behinderten in der Gesellschaft gesichert werden. Anschließend berichtete Frau Lörcher von den „Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen einer Behindertenbeauftragten“. Sie hat in Villingen – Schwenningen seit Anfang 2006, in Form eines Ehrenamtes die Stellung der Behindertenbeauftragten auf kommunaler Ebene inne. §13 Amt des Beauftragten der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung Der Ministerpräsident kann einen Beauftragten der Landesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen (Landes-Behindertenbeauftragter) für die Dauer der Legislaturperiode bestellen. §14 Aufgaben und Befugnisse Der Landes-Behindertenbeauftragte wirkt darauf hin, dass die Verpflichtung des Landes, für gleichwertige Lebensbedingungen für Menschen mit und ohne Behinderungen zu sorgen, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erfüllt wird. Er setzt sich bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe dafür ein, dass unterschiedliche Lebensbedingungen von Frauen und Männern mit Behinderung berücksichtigt und Benachteiligungen beseitigt werden. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) hat in Zusammenarbeit mit den Beauftragten für Behinderte der Länder ein Handbuch für Behindertenbeauftragte und Behindertenbeiräte herausgegeben. Dieses Handbuch verdeutlicht, dass Aufgaben, Funktionen und rechtliche Grundlagen dieser Arbeit sehr unterschiedlich sind. Die Aufgaben der Behindertenbeauftragten reichen von der Mitgestaltung und Begleitung von Gesetzesvorhaben über Informations-, Koordinations- und Öffentlichkeitsaufgaben bis zur Bearbeitung von persönlichen Anliegen von Menschen mit Behinderung. Das Landesgesetz zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (L-BGG), das am 20.04.2005 im Landtag beschlossen wurde, beinhaltet zahlreiche Vorschriften, die zu einer gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung führen soll, unter anderem auch das Amt des Behindertenbeauftragten. Im Vierten Abschnitt des Gleichstellungsgesetzes ist dies verankert: 36 Sichtweisen 10/2009 nauer informieren wollen. Folgende Projekte wurden vorgestellt: • Offene Arbeit mit Behinderten • Sichtweisen • Integrative Sportgruppe Elternheim der „Elterngruppe behinderter Menschen“ • Erfahrbar – Freizeitführer für Menschen mit Mobilitätsbehinderung • Reisen mit Behinderung Es gibt Ansprechpartner/innen im Bund und in allen Bundesländern. Seit 1980 gibt es auf Bundesebene einen/eine Beauftragte(n) der Bundesregierung für die Belange der Behinderten, zur Zeit wahrgenommen von Frau MdB Karin Evers-Meyer. Daneben gibt es jetzt in allen Bundesländern Behindertenbeauftragte mit verschiedenen Kompetenzen und unterschiedlicher Anbindung (meist in Ministerien wie Arbeit und Soziales, Gesundheit oder auch Inneres und Sport). Für Baden-Württemberg wurde als Behindertenbeauftragter Herr Staatssekretär Dieter Hillebrand ernannt. Er wendete sich mit einem Schreiben vom 12. Oktober 2007 an alle Stadt- und Landkreise und appellierte dafür Behindertenbeauftragte zu bestellen. Vor dem Mittagessen wurden wir in die Idee des Erlebnisparcours eingeführt. Es wurden 5 verschiedene Projekte zu dem Thema Integration von Menschen mit Behinderung und das bürgerschaftliche Engagement vorgestellt. Die Präsentation der Projekte fand in zwei verschiedenen Räumen statt, so dass sich die Teilnehmer nach dem Mittagessen selbst entscheiden konnten, über welches Projekt sie sich ge- Sichtweisen 10/2009 Unser Projekt der „Sichtweisen“ wurde in einer kurzen Präsentation vorgestellt, in der wir vor allem zum Ausdruck bringen wollten, dass durch die Arbeit der bürgerschaftlich engagierten Redaktion, Menschen mit Behinderung ein Forum geboten wird, um sich ausdrücken zu können und ihr Erleben und ihre Weltsicht darzustellen, so dass Sensibilität im Zusammenleben wachsen kann. Auch für Menschen ohne Behinderung sind die „Sichtweisen“ wertvoll, denn so wird ihnen ein Einblick in die Gedanken und Erfahrungen von Menschen mit Behinderung ermöglicht, die ihnen sonst nur allzu leicht verborgen bleiben würden. Die „Sichtweisen“ dienen zudem auch der Inklusion. Menschen mit und ohne Behinderung bilden ein gemeinsames Redaktionsteam. Dies zeigt, dass sich Menschen über Einschränkungen hinweg begegnen können, dass Berührungsängste zu überwinden sind und Solidarität aufgebaut werden kann und dabei zugleich ein tolles Produkt entsteht. Die Resonanz der Zuhörer war durchweg positiv und von vielen Seiten klang die Forderung, dass es solch ein Magazin eigentlich in jedem Landkreis geben sollte. Die meisten Teilnehmer waren vor allem von den autobiographischen Berichten begeistert. Somit war es für uns ein sehr erfolgreicher und interessanter Tag und wir konnten viele positive Rückmeldungen in die nächste Redaktionssitzung mitnehmen, um erneut gestärkt und motiviert an die Arbeit zu gehen. Kerstin Junginger und Manfred Tretter 37 Erster Stadtteilgang in Nellingen des Runden Tisches „Behinderte Menschen in Ostfildern“ Am Samstag, dem 15.09.2007 haben sich vormittags Betroffene, Angehörige und Mitarbeiter der Verwaltung getroffen, um Nellingen daraufhin zu erkunden, wie gut die Infrastruktur des Stadtteils für Rollstuhlfahrer und Menschen mit Gehbehinderung geeignet ist. Auch die Stadtteile Parksiedlung, Kemnat und Ruit wurden in bewährter Form kritisch unter die Lupe genommen. Die Eindrücke wurden dokumentiert und man wird gemeinsam überlegen, wie aufgezeigte Probleme gelöst werden können. Nachdem eine kleine Gruppe schon vorweg eine Route ausgearbeitet hatte, konnten die problematischen Punkte zielgerichtet aufgesucht werden. Für zwei Mitarbeiter war es sehr eindrücklich, sich mit dem Rollstuhl zu versuchen und damit einen Perspektivenwechsel zu erleben. Bodenwellen im Gehweg, hohe Randsteine oder Treppenstufen im Eingangsbereich von Geschäften oder öffentlichen Gebäuden, die für gesunde Menschen problemlos zu bewältigen sind, sind auf einmal Barrieren, die es mit mehr oder weniger Geschick zu überwinden galt. Nach ca. drei Stunden intensiven Gehens und Diskutierens kehrte die Gruppe an den Ausgangspunkt zurück. Aus Sicht aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer hat sich der Stadtteilgang Nellingen gelohnt, da sowohl die Betroffenen als auch die Verwaltungsmitarbeiter Problemsituationen aus unterschiedlichen Blickwinkeln kennenlernen konnten. 38 Sichtweisen 10/2009 Mittendrin statt außen vor Tage der Menschen mit Behinderungen in Baden-Württemberg das REHA_JAZZ-Trio, das mit Dixie den Abend zu einem unvergesslichen Event machte. Ein gelungener Auftakt! Am Samstag, 03. Mai und am Montag, 05. Mai konnten Menschen mit Behinderung, mit der SSB, gemeinsam an der Endhaltestelle Nellingen das Ein- und Aussteigen in die Stadtbahn und das richtige Verhalten in der Bahn mit erfahrenen Fahrlehrern üben. Über 30 Rollifahrer nahmen die Einladung an. Initiiert wurde diese Veranstaltung durch den Beauftragten der Landesregierung Baden-Württembergs für die Belange behinderter Menschen, Herrn Staatssekretär Dieter Hillebrand MdL. Herr Bolay, der Oberbürgermeister von Ostfildern hatte bereits ein Jahr zuvor in seiner Stadt den „Runden Tisch für und von Behinderten“ ins Leben gerufen, an dem regelmäßig behinderte Menschen sowie betroffene Angehörige aus der Stadt Ostfildern mit der Stadtverwaltung in Kontakt und Diskussion zur Verbesserung der Lebensqualität für behinderte Menschen getreten sind. Daraus und auch aufgrund weiterer Eigeninitiativen ergab es sich, dass in Ostfildern im Zeitraum vom 2. bis zum 8. Mai 2008 einige Veranstaltungen durchgeführt wurden. Der Startschuss in Ostfildern fiel im Ruiter Paracelsus-Krankenhaus, von Hr. Dr. med. Beer bzw. dem Landesverband Aphasie- und Schlaganfall BW organisiert. Dort fand am 02. Mai in den Abendstunden in der Mehrzweckhalle eine Veranstaltung mit hochrangigem Besuch statt. Nach dem Grußwort von OB Hr. Bolay sprach der AltOB Stuttgart’s, Herr Manfred Rommel. Selbst seit Jahren durch schwere Krankheit gezeichnet, rezitierte er aus seinem Leben und trug selbst geschriebene oder geänderte Gedichte und Geschichten vor. Es war ein Erlebnis zu sehen und zu hören, dass immer noch viel Feuer und Humor in seinem Herz und seinem Verstand stecken. Aufgelockert wurde die Veranstaltung durch drei behinderte Jazz-Musiker aus Hamburg, Sichtweisen 10/2009 Am Montagabend ging es weiter im evangelischen Gemeindehaus der Dietrich-BonhoefferGemeinde, dem Sophie-Scholl-Haus im Scharnhauser Park. Dort las Fr. Pfarrerin Mirja Küenzlen aus Ihrem Buch „Neue Wege wagen – christliche Spiritualität gemeinsam erproben“ und diskutierte anschließend mit den Bürgerinnen und Bürgern das Schwerpunktthema Ihres Buches. Am Mittwochabend begegnete man dem Thema Behinderung im Stadthaus im Scharnhauser Park. Dort wurde ab 19:30 Uhr der Kinofilm „El Paradiso“ präsentiert, bei Softgetränken und dem obligatorischen Popcorn. Der örtliche Bürgerverein „Die SchaPanesen e.V“ luden dazu ein. Der Film erzählt die packende Geschichte eines Mannes mit Behinderung, der einen alten Traum von seinem Vater und ihm selbst, verwirklichen und auf den 4000-er Berg in den Alpen klettern möchte. Sein Vater starb bei einem Motorradunfall, ihn selbst fesselt der Unfall an den Rollstuhl. Ein sehenswerter Film, der die Problematik im Umgang gesunder und behinderter Menschen aufzeigt. Wer den Film gern sehen möchte, die DVD kann bei der Stadtbücherei Ostfildern und bestimmt auch an anderen Orten ausgeliehen werden. Es gibt sicher viel, viel mehr über die ganzen Veranstaltungen im Landkreis Esslingen zu berichten, von denen es noch viele weitere gab. Leider war meine Zeit begrenzt, so dass ich nur über die Veranstaltungen berichte, die ich selbst quasi live erleben durfte bzw. an denen ich mitgewirkt habe. M.Pelkmann 39 „Ikarus vom Lautertal“ Bericht über den Tüftler und Flugradbauer Gustav Mesmer Gustav Mesmer, genialer Tüftler und Flugradbauer aus Schwaben, wurde in seinen letzten glücklichen Jahren "Ikarus vom Lautertal" genannt. Sein Leben erinnert aber auch ein wenig an eine andere Figur antiker Mythologie: Sisyphos, der auf immer einen Stein zu Berge wuchten musste, der stets ins Tal zurück rollte. 40 er ihm seinem antiken Sisyphos als zeitgenössischen Helden zur Seite gestellt. Sisyphos wurde zur zentralen Figur im Werk des existenzialistischen Philosophen und Schriftstellers Albert Camus. Nach Philosophie der Existentialisten kann der Mensch die Welt nicht wahrhaft verändern, entscheidend für sein Glück ist allein die Redlichkeit und Intensität seines Bemühens. Somit betrachtete Camus Sisyphos als glücklich. Gustav Mesmer wurde am 16. Januar 1903 in Altshausen bei Ravensburg geboren. Beim weiten Blick über die sanften grünen Hügel Oberschwabens, wo man die Wolken bis zu den fernen Alpen fliegen sieht, lernte er wohl das Träumen. Die Welt aber kann zu eng werden für weitschweifende Gedanken, gerade in Notzeiten, wie der des Ersten Weltkrieges, in die Gustav hineinwuchs. Er verfing sich bald in ein Netz von Zwängen, die verrückt machen konnten, "verrückt" im Sinne von unverstanden oder im Sinne von krank. Bei Gustav sollte beides über Jahrzehnte fatal verwechselt werden. Gustav Mesmer lebte mit bewundernswerter Energie und Hingabe seinen Traum vom Fliegen aus purer Muskelkraft. Gewaltig wollten ihm die Verständnislosen das versalzen, doch die Kraft seiner Phantasie war nicht zum Schweigen zu bringen. Hätte Camus ihn gekannt, vielleicht hätte Von Schulbildung konnte bei ihm kaum die Rede sein. Lehrer, die seinen durchaus vorhandenen Intellekt systematisch hätten schulen können, standen alle an der Front. Der tüchtige Junge musste weit über Land ziehen, um mit allerlei Hilfsarbeiten die Familie mit durchzubringen. Sichtweisen 10/2009 Schwestern im Kloster Obermarchtal überzeugten ihn, für ein Mönchsleben prädestiniert zu sein. Gustav machte den Fehler seines Lebens und glaubte es. Nach längerem Suchen fand er Zugang in die berühmte Abtei Beuron im Donautal. Sechs Jahre lebte er von nun an in einer Welt, die zu eng war für seine weitschweifenden Gedanken und ihn krank an der Seele machte. Kurz vor dem heiligen Gelübde lief er davon. Es dauerte nicht lange, bis er an die Türe seiner heimatlichen Kirche pochte, dabei laut und wirr schimpfend eine Konfirmationsfeier störte. "Schizophrenie" vermutete der herbeigerufene Doktor, ein Stempel, den Gustav über Jahrzehnte nicht mehr los werden sollte. Da er auch zu Hause einige Male randaliert haben sollte, wurde er in die Psychiatrische Klinik Bad Schussenried gebracht. Lange Jahrzehnte sollte er nun in Anstalten (Bad Schussenried, später auf eigenen Wunsch Weissenau) erleben. Versuche sich zu befreien, sei es durch appellierende Briefe in die Heimat, sei es durch seine vielen Fluchten zu Fuß, waren alle zum Scheitern verurteilt. Im Übrigen bewahrten nur seine gute physische Konstitution so wie sein Fleiß und Handwerkergeschick Gustav Mesmer vor den Gaskammern der Nazis. Alleinigen Halt vor dem Abrutschen in völlige Verzweiflung gewährte sein Traum vom Fliegen. Gustav hatte von Flugversuchen aus purer Muskelkraft gelesen, ein Gedanke, der ihn fürs Leben packte. In "Lehrschriften" und Konstruktionszeichnungen konnte er den Traum ein wenig Leben, aber prompt wurde dies wieder als "Wahn" interpretiert. Seinen lebenslang unerfüllten Wunsch, eine Familie zu gründen, nannte man "Beziehungswahn". 1964 erzwang seine Schwester endlich die Entlassung aus der Psychiatrie. Eine noch größere Befreiung aber erlebte er nach Einzug in ein Altenheim der Bruderhausdiakonie in Buttenhausen. Hier wurde er nicht institutionell eingeengt. Man erkannte den Wert dieses selten begabten Menschen, der keinem weh tat, aber so viele in der Seele reicher machte. Mesmer durfte sich eine kleine Werkstatt einrichten und dort seine genialen Flugfahrräder konstruieren. Man nahm auch Sichtweisen 10/2009 die Gefahr in Kauf, als er damit steile Abhänge der Schwäbischen Alb hinuntersauste und doch nie abhob. Jetzt endlich bekam er den Respekt und die Annerkennung, deren er wert war. Landauf landab wurde er als "Ikarus vom Lautertal" bekannt. Seine Konstrukte sind heute anerkannte Kleinkunst und begehrte Ausstellungsobjekte. Eines stand sogar im deutschen Pavillon der Weltausstellung von Sevilla. Richtig geflogen sei er nur ein Mal, erklärte Mesmer, so fünfzig Meter leicht über dem Boden, was aber keiner gesehen habe. Er brachte die Behauptung mit der Schalksmiene eines Lebenskünstlers vor. Gustav Mesmer starb 1992, erfüllter wohl, als manch "normaler" Mensch. Halten wir uns das Schicksal des antiken Ikarus vor Augen: Er konnte sich in die Lüfte schwingen und wurde übermütig. Der Sonne zu nahe gekommen stürzte er ab. Gustav Mesmer verharrte zeitlebens wie Sisyphos im Träumen und Probieren. Nach Albert Camus muss er also ein glücklicher Mensch gewesen sein. Wer Bilder aus Mesmers letzter Lebensphase sieht, muss dem zustimmen. Ein zutiefst anrührender Zug von Ruhe, Hingabe, Liebe und Überzeugung, mit der er sein "Hobby" pflegte, prägten Gustavs Gesicht. Das Glück, welches allein im ehrlichen Bemühen liegt, spricht aus seinem Lachen. Redaktion Sichtweisen Marco Heinz 41 Garrincha Ein „Zaunkönig“ mit krummen Beinen revolutioniert die Fußballwelt Der gelb-grün-blaue Dress der Seleçao genannten Fußballnationalmanschaft Brasiliens zählt man zu den ehrfurchtgebietenden Monumenten im Weltsport. 50 Jahre ist es nun her, dass den Brasilianern der Sprung gelang von einer großen Fußballnation zur absoluten Weltmacht dieses Spieles. Mit nie gesehener Geschmeidigkeit, Raffinesse und Tempo zauberte sich die Selecao 1958 in Schweden zum Weltmeistertitel. Das populäre Spiel erlebte vor allem durch zwei Protagonisten eine wahre Revolution, das junge Universalgenie Pele und den so andersartigen Jungen aus dem UrwaldGarrincha. Am 28.10.1933 wurde im brasilianischen Dorf Pau Grande ein Junge namens Manoel Francisco dos Santos geboren, dessen Beine von Kinderlähmung befallen wurden. Allein eine unter den im Urwald gegebenen Verhältnissen lebensgefährliche Operation ermöglichte dem Kind, das Gehen lernen. Die Behinderung blieb ein Leben lang. Das rechte O-Bein blieb sechs Zentimeter kürzer als das linke X-Bein. Seine Schwester nannte den Kleinen mit dem komischen Gang Garrincha, den Zaunkönig. Ein Orthopäde riet ihm sich spielerisch zu bewegen, am besten durch Fußball. Dieser brave Mediziner ahnte nicht im Geringsten, was er damit anrichten sollte. Der Zaunkönig brachte es zum Weltstar des populärsten Sports. 1953 wurde Garrincha dem Club Botafago als Talent angepriesen. Trainer Cardoso entschlüpfte das böse aber seinerzeit gebräuchliche Wort vom „Krüppel“ als er ihn sah. Aber der Coach erlebt sein blaues Wunder. Dieser skurrile Vogel aus dem Urwald umtanzte seine gestandenen Nationalspieler wie Kokospalmen. Schon sein erster Auftritt hinterließ Erstaunen und Entsetzen. Heute stellt sich die hypothetische Frage, ob mit modernen Methoden, etwa der Videoanalyse, Garrincha eigenwillige Bewegungsmuster zu durchschauen und ein Gegenmittel zu finden wäre. Seinerzeit war kein Kraut gegen seine fast wahnwitzigen Tricks gewachsen. Garrincha demütigte geradezu die besten Verteidiger Brasiliens, später jene der ganzen Welt. Neben seinen sensationellen Tempodribblings bestachen seine exakten Flanken und sein glasharter Torschuss. Noch heute gilt er als bester Rechtsaußen aller Zeiten. 42 Im dritten Spiel der WM 1958 rückte Garrincha in die Selecao und bildete mit Pele ein ebenso geniales wie ungleiches Paar. Während der solide Pele den Denker und Lenker gab spielte Garrincha einfach nur verrückt. In taktischen Besprechungen soll der Analphabet in Comics geblättert haben, um im Spiel einfach zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Trainer verzweifelten an ihm, aber keiner mochte auf Garrinchas Sieg bringende Improvisationen verzichten. Pele und Garrincha verloren gemeinsam kein einziges Spiel. Anfangs der Titelkämpfe 1962 in Chile verletzte sich Pele. Garrincha avancierte zum alleinigen Führungsspieler, wurde nochmals Weltmeister und Torschützenkönig des Turniers. Heute gilt bei internationalen Experten Pele als bester Fußballer aller Zeiten, für manchen Brasilianer steht Garrincha noch höher. Den seriösen Pele verehren sie, Garrincha lieben sie – auch weil er nur all zu menschlich war und tragisch am Leben scheiterte. Journalisten schrieben Garrincha mit blumigen Worten in den Himmel und würdigten ihn mit markigen Sätzen herab, als bei der WM 1966 in England auch seine Ballkunst sich als vergänglich erwies. Die öffentliche Figur Garrincha wird geliebt bis heute, den zerbrechlichen Privatmenschen konnte oder wollte wohl keiner so richtig stützen. Garrincha galt als debil, so manche einfältige Antwort in Interviews wurde geradezu legendär. Ein „Persönlichkeitstest“ 1958, wie immer der ausgesehen haben mag, bestätigte ihm den geistigen Stand eines 8 bis 12 jährigen Kindes. Sein wahres Problem – lange unerkannt- hieß schlichtweg: Alkohol. Schon als zehnjähriger will er regelmäßig Cognac konsumiert haben. Auch in seinen größten Zeiten hing er an dieser Trost- und Trotzdroge. So nimmt es kaum wunder, dass er nach seiner Fußballkarriere in den Armenvierteln landete. Da er den Unterhalt für seine 14 Kinder nicht zahlen konnte, machte er auch Bekanntschaft mit dem Gefängnis. 1983 starb Garrincha an Alkoholvergiftung. Die öffentliche Liebe zu ihm, der so wenig private Zuwendung erfuhr, schlug nochmals höchste Wellen. Eine ganze Nation hielt den Atem an, als Garrinchas Sarg durch Rio gefahren wurde. Zehntausende säumten den Weg, es kam zum völligen Verkehrsinfarkt in der Stadt. Der Name Garrincha wird in Brasilien niemals sterben. Redaktion Sichtweisen Marco Heinz Sichtweisen 10/2009 „Beratungsstelle für Ältere und deren Angehörige“ Ältere, kranke und behinderte Menschen möchten trotz ihrer Einschränkungen im Alltag weitestgehend selbständig und dennoch gut versorgt zu Hause leben. Mobilitätseinschränkungen erfordern jedoch eine entsprechende Unterstützung von Angehörigen oder durch Serviceleistungen ambulanter Dienste. Die Stadt Esslingen verfügt über ein gut ausgebautes Netz solcher Hilfen, die jedoch nicht jedermann bekannt sind und deren Details und Finanzierung erstmal unklar bleiben. Oft sind es jedoch nicht die vorsorglichen Beratungen sondern Krisensituationen, in denen dann Betroffene und auch Angehörige mit der Organisation der täglichen Hilfen überfordert sind. Die Beratungsstelle für Ältere berät und informiert gezielt zu folgenden Fragen: Wer hilft im Haushalt oder kauft für mich ein? Wer pflegt, wenn Angehörige fehlen oder nicht mehr pflegen können? Was kosten diese Dienstleistungen und ab wann zahlt die Pflegeversicherung? Welche Hilfsmittel gibt es und wer verordnet sie? Was ist eine Patientenverfügung oder wozu dient eine Generalvollmacht? Was bieten betreute Seniorenwohnanlagen und wie setzen sich die Kosten für ein Pflegeheim zusammen? Dies sind nur einige wenige Fragestellungen, die Menschen beschäftigen, wenn die eigenen Kräfte nachlassen. Sichtweisen 10/2009 Ältere, kranke und behinderte Menschen, die ihre Wohnung nicht mehr gut verlassen können, besuchen wir gerne zuhause und informieren sie vor Ort persönlich über die Möglichkeiten, die ihnen in der Stadt Esslingen zur Verfügung stehen. Die Beratungsstelle für Ältere gibt es nun schon seit 1993 in Esslingen. Sie ist ausschließlich für Esslinger Bürgerinnen und Bürger zuständig. Die Räumlichkeiten befinden sich im Sozialamt, in der Ritterstr.16. Frau Latz und Frau Barzen-Meiser, die beiden Mitarbeiterinnen, sind täglich von 8:30 bis 12:00Uhr und donnerstags auch von 14:00 bis 18:00 Uhr telefonisch zu erreichen. Persönliche Beratungsgespräche und Hausbesuche finden nach Terminvereinbarung statt. Selbstverständlich beraten wir auch alle Älteren, Angehörige und Interessierte, die sich vorsorglich an uns wenden. Kontakt: Beate Barzen-Meiser Rita Latz Telefon 0711/3512-3219 Telefon 0711/3512-3220 43 FUGE Der ehrenamtliche Besuchsdienst im Stadtkreis Esslingen FUGE ist ein ehrenamtlicher Besuchsdienst im Stadtgebiet Esslingen, der psychisch erkrankte ältere Menschen zuhause begleitet. Die Abkürzung steht für „Freiwillige unterstützen gerontopsychiatrisch Erkrankte“. FUGE wird gemeinsam geschultert von der Arbeitsgemeinschaft der Krankenpflegevereinen in Esslingen und dem Sozialpsychiatrischen Dienst für alte Menschen (SOFA). Ein Handicap von Menschen mit einer Demenzerkrankung kann zum Beispiel sein, den Wert des Geldes nicht mehr bestimmen zu können. Demenzerkrankte erinnern sich gut an die Deutsche Mark oder auch an die Reichsmark, aber erkennen den Euro nicht als solchen. Unsere Frau Freigiebig ist demenzkrank. Als Frau von Welt bedankt sie sich, wenn ihr jemand hilft und steckt ihrem Gegenüber ein "Trinkgeld" zu. Sie macht den Geldbeutel auf und zieht einen Schein heraus: "…und das ist für Sie!". Jetzt werden Sie denken: das ist doch kein Problem. Wieso braucht es da FUGE? Der Mann von Frau Freigiebig verstarb sehr plötzlich. Vor seinem Tod hatte er Kontakt aufgenommen zu Hansjörg Schaude von SOFA voller Sorge um seine Frau. Herr Schaude ist dann auch der einzige, der die Witwe besuchen darf und den sie herein bittet. Er sieht, wo überall Frau Freigiebig nicht mehr zurecht kommt, doch muss er respektieren, was alles nicht verändert werden darf. Zum Hausbesuch bringt er eines Tages unsere FUGE-Mitarbeiterin mit und als diese alleine kommt, aber Grüße ausrichtet, wird sie trotzdem hereingebeten. Frau Freigiebig hat Vertrauen gefasst und unsere Mitarbeiterin darf mit ihr in die Küche und beim Kaffeekochen oder Geschirrspülen helfen. In der Nachbarschaft wird man auf die wöchentlichen Besuche aufmerksam. Man hat große Probleme mit Frau Freigiebig und wagt es, unsere Mitarbeiterin anzusprechen: Frau Freigiebig verdächtigt alle, ihr Geld zu klauen. Uns ist es klar: sie hat es eben verschenkt. Das aber hat sie vergessen, sie vermisst die Scheine in ihrer Geldbörse und hat dafür nur eine Lösung: Die Nachbarin war’s! Die Nachbarin kommt in große Not, bisher hatte sie fraglos für Frau Freigiebig die Kehr- 44 woche übernommen, doch unter der Anschuldigung kann sie so nicht weiter machen. Hansjörg Schaude gelingt es, alle Beteiligten an einen Tisch zu holen, die Nachbarin, das Ehepaar vom Haus nebenan, unsere Mitarbeiterin. Gemeinsam wird die Situation von Frau Freigiebig besprochen. Wichtig sind Informationen über die Symptome der Erkrankung, sie erklären das verwirrende Verhalten von Frau Freigiebig. Trotz der inzwischen weit fortgeschrittenen Demenz wohnt Frau Freigiebig immer noch zuhause. Eine rechtliche Betreuung ist eingerichtet worden. Alle Hilfen, die nötig geworden sind und die sich von außen organisieren lassen, werden von der gesetzlichen Betreuerin beauftragt und bezahlt per Banküberweisung. Dabei verfügt Frau Freigiebig sehr wohl weiterhin über Bargeld. In ihrem Portemonnaie ist immer etwas drin, aber nun sind es nur noch kleine Scheine. Frau Freigiebig ist dies einerlei, doch wenn sie nun einen 5 Euro-Schein her schenkt, ist das eher im Rahmen eines Trinkgeldes. Und alle, die häufiger zu Frau Freigiebig kommen, kennen den Kniff, den ihnen Hansjörg Schaude beigebracht hat: Wenn Frau Freigiebig sich mit Geld bedanken möchte, so ziehen sie ein Geldstück aus der Tasche und sagen: "Danke, Frau Freigiebig – aber Sie haben mir ja schon etwas gegeben!". Frau Freigiebig fühlt sich nun sehr wohl zuhause, sie kann in ihrem Nachbarschaftsnetz sicher und vergnügt uralt werden. Jetzt braucht sie nur noch jemand, der ihr einfach Zeit schenkt und Zuwendung und Aufmerksamkeit. Und unsere FUGE-Mitarbeiterin genießt es, wenn sie von dieser warmherzigen Frau, so richtig fest gedrückt und „durchgeknuddelt“ wird, vor lauter Dankbarkeit für den Besuch. FUGE-Einsatzleitung in Esslingen: AG der Krankenpflegevereine Wäldenbronnerstr. 39 73732 Esslingen Tel.: 0711-36 55 565 Fax: 0711-36 57 420 [email protected] Sichtweisen 10/2009 Wohnberatung auch ein Thema für Menschen mit Handikap Die Wohnberatungsstellen haben sich zum Ziel gesetzt, Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu helfen, um ihnen in ihrer vertrauten Umgebung die nötige Sicherheit und Unabhängigkeit zu erhalten. Deshalb möchten wir unser Beratungsangebot näher erläutern. Die Wohnberater führen Beratungen über Wohnraumanpassungsmaßnahmen direkt in der Wohnung des Ratsuchenden durch. Bei dieser Beratung wird die Wohnung nach Hindernissen und Gefahrenquellen überprüft. Gleichzeitig empfehlen die Wohnberater passende Lösungsmöglichkeiten und bei Notwendigkeit den Einsatz von Hilfsmitteln, technischen Hilfen und bauliche Veränderungen. Dem Ratsuchenden wird später eine kleine Checkliste übersandt, in der alles Wissenswerte aufgeführt wird. Als Auslagenersatz wird ein Betrag in Höhe von 15 Euro in Rechnung gestellt. Falls Sie eine Hilfestellung benötigen, nachstehend alle Wohnberatungsstellen im Landkreis Esslingen: Wohnberatung Kirchheim erreichbar über das Haus der Sozialen Dienste Telefon: 07021 / 502-334 zuständig für: Bissingen, Dettingen, Erkenbrechtsweiler, Hochdorf, Holzmaden, Kirchheim, Köngen, Lenningen, Neidlingen, Notzingen, Ohmden, Owen, Weilheim, Wendlingen, Wernau Wohnberatung Leinfelden-Echterdingen erreichbar über die Seniorenfachberatung Telefon: 0711 / 16 00-299 zuständig für Leinfelden-Echterdingen Wohnberatung Nürtingen erreichbar über das Forum Esslingen Telefon: 0711 / 35 74 20 zuständig für: Aichwald, Altbach, Esslingen, Baltmannsweiler, Deizisau, Lichtenwald, Plochingen, Reichenbach erreichbar über den Bürgertreff oder die Diakoniestation Telefon: 07022 / 75-367 oder 75-366 07022 / 9 32 77-0 zuständig für: Altdorf, Neuren, Bempflingen, Frickenhausen, Großbettlingen, Kohlberg, Neckartailfingen, Neckartenzlingen, Nürtingen, Neuffen, Oberboihingen, Unterensingen, Wolfschlugen Wohnberatung Filderstadt Wohnberatung Ostfildern erreichbar über die IAV-Stelle Telefon: 0711 / 70 03-303 zuständig für: Aichtal, Altenriet, Filderstadt, Schlaitdorf erreichbar über die Leitstelle für ältere Menschen Telefon: 0711 / 44 20 71 zuständig für: Denkendorf, Neuhausen, Ostfildern Wohnberatung Esslingen Sichtweisen 10/2009 45 Marktplatz Büchermarkt Wenn nichts mehr so ist, wie es war… Von Ina Lorenz, Engelsdorfer Verlag, ISBN-10: 3938607971, ISBN-13: 9783938607978, 18,- EUR Die Autorin verarbeitet in diesem Roman unter dem Pseudonym Ina Lorenz ihre eigene Lebensgeschichte. Nach einem harmlosen Skiunfall wird sie ins Krankenhaus eingeliefert und nach einiger Zeit wieder nach Hause entlassen. Dort fällt sie in ein Koma und ist vollständig gelähmt. Nach fünf Monaten auf der Intensivstation bildet sich die Lähmung linksseitig zurück, doch die Autorin bleibt dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Während sie darum kämpft, wieder gesund zu werden, erlebt sie eine Katastrophe, als ihr Ehemann sich ausgerechnet einer Oberärztin zuwendet und die behinderte Frau ihretwegen verlässt. Während sie sich mit ihrem neuen privaten Schicksal auseinandersetzen muss, ändert sich auch die gesellschaftliche und politische Ordnung um sie herum, das Ende der DDR. Gemeinsam mit ihrer Tochter unternimmt die Autorin als behinderte Frau jene Reisen, die ihr zuvor nicht erlaubt waren. Dem eigenen Leben auf der Spur Von Felix Bernhard, Scherz, ISBN-10: 3502150931, ISBN-13: 9783502150930, 18,90 EUR Der Autor feiert seinen Geburtstag zweimal im Jahr. Das zweite Geburtstagsfest fällt auf den Tag nach seinem Motorradunfall. Felix Bernhard sitzt seit diesem Unfall im Rollstuhl. Auch in diesem Buch geht es um die Bewältigung einer plötzlichen Behinderung. Für Felix Bernhard führte der Weg auf die bekannteste Pilgerroute Europas. Ungefähr 1200 Kilometer legt er zurück, von Sevilla nach Santiago de Composte la. Die Route führt ihn über Wege in sengender Hitze und durch Regen schlammig gewordene Pfade. Immer wieder gerät er in Situationen, die ihn an die Grenze bringen. Sei es durch einen Platten an seinem Rollstuhl oder auch durch Passagen, die mit dem Rollstuhl nicht zu überwinden sind. Felix Bernhard gewährt einen tiefen persönlichen Blick in sein Leben vor und nach dem Motorradunfall und seinen Weg, mit der Situation zurechtzukommen. So erzählt er, dass „es noch mal mehrere Jahre dauert, bis auch der Kopf im Rollstuhl sitzt“. Ihr Buch endet mit den Worten „Ich habe mich an mich gewöhnt.“ Es handelt sich um eine außergewöhnliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal, das Mut und Hoffnung macht für all jene, die mit eigener Behinderung konfrontiert sind. 46 Sichtweisen 10/2009 Normal bin ich nicht behindert! Von Winfried Palmowski und Matthias Heuwinkel, Verlag Modernes Lernen, ISBN-10: 3861451980, ISBN13: 978-3861451983, 19,50 EUR In der Vergangenheit bestand Sonderpädagogisches Handeln darin, Menschen mit Behinderung so weit wie möglich an eine sogenannte normale Wirklichkeit heranzuführen. Wie die Menschen mit Behinderung sich selbst und ihre Umgebung wahrnehmen, war zweitrangig. Palmowski und Heuwinkel versuchen in diesem Buch, nachdem sie eine Einführung in das konstruktivistische Denken geben, sich an die Realität von Menschen mit Behinderung anzunähern. Sie zeigen – aufgrund des konstruktivistischen Ansatzes – dass die Menschen unterschiedliche Vorstellungen von Wirklichkeit haben und dies auch für Menschen mit Behinderung zutrifft. Sie greifen immer wieder auf Interviews zurück, die im Buch mit abgedruckt sind, die die Wahrnehmungsweise der Interviewten anschaulich verdeutlicht. So antwortet z.B. ein Interviewpartner auf die Frage, ob er weiß, warum er auf der Schule für Geistigbehinderte ist, mit dem Satz: „Weil ich begeistert bin.“ Das Buch überzeugt dadurch, dass verdeutlicht wird, wie facettenreich der Begriff Behinderung ist und dass nicht Jeder oder Jede, der/die als behindert bezeichnet wird, diese Bezeichnung mittragen kann und macht begreiflich, dass es bei dem Begriff „Behinderung“ in erster Linie um eine Konstruktion handelt, die sich an der „normalen“ Realität unserer Gesellschaft orientiert. Sichtweisen 10/2009 Verantwortung für Menschen mit geistiger Behinderung Von Martin Th. Hahn (Hg.), Diakonie-Verlag, ISBN 9783938306154, 19,- EUR, Zu beziehen über den Verlag direkt (07121/278869) oder über die D. Ludwig-SchlaichStiftung ([email protected]) In diesem Buch kommen Zeitzeugen zu Wort, die die Entwicklung der Behindertenhilfe in Ost- und Westdeutschland nach dem 2. Weltkrieg schildern. Unter den Autoren befinden sich sowohl Fachkräfte als auch Angehörige von Menschen mit einer Behinderung. In den persönlichen Schilderungen wird erzählt, wie sich nach der NS-Zeit, in der Menschen mit Behinderung keinerlei Existenzrecht hatten, sich deren Lebenssituation wandelte. Es kommen Zeitzeugen zu Wort, die diese Veränderung maßgeblich mit begleiteten. Dadurch hat man die Möglichkeit, einen persönlich geprägten Einblick in die letzten Jahrzehnte der Behindertenhilfe zu erhalten und Zusammenhänge zu erkennen, die für die gegenwärtige Behindertenhilfe wichtig sein könnten. 47 Marktplatz Reisen NatKo – Tourismus für Alle! Hand in Hand – Ferienhaus am Bodensee Die Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle: Dieser Ansprechpartner rund um das Thema „barrierefreies Reisen“ präsentiert sich mit einer umfassenden Website im Internet. Menschen mit Behinderung finden hier Unterstützung bei der Suche nach barrierefreien Angeboten für den Urlaub oder auch für Ausflüge. Das Ferienhaus mit Blick auf die Stadt Bregenz liegt in einem 2500 qm großen Grundstück und wird von einer Sozialpädagogin geführt. Diese hat das Haus im Jahr 1999 eröffnet, mit dem Ziel, Menschen mit Behinderung ein Ferienangebot machen zu können und gleichzeitig Familienmitglieder und andere Betreuungspersonen zu entlasten. Wichtig ist dem Trägerverein Ferienhaus Hand in Hand e.V. u.a. die Schaffung einer Atmosphäre der Sicherheit und des Vertrauens und die Förderung von Sozialkontakten. Neben praktischen Infos zu Reisezielen in Deutschland und Europa wird auf der Website auch über aktuelle Themen berichtet, wie z.B. eine öffentliche Konferenz für ein barrierefreies Naturerleben blinder und sehbehinderter Menschen. Es finden sich umfangreiche Reiseinfos z.B. zu den Themen Wohnen und Schlafen, Essen und Trinken, Service und Assistenz aber auch Infos zu Reiseveranstaltern und regionale Infos. Wer nicht das passende für sich findet, hat auch die Möglichkeit, direkt mit der Koordinationsstelle Kontakt aufzunehmen. Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle e.V. Kirchfeldstr. 149 · 40215 Düsseldorf Telefon: 0211 – 33 68 001 · Fax: 0211 – 33 68 760 E-Mail: [email protected] www.natko.de 48 Es werden insgesamt 6 Ferienplätze (Einzelund Doppelzimmer mit Vollpension) für Menschen mit Behinderung in familienähnlicher Struktur angeboten. Das Freizeitangebot ist umfangreich: hierzu gehören Tagesausflüge, Baden und andere sportliche Betätigungen; und auch im Winter ist das Ferienhaus einen Besuch wert. Man kann Pferdeschlitten fahren, ins Thermalbad gehen, etc. Das Programm richtet sich nach den Urlaubern. Ein Besuch im Ferienhaus ist ab 122,-€ Tagespauschale zu haben. Ferienhaus Hand in Hand Gemeinnütziger Verein e.V. Bodenseestrasse 19 88138 Sigmarszell / Bodensee Telefon: 08389 – 264 · Mobil: 0173 – 1524016 E-Mail: [email protected] www.handinhand-ferien.de Sichtweisen 10/2009 Schwarzwald-Guide Geocaching Stadtführer Barrierefrei durch Tübingen Lust auf eine Schnitzeljagd? Margot Laufer ist ein Schwarzwald-Guide. Das heißt, sie ist eine besonders geschulte Natur- und Landschaftsführerin aus der Region des Schwarzwaldes. Frau Laufer bietet barrierefreie Erlebniswanderungen an. Auf der Website wird gut erklärt, welche Touren angeboten werden und mit welchen Steigungen man als Rollstuhlfahrer zu rechnen hat. Wenn gewünscht, wird auch eine Unterstützung beim Schieben organisiert. Auf der Website des Sozialforums Tübingen e.V. ist ein Stadtführer online abrufbar. In dieser Datenbank finden sich Informationen zu barrierefreien Geschäften, Ämtern und Einrichtungen in Tübingen. Neben der Möglichkeit, in unterschiedlichen Kategorien (z.B. Ämter und Behörden, Einkaufen und tägliches Leben) nach einer gewünschten Information zu suchen, finden sich in der Navigationsleiste auch übergeordnete Begriffe, wie z.B. wo behindertengerechte Toiletten oder Parkplätze zu finden sind. Hervorzuheben ist, dass bei der Suche unterschiedliche Anforderungsprofile angegeben werden können, wie z.B. die Zugänglichkeit zum Gebäude oder auch Hinweise für Blinde und Sehbehinderte. Der Begriff Geocaching beschreibt eine Art elektronische Schnitzeljagd. Die „Schatzsucher“ werden mit einem GPS ausgerüstet und losgeschickt. Der Begriff „Cache“ steht hierbei für Schatz oder Versteck. Mit Hilfe des GPS-Gerätes müssen über mehrere Stationen hinweg versteckte Hinweise gefunden, knifflige Rätsel und Aufgaben gelöst werden, um am Ende einen „Schatz“ bergen zu können. Auch diese Geocaching-Touren werden barrierefrei angeboten. Man kann wählen zwischen der Tour „Der Schatz im Teuchelwald“ oder einer Geocaching-Tour rund um den Marktplatz Freudenstadt, der etwas anderen Stadtführung. Infos und Anmeldung: Margot Laufer Bodelschwinghstr. 10/3 · 72250 Freudenstadt Telefon: 07441 – 863380 Fax: 07441 – 863381 E-Mail: [email protected] www.schwarzwaldguide.info Sichtweisen 10/2009 Es gibt auch die Möglichkeit, auf der Website eine PDF-Version herunterzuladen. Kontakt und Information: Koordinationstreffen Tübinger Behindertengruppen Neustadtgasse 2 · 72072 Tübingen Ansprechpartnerin Elvira Martin Dienstag 14 bis 16 Uhr und nach Vereinbarung Tel:0 70 71 – 2 69 69 Fax: 0 70 71 – 55 17 78 www.sozialforum-tuebingen.de/ 49 Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen zu den »Sichtweisen« Nr.10. Leserbriefe mit Ihren Meinungen und Rückmeldungen, mit Lob und Kritik sind uns immer willkommen. Wir freuen uns weiterhin über Beiträge „externer“ Schreiberinnen und Schreiber, die auch in dieser Ausgabe die „Sichtweisen“ mit interessanten Artikeln bereichert haben. Und sollten Sie sich vorstellen können, regelmäßig bei den „Sichtweisen“ mitzuwirken, möchten wir Sie gerne als neues Redaktionsmitglied begrüßen. Das Redaktionsteam Älter werden mit Behinderung 50 Sichtweisen 10/2009 Gestaltung und Realisation: www.logowerbung.de Sichtweisen Michael Köber Landratsamt Esslingen 73726 Esslingen am Neckar Telefon (0711) 3902-2634 E-Mail: [email protected]