das weisse album

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das weisse album
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 13
ROBERT RYMAN Lindbergh / Giacometti M ARY REID KELLEY GEDRECHSELTES ELFENBEIN
SEPTEMBER 2016
Nr. 13 / September 2016
DAS WEISSE ALBUM
Die Kunst der Perfektion.
Loewe bild 7.
Fernsehen war gestern. Bildkunst ist heute.
Mit Farben, brillanter als im echten Leben. Mit
Kontrasten, schärfer als je zuvor. Auf einem
Bildschirm, dünner als ein Smartphone – dank
OLED-Technologie. Wie gemacht für Trendsetter
des guten Geschmacks. Gönnen Sie sich ein
echtes Meisterwerk. Den Loewe bild 7.
Erfahren Sie mehr im Loewe
Fachhandel oder auf www.loewe.tv.
AUFTAKT
„BLAU wurde Stück
für Stück weiß. Und
dann, ganz zum
Schluss, kam der Text,
der am wenigsten
mit Kunst zu tun hatte,
dafür am meisten
mit unserem Leben“
Eben noch hatte er mir in schwärzesten Tönen den unaufhörlichen
Niedergang seines Berufsstandes, nun
ja, sagen wir ruhig: ausgemalt. Und
nun saß er, nur Momente später, völlig
versöhnt vor mir und strahlte
wie das schönste Weiß auf den Bildern
seines Kollegen Robert Ryman:
Gerhard Richter sprach von der unglaublichen Sicherheit, mit der
Ryman seinen Weg gegangen sei, einer
Sicherheit, die ihm, Richter, immer
gefehlt habe. Er sprach von Rymans
fast mönchischer Inbrunst, mit der
er seine Arbeit machte, und wie Richter
so erzählte, wurde mir klar, dass
man sich die Geschichte des Robert
Ryman, eines Malers, der sein Leben
lang ausschließlich weiße, quadratische
Bilder gemalt und trotz dieser Selbstbeschränkung ein ganzes Universum
geschaffen hatte, dass man sich
diese Geschichte noch einmal in aller
Ausführlichkeit erzählen lassen
müsse. Allein: Die richtige Publikation
fehlte. Noch. Ein Jahr später, es
waren bereits die ersten Ausgaben von
BLAU erschienen, erzählte uns
Christoph Becker, der Direktor am
Kunsthaus Zürich, vom „Weißen
Giacometti“, den ebenso raren wie
fragilen Gipsarbeiten, die im Depot
des Museums lagerten. Ob sie nicht,
fragten wir ihn, nur zum Beispiel,
Peter Lindbergh für uns fotografieren
dürfe? Becker war einverstanden,
Lindbergh ebenso – und dann fiel uns
Ryman wieder ein. Plötzlich hatten
wir nicht eine Geschichte, nicht zwei,
wir hatten ein ganzes Heft vor Augen.
War nicht gerade der Kampf
ums Weiße Haus entbrannt? Hatte
nicht der junge österreichische
Rapper Yung Hurn mit Bianco den Hit
der Stunde? Und ähnelte unsere
Arbeit nicht zunehmend dem FischliWeiss-Video Der Lauf der Dinge?
Gesine Borcherdt sprach mit Brian
O’Doherty, der mit Inside the White
Cube vor genau 40 Jahren einen der
einflussreichsten Essays der jüngeren
Kunstgeschichte geschrieben hat.
Margit J. Mayer schickte uns ihre Kulturgeschichte des weißen Raumes.
5
Hans-Joachim Müller wandelte auf
den Spuren von elfenbeindrechselnden Fürsten. Und Swantje Karich
hatte Durs Grünbein am Telefon, der
zwar im Urlaub weilte, aber zufällig
ein altes Notizbuch mit sich herumtrug, das ein Gedichtfragment
namens Weiße Verben enthielt, welches
es nun nur noch zu beenden galt.
BLAU wurde Stück für Stück weiß.
Und dann, ganz zum Schluss, kam
der Text, der am wenigsten mit Kunst
zu tun hatte, dafür am meisten mit
unserem Leben. Als wir Erling Kagge,
dem norwegischen Abenteurer
und Sammler, der den größten Kunstbestseller des letzten Jahres geschrieben hatte, bei unserem einjährigen Jubiläum zu später Stunde von unserer
weißen September-Ausgabe erzählten,
versprach er uns, in einem persönlichen Essay auf seine Expedition zum
Südpol zurückzublicken. Als ich
dann kurz vor Redaktionsschluss las,
wie er zu Beginn seines fünfzigtägigen Fußmarsches nur ein gleißendes
Weiß wahrgenommen hatte, und wie
er erst mit der Zeit hier ein leichtes
bläuliches Schimmern, dort eine gelbliche Aderung zu erkennen begann,
wie Kagge von der Abwesenheit jedes
Lärms und der Wohltat der Stille
sprach – da glaubte ich für einen
Moment die Stimme Gerhard Richters
zu hören. Richter, wie er an jenem
Nachmittag vor zwei Jahren in seinem
Atelier saß, über die Gemälde Robert
Rymans sprach und strahlte. Und ich
wusste, es war gut.
CORNELIUS TITTEL
10 CONTRIBUTORS /
IMPRESSUM
13ESSAY
EIN KUNSTMAGAZIN
ROBERT RYMAN
Counsel, 1982,
Öl und Lack auf
Leinwand,
244 × 244 cm
Nr. 13 / September 2016
Limitiertes Cover
ALBERTO GIACOMETTI
Ausschnitt aus Werken,
fotografiert im Kunsthaus
Zürich von Peter Lindbergh
Erling Kagge
16
NEUES, ALTES, BLAUES
18
DICHTER DRAN
Durs Grünbein
20INTERVIEW
„ Als ich jetzt wieder in
New York war,
waren es auch seine
Bilder, die mich
mit dieser bekloppten
Stadt versöhnt
haben. Sie erinnerten
mich daran, was
ich mir selbst für eine
Kunstwelt erträumt
und erhofft hatte“
— GERHARD RICHTER ÜBER
ROBERT RYMAN
Brian O’Doherty
24BEWEGTBILD
Axel Hütte
24 DIE SCHNELLSTEN
SKULPTUREN DER WELT
Der Lancia Stratos
26BLITZSCHLAG
Gerhard Lenz
30 UM DIE ECKE
Belgrad
INTO THE GREAT
WHITE OPEN
MIT NUR EINER FARBE EIN UNIVERSUM
SCHAFFEN: SIEBEN WEGGEFÄHRTEN
VERNEIGEN SICH VOR ROBERT RYMAN
s. 46
DER WEISSE GIACOMETTI
SO HABEN WIR IHN NOCH NIE GESEHEN: DIE RAREN GIPSE
DES MEISTERS, FOTOGRAFIERT VON PETER LINDBERGH
S. 36
WEGE ZU SICH
FÜNFZIG TAGE UND KEIN EINZIGES WORT.
ERLING KAGGE WAR IM EWIGEN EIS
UND ERZÄHLT VON DER EWIGEN STILLE
s. 13
INHALT
6
Von oben im Uhrzeigersinn: ROBERT RYMAN Counsel, 1982, Öl und Lack auf Leinwand, 244 × 244 cm. ALBERTO GIACOMETTI: Composition cubiste, um 1926, Kopf Bruno, 1919, und Grand buste de Diego d’après nature,
um 1951 (Details), Gips; fotografiert im Kunsthaus Zürich von Peter Lindbergh. ROBERT RYMAN in seinem Atelier in New York, 1999. ALBERTO GIACOMETTI, Femme, 1929, und Grand buste de Diego d’après nature, um 1951,
Gips; fotografiert im Kunsthaus Zürich von Peter Lindbergh. ERLING K AGGE auf Südpolexpedition
APÉRO
ENCORE
74 GRAND PRIX
Die Kunstmarkt-Kolumne
76WERTSACHEN
EIN KUNSTMAGAZIN
Nr. 13 / September 2016
Was uns gefällt
78 BLAU KALENDER
Unsere Termine im
September
81BILDNACHWEISE
82 DER AUGENBLICK
Zoe Leonard
— MARGIT J. MAYER
DIE GÖTTIN DES GEMETZELS
EINE EXKURSION IN MARY REID KELLEYS
VIKTORIANISCHE HIGH-TECH-HÖLLE
s. 58
WUNDER FÜR DIE
KAMMER
WIE DIE FÜRSTEN DAS KUNSTHANDWERK ERLERNTEN UND
AUS ELFENBEIN SPEKTAKULÄRST
NUTZLOSES SCHUFEN
s. 71
MEHR LICHT
ZWISCHEN DEKADENZ UND UNSCHULD: EINE KLEINE
KULTURGESCHICHTE VON LOOS BIS MARGIELA
VON MARGIT J. MAYER
s. 64
INHALT
8
Von oben im Uhrzeigersinn: MARY REID KELLEY, fotografiert von Sarah Brück. Rekonstruktion des Wohnzimmers von CHARLES RENNIE MACK INTOSH, 1906.
Höfischer Deckelhumpen mit Porträts von Leopold I. und der kaiserlichen Familie von DANIEL VADING, Berlin, 1670, Höhe 16 cm
„Weiß ist die komplexeste
Farbe – streng
physikalisch ausgedrückt:
Farbmischung – und
in unseren Köpfen die
widersprüchlichste.
Wir verbinden damit
Naivität, Leichtigkeit,
Optimismus, Luxus,
Sport und Kraft, aber
auch Reife, Konzentration,
Kontrolle, Dekadenz,
Erschöpfung
und Kapitulation“
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My
Abstract
World
CONTRIBUTORS
Peter LINDBERGH
Zwei Ausflüge von Paris nach Zürich
brauchte er für sein Debüt bei BLAU.
Einen, um die Gipsskulpturen von
Giacometti im Depot des Kunsthauses zu sichten. Einen, um sie zu
fotografieren. Dann Lindberghs
beglückter Anruf, alles sei gut gegangen, mehr noch, er habe bei der Arbeit den ganzen Tag Gänsehaut gehabt. Die Gipsarbeiten ganz für sich zu wissen, sie nach
Belieben gruppieren und sogar anfassen zu dürfen, das sei ein
Auftrag, den er nicht vergessen werde. Was passiert, wenn der
Mann, der mit seinen Vogue-Covern einst den SupermodelTrend begründete und längst die Museen erobert hat, auf den
größten Bildhauer des 20. Jahrhunderts trifft? (Seite 36)
IMPRESSUM
Redaktion
CHEFREDAKTEUR
Cornelius Tittel (V. i. S. d. P.)
MANAGING EDITOR
Helen Speitler
STELLV. CHEFREDAKTEURIN
Swantje Karich
ART DIRECTION
Mike Meiré
Meiré und Meiré:
Philipp Blombach, Marie Wocher
TEXTCHEF
Hans-Joachim Müller
BILDREDAKTION
Isolde Berger (Ltg.), David Dörrast
REDAKTION
Gesine Borcherdt,
Dr. Christiane Hoffmans (NRW)
SCHLUSSREDAKTION
Claudia Kühne, Max G. Okupski
REDAKTIONSASSISTENZ
Manuel Wischnewski
Autoren dieser Ausgabe
In Kooperation mit / In collaboration with
Margit J. MAYER
Wer sonst hätte für uns eine Kulturgeschichte des all-white room schreiben sollen? Als Chefredakteurin
machte sie die deutsche Architectural Digest zum weltweit führenden
Architektur- und Designmagazin.
Wenn sie ihre messerscharfen Urteile
fällte und neue Stilikonen ausrief, hörte (und schaute) man auch
in London oder New York genau hin. Nach Stationen beim
Taschen Verlag und Harper’s Bazaar lebt Mayer heute als Autorin
in Berlin – und leitet von dort aus das Bogner-Magazin. Für die
Lancierung des neuen Fachbegriffs „Kokain-Moderne“ in dieser Ausgabe bedanken wir uns schon jetzt. (Seite 64)
Durs GRÜNBEIN
14. 09. 2016
— 02. 04.
2017
Auguststraße 68
10117 Berlin
Di-So, 12-18 Uhr
me-berlin.com
Bernard Frize, Puxo (Detail), 2011
© VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Der Dichter erinnert sich genau an
seine Begegnung mit Malewitschs
Weißem Quadrat, damals in New York.
Es schien ihm ein wenig zu schwanken, als hätte es ein Gläschen Wodka
zu viel gekippt. „Und ich war überrascht, die kleinen Pinselstriche zu
sehen, aus denen das ‚Weiß‘ bestand.“ Die Wirkung habe er sich
als eine Art Blendung vorgestellt, als Offenbarung des Absoluten. „Aber so geht es schließlich mit aller Kunst – sie vermenschlicht sich, je länger sie altert.“ Damals sei die Idee zu dem
Gedicht Weiße Verben entstanden. „Ein paar Zeilen, in einem
Notizbuch vergessen, nun fielen sie mir wieder ein, und ich
brachte die Zeilen zu Ende.“ (Seite 18)
Max Dax, Durs Grünbein,
Erling Kagge, Oliver Koerner
von Gustorf, Ana Konjovic,
Margit J. Mayer, Paul Nizon,
Ulf Poschardt, Ulf Erdmann Ziegler
Fotografen dieser Ausgabe
Yves Borgwardt, Sarah Brück,
Martin Fengel, Albrecht Fuchs,
Peter Lindbergh, Katarina Šoški
Sitz der Redaktion BLAU
Kurfürstendamm 213, 10719 Berlin
+49 30 3088188–400
redaktion@blau–magazin.de
BLAU erscheint in der Axel
Springer Mediahouse Berlin GmbH,
Mehringdamm 33, 10961 Berlin
+49 30 3088188–222
Nr. 13, September 2016
Verkaufspreis: 6,00 Euro
inkl. 7 % MwSt.
Abonnement und Heftbestellung
Jahresabonnement: 48,00 Euro
Abonnenten-Service BLAU
Postfach 10 03 31
20002 Hamburg
+49 40 46860 5237
[email protected]
Verlag
GESCHÄFTSFÜHRER
Jan Bayer, Petra Kalb
Sales
ANZEIGENLEITUNG
Eva Dahlke (V. i. S. d. P. ),
[email protected]
ANZEIGENLEITUNG KUNSTMARKT
Julie Willard
julie.willard@blau–magazin.de
HERSTELLUNG
Olaf Hopf
DIGITALE VORSTUFE
Image- und AdMediapool
DRUCK
Firmengruppe APPL,
appl druck GmbH
Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2
vom 01.01.2016. Copyright 2016,
Axel Springer Mediahouse GmbH
Inspiriert von KPM Laborporzellanen
www.kpm-berlin.com
PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALzbURG
JAMES ROSENQUIST, Isotope (DETAIL), 1979, OIL ON cANvAS, 127 × 320 cM
© 2016 JAMES ROSENQUIST / LIcENSED by vAGA, NEw yORk.
JAMES ROSENQUIST
FOUR DEcADES
1970 – 2010
PARIS PANTIN
SEPTEMbER – DEzEMbER 2016
ROPAc.NET
ESSAY
WEITES
WEISSES
NICHTS
Erling Kagge
1993 allein auf dem Weg zum Südpol
Mit A Poor Collector’s Guide
to Buying Great Art
schrieb Erling Kagge eines
der erfolgreichsten
Kunstbücher der letzten
Jahre. Hier erinnert
sich der Sammler und Abenteurer an seinen
Fußmarsch zum Südpol.
Und an die Stille,
die sein Leben geprägt hat
A
ls Kind war ich fasziniert von Schne­
cken, wie sie ihr Haus mit sich
herumtragen. Vielleicht war es diese
Faszination, die mich später ganz allein
zum Südpol laufen ließ, mit meinem Hab
und Gut auf einem Schlitten verstaut.
Es waren 50 Tage, in denen ich ganz allein
mit mir war, ohne jeden Kontakt, ohne
auch nur einmal ein Wort zu sagen. Immer
wenn der Wind nachließ, nahm ich mir
eine Pause. Und ich war von einer Stille
umgeben, die mir plötzlich so unglaublich
laut erschien. Eine Stille, die alles andere
als langweilig war.
Ich habe die Ozeane überquert, die
dunklen Tunnel unterhalb New Yorks erkun­
det. Ich bin zu Fuß zu den Polen dieser
Welt gewandert und hinauf zum Gipfel des
Mount Everest geklettert. Und irgend­
wann ist mir klar geworden, dass die Natur
auch durch ihre Stille zu uns sprechen kann.
Zu Hause ist immer ein Auto in der
Nähe. Irgendwo klingelt ein Telefon oder
Menschen sprechen miteinander. Es sind
so viele Klänge um uns herum, dass wir sie
gar nicht mehr wahrnehmen. Allein auf
dem Eis, mitten in diesem weiten weißen
Nichts, hörte ich nicht nur die Stille, ich
konnte sie am ganzen Leib spüren.
In der Antarktis ist alles endlos weiß
und flach, über Tausende von Kilometern
hinweg. Weiß, immer nur weiß, bis hin zum
Horizont. Als hätte die Stille ein Abbild
von sich selbst geschaffen. Aber wenn man
hier allein ist für eine Weile, dann fällt
einem auf, dass die Landschaft gar nicht so
flach ist. Eis und Schnee schieben sich zu
kleinen faszinierenden Formationen ineinan­
der. Und auch das Weiß ist nicht mehr
nur Weiß. Dort schillert es leicht bläulich,
und an anderer Stelle wieder scheint es
gelblich durchzogen oder rosa getüncht.
Ich werde oft gefragt, was das
Schwierigste daran ist, allein zum Südpol zu
laufen. Mir war die Antwort immer schon
klar: anzukommen. Das Entdecken ist ein
viel größeres Erlebnis als die Entdeckung
selbst, das Ziel am Ende einer Reise. Immer
wenn ich allein war und mich langsam
durch die Stille bewegte, fühlte ich mich
wirklich am Leben. Die Zukunft schien
mir dann unwichtig. Auch das Vergangene
kümmerte mich nicht. Ich war plötzlich
fest im Hier und Jetzt angekommen.
APÉRO
13
Die Natur hatte sich nicht gewandelt –
nur ich, der ich mit strahlend wachen
Sinnen in die Landschaft blickte, befreit vom
Lärm. Die Stille schlich sich bei mir ein,
machte sich in mir breit. Ohne es zu wollen,
war ich gezwungen, Gedanken bis an ihr
Ende zu verfolgen. Man kann seinen Gedan­
ken nicht ausweichen, sich nicht zurück­
ziehen in Halbwahrheiten und kleine Lügen.
Es gibt keinen Ort in der Antarktis, an
dem man sich verstecken könnte.
Am Anfang ist die Bahn der Sonne
geneigt. Ihr Bogen ist höher im südlichen
Himmel und niedriger im Norden. Diese
Neigung lässt immer weiter nach, je näher
man dem Süden kommt. Irgendwann
läuft man in der Mitternachtssonne, und für
24 lange Stunden wandert die Sonne in
der gleichen Höhe über den Himmel. Die
Antarktis hat mehr Sonnenstunden als
Südkalifornien und weniger Niederschlag als
die Westsahara. Eine Wüste aus Wasser.
Am 14. Tag notierte ich: „Ich kann hier die
Stille hören und in ihr baden. Es fühlt
sich gut an, allein in der Welt zu sein.“
Sieben Tage später schrieb ich in mein
Notizbuch: „Am Anfang schien mir
hier alles weiß zu sein, und in dieser Einför­
migkeit lag eine ganz bestimmte Schön­
heit.“ Aber dann schärften sich meine Sinne
für diesen Ort und seine Nuancen. Ich habe
gelernt, mit meiner Umgebung zu reden.
Ich vertraue der Natur Gedanken an. Und
erhalte etwas zurück. Ich las Bücher,
die so eng bedruckt waren, wie es nur geht.
Und nahm die Seiten als Toilettenpapier,
um Gewicht zu sparen. Ich begann an
kleinen Dingen Freude zu finden. In meinem
Tagebuch findet sich am 22. Tag der
Eintrag: „Zu Hause kann ich nur die schein­
bar großen Dinge genießen. Aber hier
zu sein lehrt mich, dass auch kleine Momente
bereichernd sein können: Eine Farbnu­
ance im Schnee. Der Moment, in dem das
Wüten des Windes nachlässt. Ein warmes
Getränk. Die Wolken in ihren endlos neuen
Formationen am Himmel. Und schließlich
auch die Stille.“ Meine Reise in der Antarktis
war mehr noch als eine Reise zum Pol eine
Reise zu mir selbst.
Viele Menschen werden neidisch sein,
aber wenige wären gern an meiner Stelle. –
Dieser Gedanke ging mir an einem der
letzten Tage durch den Kopf. Nach 50 Tagen
ohne jeden Kontakt erreichte ich mein Ziel.
Am 49. Tag schrieb ich: „Es ist kurz
nach Mitternacht. 25 Kilometer vom Südpol
entfernt. Es ist so wunderschön, dass es
mir die Sprache verschlägt. Ich war auf Partys
mit Hunderten Leuten in großen Städten
schon einsamer als hier.“
Während dieser 50 Tage verspürte ich
nie das Bedürfnis, jemals auch nur ein
einziges Wort zu sagen. Sogar als ich später
gemeinsam mit dem Entdecker Steve
Duncan New York City durch seine Tunnel,
Abwasserkanäle und Zugschächte durch­
querte – um die Stadt in ihren Eingeweiden
zu erkunden –, sagte ich nur wenig. Im
Angesicht wahrer Größe wird man still. Und
wenn man wahre Größe verstehen will,
sollte man damit anfangen, still zu sein.
Ich lerne von jeher nicht schnell.
Meine Rechtschreibschwäche war früher so
schlimm, dass ich nicht mal Dyslexie buch­
stabieren konnte, bevor ich 20 wurde. Aber
dort auf dem Eis der Antarktis, während
dieser endlosen 50 Tage, entdeckte ich Nuan­
cen meiner Persönlichkeit, die mir verborgen
waren. Aufmerksam zuzuhören oder
einfach nur zu hören, gibt uns die Möglich­
keit, die Dinge um uns herum zu erkun­
den. Ich verstand augenblicklich, warum ich
von der Schnecke so fasziniert gewesen
war: Auch wir tragen alles, was uns wirklich
ausmacht, mit uns herum – in uns.
in Freund von mir schloss sich einmal
in einem Zimmer in Paris ein, das
so gebaut war, dass es keinen Klang
durchließ. Ich habe genug Zeit in meinem
Leben fernab jeder Zivilisation verbracht,
um zu wissen, dass es so etwas wie absolute
Stille nicht gibt. Stille und Klang sind nicht
einfach Gegensätze. Man könnte vielleicht
sagen, dass sogar in der Musik – deren
Essenz der Klang zu sein scheint – die Stille
regiert. In seinem berühmten Vortrag
Lecture on Nothing zitiert der Komponist John
Cage einen großen Kollegen seiner Zunft,
Debussy: „Ich nehme mir alle verfügbaren
Töne, lasse dann die weg, die ich nicht
möchte, und nutze dann nur jene, die ich
wirklich will.“ Cage als Komponist von
Weltrang war mutig genug, um gleich alle
Töne fallen zu lassen, und schuf mit 4’33”
ein Stück kraftvoller Stille. Wenn uns die Stille
umgibt, dann wandern unsere Gedanken
in die Weite.
E
Bekanntlich war Beethoven an seinem
Lebensende vollkommen taub. Seine
berühmte 9. Sinfonie entstand nicht in seinen
Ohren, sondern nur in seinem Kopf.
Als er die Sinfonie zum ersten Mal aufführte,
dirigierte er mit dem Rücken zum Publikum
und musste sich erst umdrehen, um die
Reaktion des Publikums wahrzunehmen: den
tosenden Applaus. Kein höfliches Klat­
schen, nein, ein Jubel, so überwältigend und
ekstatisch, dass erst die Polizei die Ordnung
wiederherstellen konnte. An Beethoven
ist nicht die Musik das schönste Erlebnis. Es
Die Stille schlich sich
langsam bei mir ein. Ohne
es zu wollen, war ich
gezwungen, Gedanken bis
an ihr Ende zu verfolgen
sind die Pausen dazwischen. Die Stille inmit­
ten des überwältigenden Klangs. Längst
hat die Wissenschaft herausgefunden, dass
es diese Stille ist, die so viel in uns anrührt.
Beethovens viele kleinen Momente der Stille
sind es, die an uns rütteln und unser
Bewusstsein befeuern mit Tausenden kleiner
neuronaler Blitzschläge. Als der ebenfalls
taube Erfinder Thomas Edison den ersten
Plattenspieler testete, musste er mit seinen
Zähnen in den hölzernen Rahmen des
Gerätes beißen, um die Schwingungen des
Klangs zu spüren. „Ich beiße fest zu. So
wird es gut und stark.“ Es wäre leicht, sich
Stille als etwas Physisches zu denken. Aber
Stille ist nicht mehr als eine Idee. Während
sich Klang in Dezibel messen lässt, versa­
gen unsere Instrumente bei Stille. Stille
kann langweilig sein, unangenehm, peinlich,
sogar angsteinflößend.
Stille kann vor Leben sprühen. Der
überwältigendste Schrei, den ich je erlebt
habe, ist kein Klang. Ich spreche von
Edvard Munchs berühmtem Meisterwerk.
Mein liebstes Haiku stammt von dem
japanischen Dichter Bashō: „Ein alter
Tümpel / Ein Frosch springt hinein / Der
Klang von Wasser.“ Und in meinen
Gedanken war es nie stiller, als wenn ich
meine schlafenden Kinder in den Armen
APÉRO
14
hielt – in diesen Momenten hielt ich die
gesamte Schöpfung; in einer solchen Stille
kann man das Leben spüren.
Stille ist nichts. Und gleichzeitig etwas
ganz Eigenes, ein Luxusgut. Einige der
reichsten Leute der Welt gehören zu meinen
Freunden. Nur wenige von ihnen leben
ein einfaches Leben. Die anderen schwelgen
im Luxus, der ihnen ihr Geld ermöglicht.
Eines wissen sie nur zu gut: Luxus bringt nur
flüchtige Freuden, kurze Momente des
Glücks. Dein Ferrari wird dich immer nur so
lange zufriedenstellen, bis einer deiner
Freunde einen schöneren erstanden hat.
Wenn man in die Augen der großen
Luxusdesigner blickt – Tom Ford oder Marc
Jacobs –, dann sehe ich dort vor allem
ein Verlangen nach Frieden. Ich glaube, sie
wissen nur zu gut, dass Stille das absolut
unterschätzteste Luxusgut unserer Zeit ist.
Ihre Geschäftsmodelle versprechen
ein immer größeres Mehr. Die Stille aber
verlangt nur nach immer weniger.
Es geht vielleicht darum, das Eigentliche
hinter dem zu sehen, was wir tun. Egal,
ob wir nun gerade kochen, reden, arbeiten,
tanzen oder miteinander schlafen. Ich
weiß, dass wirkliche Nähe nur in der Stille zu
finden ist. Ohne das Schweigen wird man
sich nie wirklich verstehen. Für mich ist das
Reden oft nur eine Ausflucht vor der
Wahrheit. Ein Herausreden. Ein Drumhe­
rumreden. Reden oder Musikhören können
uns miteinander verbinden – aber auch alle
Türen zuschlagen. Der Sufimystiker Rumi
hat es am besten gesagt: „Ich werde jetzt still
sein und überlasse es der Stille, die Wahr­
heit von der Lüge zu scheiden.“
Für mich ist die Stille auch ein prakti­
scher Schlüssel zum Selbst, der helfen kann,
etwas Neues über die Dinge zu erfahren,
die uns umgeben. Stille kann uns eine neue
Sicht auf die Welt öffnen. Aber niemand –
weder John Cage noch ein Zen-Meister oder
ein Vater von drei Kindern, wie ich es
bin – kann den einen Weg zur Stille weisen.
Es gibt ihn nicht. Wir müssen alle unseren
eigenen Weg zum Südpol finden.
ERLING KAGGE ERREICHTE DEN NORDPOL UND
ALS ERSTER UNBEGLEITET DEN SÜDPOL. ER
BESTIEG DEN MOUNT EVEREST UND WAR DAMIT
DER ERSTE MENSCH AN ALLEN DREI
EXTREMPUNKTEN. KAGGE LEBT ALS VERLEGER,
SCHRIFTSTELLER UND SAMMLER IN OSLO
APÉRO
NEUES, ALTES,
BLAUES
WAS WÄRE, WENN
… Donald Trump als Präsident über
die Kunst im Weißen Haus bestimmt?
Wir haben seinen Biografen
MICHAEL D’ANTONIO gefragt
Hat Donald Trump Sinn für Kunst?
— Donald bezeichnet moderne Kunst
gern als Farbspritzer oder Kinderkram.
Er mag es eher üppig. Das Empfangszimmer seiner Wohnung im Trump
Tower sieht aus wie eine amerikanische
Idee von Versailles. Louis-XIV-Möbel
ergießen sich im Raum, überall Marmor
und Messing, eine Trompe-l’Œil-Malerei
an der Decke vollendet das Spektakel.
Obama kaufte fürs Oval Office NORMAN ROCKWELLS Freiheitsstatue von 1946
INSIDE THE WHITE HOUSE
W
enn Barack Obama das Weiße
Haus räumt, tritt seine Nachfolge in große Fußstapfen. Als
erstes Präsidentenpaar hängten er und
seine Frau Michelle abstrakte Kunst an die
Wände. Kompositionen von Josef Albers
oder der Afroamerikanerin Alma Thomas
ersetzen staubige Politikerporträts, die
den Großteil der White-House-Sammlung
ausmachen. Nun gehören auch Rothkos
Red Band und Sam Francis’ White Line dazu.
Nur das Oval Office ist mit Martin Luther
King und Freiheitsstatue figurativ geblieben. George W. Bush hatte dort W. H. D.
Koerners wild galoppierenden Cowboy
aufgehängt und seine eigenen Memoiren
nach dem Titel A Charge to Keep benannt.
Dass der Reiter ein Pferdedieb war, erfuhr
er erst später. Hillary Clinton kaufte als
First Lady eine Landschaft von Georgia
O’Keeffe. Sie hängt in der Bibliothek.
Und vielleicht bald im Oval Office! GB
U R
NE HIE
Hat er jemals erwähnt, welche Künstler
er mag?
— Nein. Er hat wertvolle Art-déco-Friese
in einem Gebäude zerstört, das er beim
Bau des Trump Towers abreißen ließ.
Er hatte versprochen, sie zu bewahren,
aber die Baufirma scherte sich nicht
darum. Als das herauskam, gab Trump
sich als Pressesprecher der Firma aus
und erklärte, sie seien ohnehin wertlos.
Ein anderes Mal begleitete er einen
Kunstkritiker ins MoMA, wo er eine
Skulptur für einen Tisch hielt und
seinen Mantel darauf ablegte. Ansonsten
lag sein Augenmerk wohl vor allem
auf Frauenkörpern. Das passt. Trumps
ästhetisches Empfinden geht in Richtung Playboy-Magazin.
Welche Kunst würde er im Weißen Haus
aufhängen?
— Wenn überhaupt, dann die Präsidentenporträts. Damit er sich sein eigenes
hinzudenken kann.
Der Maler macht nie Ferien, aber in die Sommerfrische geht er doch.
Max Beckmann, Jütland, 1905. Leicht, ein bisschen genialisch malt der
21-Jährige draußen am Meer die Große Buhne. Was ihn an der bulligen
Holzkonstruktion interessiert, ist nicht ersichtlich. Wohl war es für den
gelegentlichen Pleinair-Maler ein Anlass, ein wenig in der impressionistischen Handschrift zu brillieren, von der er sich bald kämpferisch distanzieren wird. Ein unangestrengter früher Beckmann, eine langjährige Leihgabe im Museum für bildende Künste in Leipzig, die jetzt erworben worden ist und dort auf das Bildnis eines Teppichhändlers (1946) trifft. GB
MAX BECKMANN Große Buhne, 1905
APÉRO
16
Studio Albrecht Fuchs im Kölnischen Kunstverein
TÜR AUF!
D
as Atelier ist ein sehr privater
Raum, in den man normalerweise nicht einfach so hineinspazieren kann. Der Kölnische Kunstverein bricht jetzt mit dieser Regel – zumindest für das rheinische Kunstwochenende
DC Open (2. bis 4.9.), mit dem in Köln
und Düsseldorf immer die Saison
beginnt. Die Stipendiaten des Vereins –
darunter Albrecht Fuchs, Alwin Lay,
Henning Fehr und Philipp Rühr – haben
ihre Ateliers in dem Ausstellungshaus.
Nun öffnen sie erstmals ihre Türen für
Besucher. GB
Luftraum
Manchmal muss man nach Braunschweig
fahren. Sich ein Fahrrad leihen und
abends die Oker umradeln. Wie ein Ring
durchs Grün umschließt sie die Altstadt.
Auf dem Wasser und am Ufer leuchten
gerade 15 Kunstwerke. Sie sind für den
Lichtparcours entstanden, der alle paar
Jahre stattfindet: Andreas Fischer hat auf
eine Hütte die Wörter Own und Air
geschrieben: Wem gehört die Luft? Innen
stöhnt eine Lampe. Tomás Saraceno sucht
den Kontakt zu Aliens mit schwimmenden
Satelliten. Und
Kevin Schmidt
lässt eine
Parkvilla
mit Sound
und Licht
pulsieren: But
No One’s
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ANDRE
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L ichtinst FISCHER O wn
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16,
in Braun
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02.09.-05.11.2016
Königsallee 22 40212 Düsseldorf 0049 - 211 - 326566
Di – Fr 10 – 18 Uhr Sa 11 – 14 Uhr www.ludorff.com
Christian Awe, ocean breeze, 2016, Acryl, Sprühlack auf Leinwand, 110 x 145 cm (Detail) , © Christian Awe
DICHTER DRAN
WEISSE
VERBEN
Die weißen Verben sind alle unsichtbar.
Sie kreisen um Tätigkeiten, die man nicht lernt.
Sie heißen verschwinden, verlöschen, verenden
Und führen in menschenleeres Gebiet.
Durs
GRÜNBEIN
Unmerklich schleichen sie durch den Raum.
Was für Energien werden frei,
wenn die Sprachkunst auf die
Bildkunst trifft? Für BLAU hören
Lyriker auf den Klang der Kunst.
Durs Grünbein, Jahrgang 1962,
führt uns in menschenleeres
Gebiet.
Sie heißen zerfallen, verwehen. Sie streichen
Mit Geisterhand aus, was je existierte.
Sie hüllen das Denken in Schneefall ein, Nebel,
Und fangen als Kreidestrich auf der Schultafel an.
Sie geben der Sprache den Zug ins Finale.
Inspiriert von
Kasimir
Malewitsch
Schneien ist eins dieser Verben, gefrieren.
Altern ein anderes, verzagen, entschlafen.
Sie können die Knoten der Weisheit durchschlagen.
Es gibt sie als wandernde blinde Flecke.
Es gibt sie am Rand aller Psychen.
Die weißen Verben machen kaum von sich reden.
Sie arbeiten gründlich, auf sie ist Verlaß.
Es gibt sie wie es die Liebe gibt.
Sie operieren verdeckt
Und rücken still im Schutz der Hauptwörter vor.
Sie zielen auf Horizonte, die nichts erreicht.
K ASIMIR MALEWITSCH
Weißes Quadrat auf weißem Grund, 1918, Öl auf Leinwand,
79 × 79 cm
APÉRO
18
INTERVIEW
HEILIGE
SCHRIFT?
KÜNSTLER UND KRITIKER: BRIAN O’DOHERTY
Vor 40 Jahren
erschien sein folgenreicher Band
Inside the White Cube.
Ein Gespräch mit
Brian O’Doherty über
Snobismus und
Unverzichtbarkeit
Psychologische Studien sagen, dass weiße
Wände nicht gut für die Stimmung
sind. Haben Sie sich jemals schlecht gefühlt
in einer Galerie?
— Nein. Für mich ist der White Cube eine
weiße Leinwand. Ohne ihn könnte ich
als Künstler nicht arbeiten. Nur Menschen
mit schlechtem Gewissen fühlen sich in
weißen Räumen schlecht.
Vierzig Jahre ist es nun her, dass Ihr
Essay Inside the White Cube veröffentlicht
wurde. Sie haben damals eine Debatte
ausgelöst, die bis heute wirkt. Kam die
Aufregung unerwartet?
— Ja, denn der Text deutet eigentlich auf
ein offensichtliches Phänomen. Als Künstler,
der mit seinen Installationen jeden Winkel
eines Raums ins Visier nimmt, fragte
ich mich: Was ist das für ein Raum? Er ist
künstlich, fordert Rituale und Inhalte – und
trotzdem ist er neutral. Die Wände sind
weiß, die Fenster verhängt. Wo alles entfernt
ist, entsteht der idealisierte, elitäre Raum.
Die Konzeptkunst wandte sich gegen den
White Cube als neutralen Raum, weil
er eben nicht neutral war, sondern seine
eigene ideologische und kommerzielle
Agenda hatte. Heute scheinen Künstler all
das akzeptiert zu haben und für ihre
Zwecke zu nutzen.
— Ja, der White Cube war nie unschuldig.
Er wurde aus dem Kommerz geboren.
Das ist seine Erbsünde. Seine Erlösung ist
das Kunstwerk. Die Macht des White
Cube ermöglichte es uns, Dinge zu gestalWie erinnern Sie die Debatten um den White ten, die verkauft werden konnten. Ich muss
Cube in den 70er-Jahren?
meine Kunst verkaufen, um die Miete zu
— Es gab ja keine! Deshalb hatte der Essay bezahlen. Der White Cube hilft mir dabei.
wohl diese unglaubliche Wirkung. Die
Leute waren ja schon damals vergesslich. Ich Ein weiteres Paradox ist, dass der White
war nämlich nicht der erste Künstler,
Cube einerseits Kunsttourismus
der das Thema ansprach. Marcel Duchamp anzieht, andererseits vermittelt er etwas sehr
zum Beispiel, dann Allen Kaprow und
Elitäres, zu dem nur eine bestimmte
Daniel Buren. Von ihnen kamen ja schon
intellektuelle oder wohlhabende Gruppe
überzeugende Kommentare. Duchamp
Zugang hat.
war ein Freund von mir und las mir den
— Der White Cube ist ein Snob. Er verlangt
Originaltext eines großartigen Vortrags von nach exaltierten Manieren, wie in einem
ihm zum Thema extra noch einmal vor,
Gerichtssaal oder einem Operationssaal,
damit ich ihn aufzeichnen konnte. Er war
alles privilegierte Orte. Menschen fühlen
ein reizender Mensch.
und verhalten sich dort anders. Das
impliziert eine soziale Diskriminierung.
Im Nachwort klingen Sie desillusioniert:
Stellen Sie sich die Galerie oder das
Was Sie „gefährliche Kunst“ nennen,
Museum als exklusive Klinik vor: Wenn
also Institutionskritik wie Konzeptkunst oder arme Leute krank werden, machen
Land Art, verschwinde Ende der 70er
sie eine andere Erfahrung als reiche.
zugunsten einer affirmativen Postmoderne.
Hat der White Cube diese Entwicklung
Ihr Essay brachte auch zum ersten Mal eine
beeinflusst? Vielleicht sogar maßgeblich
lockere, lustige Sprache in die Kunstkritik
bestimmt?
ein, ohne jemals flach zu werden. Das war
— Auf jeden Fall. Ich dachte, der White
damals etwas ganz Neues. Wozu war
Cube würde nach dieser Debatte seine
dieser Ton wichtig?
Kraft verlieren, sobald die Leute sich seiner — Ganz einfach: Mein Buch sollte keinesbewusst würden. Sehr viel Kunst bezog
falls im „Art Talk“ geschrieben sein,
sich damals ja kritisch auf den Galerieraum, also in einem akademischem Esperanto.
beschäftigte sich mit dem Kontext von
Einfache Gedanken in unzugängliche
Museen. Künstler verließen Galerien und
Prosa zu hüllen – da unterscheidet sich die
Ateliers. Kuratoren entdeckten neue Orte
Kunstwelt kaum von Medizinern und
für die Kunst: den Außenraum, NachbarJuristen. Sprich meine Sprache, und ich
wohnungen, die Straße. Den White Cube
gewähre dir Zutritt in meinen exklusiven
aber ließ das alles unberührt, er entpuppte Club! Mir war es aber wichtig, mein Buch
sich als außerordentlich zäh und langlebig.
mit Würde und Witz zu verfassen. Die
Heute ist er so mächtig wie eh und je. Das Leute sagten daraufhin zu mir: „Dies ist
ist ein Paradox, das aber auch ich nicht
eine heilige Schrift.“ Das ist natürlich
lösen kann. Künstler brauchen eben einen Unsinn. Ich bin wirklich alles andere als ein
weißen Raum zum Arbeiten. Ich selbst
verhinderter Priester.
habe den White Cube bloßgestellt, aber
benutze ihn auch.
INTERVIEW: GESINE BORCHERDT
APÉRO
20
E l f i E s E m ota n
0 3. s E p t E m b E r – 2 2 . o k to b E r
G a l E r i E G i s E l a C a p i ta i n , kö l n
21. Juli—30. Oktober 2016
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Revisiting the VIEWS Award — Contemporary Art from Poland
18. November 2016—5. März 2017
Bhupen Khakhar: You Can’t Please All
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Kemang Wa Lehulere
Deutsche Bank »Künstler des Jahres« 2017
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Details zu Ausstellungen und Rahmenprogramm
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Kraft der Farbe
Raimund Girke. Ohne Titel. 1991. Öl auf Leinwand. 30 × 40 cm. © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
Raimund Girke
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BEWEGTBILD
DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT
SCHNEEKATZE
AXEL HÜTTE über seinen
Lieblingsfilm
Das Schloss im Spinnwebwald
Wie ein von Frank Gehry zurechtgeschütteltes
Kit-Car: Der Lancia Stratos war für
seine Größe
absurd
motorisiert –
und
unbesiegbar
„Das Ausbleichen der Realität – darum geht es in diesem
Film. Zentral ist die Szene im
Spinnwebwald: Zwei Generäle irren durch das nebelverhangene Gehölz. Die Figuren
Keil mit Rissen: Der LANCIA STRATOS
wirken schemenhaft im weißen Umfeld. Das Entschwinuf den verschneiten
eine Moderne, die alle Verspreden der Landschaft ist SinnStraßen der Rallye
chen kindlicher Zukunftsträume
bild der gesamten Handlung:
Monte Carlo war er in
einlösen wollte. Die Studie
Sie steht für den Übergang seiner Camouflage oft nur
erschien als glitzernder Pfeil, der
zwischen Realität und Phan- in der Nacht zu sehen, bei den
in die Augen und Herzen der
tasma, das letztlich obsiegt. teuflischen Sonderprüfungen,
Autoverliebten stach und von
Im Wald taucht eine geister- wenn die Passstraßen der
dem sich eigentlich keiner
hafte Hexe auf, die eine Pro- Seealpen vom gleißenden Licht vorstellen konnte, dass jemand
phezeiung zu den Machtver- der Rallyescheinwerfer erleuchden Mut aufbrachte, ihn zu
hältnissen ausspricht. Die Ge- tet waren. Der Lancia Stratos
bauen. Damals war Lancia noch
neräle kämpfen, doch sie wird war ein zwergiger, flacher Keil
mutig – und nicht eine Abspielreal. Es ist wie bei den Land- in Weiß, mit den wunderstation für ranzige amerikanische
schaften Caspar David Fried- schönen Streifen der Alitalia
Autokonzepte – und fand,
richs: Das Geisterhafte ist grün garniert – und Mitte der
es sei die Sache wert.
wahrhaftiger als die Realität, 1970er-Jahre das Maß aller
Einsteigen musste man
der Betrachter sieht im Nebel Dinge im Rallyesport. Radikal,
durch die Frontscheibe und saß
mehr – seine Imagination er- halsbrecherisch schnell und
praktisch mit den Knien über
zeugt die wahre Realität. Mich brandgefährlich. Dreimal wurde der Vorderachse. Der Lanciafasziniert, wie Kurosawa all das Lancia damit RallyeweltmeisSportchef Cesare (!) Fiorio sah
mit der Strenge des masken- ter, hintereinanderweg,
in diesem absurden Traum
haften Kabuki-Theaters mischt. 1974/75/76. Es war auf eine
das ideale Rallyeauto. Die Studie
Andere Regisseure setzen Art auch der Anfang vom
wurde ineinandergeschoben
Weiß als
Ende dieser zauber- wie eine Ziehharmonika, erhielt
Stilmittel
haften, aufregenden
Ecken, Kanten und Risse. Der
ein. Hier
und stets übereleRadstand wurde geschrumpft
steht es für
ganten Automarke.
und der Mittelmotor (ursprüngMacbeth:
Seine Premiere
lich der der Fulvia) getauscht
Ehrgeiz
hatte der Stratos
gegen das Triebwerk des Ferrari
führt zur
als futuristische
Dino 246, der schon im
Selbstver- Das Schloss im Spinnwebwald, 1957, Bertone-Studie, die
Basiszustand 190 PS lieferte und
nichtung.“
1970
so
aussah
wie
mit ein paar mechanischen
ein Film von Akira Kurosawa
A
APÉRO
24
Aufputschmitteln problemlos
auf 240, dann 260 und irgendwann sogar über 300 PS
hochgezüchtet werden konnte.
Das Auto war derart winzig,
dass der Motor seitwärts eingebaut werden musste.
Mit seinen Kanten und
unbeholfenen Spoilern sieht
der Stratos aus wie ein von
Frank Gehry zurechtgeschütteltes Kit-Car. Die Form folgt der
Funktion, und die war kompromisslos auf Rallyesiege
getrimmt. Zur Homologation
musste Lancia 400 Stück
produzieren. Sie zu verkaufen
war nicht so einfach. Das
Auto war teuer wie ein Ferrari,
hatte keinerlei GT-Charme
und nur den zweitklassigen
Badge von Lancia zu bieten.
Am Schluss musste Lancia den
Stratos günstig vom Hof
schubsen. Heute ist er ein
extrem gesuchter und teurer
Klassiker. Im weißen AlitaliaRenntrimm-Original geradezu
unbezahlbar. Das ist absolut
leistungsgerecht.
ULF POSCHARDT
© 2016 ARTISTS RIGHTS SOCIETY (ARS), NEW YORK / VG BILD-KUNST, BONN
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1. & 2. November 2016 • Amsterdam
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Schleier zu Sais, 1962
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16/08/2016 14:30
BLITZSCHLAG
ER IST NOCH
IMMER DA
Es ist ein Augenblick der
Gewissheit: Dieses Kunstwerk
trifft mich im Kern. Gerhard
Lenz über das Verschwinden
ber dem Esstisch unseres von Zahlen im
Hauses in Tirol hängen
zwei große monochrome Nichts und
Bilder nebeneinander. Das eine
Roman Opałkas
Bild ist blau, das andere weiß,
und so sehr sie sich darin
letztes, unvoll­
ähneln, dass auf ihnen nur eine
Farbe zu sehen ist, so unterschiedlich sind sie. Das blaue
endetes Bild
Ü
Bild ist von Yves Klein und
durch eine Eingebung entstanden oder sagen wir: durch
eine gottgegebene Inspiration.
Das weiße Bild dagegen ist
hart erarbeitet, einem ganzen
Künstlerleben abgerungen.
Es ist das letzte vollendete Werk
von Roman Opałka, der 2011
gestorben ist. Mitte der 1960erJahre hat er mit seiner Serie
1965/1– ∞ begonnen, fortlaufende Zahlenreihen in Weiß erst
auf schwarz, dann auf grau
grundierte Leinwände zu malen.
Eine unglaubliche Sisyphosarbeit, die er mit unerschütterlicher
Kontinuität durchgehalten hat.
Mit jedem neuen Bild mischte er
ein kleines bisschen mehr
Weiß in die Grundierung, sodass
er Jahrzehnte später im vollkommenen Monochrom
angelangt war und forthin seine
Zahlenreihen Weiß auf Weiß
auftrug. Nach jedem Tag im
Atelier fotografierte er sich, und
so wie seine Zahlenreihen
langsam im Nichts verschwanden, so dokumentierte er
sein eigenes Verschwinden, die
Spuren der Zeit in seinem
Gesicht, das immer weißer
werdende Haar. Es ist ein Werk,
das mich in der unerbittlichen
Strenge des Künstlers zu sich
selbst, in seiner philosophischen Tiefe und Konsequenz
auf Anhieb sehr berührt hat.
Meine Frau Anna und ich
haben Opałka in den frühen
Siebzigern zu sammeln begonnen. Für uns gehörte er in die
Gruppe der Zero-Künstler, die
wir als Sammler begleitet haben,
und die wir immer als europäische Bewegung gesehen haben.
Und wie Günther Uecker, Karl
Prantl oder Gotthard Graubner
wurde Opałka ein lebenslanger
Freund.
Seine Zero-Sammlung ist die wichtigste ihrer Art: GERHARD LENZ,
fotografiert von MARTIN FENGEL
Als ich ihm 1999 sagte, ich neben Yves Klein gefunden.
wolle sein letztes vollendetes
Das unvollendete steht immer
Werk und das darauffolgende
noch auf der Staffelei in
unvollendete kaufen, sagte er,
seinem französischen Atelier in
ich sei wohl der einzige Samm- der Nähe von Le Mans, so
ler, der sein Werk richtig
als könne er jeden Augenblick
begriffen habe. Wir setzten einen zurückkehren. Seine Witwe
Vertrag auf, in dem auch
Marie-Madeleine lebt dort, und
festgelegt wurde, dass wir nach
auch wenn es uns gehört,
seinem Tod das unvollendete
bringe ich es nicht übers Herz,
Bild mitsamt der Staffelei und
es abholen zu lassen.
der Beleuchtung
bekämen. Für diese
zwei Bilder zahlten
wir damals eine
Million Mark, nicht
wissend, dass wir
ihn überleben, dass
wir die Bilder überhaupt jemals in Besitz
nehmen würde.
Nun ist er seit
fünf Jahren tot. Das
letzte vollendete
Als käme er gleich zurück:
Bild hat seinen Platz
Roman Opałkas Atelier mit seinem letzten Bild
APÉRO
26
Einladung zu Einlieferungen für unsere Herbstauktionen
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28
Meiré und Meiré
D
C
Düsseldorf
Cologne
Open Galleries
02 /03 /04 Sept 2016
dc-open.de
-KEINE29
UM DIE ECKE
IN DEN STRASSEN DER
WEISSEN STADT
Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie
vor. Und finden in Belgrad eine Kinoteka und
das Café Idiot, wo anderswo längst StarbucksFilialen wären
ihre Geschichten zu erzählen. Aber die Gesel-
B
elgrad ist eine schizophrene Stadt. Chaotisch und rau, mit einer absurden Stilmischung an Gebäuden. Dabei heißt Belgrad eigentlich „weiße Stadt“. Der Name
stammt aus dem 15. Jahrhundert, als die Türken einmarschierten und über die vielen weißen Gebäude staunten. Heute ist davon nicht
mehr viel zu sehen. Häuser wurden zerstört
oder abgerissen, Neues ist aus dem Glauben
an die Gegenwart und Zukunft heraus entstanden. Aber es funktioniert irgendwie. Die
Serben sind genauso. Egal welcher Wochentag: Das Leben findet auf den Straßen statt,
Cafés und Läden sind immer voll. Man
kommt schnell ins Gespräch – die Menschen
haben viel erlebt und sind ganz erpicht darauf,
ligkeit hat nicht viel mit Glück zu tun. Belgrad
ist eine Stadt im Transitzustand. Die Regierung will unbedingt in die EU und müht sich,
den Ansprüchen gerecht zu werden. Zugleich
aber macht dem Land Korruption in den so
wichtigen politischen Klassen zu schaffen.
Für die Kultur interessiert sich hier kaum
jemand. Und zum Geldverdienen bleibt den
Serben nur irgendein Business oder der
Schwarzmarkt – die wenigsten können tun,
wozu sie Lust haben. Die geradlinige berufliche Entwicklung wie in anderen Ländern –
mit Schulabschluss, Studium, Ausbildung und
dann festem Job – ist extrem selten.
Viele der Älteren wünschen sich daher
Jugoslawien zurück. Damals waren die Jobs
sicher, im Sommer fuhr man an die kroatiAPÉRO
30
sche Küste und dachte nie darüber
nach, dass es dort eine andere Kultur und Sprache gab.
Der Krieg aber hat alles verändert. Bis vor wenigen Jahren war es
gefährlich, als junges serbisches
Mädchen einfach nach Kroatien zu
fahren. Heute hat sich die Lage
beruhigt, und in zehn Jahren wird
alles sicherlich noch besser sein. Belgrad befindet sich im Übergang.
Das Rohe und Wilde zieht
in letzter Zeit vor allem junge Touristen an.
Wo sich andere Metropolen mit ihren Coffeeshop- und Modeketten immer mehr
gleichen, ist Belgrad unverfälscht. Es gibt
Kneipen und Cafés, die exakt so aussehen
wie in den 80er-Jahren – dort, wo anderswo
längst ein Starbucks eingezogen wäre.
Wenn ich von all dem Abstand brauche,
gehe ich in den Botanischen Garten. Mitten
in der Stadt, zwischen mehr als tausend
Pflanzenarten, herrscht Stille. In einem wunderschönen Treibhaus aus der Jahrhundertwende arbeitet eine alte Dame, sie weiß alles
über seine Geschichte. Am Rande des Parks
liegt der verwunschene Garten des legendären Café Idiot. Viele der Gäste sind Künstler, die Stimmung ist immer ausgelassen. Wer
die Treppe ins Souterrain nimmt, landet in
der dazugehörigen Bar. Hier haben sich
Schwule und Lesben in Belgrad zum ersten
Mal in ihrem Leben sicher gefühlt.
Ganz in der Nähe residiert das BitefTheater in einer ehemaligen katholischen Kirche. Seit den 70er-Jahren lädt es die besten
Theatergruppen aus aller Welt ein. Als Anlaufstelle für Intellektuelle und Künstler ist es aus
Belgrad nicht wegzudenken. Gleich daneben
liegt der Bajloni-Markt, auf dem man außer
Lebensmitteln auch bizarre Second-HandSachen entdecken kann. Einmal habe ich
einen Stand gesehen, an dem offenbar die
RAUES CHAOS, GUTE IDEEN
LINKS: IN BELGRAD IST DIE
TRAUFHÖHE EGAL. IN DER
KINOTEKA (LINKS UNTEN) IST
DIE ÄRA KLEIN-HOLLYWOOD
NOCH LEBENDIG. DAS
KUNST­MUSEUM (RECHTS) IST
SEIT ZEHN JAHREN DICHT,
JOCA (UNTEN) BACKT VOR
PUBLIKUM. GANZ RECHTS;
MARIJA ŠEVI UND LIDIJA
DELI VOM U10, DEM BESTEN
ORT FÜR JUNGE KUNST
Habseligkeiten
einer verstorbenen Person
angeboten wurden, gefischt aus
einer Mülltonne:
Familienalben und alte Medizin, Tablettenpackungen – Dinge, die das Ende eines Lebens
markieren, das nun hier ausgebreitet lag.
Ein paar Schritte weiter, und man steht
vor Jocas Bäckerei. Von außen ahnt man
nicht, was für eine Zeitkapsel sich hier verbirgt, die aussieht wie eine Filmkulisse: Sie
katapultiert einen vierzig Jahre zurück. Joca
ist immer da. Er war der Erste, der in Belgrad
das heute typische weiche Weißbrot gebacken
hat. Großeltern, Kinder und Enkel aus der
Nachbarschaft versammeln sich hier. Joca hat
etwas von einem Stand-up-Comedian, wenn
er den Leuten erklärt, wie er das Brot macht.
Man darf sogar in die Küche.
Dahinter beginnt Dorćol, das älteste
Viertel Belgrads. Vor hundert Jahren lebten
hier vor allem Juden und Künstler, das Viertel war multikulturell. Man spürt diese klassische Lässigkeit noch heute: Die Häuser erinnern in ihrer Großzügigkeit und Eleganz an
Paris. Klar dass Dorćol die teuerste Wohngegend Belgrads ist.
Von hier aus gelangt man zur Kinoteka:
ein wundervolles Arthouse-Kino. Heute läuft
WR: Mysteries of the Organism
von Dušan Makavejev, einer
meiner Lieblingsregisseure Serbiens aus den 70er-Jahren. Der
Eintritt kostet kaum zwei Euro.
Trotzdem ist es ziemlich leer – in Paris wäre
das eine erste Adresse, die man aufwendig
vermarkten würde.
In der kleinen Gasse um die Ecke stehen
jeden Tag Buchhändler, bei denen ich immer
wieder Raritäten aus Kunst und Philosophie
entdecke. Heute hat es mir ein Katalog von
Petar Lubarda angetan, ein berühmter Nachkriegsmaler aus Montenegro. Der Verkäufer
freut sich sehr über mein Interesse und
berechnet mir nur 3.000 Dinar, rund 20 Euro.
Er sagt: „Für mich ist es das Schönste, wenn
die Leute lieben, was sie bei mir finden!“
um Kunstraum U10 geht es die Hauptstraße hinunter. Gegründet haben ihn
sieben Künstler vor vier Jahren, die
gerade ihren Abschluss gemacht hatten. Sie
wollten einen zentralen Ort für Gegenwartskunst – alle anderen Galerien in der Stadt
sind alt, das Museum ist seit zehn Jahren
geschlossen. Heute bildet U10 den hellsten
Flecken auf Belgrads Kunstlandkarte. Ein
Schweizer Künstlerkollektiv installiert gerade
eine Ausstellung, zwei der Betreiberinnen,
Lidija Delić und Marija Šević, helfen dabei.
Z
APÉRO
31
Wir setzen uns
mit Kaffee und
Keksen auf die
Stufen vor dem
Eingang. Das
Haus aus den
30er-Jahren ist
auf
Treppen
gebaut, so wie
alle Häuser der
Straße. Außer
dem Kunstraum
im Souterrain
steht das gesamte
Gebäude leer, unheimlich. „Wir hatten sehr
viel Glück. Ein Förderer aus Österreich gab
uns einen Zuschuss, sonst hätten wir gar
nicht anfangen können“, erzählen Lidija und
Marija. Der internationale Austausch sei
ihnen wichtig. „Belgrads Künstler brauchen
einen Ort, um zu diskutieren.“ U10 ist das
beste Beispiel, wie Belgrad funktioniert: mit
Herz und Eigeninitiative etwas schaffen, das
der Stadt fehlt. Man wird nicht reich dabei.
Aber man verändert etwas.
TEXT: ANA KONJOVI
FOTOS: KATARINA ŠOŠKI
ILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT
«Netz» 2016 Grafit auf Papier ausgeschnitten
graphite on paper, cut out, 150 x 115 cm
«Große Konstruktion» 1994
Öl auf Leinwand, oil on canvas, 220 x 240 cm
«Mennigebild 17/33» 1976 / 1988
Acryl/Holz, acrylic/ wood, 192 x 350 x 8,7 cm
IMI KNOEBEL
RAIMUND GIRKE
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Athr: Aya Haidar / Avlskarl Gallery: Kirsten Justesen / Galerie Guido W. Baudach, Vilma Gold: Markus Selg /
Galerie Guido W. Baudach: Tamina Amadyar / BQ: Raphaela Vogel / Buchmann Galerie: Martin Disler / Galerie Luis Campaña:
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Lisl Ponger / Mehdi Chouakri: Saâdane Afif / Delmes & Zander: André Robillard / Dittrich & Schlechtriem: Simon Mullan /
Galerie Eigen+Art: Despina Stokou / Ellis King: Ryan Estep / Konrad Fischer Galerie: Juergen Staack / Galerie Bärbel Grässlin:
Secundino Hernández / Grimmuseum: Alona Rodeh / Galerie Karin Guenther, Galerie Barbara Weiss: Berta Fischer /
Galerie Michael Haas: Dirk Lange / Häusler Contemporary: Roman Signer / Natalia Hug: Alwin Lay / Galería Isla Flotante:
Mariela Scafati / Klemm’s: Sven Johne / Helga Maria Klosterfelde Edition: William N. Copley and Dimitri Petrov /
KM: Simone Gilges / Galerie koal: Yitzhak Golombek / Christine König Galerie: Micha Payer + Martin Gabriel /
König Galerie: Erwin Wurm / Kraupa-Tuskany Zeidler: GCC / Krobath: Sofie Thorsen / Galerie Gebr. Lehmann:
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Galerie Max Mayer: Henning Fehr and Philipp Rühr / Galería Metropolitana: Joaquín Luzoro / Meyer Riegger: Robert Janitz /
Meyer Riegger, The Modern Institute: Scott Myles / Galerie nächst St. Stephan Rosemarie Schwarzwälder: Daniel Knorr / Galerie
Tobias Naehring: Eva Grubinger / Galerie Neu: Sean Snyder / neugerriemschneider: Noa Eshkol / Galerie Georg Nothelfer:
Madeleine Dietz / Piktogram: Tomasz Mróz / Profile Gallery: Jarosław Kozłowski / PSM: Ariel Reichman / Dawid Radziszewski:
Marcin Zarzeka / Philipp von Rosen Galerie: Jose Dávila / Aurel Scheibler: Michael Wutz / Esther Schipper: Christopher Roth /
Galerie Thomas Schulte: Julian Irlinger / Gabriele Senn Galerie: Marko Lulić / Sies + Höke: Marcel Dzama / Société:
Sean Raspet, Timur Sí-Qin / Sperling: Andrew Gilbert / Sprüth Magers: Andreas Schulze / galeria stereo: Roman Stańczak /
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Peter Roehr. Ohne Titel. 1966. 61 × 55 cm (84 × 77 cm). © VG Bild-Kunst, Bonn 2016
16. September bis 29. Oktober 2016 in Berlin
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DER WEISSE GIACOMETTI
von
PETER LINDBERGH
Seine Bronzegüsse kennt jeder. Die meisten von Giacomettis
fragilen Gips­­arbeiten aber lagern unter Ausschluss der
Öffentlichkeit im Depot des Kunsthaus Zürich. Bis jetzt. Am
Vorabend der Schau Material und Vision durfte Peter Lindbergh
sie in Szene setzen – und für BLAU fotografieren
Werknachweise auf S. 81
BLEICHER TRAUM
Text: Paul Nizon
M
useen pflegen Giacomettis Figuren in Gruppen auszustellen. Sie sind ja auch passantisch und überdies raumgreifend, raumerzeugend; ich nannte sie auch schon „raumschauerlich“. Der bis an den Rand des Verschwindens reichende
Flüchtigkeitsgrad bestimmt das Erscheinungsbild und charakterisiert
Giacomettis Menschenbild: der Mensch eine winzige verkrustete
Tatsache, die reduzierteste Bemerkung über Menschenanwesenheit.
Aus dem zeitlichen Abstand hat dieses Menschenbild insofern das
Paris der vergangenen Jahrhundertmitte zum Hintergrund, als es sich
um die denkbar deutlichste Verkörperung von Existenzialismus und
Nihilismus handelt. Was sind denn die zu Strichen abgemagerten,
schieflagigen, in alle Richtungen verzogenen Menschenfiguren anderes als Existenzchiffren in einem von Göttern und Glauben entseelten leeren Raum? Es sind dem Nichts abgerungene Untergangswesen, die sich gerade noch zu behaupten scheinen vor dem Sog der
Leere und insofern als Resistenzfiguren anzusehen sind. Sie stehen
auf der Schneide zwischen Verschwinden und Erinnerungsgravur.
Und nun wird auch der schwere Sockel der Stehenden, Schreitenden
verständlich. Es bedarf dieses Gewichts, damit die Erscheinung sich
nicht vollends verflüchtige – und entmaterialisiere; damit sie nicht
entschwebe wie die Seele auf mittelalterlichen Darstellungen.
Und der Raum? Der allgewaltige und alles menschliche Vorkommen ridikülisierende, geradezu wogende Zeitraum, dieser leere
Himmel des Nihilisten? Man hat Giacomettis Plastiken unter anderem mit der Kunst der Etrusker in Verbindung gebracht, die Ähnlichkeit ist verblüffend, ob Anleihe oder Wahlverwandtschaft ist
unerheblich. Die Figuren der Etrusker waren Grabbeigaben. Totenkult. Dass Giacomettis mit Hinfälligkeit und Vergeblichkeit befrachtete Vision des Menschen auch mit der in der ersten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts veranstalteten industrialisierten Millionenmassentötung
von Menschen zu tun haben muss, scheint naheliegend.
Alberto Giacometti ist weder Symbolist noch Surrealist, er ist
ein figurativer Künstler zumindest in seiner späten Werkphase. Er
hat, so unwahrscheinlich das angesichts der nahezu gespenstigen
Auszehrung seiner Plastiken erscheinen mag, vor dem Modell gearbeitet, die Modelle sind bekannt. Wahrhaft verblüffend die realistisch
zu nennende Naturtreue bei so viel Körperschwund. Die bedeutendsten Literaten, darunter Jean Genet und Jean-Paul Sartre, haben
ihm bei der Arbeit zugeschaut und über ihn geschrieben. Es ist
bezeugt, dass er sich, über die Bezeichnung des Realisten hinausgehend, einen Kopisten des Naturvorbilds nannte.
Giacomettis Arbeitsverfahren kann man sich am besten an seinen Gipsen erklären, die in den Fotografien von Peter Lindbergh ihre
ganze geheimnisvolle Präsenz offenbaren. Es zieht sich diese weiße
Spur durch das ganze Werk. Nicht selten war die Gipsfigur ein Zwischenschritt zwischen Tonmodell und Bronzeguss, der das begonnene
Thema weiterführte oder in eine andere Richtung bog. Giacometti
schätzte das Material Gips besonders, weil es sich durch Bemalen und
Hinzufügen oder Entfernen von Gipsmasse immer wieder verändern
ließ. Eine ganze Anzahl von Arbeiten existiert überhaupt nur als
Gipsunikate. Es sind diese dynamischen Arbeitsprozesse, die sich
auch an den (im Übrigen wunderbaren) Zeichnungen und Malereien
beobachten lassen. Zu Beginn geschieht nicht viel mehr auf der Leinwand oder dem Papier als die Einkreisung oder besser Aussparung der
räumlichen Dimension – und dies mithilfe von vielerlei Koordinatenhilfslinien, simplifizierend mag man an das Fadenkreuz denken. Mit
der Distanznahme geht der Versuch zur Festlegung der Größendimension des Vorwurfs einher. Dann erst wird das konkrete Erscheinungsbild mit einem Netz und Gespinst von Linien eingefangen, eingetastet und erknetet, bis aus dem Grau des Grundes ein leibhaftiges
Gegenüber auftaucht, halluzinatorisch und unverwechselbar in einem,
porträthaft eben. Malerei oder Zeichnung sind zu Beginn immer
Grisaille, sie erwärmt sich im Fortgang der Arbeit zusehends. Fast
möchte man meinen, Giacomettis künstlerische Übungen hätten einen
sakralen Einschlag. Sakral? Höchstens in dem Sinne, dass sie buchstäblich die Schöpfung zelebrieren. Den Schöpfungsakt, die Erschaffung
der menschlichen Kreatur aus dem Nichts oder dem Lehm.
ie verschwindende Wirklichkeit war das zentrale Problem der
damaligen Epoche, darum die in psychografischen Innerlichkeits- bzw. Erlebnisausschlägen sich verflüchtigende Realität
bei den Tachisten, die Ausflucht in die abstrakte Kunst ganz allgemein, auch der Surrealismus. Das Auseinanderfallen zwischen sichtbarer Welt und vorstellbarem (von Zweifeln durchlöchertem)
Bewusstsein. Bei Giacometti das Beharren auf dem Abbild. Seine
Thematik ist der Kampf um die Wirklichkeitsbemächtigung, ein
nie endendes Bemühen. Und das Ergebnis wäre ebenso sehr das
„Schlachtfeld“ bei diesem Bemühen wie das in seiner stupenden
Gegenwärtigkeit überwältigende Resultat.
Mir will nach dem ganzen Exkurs Giacomettis „Etruskertum“
am besten gefallen. Sind seine Geschöpfe nicht auch eine Art Grabbeigaben? Steckt hier der erwähnte sakrale Effekt? Sind Hinfälligkeit
und Flüchtigkeit als existenzielle Charakteristika nicht ganz nah am
Tod? Ist der Giacometti’sche Überlebenswahn nicht tollkühn zu nennen – wenn nicht gar überheblich? Und wenn alles gar nicht wirklich
wäre, sondern allerhöchstens ein bleicher Traum? Ein-Bildung?
Flüchtigstes Einbildungsmolekül und nicht mehr? Ist es verwunderlich, dass die französischen Existenzialisten und alle pessimistischen
Trostsucher in Alberto Giacometti den großen Wahrsager sahen?
Ich habe vor Kurzem in einem Kunstlexikon aus den 50er-Jahren nach Auskünften gesucht und den Namen Giacometti nicht vorfinden können. Und heute ist er bis zur Banalität populär und beinahe wie Kafka in den Sprachgebrauch eingegangen. Die Letzten
werden die Ersten sein.
D
DAS KUNSTHAUS ZÜRICH ZEIGT DEN „WEISSEN GIACOMETTI“ AB DEM
28. OKTOBER IN DER SCHAU GIACOMETTI – MATERIAL UND VISION
REVUE
44
100 FARBEN WEISS
ROBERT RYMAN
KEIN ZWEITER MALER IST
SO KONSEQUENT
BEI SEINEM THEMA
GEBLIEBEN, DEN
NUANCEN UND
AGGREGATZUSTÄNDEN
DER FARBE WEISS.
VON ROBERT RYMANS
ANFÄNGEN ALS
JAZZMUSIKER UND
NACHTWÄCHTER
IM MOMA BIS ZU SEINEM
TRAGISCHEN STURZ
FÜNF JAHRZEHNTE
SPÄTER: SIEBEN
WEGGEFÄHRTEN,
DARUNTER SEIN SOHN
CORDY RYMAN
UND SEIN KOLLEGE
GERHARD RICHTER,
ERINNERN SICH.
EINE GESPRÄCHSMONTAGE
VON MAX DAX
Installationsansicht der Ausstellung Robert Ryman Peintures 1958–1991 im RENN Espace d’Art Contemporain, Paris, 1991.
Auftaktseite links: Medway, ca. 1968, Blatt aus einer Serie von sechs handgeschöpften Papieren, Acryl, 76 × 57 cm;
rechts: Robert Ryman in seinem Studio, ca. 1973
UNTITLED
1965, Öl auf Leinwand, 26 × 26 cm
D
er 1930 geborene amerikanische
Künstler Robert Ryman ist ein Solitär
unter den Malern. In einer fast fünfzig Jahre umfassenden Schaffenszeit befasste
er sich in fast mönchischer Reduktion mit
der Farbe Weiß – aufgetragen auf helle oder
farbige Untergründe, auf Wachspapier, Stahl
oder gar auf High-Tech-Faser aus der Weltraumforschung. Als Autodidakt, der nie eine
Kunstschule besuchte, konnte Ryman auf
jeden akademischen Umweg verzichten und
gleich zum Kern seines Lebensthemas vorstoßen – das Wesen der Malerei als Spiel zwi-
schen Materialität und Lichteinfall und als
Aufbruch in den dreidimensionalen Raum.
Seine Gemälde sind keine Abstraktionen von
ehedem Gegenständlichem, sie stellen vielmehr die Frage, wo das Bild endet und der
Raum beginnt. Weggefährten Rymans erinnern sich: sein Sohn Cordy Ryman, die
Künstler Gerhard Richter und Jan Dibbets,
die Kunstsammler Urs Raussmüller und Egidio Marzona, die Ryman-Biografin Suzanne
Hudson und der Chefkurator für Malerei
und Skulptur des San Francisco Museum of
Modern Art, Gary Garrels.
REVUE
50
Urs Raussmüller: Im 20. Jahrhundert hat es
einen epochalen Wandel gegeben. Da gab es
mit einem Mal Dinge, die real waren, aber
die konnten wir gar nicht sehen. Ich spreche
von der Entdeckung der Relativität, von der
Unschärferelation und der Quantenmechanik. Genau diese Dinge sind es, die das
20. Jahrhundert alleinstellen, abgrenzen von
den vorangegangenen Epochen. Und dieser
Wandel hat sich auch in der Kunst vollzogen. Einige Künstler haben den Wunsch
entwickelt, etwas Reales zu erschaffen – und
nicht mehr nur abzubilden, egal wie meister-
haft die Abbildungen in der Vergangenheit etwas?“ Und da lächelte er nur, und es war
dieses wissende, ehrliche Lächeln, das mir
gewesen sein mögen.
sagte: „Ja, ich male hier etwas, und eines
Jan Dibbets: Robert Ryman ist der erste mir Tages wirst du es begreifen.“
bekannte Maler, dessen Malerei nichts
erzählt, in der es einzig um die Frage des Gerhard Richter: Mir hat er immer sehr
Wie geht: Wie wurde das Gemälde gemalt? imponiert – wie er mit seiner bescheidenen,
Es brauchte über zweitausend Jahre inbrünstigen Sicherheit seine Bilder malte.
Geschichte der Malerei, um von der Frage Ich war im Vergleich zu ihm unruhiger,
nach dem Abgebildeten zur Frage der Mach- immer schon. Er war fast wie ein Mönch,
art zu gelangen.
und ich bewunderte an ihm seine Sicherheit.
Zwar hatte ich nie das Gefühl, ich dürfe
Suzanne Hudson: Die Materialität, die er keine Fehler machen. Ich durfte mich auch
zur Schau stellt, das Offenlegen eines Mal- mal irren oder einen falschen Weg einschlaprozesses, erzählt eine ganze Menge, aber es gen. Aber ich hatte ganz grundsätzlich Zweiist eine andere Art von Erzählung. Und in fel, ob ich überhaupt etwas richtig mache.
der geht es nur noch wenig um das eigene Und von diesen Zweifeln habe ich bei Ryman
Leben oder um Quellen aus der Literatur nichts gespürt.
oder der Geschichte. Ryman ist damit ein klarer Vorreiter gewesen und zugleich Vorbild Suzanne Hudson: Robert Ryman war in vieeiner ganzen Generation von prozessorien- lerlei Hinsicht unverdorben. Er konnte einertierten abstrakten Malern der Gegenwart.
seits abstrakte Lösungsansätze aus dem Jazz
in die eigene Malerei übernehmen und andeCordy Ryman: Er wehrte sich allerdings rerseits sah er keine Notwendigkeit, seine
gegen die Bezeichnung „abstrakt“. „Abs- Malerkollegen zu kopieren oder sich mit
trakte“ Bilder seien Abstraktionen der Reali- ihnen zu messen.
tät – er beziehe sich aber nicht auf Vorbilder
in der Realität. „Meine Bilder sind die Reali- Cordy Ryman: Mein Vater war 1953 von
tät“, sagte er mir einmal: „Ich bin ein konkre- Nashville nach New York gezogen. Er wollte
ter Realist.“
Karriere als Jazzmusiker machen, um wie
seine Vorbilder Charlie Parker und John
Urs Raussmüller: Was der Künstler nicht Coltrane von der Musik zu leben. Um zu
mitliefern kann, sind die Wand und der drei- überleben, spielte er nachts Jazz und arbeidimensionale Raum, in den das Bild gehängt tete tagsüber als Aufseher im MoMA.
wird. Und natürlich kann Ryman auch nicht
das Licht mitliefern, das auf sein Werk fällt. Suzanne Hudson: Im MoMA gab es ein
Denn man muss eines grundsätzlich begrei- Auditorium. Wenn es nicht vom Museum für
fen, wenn man sich den Bildern Robert Veranstaltungen benötigt wurde, war es
Rymans nähert: Licht ist genauso ein Mate- Ryman als Teil der Belegschaft erlaubt, dort
rial wie weiße Farbe. Erst in der Vereinigung gelegentlich zu üben. Das war für ihn eledieser beiden Materialien entsteht das leben- mentar wichtig, weil die Wände seines Apartdige Bild.
ments zu dieser Zeit so dünn waren, dass er
unmöglich hätte zu Hause üben können.
JAZZ ALS MATRIX
Cordy Ryman: Zu Hause in Nashville war
Cordy Ryman: Als ich das erste Mal bewusst mein Vater nie mit moderner Kunst konmitbekam, wie seine Bilder im Zyklus eines frontiert worden. Was er im MoMA zu sehen
Tages ihr Wesen veränderten, wurde mir bekam, war alles neu für ihn. Es war ja die
schlagartig klar, dass diese Bilder eine spiritu- Zeit, als die ersten abstrakten Bilder ins
elle Tiefe haben, die durch den Lichteinfall Museum einzogen. Und mein Vater war ohne
erst sichtbar wird. Da habe ich mich an eine Vorurteile. Er sah diese Bilder und respekFrage erinnert, die ich ihm als kleines Kind tierte sie. Und irgendetwas haben diese Bilder
gestellt hatte: „Papa, ich sag’s auch nieman- ausgelöst in ihm. Offenbar erkannte er Ideen
dem weiter – aber malst du hier überhaupt des Jazz in den Gemälden von etwa Sol LeWitt
REVUE
51
DIE PERSONEN
CORDY RYMAN (*1971) ist Künstler und
einer von zwei Söhnen des Malers
Robert Ryman. Er war Ende der 90erJahre für kurze Zeit sein Assistent
und führte mit ihm viele Gespräche über
Fragestellungen in der Kunst – und
über Star Wars.
URS RAUSSMÜLLER (*1940) ist ein
Schweizer Kunstsammler, Künstler und
langjähriger Freund Robert Rymans.
Raussmüller gründete die inzwischen
geschlossenen Hallen für Neue Kunst in
Schaffhausen, in denen er mehrere
große Ryman-Ausstellungen organisierte.
GERHARD RICHTER (*1932) ist Maler
und lebt in Köln. Ryman lernte er über
den gemeinsamen Galeristen Konrad
Fischer kennen und besuchte den
Kollegen 1970 erstmals in New York.
EGIDIO MARZONA (*1944) hat in den
vergangenen sechzig Jahren eine
der bedeutendsten Sammlungen zur
Avantgarde des 20. Jahrhunderts
aufgebaut – und gehörte zu den Ersten,
die Robert Ryman kauften.
JAN DIBBETS (*1941) ist ein niederländischer Konzeptkünstler und enger
Freund Robert Rymans seit den späten
60er-Jahren. Als einer von wenigen
durfte er den menschenscheuen Ryman
nicht nur regelmäßig besuchen,
sondern auch eine Zeit lang in dessen
Atelier wohnen.
SUZANNE P. HUDSON war Doktorandin
in Princeton, als sie sich Robert
Rymans Lebenswerk als Thema für ihre
Dissertation aussuchte. Unter dem
Titel Used Paint 2009 erschienen, gilt
ihre Arbeit als Standardwerk der
Ryman-Forschung.
GARY GARRELS (*1957) ist seit 2008
Senior Kurator am San Francisco
Museum of Modern Art. 1988 betreute
er seine erste Einzelausstellung mit
Werken von Robert Ryman in der Dia
Art Foundation in New York.
wieder, der ebenfalls im MoMA als Nachtportier arbeitete und bald zu seinen Freunden
gehörte. Der Jazz fußt ja auch auf einer abstrakten Sprache. Gemeinsam hörten mein
Vater und ich Schallplatten. Einmal kommentierte er ein Instrumentalsolo von John
Coltrane mit den Worten: „He used the force
again!“ Er sprach es aus wie Obi-Wan Kenobi
in Star Wars: „Wenn du malen willst, musst du
die Macht benutzen.“ Bob spielte Saxofon –
deshalb war er besonders an Musikern wie
Wayne Shorter, John Coltrane oder Charlie
Parker interessiert. Das waren in seinen Augen
die Jedi-Ritter unter den Jazzmusikern.
Suzanne Hudson: Wenn man ein künstleri-
sches Medium gemeistert hat – etwa die
Improvisationsprinzipien des Jazz –, dann
kann man diese Meisterschaft wie eine
Ma­trix auf andere Kunstfelder übertragen,
beispiels­weise die Malerei. Vermutlich handelt es sich im Kern einfach um Methoden
der Problemlösung, egal ob man ein ästhetisches Problem nun in der Musik, in der Literatur oder der Kunst lösen will. Anders als
im Jazz mit seinen Regeln kannte Ryman in
der Malerei aber keine Grenzen. Er überschritt einfach leichtfüßig alle bis dato existierenden Einschränkungen und betrat radikal neues Terrain.
Robert Ryman (vorn) und Urs Raussmüller
beim Ausstellungsaufbau in den Hallen für
Neue Kunst, Schaffhausen, 2008
Jan Dibbets: Er erzählte mir einmal, wie er
Anfang der Fünfziger sein erstes Bild gemalt
hat. Er hatte beim Künstlerbedarf um die
Ecke Leinwände, Farbtuben, Pinsel und
Rahmen gekauft. Zu Hause tackerte er die
Leinwände auf die Rahmen – total dilettantisch. Aber anschließend trug er auf diese
vielen Leinwände systematisch Farbe auf,
um zu sehen, wie diese wirkte, sobald sie
getrocknet war. Er versuchte nicht etwa, ein
Motiv nachzumalen, sondern er war bereits
zu diesem frühen Zeitpunkt nur am Material
selbst interessiert.
sich durch einen besonderen Klingelcode zu
erkennen: einmal klingeln lassen, auflegen,
noch mal anrufen. Vielleicht hatten andere
Leute andere Codes, aber meine Brüder und
ich, wir kannten nur diesen. Für mich als
Kind war das Atelier meines Vaters in der
Suzanne Hudson: Viele übersehen, dass Greenwich Village Street ein faszinierendseine ersten Bilder noch gar nicht weiß waren. rätselhafter Ort. Es stand vor allem für eines:
Als er Anfang der Fünfziger anfing, malte er die Abwesenheit des Vaters.
monochrome Farbbilder. Rote Bilder,
orangene Bilder, dunkelgrüne Bilder. Diese Suzanne Hudson: Anders als eigentlich alle
Bilder sehen heute gealtert aus – als stammten abstrakten Maler seiner Generation ist
sie aus einer anderen Zeit. Ganz anders ver- Robert Ryman nicht zunächst durch eine
hält es sich hingegen mit der großen Mehrheit Ausbildung gegangen, die ihm repräsentatiseiner weißen Bilder, die er Ende der Fünfzi- ves oder gegenständliches Malen beigebracht
ger konsequent zu malen begann: Die haben hätte – und die er dann hätte ablehnen oder
fast durchweg etwas Zeitloses.
überwinden können. Nein, er war gar nicht
in der Lage, eine anatomisch korrekte Katze
Jan Dibbets: Er hatte sein Thema also von oder ein Gebäude in Zentralperspektive oder
Anfang an gefunden und es kümmerte ihn ein Stillleben zu malen. Er hatte eine Abkürwenig, dass seine ersten Versuche, von denen zung genommen: direkt in die Abstraktion,
klar war, dass sie nur Studien waren, unterm ohne auch nur einen Augenblick in der
Strich viel Geld verschlangen. Er hatte wohl Gegenständlichkeit zu verlieren.
diese Ahnung, dass er da einen Lebensweg
vor sich hatte.
Gerhard Richter: So wie es heute über mich
heißt, ich male Bilder, die Millionen kosten,
Egidio Marzona: Und er war akribisch und hieß es über Ryman damals: Der malt nur
pedantisch. Er hat sich eine Welt geschaffen weiß.
und ist in ihr geblieben. Er hatte keinen Ehrgeiz, darüber hinaus zu experimentieren oder Egidio Marzona: Ein weißes Nichts mit
andere Dinge auszuprobieren. Er ist immer wenigen Nuancen – seine Bilder waren
in seinem System geblieben.
damals eine Provokation. Auch ich fühlte
mich provoziert und herausgefordert. DesweCordy Ryman: Und entsprechend hatte er gen habe ich zugeschlagen und ein Bild von
auch einen stets gleichen Tagesrhythmus. ihm gekauft. Das war 1967 in Konrad Fischers
Mein Vater verließ unsere Wohnung jeden Galerie in Düsseldorf. Meine Familie wollte
Morgen um 9 Uhr im schwarzen Anzug, wei- mich anschließend fast entmündigen. Die
ßen Hemd und schwarzer Krawatte. Ange- hielten mich für bescheuert, dass ich 300 Dolkommen im Atelier, hängte er seinen Anzug lar für ein weißes Nichts ausgegeben hatte.
an der Garderobe auf und schlüpfte in einen
Overall – das war seine Arbeitskleidung. Für
DAS WEISSE BILD LEBT
gewöhnlich blieb er bis 17 Uhr im Atelier, er
betrachtete die Zeit im Studio als seine tägli- Gerhard Richter: Das fanden wir aber
che Arbeitszeit.
gerade gut! Vor allem dass man in dieser
asketischen Beschränkung auch noch QuaEgidio Marzona: Mit Gerhard Richter hat lität erzeugen kann. Blinky Palermo und ich
Bob gemein, dass sie beide morgens stets mit haben tief daran geglaubt, dass es eine Quaeiner Thermosflasche voller Kaffee und einer lität gibt in der Malerei, die immer wieder
Box mit Butterbroten ins Atelier gingen und auftaucht, ob bei Velázquez oder Vermeer
den Vormittag über malten. Dann gab es eine oder Manet. Und die haben wir eben auch
bei Ryman gesehen. Trotz dieser BeschränMittagspause und weiter ging’s.
kung. Mich persönlich hat das berührt, weil
Cordy Ryman: Er ging auch nie ans Telefon, ich in meiner Not damals viele Leinwände
wenn man ihn anrief, es sei denn, man gab einfach grau zugemalt hatte. Aber wie diese
REVUE
52
UNTITLED
2010, Öl auf Leinwand, 46 × 46 × 6 cm
POINTS
1963, Öl auf Aluminium, 152 × 152 cm
Bilder dann so an der Wand lehnten, konnte
man eben doch Qualitäten unterscheiden –
es gab gute Bilder und schlechtere. Ich
fühlte mich Ryman schon aus diesem
Grund nahe.
Gary Garrels: Ich empfand Bobs Bilder
immer auch als sehr elegant. Sie zeichnen
sich durch eine außerordentliche Unauf­
dringlichkeit und Zurückhaltung aus. Gleich­
zeitig strahlen sie ein unglaubliches Selbstbe­
wusstsein aus. Dadurch dass sie bei unter­
schiedlichem Lichteinfall stets anders wirken,
scheinen sie zu leben. Mir ging es immer so,
dass ich das Gefühl hatte, einer lebenden
Person zu begegnen – einer eleganten,
humorvollen Person. Tatsächlich stand ich
vor einem weißen Bild.
ARCHIVE
1979, Öl auf Stahl, 34 × 30 × 1 cm
Gary Garrels: Trotzdem: Robert Ryman hat
in seinem Leben fast ausschließlich quadrati­
sche weiße Bilder gemalt. Alles was danach
kam, war die große Kunst der Variation –
eine permanente Ausdehnung des eigenen
Wirkbereichs.
Urs Raussmüller: Was ist das Wesen der
Realität eines Bildes von Robert Ryman? Eine
Vielzahl ist das Wesen! Malerei bedeutet: Sie
streichen eine Materie auf einen Träger und
diese Materie steht fortan im Dialog mit dem
Licht, weil das Licht, welches auf die Malerei
fällt, von dieser zurückgeworfen wird in den
Raum. Und dieses Licht ist ein lebendiges
Licht. Und weil es ein lebendiges Licht ist,
lebt das Bild. Nur in Räumen mit stetigem
Kunstlicht verändert sich das Licht nicht,
aber für diese Räume sind Robert Rymans
Cordy Ryman: Zu mir sagte er einmal: „Ich Gemälde ohnehin nicht gemacht.
male keine weißen Bilder. Ich benutze das
Weiß, um andere Dinge zum Vorschein kom­ Suzanne Hudson: Durch ihre Materialität,
men zu lassen.“ Damit meinte er die Textur aber auch durch das Fehlen lichtabsorbieren­
und das Format des Bildes, seinen Rahmen, der Farben sind Rymans Bilder in einem ex­­
die Malerei an sich.
tremen Maße vom Licht abhängig, das auf
REVUE
54
sie fällt. Sein Weiß ist nie gleich Weiß, es sind
100 Farben Weiß. Was nicht zuletzt dazu
führt, dass wir uns als Betrachter immer wie­
der dabei ertappen, wie wir ein Gemälde von
ihm in einer konkreten Erinnerung haben,
und wenn wir es erneut betrachten, ein ganz
anderes Bild sehen, weil das Weiß das einfal­
lende Licht ganz anders wiedergibt. Es ist, als
betrachte man das Meer, das auch immer das
vertraute Meer ist und doch zu jedem Zeit­
punkt anders scheint.
Gary Garrels: Ein Bild von Robert Ryman
ist in diesem Sinne mehr als nur ein zweidi­
mensionales Gemälde und auch mehr als ein
isoliertes dreidimensionales Objekt in einem
Raum. Es ermöglicht eine ganz andere
Erfahrung, weil es in die vierte Dimension
hineinragt – die Zeit.
Urs Raussmüller: Selbst der Betrachter
wird zu einem Teil des Werks, weil er es nur
zu einem bestimmten Zeitpunkt sieht. Er
wird sozusagen zu einem Bestandteil eines
holistischen Konzepts. Es reicht ein einziges
UNTITLED
1961, Öl auf Leinwand, 190 × 190 × 7 cm
großes Gemälde von Robert Ryman, um
einen großen Raum zu füllen. Wenn man nur
auf diesen Raum zugeht, spürt man bereits
die Energie von diesem Weiß. Aber natürlich
gibt es auch Leute, die dann sagen: Da ist ja
nichts in diesem Raum.
Gerhard Richter: Schon mit welcher
Bestimmtheit er die Bedingungen vorgegeben hat, wie sein Bilder gehängt werden müssen, damit sie richtig wirken! So wurden die
Bilder zu Andachtsbildern, zu Bildern, die
man zele­brieren musste – durch die eigene
Anwesenheit.
Gary Garrels: Hatte er im Museum oder
einer Galerie Räume zur Auswahl, so wählte
er stets jene, die viel indirektes natürliches
Licht boten. Tatsächlich malte er die Bilder
aber nie für konkrete Räume. Er machte sich
keine Gedanken darüber, wo genau sie
schließlich hängen würden. 1988 organisierte
Charles Wright eine große Ryman-Ausstellung in der Dia Foundation in New York. Und
ich betreute sie als sein Kurator. Als wir die
UNTITLED
1960, Öl auf Leinwand, 91 × 91 × 5 cm
Show hängten, brachte Bob für mich überraIN DER TIEFE DES RAUMS
schend auch viele ältere Bilder mit – als Referenz- oder Kontrapunkte, um sie den neuen Gary Garrels: Die Ausstellung in der Dia
Bildern gegenüberzustellen.
drohte ein Desaster zu werden. Wir probierten tagelang alle möglichen Kombinationen
Urs Raussmüller: Ich habe Bilder von von Bildern aus, hängten erst dieses, dann
Robert Ryman mehrfach in unterschiedli- jenes Bild an eine Wand. Nichts funktiochen Konstellationen in den Hallen für Neue nierte. Ich dachte, das würde nie was. Ich
Kunst in Schaffhausen ausgestellt. Dabei fiel erinnere mich, wie ich nachts nach Hause
mir auf, dass sich die Bilder quasi selbst für ging und einfach nur traurig war, weil ich
die Ausstellung ausgewählt haben. Wir haben nicht begreifen konnte, weshalb diese an
uns die Zeit genommen und uns jedes Bild und für sich tollen Bilder einfach in unseren
an verschiedenen Wänden vorführen lassen. Räumen nicht wirken wollten. Aber es kam
Und interessanterweise waren wir eigentlich der Tag, an dem Robert den richtigen Ort
immer einer Meinung. Wir wichen vielleicht für ein ganz bestimmtes Bild gefunden
ein paar Millimeter voneinander ab, aber im hatte. Und das setzte einen Dominoeffekt in
Prinzip wussten wir immer sofort, wo wel- Gang: Mit einem Mal konnten wir ein zweiches Bild hingehört, auch wenn sich dieser tes Bild dazugruppieren, und es passte ebenProzess jeweils über mehrere anstrengende falls. Und so ging es weiter – und wir entTage hinzog. Das Wundersame an dieser Prä- schieden uns auch gegen einzelne Bilder. Mir
sentation war für uns beide, dass uns diese wurde in diesem Prozess klar, dass in einer
Bilder vertraut waren, wir sie teilweise seit Ausstellung von Ryman-Bildern einige
vierzig Jahren kannten. Aber je nach Licht- Gemälde wie Anker funktionieren, die den
einfall wirkten sie wie neue Werke auf uns. anderen Bildern ihre Plätze zuweisen. Fast
konnte man von einem natürlichen Vorgang
Wir waren sehr erstaunt!
REVUE
55
sprechen, so stimmig löste sich zum Schluss ten beziehen – wie etwa die Serie der EagleTurquoise-Bilder. Damit erreichte er zweierlei.
alles in Wohlgefallen auf.
Einerseits schuf er Verknüpfungspunkte
Jan Dibbets: Vielleicht liegt es ganz einfach innerhalb seines Werks, indem er es lautmadaran, dass er sein Leben lang an nur diesem lerisch archivierte. Andererseits tragen die
einen Thema gearbeitet hat. Er hat es von Werktitel eine poetische Schönheit in sich,
Grund auf studiert. Er ist tiefer als je ein die offensichtlich wird, wenn man die Namen
anderer Maler vor ihm in die Malerei einge- einmal langsam und laut vorliest:
taucht. Robert Ryman dürfte zu den wenigen Menschen auf diesem Planeten gehö- Winsor
ren, die wirklich gewusst haben, was Malerei Avon
eigentlich ist. Sein Leben war ein einziges Eagle Turquoise
Delta
Studium.
Classico
Suzanne Hudson: Und doch dauerte es bis Standard …
zum Jahr 1967, bis Robert Ryman seine erste
Einzelausstellung in der Galerie Paul Bianchini
in New York bekam. Er stellte dort seine Bilderserie Standard aus, bei der er zum ersten Mal
auf Stahl gemalt hatte – nur um ein Jahr später, 1968, mit der Bilderserie Classico, die er
nach der gleichnamigen Papiermarke benannt
hatte, mit weißer Farbe auf Zeichenpapier zu
experimentieren, also mit einem im Unterschied zum Stahl ganz leichten, von einem
Windhauch erfassbaren Medium.
Jan Dibbets: Der Großteil seines Werks ent-
Cordy Ryman: Oft betitelte er seine Bilder
nach den Namen, die auf den Etiketten der
Farbtuben standen. Eine Serie von Gemälden hat er nach dem Hersteller Winsor
benannt: Winsor 5 oder Winsor 34.
Gary Garrels: Bob Ryman lebt noch, aber er
hatte einen schweren Unfall, bei dem er sich
ein Schädel-Hirn-Trauma zugezogen hat.
Vor ein paar Jahren ist er in seinem Haus die
Treppe heruntergestürzt und hat es fast nicht
überlebt. Er kann nicht mehr reisen, er kann
nicht mehr wirklich malen, sein Leben ist
seitdem extrem eingeschränkt. Das letzte
Mal, dass ich ihn gesehen habe, war bei einem
Lunch für Carl Andre in der Dia Art Foun­
dation. Ich war sehr überrascht, ihn dort zu
sehen, aber es war ihm offenbar sehr wichtig
dabei zu sein, denn Carl gehört zu den alten
Weggefährten.
Gerhard Richter: Als ich im Mai dieses Jah-
DIE POESIE DES PRODUKTS
stand vor dem Siegeszug des Internets. Um
sich Materialien zu bestellen, hatte er einen
mehrbändigen Katalog für Handwerksmaterialien abonniert, von dem er jedes Jahr eine
neue Edition ins Studio geschickt bekam –
das waren dicke grüne Wälzer mit tausenden
von Seiten, in denen Hersteller ihre Produkte
anboten, komplett mit Bezugsadressen, Preisen und Telefonnummern. Jeder erdenkliche
Dübel, jede Schraube, jedes Metall und jede
Farbe war darin aufgeführt. Das war seine
Enzyklopädie, sein Whole Earth Catalog, und
er verbrachte Stunden um Stunden damit, in
ihm zu blättern.
ein Fresko für mein Kunstprojekt in Italien
zu machen, wohin ich seit beinahe vierzig
Jahren Künstlerfreunde einlade, die dort in
der Landschaft oder auch in Häusern Ideen
realisieren. Und ich schlug ihm vor, dass er
wie die alten Meister, wie Piero della Francesca,
ein Graffito malen könne. Wir haben dann
viel über die Idee geredet, aber da war er auch
schon relativ wackelig. Wir wissen alle, dass
er aufgrund seines Gesundheitszustandes
nicht mehr reisen kann.
Robert Ryman 1975 in der Kunsthalle Basel
Gerhard Richter: Gemeinsam mit Blinky
Palermo reiste ich 1970 zum ersten Mal nach
New York. Es war klar, dass wir Robert
Ryman besuchen mussten. So betraten wir
sein Atelier. Vorher waren dort Theaterkulissen gemalt worden. Vor der Wand war ein
großer Schlitz und dort konnte man Bilder
rauf und runter lassen. Um ein großes Bild
zu malen, musste Ryman also nicht auf die
Leiter steigen, sondern er drückte einfach
einen Knopf und ließ sich sein Bild zentimetergenau runterfahren. Das fand ich doch
sehr imponierend.
Suzanne Hudson: Er hat vielen seiner
Gemälde Titel gegeben, die sich auf Pro- Egidio Marzona: Vor ungefähr fünf Jahren
duktnamen von Farben oder sogar Bleistif- fragte ich Bob, ob er sich vorstellen könnte,
REVUE
56
res für meine Ausstellung bei Marian
Goodman in New York war, haben mich
drei Ausstellungen mit dieser bekloppten
Stadt versöhnt: Degas im MoMA, van Dyck
in der Frick Collection und Ryman in der
Dia Foundation. Fast alles in New York ist
mittlerweile auf Unterhaltung ausgelegt,
auch das MoMA ist ja weitestgehend ein
schrecklicher Jahrmarkt geworden. Aber
dann sah ich diese Ryman-Bilder! Sie erinnerten mich daran, was ich mir selbst für eine
Kunstwelt erträumt und erhofft hatte. Als
ich vor seinen Bildern stand, musste ich
wieder an meine New-York-Reise mit
Blinky Palermo denken, wie wir Ryman
besucht haben. Er war ein wenig verschlossen. Ich war auch eher still, und mein Englisch war damals gar nicht gut. Und Palermo
hat eh lieber schweigend he­­rumgesessen
und geraucht und getrunken. Viel geredet
haben wir also nicht bei diesem ersten
Besuch. Aber das mussten wir auch nicht.
Und wie ich mich so erinnere, sage ich unumwunden: Robert Ryman ist der einzige
lebende Maler, den ich ohne jede Einschränkung bewundere.
ADMINISTRATOR
1985, Acrylplatte mit sechs Rundkopfschrauben, 122 × 122 cm
MARY REID KELLEY
DIE GÖTTIN DES GEMETZELS
VON OLIVER KOERNER VON GUSTORF
AUFMÜPFIGE
LEICHEN
UND QUASSELNDE
KÖRPERTEILE:
DIE KÜNSTLERIN
MARY REID KELLEY
TOBT AUF DEM
SCHLACHTFELD
DES WEIBLICHEN
KÖRPERS
UND HEBT DIE
TRAGÖDIE ÜBER
JEDE MORAL
D
a ist diese Aura von müheloser Sauberkeit, von pragmatischer Höflichkeit,
die nur Amerikaner umgibt. Mary Reid
Kelley und ihr Mann Patrick sehen mit
ihren Hornbrillen und faltenfreien T-Shirts
aus, als würden sie nie schwitzen. Unten,
vor den Fenstern des Hauses der Berliner
Festspiele sitzen Besucher in der Sommerhitze. Nur ab und an zerreißen Kinderschreie
die träge Stille. Wüsste man nicht, dass die
beiden Künstler sich hier in der Garderobe
für ihre Performance gleich einem zweistündigen Make-up-Marathon unterziehen
müssen, könnte man sie ohne Weiteres
für junge US-Unternehmer halten, die in
Berlin gerade ein Start-up gründen.
Ein bisschen erinnern sie an die moderne
Version des biederen Pärchens, das
sich in The Rocky Horror Picture Show in das
Schloss des Wissenschaftlers Frank N.
Furter vom Planeten Transsexual verirrt.
Doch es verhält sich genau andersherum.
Tatsächlich ist Mary Reid Kelley die verrückte Forscherin. Und das, was die 1979 in
Greensville, North Carolina, geborene
Künstlerin mit ihrem Gatten und Arbeits­
partner anrichtet, gleicht einem Frankensteinlabor, in dem alles hingemetzelt wird:
Körper, Kriege, Kunst, Mythologien,
Sprache, Geschichte.
This Is Offal heißt Kelleys Show, die sich
an ein gleichnamiges Video anlehnt,
das auf der Art Basel preisgekrönt wurde.
Für das Performance-Festival „Foreign
Affairs“ hat das Paar einen ganzen Seitentrakt
des wunderbar modernistischen Hauses
der Berliner Festspiele in eine schwarz-weiße
Obduktionshalle mit einem psychedelisch
karierten Fußboden verwandelt. Eine
ähnliche Performance wurde zwar von der
Londoner Tate Modern im Livestream
übertragen, doch dies ist das erste Mal, dass
die beiden wirklich vor Publikum auftreten.
Sadie, the Saddest Sadist, 2009, Video mit
Sie sei von Künstlerinnen wie
Ton, 7:23 Minuten
Hannah Wilke inspiriert, erzählt Kelley,
AUFTAKTSEITE, links oben: The Syphilis of Künstlerinnen, die ihren Körper schoSisyphus, 2011, HD-Video mit Ton,
nungslos einsetzen, aber dabei ganz klare
11:02 Minuten; links unten: Priapus Agonistes,
konzeptuelle Vorgaben haben. „Ich
2013, Einkanal-HD-Video mit Ton,
bin wirklich keine geborene Performerin,
15:09 Minuten; rechts oben: Mary Reid
sondern eigentlich das Klischee einer
Kelley, fotografiert von Sarah Brück;
Malerin – eine, die nur ins Studio geht, um
rechts unten: You Make Me Iliad, 2010,
möglichst schnell die Tür hinter sich zu
HD-Video mit Ton, 14:49 Minuten
schließen.“ Bereits das Performen in ihren
(alle Videos ab 2011 zusammen mit
Videos sei eine echte Herausforderung,
Patrick Kelley)
REVUE
60
doch die Liveauftritte seien, auch nach dem
dritten oder vierten Mal, noch viel gewöhnungsbedürftiger.
Mary spielt, in einen Ganzkörperanzug
gehüllt, die verweste Leiche einer Selbstmörderin, die in die Themse gesprungen ist.
Patrick ist der alkoholisierte Gerichtsmedi­
ziner, der sie gelangweilt auseinandernimmt.
Über dem Seziertisch schweben Monitore,
auf denen sich die Organe der Toten streiten.
Alle Rollen werden von der Künstlerin
gespielt oder gesprochen. Herz, Hirn, Leber,
ein abgetrennter Fuß, der in eine Schiffsschraube geraten ist. Offal, das sind
die Eingeweide. Doch die Nähe zu awful,
„schrecklich“, ist unüberhörbar.
Kelley verhandelt die ultimative menschliche Tragödie, den Suizid, als Mischung
aus Muppet Show, Splattermovie und
Beckett’schem Endspiel. Die aufmüpfige
Leiche und ihre quasselnden Körperteile
verhalten sich wie nach einer Katastrophe:
Sie beschuldigen und beschimpfen sich,
weigern sich, die Realität zu akzeptieren, und
schieben sich gegenseitig die Verantwortung für die Situation zu. Dabei sprechen sie
allerdings, als stünden sie auf einer Thea­
terbühne, und rezitieren Verse, die manchmal
wie klassische Lyrik oder auch wie die
Raps von Lil’ Kim klingen, die Kelley verehrt:
„You’re the VP of Gore / You’re the
Pollock of splatter.“
Es bleibt bei allen kunstvollen Wortspielen und obszönen Witzen jedoch offen,
wer diese Frau nun war oder warum sie von
der Brücke gesprungen ist. Da ist nur
eine Ansammlung von Körperteilen, die, in
Formaldehyd eingelegt, der Wissenschaft
dienen oder die Fantasien von Medizinstudenten und Poeten beflügeln. Das könnte
eigentlich ganz dem Kunstdenken
der sogenannten Post-Internet-Generation
entsprechen, die die Spekulation, die
Wissenschaften, das Material, die Oberflächen liebt und den Menschen eher
als biologisches denn als kulturelles oder
historisches Wesen betrachtet.
uch Kelley und ihr Partner kombinieren digitalen High-Tech mit
klassischer Malerei und spielen in
ihren Installationen und Performances
die matten, handge­machten Flächen von
Leinwänden und Kulissen gegen brillante
Computeranimationen aus. Die Perfektion,
A
This Is Offal, 2016, HD-Video mit Ton, 12:51 Minuten, hier in der Performance 2016 im Haus der Berliner Festspiele
schen Literatur des 18., 19. und frühen
mit der Patrick Marys Gesicht unter Zeich20. Jahrhunderts – vom Lyriker Alexander
nungen von Organen morpht oder fast
dreidimensionale ätherische Animationsef- Pope, der die Ilias und die Odyssee übersetzte, bis zu den amerikanischen Moderfekte erzeugt, wäre vor wenigen Jahren
kaum machbar gewesen. This Is Offal ist auch nisten Ezra Pound und T. S. Eliot. „Das
Herz meiner Videoarbeit ist nicht die
ein Stück High-Tech-Theater.
Performance, sondern die Rezitation. Sie
och für die, die bereits eine neue
ist viel älter, weniger kinematografisch,
Ära ausrufen, in der die Künste, in
weniger Sitcom, eher theatralisch.“
Symbiose mit Technologie und
Wissenschaften, die Moderne und Postmoderne oder gar den Kapitalismus über­
„ Sklaverei, Kolonialismus,
winden, hat Kelley eine eher ernüchternde
Botschaft: Die Moderne hat noch gar nicht Unterdrückung. Von diesen
stattgefunden. „Ich glaube, dass wir
Abscheulichkeiten haben
immer noch in den Auswüchsen des 19. Jahrhunderts leben und uns eigentlich nie
wir uns kaum wegbewegt“
wirklich darüber hinausentwickelt haben“,
Kelleys historisches und literarisches Wissen
sagt sie. „Die Moderne hat im Grunde
ist immens. Es funktioniert wie ein
viele viktorianische Ideen einfach nur neu
Spiegelkabinett, in dem sich die unterschiedverpackt.“
lichsten Zeiten gegenseitig reflektieren,
Würde man ihre Filme mit Körpern
in dem man durch griechische Mythologie
vergleichen, dann wäre Kelleys absolut
artifizielle visuelle Welt das Fleisch, das an oder viktorianische Dichtung in die
Gegenwart blickt.
einem Skelett aus Text hängt – aus
Auch This Is Offal ist vom Werk eines
Gedichten, Dramen, Philosophie, wissenviktorianischen Autors inspiriert, von
schaftlichen Essays. Die grundlegenden
Thomas Hoods The Bridge of Sighs. Hood,
Quellen findet sie dabei in der angelsächsi-
D
REVUE
61
ein enger Freund von Charles Dickens,
schrieb das Gedicht 1844, um einen menschlicheren Blick auf die soziale und seelische
Not von Frauen zu werfen. Darin zieht er
eine (natürlich wunderschöne) Leiche aus
dem Wasser und mutmaßt eher sentimental
über die Ursachen für den Freitod wie
etwa eine uneheliche Schwangerschaft. Diese
wohlgemeinte Fürsorglichkeit birgt allerdings eine Schattenseite in sich, die ein
anderer Lieblingsautor Kelleys, Edgar Allan
Poe, 1846 in seiner Philosophy of Composition
eher unfreiwillig beschreibt: Der Tod einer
wunderschönen Frau sei zweifellos das
poetischste Bild der Welt, da in ihm Tragik
und Schönheit vereint seien. Diese chauvinistische Objektivierung des Frauenkörpers
ist nicht nur in unzähligen viktorianischen
Abbildungen der im Wasser treibenden
Ophelia reproduziert worden, es setzt sich
bis in die Gegenwart fort. In fast jeder
Folge von CSI streift die Kamera nicht ohne
Wollust über Brust und Beine von toten
Schönheiten auf dem Obduktionstisch.
Der weibliche Körper als Schlachtfeld
für die immer wieder gleichen politischen,
historischen und psychosozialen Machtspiele
ist Kelleys Thema. In ihrer Trilogie Priapus
Agonistes (2013), Swinburne’s Pasiphae (2014)
und The Thong of Dionysus (2015), die sich mit
dem Mythos des Minotaurus beschäftigt,
geht sie bis in die Antike zurück. Modernis­
ten wie Picasso liebten dieses testoste­
ronstrotzende Wesen, halb Mensch, halb
Stier, das in einem Labyrinth hauste. In
Kelleys Version transformiert der Mythos
zur gewaltsamen, hysterischen Nummern­
revue, in der auch das Kirchenvolleyballteam
auftritt, dem sie als Kind zuschauen
musste. Der Minotaurus wird zum weiblichen
Monster, das als Loser im labyrinthischen
Keller unter der Turnhalle haust, wo es
wiederum die Verlierer der Volleyballturniere
tötet. Der Minotaurus, sagt Kelley, ist all
das, was an einem Kind nicht erwünscht und
enttäuschend ist, das, was verbannt
werden muss. Jeder Teil ihrer Trilogie ist einer
Enttäuschung gewidmet, der Enttäu­
schung der Familie, des Sex, der Liebe – die
allesamt zu männerdominierten Kriegs­
schauplätzen werden.
elley folgt in ihren Arbeiten der letzten
Dekade weiblichen Körpern und
Rollen­bildern durch die Zeit – von der
Antike über das Frankreich des 19. Jahr­­­­
hun­derts und den Ersten Weltkrieg bis in
die Gegenwart. All diese unterschiedli­
chen Epochen spielen in ihren Videos und
Performances in einem extrem künstlichen
Setting, das an ein absurdes, slapstickarti­
ges Welttheater erinnert. In diesem Kosmos
herrscht ein schier endloser Tag der
Toten, ein „Día de los Muertos“, an dem
fahles Licht auf die Geschichte fällt.
Kelleys kalkweiß geschminkte Gestalten,
ihre griechischen Helden, französischen
Kokotten, die Harlekine, Bürger, Soldaten
und Selbstmörderinnen sind allesamt
Gespenster der Vergangenheit. Kelleys
Filme gleichen Moritaten ohne Moral –
es ist von Anfang an klar, dass es kein gutes
Ende nimmt.
Wer den extrem grafischen, fast
comichaften schwarz-weißen Stil sieht, wird
sich unweigerlich an die expressiven
Stummfilme der Weimarer Republik, an
Vaudeville, dadaistisches Theater oder
frühe Wochenschauen erinnert fühlen. Der
Geist der frühen Moderne schwebt über
allem, der Aufbruch, aber auch die Gewalt.
Sie sei in der gemeinsamen Arbeit mit
K
Patrick von Beginn an sehr von Fernand
Légers kubistisch-grafischem Stil beeinflusst
gewesen, sagt Kelley. „Wir machten sogar
ein Adjektiv daraus. Ich sagte immer, da muss
mehr léger sein oder wir müssen das
légerifizieren.“ Léger kam auch ins Spiel, als sie
2008 mit einer Serie von Filmen begann,
die sich mit der Rolle von Frauen im Ersten
Weltkrieg auseinandersetzt. Anders als etwa
für Otto Dix, erzählt Kelley, war für
Léger, der bei einem Senfgasangriff beinahe
ums Leben kam, der Krieg nicht Auslöser
für einen brutalen, offen zur Schau gestellten
Nihilismus. Inspiriert durch die Kriegs­
maschinerie begann seine période mécanique, in
der Menschen zu Maschinen oder anony­
men Objekten werden, ihnen gleichen und
ebenbürtig sind. „Er war nach dem
Krieg überzeugt“, sagt Kelley, „dass er eine
zutiefst erhabene menschliche Erfahrung
gemacht hatte. Das lag auch an der Bindung
zu seiner Einheit. Den Zusammenhalt
zwischen seinen Kameraden empfand er als
Liebe. Das hat sehr seine kommunistische
Haltung geprägt und ihn zu der Überzeugung
gebracht, dass Kunst erlösend sein kann.
Eine merkwürdige Schlussfolgerung, die er
da aus dem Krieg zog.“
„Léger war überzeugt, dass
er im Krieg eine zutiefst
erhabene menschliche
Erfahrung gemacht hatte“
Kelley dreht diese modernistische Idee
radikal um. Statt gesellschaftlicher Utopie
gibt es Tripper. Die Krankenschwestern,
Fabrikarbeiterinnen, Prostituierten, die sich
in ihren Weltkriegsfilmen wie Sadie, the
Saddest Sadist (2009) oder You Make Me Iliad
(2010) für Geld, Vaterland oder Liebe
aufopfern, sind Teil einer absolut ausbeute­
rischen Maschinerie, die Menschen
wie Material verbraucht. Ein Buch, das sie
besonders bei diesen Filmen angeregt habe,
Von oben nach unten:
Priapus Agonistes, 2013, Einkanal-HD-Video
mit Ton, 15:09 Minuten (Bild 1 bis 3)
Swinburne’s Pasiphae, 2014,
Einkanal-HD-Video mit Ton, 8:58 Minuten
(Bild 4 und 5)
The Thong of Dionysus, 2015,
Einkanal-HD-Video mit Ton, 9:27 Minuten
(Bild 6 und 7)
sei die 1930 erschienene Sittengeschichte des
Ersten Weltkrieges, ein Spätwerk des Sexualforschers Magnus Hirschfeld. Darin
beschreibt er den Krieg, auch wegen des
Anstiegs der Prostitution, der enormen
Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten
und der hohen Scheidungs- und Abtreibungsraten, als „größte Sozialkatastrophe,
die je über die zivilisierte Menschheit
hineingebrochen ist.“
s ist unübersehbar, wie psychologisch
aufgeladen Kelleys Weltkriegsfilme
soziale Katastrophen schildern. Sie
knüpft damit an eine theoretisch-erzählerische Tradition an, die in den 1970ern
und frühen 1980ern in Deutschland mit
Alexander Kluges Filmen oder Klaus
Theweleits Essaybänden ihren Höhepunkt
fand. Diese unterschiedlichen Werke setzten
sich kritisch mit faschistischen Körper­
bildern und Geschlechterrollen auseinander,
die bis in die Gegenwart hineinwirken.
Theweleits Männerphantasien beschäftigten
sich anhand von unzähligen Romanen
und Biografien der Freikorpsliteratur der
1920er-Jahre mit den Gewaltfantasien
der Soldateska und stellten fest, dass sich
deren Frauenbilder auf drei Typen
reduzieren ließen: die Mutter, die „weiße
Krankenschwester“ und die Hure.
Letztlich gehe es den Soldaten, so Theweleit,
jedoch gar nicht um die oft namenlosen
Frauen, sondern um eine Herrschaft über
die weiblichen Anteile in sich selbst. Ihre
weichen, leidenschaftlichen, lebendigen und
erotischen Elemente wollten die Freikorpskämpfer „ent-lebendigen“ und töten.
In heutigen Zeiten, in denen immer
mehr darüber gerätselt wird, ob es sich
bei Attentaten um terroristische Anschläge
oder um Taten von Psychopathen handelt,
die sich in ihrem Männerbild verletzt sehen,
bekommen diese Diskurse wieder neue,
bedrückende Aktualität. Kelleys Filme mögen
auf den ersten Blick bizarr, in ihren
verschachtelten Anspielungen auf antike
Sagen, viktorianische Poeten, Geschlechtskrankheiten, Geschwistermord oder dahinsiechende Pariser Grisetten makaber oder
schrullig wirken. Doch tatsächlich konfrontieren sie uns mit einer enormen historischen Last. Die Liebe zur romantischen
und zur dunklen, schauerlichen Dichtung
des 19. Jahrhunderts und ihre Überzeu-
E
gung, dass die moderne Literatur nicht
wirklich über die epischen Texte Swinburnes hinausgekommen ist, verbindet Kelley
mit ganz grundlegenden Zweifeln
an den Erzählungen vom immerwährenden
Fortschritt, die unsere Gegenwart beherrschen: „Das 19. Jahrhundert ist auch Sklaverei, Kolonialismus, das Zermalmen
der Unterdrückten unter den Stiefeln der
Kapitalisten. Von diesen Abscheulich­
keiten haben wir uns kaum weiterbewegt.“
Sie sei in den Südstaaten als Tochter von
Historikern aufgewachsen, erzählt Kelley,
und dort sei man, ganz egal ob schwarz
oder weiß, von klein auf mit der Geschichte
und dem Erbe des amerikanischen Bürgerkriegs konfrontiert gewesen, mit Rassismus
und sozialer Ungerechtigkeit: „Bereits als
Kind hatte ich ein Bewusstsein von dieser
unglaublichen historischen Katastrophe,
die sich in der Vergangenheit ereignet
hatte.“ Immer wieder spricht Kelley von der
enormen Peinlichkeit, die sie empfindet,
wenn sie an ihren Filmen arbeitet, davon,
dass Kunst wohl das Letzte sei, das die
Welt erlösen könne. Doch ihr Werk, das es
an ironischer Schärfe und Pioniergeist
mit den Arbeiten von Cindy Sherman oder
Kara Walker aufnimmt, macht deutlich,
was Kelley so obsessiv antreibt: die Erkenntnis, dass wir vor unserer Geschichte nicht
weglaufen können.
VOM 10. SEPTEMBER BIS 19. FEBRUAR ZEIGT DIE
KUNSTHALLE BREMEN A MARQUEE PIECE OF
SOD. FILME ZUM ERSTEN WELTKRIEG VON MARY
REID KELLEY
Mary Reid Kelley, fotografiert von Sarah Brück
WEISSR AUM
Von Adolf Loos in die Kokain-Moderne Miamis: Eine kleine Kulturgeschichte des all-white room. Von MARGIT J. MAYER
W
enn heute in einer Wohnzeitschrift ein reinweißes Interior auftaucht, vergleicht es der
Begleittext gern mit einem weißen Blatt oder
blank canvas, auf dem sich die Kreativität der Bewohner
so richtig schön entfalten könne. Das ist natürlich Tinnef. Denn erstens kann sich echte Kreativität überall
entfalten und zweitens ist ein weißes Interior alles
andere als blank.
Als Stilseismograf par excellence
hatte Cecil Beaton sogleich
erkannt, was Syrie Maughams
weißer Party Room vor allem
war: eine Bühne
Weiß ist die komplexeste Farbe – streng physikalisch
ausgedrückt: Farbmischung – und in unseren Köpfen
die widersprüchlichste. Wir verbinden damit Naivität,
Leichtigkeit, Optimismus, Luxus, Sport und Kraft,
aber auch Reife, Konzentration, Kontrolle, Dekadenz,
Erschöpfung und Kapitulation. Im Westen gilt Weiß
als eher feminin, während es in der chinesischen Philosophie dem Yang zugeordnet ist, also dem männli- 1933 GESTALTETE SYRIE MAUGHAM IHREN CREMEWEISSEN PARTY ROOM.
NATÜRLICH MUSSTE CECIL BEATON DARIN SOFORT SEINE SCHWESTER
chen, aktiven Prinzip. Es darf also nicht überraschen, UND
BABA FOTOGRAFIEREN (LINKS)
wenn reinweiße Räume in der Geschichte des Interiordesigns eine besondere Position einnehmen: eben die
des weißen Elefanten. Ein Hingucker und Aufwecker.
Als einflussreichster weißer Wohnraum des letzten Jahrhunderts gilt der Party Room, den Syrie Maugham 1932 in ham. Dessen Fertigstellung wurde am 6. April 1927 mit einer Mitterihrem eigenen Wohnhaus in der Londoner King’s Road eingerichtet nachtseinladung gefeiert, bei der man gern dabei gewesen wäre: Kellhat. Die prallen Sitzkissen der Sofas schimmerten wie ein Ballkleid, ner und Freundinnen der Gastgeberin trugen Weiß, während die
ein Paravent mit Spiegelstreifen vervielfältigte die cremefarbenen Herren mit weißen Nelken im Knopfloch ihr Scherflein zur color
Beistelltische von Jean-Michel Frank, dessen Möbel Mrs. Maugham coordination beitrugen.
in London vertrat, und auch sonst bettelte das Ambiente geradezu
Am nächsten Tag liefen bei der café society von Mayfair und
nach Casablanca-Lilien. Die klarerweise mit im Bild waren, als Cecil Knightsbridge die Telefone heiß. Auch in der New Yorker Park AveBeaton dort seine Schwester Baba als Salon-Elfenkönigin fotogra- nue erfuhr man schnell vom neuen Wunderinterior jenseits des
fierte. Als Stilseismograf par excellence hatte der junge Beaton gleich Atlantiks. Jedenfalls konnte Mrs. Maughams Dekorationsgeschäft
erfasst, was dieser Raum eigentlich war: eine Bühne. Und eine Wer- „Syrie Ltd.“ danach nicht über einen Mangel an Aufträgen klagen.
beanzeige für seine gute Freundin Syrie.
Im Herbst 1929 erschienen in Harper’s Bazaar mehrere Fotos, auf
Der einige Jahre zuvor entstandene White Room im selben Haus denen alles gut zu sehen war: die Vertäfelungen aus weiß gebeiztem
war womöglich noch wichtiger für die Karriere der energischen Ehe- Holz, die mit weißem Leder bezogenen Stühle und weißen Brokatfrau des schwulen (fragen Sie nicht, die beiden wollten es so und eine vorhänge, nicht zu vergessen ein künstlicher Kamelienbaum mit
Zeit lang funktionierte es bestens) Schriftstellers W. Somerset Maug- schneeweißen Porzellanblüten.
REVUE
65
Das berühmteste weiße
Schlafzimmer des 20. Jahrhunderts sollte später eine
unrühmliche Rolle
spielen – ausgerechnet in
einem Pädophilie-Prozess
den Studiohallen gar nicht mehr abgebaut
wurden und von den Arbeitern nur BWS –
big white set – genannt wurden.)
Aber zurück zum realen Wohnen.
Natürlich gab es schon vor Syrie Maugham
in Häusern oder Villen weiße Räume, die
weder Küche noch Bad waren. Der schotti­
sche Architekt Charles Rennie Mackintosh
und seine Frau lebten ab 1906 in einem
rundum weiß gestrichenen Interior, dessen
Nachbau in der Hunterian Art Gallery in
Glasgow besichtigt werden kann. Immer
wieder landeten Jugendstilgrößen wie
Mackintosh oder Josef Hoffmann bei fast
weißen Räumen, wenn sie ihre Sitzgeome­
trien zum wohnlichen „Gesamtkunstwerk“
erweiterten. Doch ironischerweise gelang
nur dessen schärfstem Kritiker, dem Wiener
Architekten und Stilpublizisten Adolf Loos,
eine weiße Interiordekoration im eigentli­
chen Sinne, also ein auf eine bestimmte
Atmosphäre abzielendes Ambiente, in dem
das Architektonische bloß Mittel zum
Zweck ist.
Das Schlafzimmer für sich und seine
frisch angetraute junge Frau Lina, das Loos
HEUTE ALS NACHBAU IN DER HUNTERIAN ART GALLERY IN GLASGOW ZU BEWUNDERN:
1903 in die historistischen Räume der
DAS WOHNZIMMER VON JUGENDSTILMEISTER CHARLES RENNIE MACKINTOSH UND SEINER
gemeinsamen Wohnung nahe der Wiener
FRAU MARGARET VON 1906
Oper einpasste, war ein anachronistischer
Geniestreich. Wände und Schränke ver­
atürlich konnte Hollywood die neue Feenspielart des Art déco schwanden hinter umlaufenden weißen Vorhängen, die den Raum
nicht ungenutzt lassen: Bereits 1933 erlebte sie ihre Zelluloid- zum sinnlichen Kokon abstrahierten. Das Bett schwebte darin wie
apotheose, und zwar mit dem Boudoir von Jean Harlow in ein Floß, umbrandet von weißen Fellteppichen und offensichtlich
George Cukors Dinner at Eight. Die Stilwelt war eng vernetzt, und als nicht bloß zum Ausschlafen da. Auf den heutigen Betrachter wirkt
Stardesigner von Metro-Goldwyn-Mayer wusste Cedric Gibbons dieses Schlafgemach so hippiehaft-hedonistisch, dass man am Ent­
garantiert vom zweifachen Wohncoup in Weiß jenseits des Atlantiks. stehungsjahr zweifeln würde, wäre es nicht durch ein damaliges Foto
Um auf Schwarz-Weiß-Film ausreichend Kontraste zu liefern, sollen in Peter Altenbergs Privatzeitschrift Kunst belegt. Und eigentlich hät­
er und der Kostümdesigner Adrian bei Dinner at Eight absichtlich elf ten gerade in der Stadt Sigmund Freuds die Alarmglocken läuten
verschiedene Weißnuancen kombiniert haben – Miss Harlows Platin­ müssen: Denkt man beim Anblick dieser Installation nicht unwillkür­
blond nicht eingerechnet. Das Ergebnis war ein Märchen für Erwach­ lich an die Fotos nackter Babys auf Eisbärfell, wie sie um 1900 üblich
sene, das in der großen Wirtschaftskrise für einen Kinobesuch lang waren? In dem Pädophilie-Prozess, bei dem Loos in den 1920erFlucht aus der Realität bot. (Bei der gleichzeitig startenden Serie von Jahren wegen Unzucht mit Minderjährigen zu bedingter Haft verur­
Filmmusicals mit Fred Astaire und Ginger Rogers setzte RKO Pictu­ teilt wurde, spielte der Raum jedenfalls eine unrühmliche Rolle: Hier
res ebenfalls auf spektakuläre Sets mit weißen Vorhangwänden, die in ließ der 57-jährige drei Mädchen von 8, 9 und 10 Jahren nackt und
N
REVUE
66
mit gespreizten Beinen posieren. Um sich
angeblich im Aktzeichnen zu üben.
Weshalb also wurde Weiß ausgerechnet
um 1900 erstmals zur akzeptablen Wohnund Salonfarbe? Gut möglich, dass Reisen an
die See eine Rolle spielten, die damals auch
unter Nichtmillionären üblich wurden.
Bootssegel, Gischt, Marmortempel und
mediterrane Häuser – warum nicht etwas
von diesem sauberen Feriengefühl ins
Zuhause holen? Ganz sicher hatte es etwas
mit der griechischen Antike zu tun. Oder
vielmehr mit jenem Ideal von ihr, das hundert Jahre zuvor in Europas GipsabgussSammlungen geboren und in Künstlerateliers,
Oberschulen und Gymnastikvereinen munter
weitergesponnen wurde. (Elsie de Wolfe, die
Urmutter der Interiordekoration im heutigen
Sinne, soll beim Anblick des Parthenons in
Athen ausgerufen haben: „It’s beige – my color!“) SAUBER, SAUBER: MÄDCHENSCHLAFZIMMER (1902), ENTWORFEN VON JOSEF HOFFMANN.
HIER REKONSTRUIERT FÜR EINE SCHAU DER NEUEN GALERIE IN NEW YORK
ielleicht waren es auch die Hussen. Jene
hellen Schutzüberzüge, unter denen im
ausgehenden 19. Jahrhundert die Möbel, Kronleuchter und die Wohnung betrat, muss gemerkt haben, dass sie auf einmal weitder Flügel einer Stadtwohnung verschwanden, wenn die Familie in läufiger, ja irgendwie jünger aussah als sonst.
die Sommerfrische oder an die Riviera abdampfte. Wer in dieser Zeit
Vor allem aber war Weiß ein Terrain, auf dem jene Frauen brillierten, die damals den Beruf des Interiordesigners erfanden: Töchter des Bürgertums in den USA und England, die eine frühe Ehe
1903 BAUTE ADOLF LOOS DIESES SCHLAFZIMMER IN DIE
oder eine Kurzkarriere als Schauspielerin hinter sich gebracht hatten
WOHNUNG EIN, DIE ER MIT SEINER JUNGEN FRAU IN WIEN BEZOG.
und jetzt nach finanzieller UnabhänNACHBAU DES MAK WIEN
gigkeit und einem gesellschaftlich
akzeptierten Beruf strebten. Elsie de
Wolfe, Ruby Ross Wood oder Syrie
Maugham waren keine Träumerinnen,
sondern weit gereiste Damen mit vermögendem Bekanntenkreis, schneller
Auffassungsgabe und jeder Menge
Chuzpe. Anders als die männlichen
Architekten, die gleichzeitig das Nachäffen historischer Stile bekämpften
und dabei zu missionarischer Überkonsequenz neigten, hatten diese kultivierten Damen kein Problem damit,
bereits vorhandenes Mobiliar in ihre
Umgestaltungen einzubinden. RokokoPastelle und Cremetöne bis hin zu
Weiß erwiesen sich dabei als verlässliche Komplizen, deren Verwendung als
Wandfarbe oder Möbellackierung obendrein viel weniger kostete (ein wichtiger Punkt am Start jeder Stilkarriere)
als die Stofftapeten und Teppichschichten, denen diese Stilpionierinnen
den Garaus machten. Sie alle liebten
Paris, den Louis-XVI-Stil, Spiegelflä-
V
chen, Schachbrettböden aus Marmor, Zierelemente aus Gips und
frische Rosen, die sie in ihren Räumen verteilten wie Coco Chanel
ihre Perlen am Körper einer Frau. Während Mademoiselle CC das
Schwarz der Dienstmädchenuniform in ein Modemuss namens little
black dress für deren Herrinnen verwandelte, unternahmen Elsie,
Syrie & Co. zur gleichen Zeit etwas ganz Ähnliches mit Weiß, der
Farbe von Küche, Pantry oder Bügelzimmer. Soziologen nennen
das Phänomen „umgekehrten Snobismus“, und er war womöglich
der schärfste Pfeil, den Stilgöttinnen des 20. Jahrhunderts im
Köcher hatten.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren weiße Flächen so stark mit
Hospitälern und Tod assoziiert, dass man lieber darauf verzichtete.
Ein Schwall von Farben und eine völlig neue Musterwelt traten an,
um die eben erlebte Katastrophe vergessen zu machen.
rst in den 1970ern schwang das Pendel wieder zurück und landete bei einem Art-déco-Revival mit viel Beige und Cremeweiß.
Am Ende der Dekade gestaltete Angelo Donghia für Ralph LauSURREALISMUS FÜRS TELEFONKABEL: DETAIL IN DER SUITE
HOUSSÉE DE BLANC DES PARISER DESIGNHOTELS LA MAISON
ren und dessen Familie ein Duplex an der Fifth Avenue, in dem sich
CHAMPS-ÉLYSÉES, 2011 NACH KONZEPTEN DES MODEDESIGdie Disco-Ära von ihrer zivilisiertesten Seite zeigte: weiße Lofträume
NERS MARTIN MARGIELA UMGEBAUT
mit canvasbezogenen Sofas, grabsteinkantigen Coffeetables und großen Grünpflanzen. „Als würde ich auf einer Wolke schweben“, so
beschrieb der Modedesigner das Wohngefühl in seiner Oase mit
Central-Park-Blick.
Die aufkommenden Eiswürfelresidenzen von US-Spätmoder- white interiors konnte es darin nicht geben – da war die Kunst vor. Ab
nisten wie Charles Gwathmey und Richard Meier strahlten zwar im 1980 mutierten die Häuser der Reichen zu White Cubes mit Wohnfrisch gebauten Zustand außen wie innen in Schneeweiß, doch echte nebenfunktion, zügig wachsende Portfolios zeitgenössischer Kunst
degradierten darin selbst massivste Sofas zur Nebensache.
In der letzten Dekade vor der Jahrtausendwende gab das Wohnweiß
schließlich alle Ambitionen hinsichtlich Unschuld auf. 1994
1994 UNTERTEILTE PHILIPPE STARCK DAS FOYER DES ART-DÉCOeröffnete in Miami South Beach das von Philippe Starck umgebaute
HOTELS DELANO IN MIAMI BEACH MIT WEISSEN VORHÄNGEN, DIE DIE
AIRCONDITION IN PERMANENTER LEICHTER BEWEGUNG HÄLT
Hotel Delano. Orgienpalast (die Lobby mit haushohen Vorhängen,
dank Gebläse in ständiger Bewegung) und Luxusklinik (Zimmer und
Suiten, deren einziger Farbfleck aus einem Granny-Smith-Apfel
bestand) verschmolzen darin zu einer Art Kokain-Moderne. Ungefähr gleichzeitig ließen die ganz in Weiß gehaltenen Showrooms des
Pariser Modepoeten Martin Margiela in aller Welt stylenärrische Zeitgenossen zu „RAL 9016 Verkehrsweiß“ greifen und Bettlaken zu
Hussen fürs häusliche Mobiliar umnähen.
Und heute? Genau hundert Jahre nach Beaux-Arts-Gips in New
York und Reformarchitektur in Europa ist Weiß wieder voll da im
Interior, geschätzte zehn Millionen Blogs und Pinterest-Kollektionen
zu dem Thema können nicht irren. Ob Niemeyer-Chic, neogustavianisch mit weiß lackierten Dielen oder Penthouse im iPhone-Look –
abermals wehen Eskapismus und Feriensehnsucht durch diese Räume.
Und wie schon bei Syrie Maugham bewahrt nur die hieb- und stichfeste Qualität der einzelnen Möbel, Stoffe und Objekte das Ganze vor
dem Absturz in den Kitsch, der bei zu viel Weiß immer droht.
Vom Sirenengesang des Status, der totalen Kontrolle und Abgehobenheit auf Wolke sieben, mit dem uns das white interior von
Jugendstil bis Delano gelockt hat, ist in der individualistischen Bilderflut der Gegenwart jedenfalls nur mehr leises Geblubber geblieben. Die gesamtkunstwerkliche Idee von Alles-in-Weiß ist von der
Villa de Style in die Köpfe der Silicon-Valley-Chefs umgezogen. Und
wird dort jetzt endlich so richtig, richtig reich.
E
DIE QUEEN DER INTERIORDEKORATION WAR DAMALS 74 JAHRE ALT, MINDESTENS: ELSIE DE WOLFE AKA LADY MENDL
EMPFÄNGT FOTOGRAF FRANÇOIS KOLLAR ZWISCHEN SATIN UND MARABUFEDERN (1939)
Elsie de Wolfe und Co. machten die Farbe von Küche und
Bügelzimmer salonfähig. Und den „umgekehrten Snobismus“
zum schärfsten Pfeil der Stilgöttinnen
Günther Uecker, Strukturfeld, 1962
Ergebnis € 502 .100
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ENCORE
GEDRECHSELTES ELFENBEIN
—
— GR AN D PRIX — WERTSACHEN
R
AU KT IO NE N — BL AU K ALENDE
— DER AUGENBLICK
MEIN
HOF,
MEIN
HOBBY
Die Könige und Fürsten
des Ancien Régime führten
nicht nur Kriege und
ließen die Muskeln spielen.
Der liebste Zeitvertreib
war ihnen das Drechseln von
Elfenbein. Manche waren
darin geachtete Meister –
und lassen noch heute jeden
Wunderkammer-Besucher
sein weißes Wunder erleben
M
an hat sich das Bild sehr weiß vorzustellen. Weiß der Pokal aus Elfenbein. Weiß das damastene Tischtuch, auf den er gestellt wird. Weiß die Livree
der Diener, die ihn aus dem Schrein geholt
haben. Und dann stehen alle drumherum und
beugen sich mit den gepuderten Perücken
vor und klatschen in die Handschuhhände
und jauchzen artig: „Ach, wie schön!“
Der Kaiser lächelt. Die Edelmenschen
applaudieren. Hat er doch das Wunder auf
dem Damasttischtuch höchstselbst vollbracht.
Damals war er noch im Discoalter, stand an
der Drehbank, hat vorsichtig ein Stück Elefantenstoßzahn eingespannt und gespänt, bis das
zarte Gefäß die notariell beglaubigte Güteklasse erreicht hat: „Dies Kandl haben Ihro
Gnaden Erzherzog Leopold Ignaz mit eigener
Hand gemacht, Anno 1654.“
Es war eine Freude im Hause Habsburg
in Wien, wie sie allerorten in Europa Freude
hatten an Drehbänken und exotischen Hör-
Höfische Elfenbein-Drechselpokale, Deutschland,
16.–17. Jahrhundert, Höhe 22–37 cm
nern, an drechselnden Kronprinzen und
Deckeltöpfchen – bei den Fürsten von
Liechtenstein und den Herzögen von Bayern, Coburg, Eisenach, Sachsen-Weimar,
beim Kurfürsten in Dresden und vor allem
bei Rudolf II. am kunstüberschwänglichen
Hof in Prag. Selbst in Florenz war die Mode
angekommen. Zar Peter der Große war
begeisterter Drechsler. Und am schwedischen Königshof surrten die Maschinen so
emsig wie bei den Bourbonen in Paris.
Überall wurde die mannbare Jugend ans
wertvolle Material gelassen, und überall
sammelte man die hübschen Dinge aus
Elfenbein, versteckte sie in den Schatz- und
Wunderkammern, stellte sie zur gemeinsamen Abendunterhaltung auf den Tisch und
ergötzte sich an Bewunderung und Neid der
geladenen Gäste.
Wunderliches Hobby, das vom frühen
16. bis ins 18. Jahrhundert hinein kaum an
Attraktion eingebüßt hat. Die KulturgeENCORE
71
schichte hat es erst relativ spät entdeckt.
Lange ließ man nur die Schnitzerei, die preziöse Kleinplastik aus Elfenbein gelten. Das
famose Genre, in dem es vielbeschäftigte
Künstler wie Lorenz Zick, Georg Wecker,
Lorenz Spengler oder Daniel Vading zur großen Meisterschaft gebracht haben. Dass solche Virtuosen ihres Fachs zugleich aber als
„Kammerdrechsler“ da und dort in fürstlichen Diensten standen, in Werkstätten, ausgerüstet mit Drehbänken – den seinerzeit
teuersten Apparaten, Spitzenerzeugnissen
der barocken Maschinenkunst –, und an
ihnen dilettierenden Höflingen die Hände
führten, um mit ihnen einen angeberischen
Schauhumpen zu fräsen, das alles ist eher
belächelt worden. Diese freien, bizarren
Gebilde, deren Formen sich zuweilen an
Gebrauchsgegenständen orientieren, die
aber ganz offensichtlich zu keinem anderen
Zweck gedrechselt worden sind als zum
Beweis handwerklicher Könnerschaft, sie
waren in der Geschmacksgeschichte nicht
richtig unterzubringen. Zumal der Riesenaufwand in keinem Verhältnis zur möglichen
Funktion stand. Man denke nur an die sogenannten Contrefait-Kugeln, die aussehen wie
Miniaturen von Weltraumkapseln der ersten
Generation. Hochkomplexe sphärische Aufsätze aus ineinander verschachtelten geometrischen Hohlkörpern, die als Gehäuse kleiner Bildchen dienten, die man durch die
eingeschnittenen Gucklöcher betrachten
konnte. Wunderschön gemacht, aber auch
ein bisschen kurios.
Und heute, seit man mit wunderschön
und kurios viel freier umgehen kann, stehen
die Leute vor den Schalen, Bechern, Dosen,
Leuchtern, Säulen und dreimastigen Prunkschiffen, wie sie im Grünen Gewölbe in
Dresden, im Palazzo Pitti in Florenz oder im
Kunsthistorischen Museum in Wien aufbewahrt werden, und würden die Nasen an die
Scheiben drücken, wenn sie dürften. Kein
Mensch fragt heute noch nach Sinn und
Zweck. Die skulpturalen Gegenstände
erscheinen so fantastisch in der Ausführung,
so spektakulär in ihrer kostbaren Nutzlosigkeit, dass der Hochmut der Kunsthistoriker
nicht mehr verfängt.
Das Programm war
revolutionär: Handwerk am
Hofe, das war nichts
weniger als Einübung in die
technische Beherrschung
der Welt
Es ist vor allem Klaus Maurice, dem besten
Kenner der Drechselkunst, zu verdanken,
dass sich das Bild gewandelt hat. Er hat als
Erster den „drechselnden Souverän“ ernst
genommen und auf die „ästhetische Bedeutung von Naturwissenschaft und Technik“
verwiesen. Und er bestimmt bis heute den
Forschungsstand und hat im Münchner
Kunsthändler Georg Laue einen Partner
gefunden, der ihm in Theorie und Praxis
folgt. Laues eigene Kunstkammer bietet grandioses Anschauungsmaterial für die denkwürdige Verbindung von Macht und Kunst.
Man kann sich ja kaum vorstellen, dass
die überaus fragilen Gebilde die Jahrhunderte des drechselnden Souveräns überlebt
haben. Und doch tauchen, wie Georg Laue
erzählt, jedes Jahr wieder Einzelstücke auf,
die auf dem Sammlermarkt heiß begehrt
sind. Laue, der sich europaweit einen Namen
als Experte für gedrechseltes Elfenbein
gemacht hat, konnte 2005 eine komplette
Sammlung gedrehter Kostbarkeiten an den
Schraubenmilliardär Reinhold Würth vermitteln, die heute als Leihgabe im Bode-Museum
in Berlin ausgestellt ist. Dass die seltene
Kunst ihren Preis hat, versteht sich. Ein
Elfenbeinpokal von Georg Burrer, den
Georg Laue im Angebot hat, ist auf 280.000
Euro geschätzt. Kleinere Dosen sind bereits
ab 5.000 Euro zu finden, während sich die
stattlichen Drechselobjekte nicht selten im
sechsstelligen Bereich bewegen. So wurden
etwa bei Sotheby’s im Jahr 2011 Einzelstücke
aus der Sammlung Safra versteigert, die zwischen 50.000 und 600.000 Euro erzielten. o gesehen könnte man von einer durchaus
nachhaltigen Partnerschaft zwischen Kunst
und Adel sprechen. Immerhin ist es der
einzig bekannte Fall in der langen Geschichte
des Hofkünstlers, dass seine Anwesenheit
und sein Einfluss zur kunsthandwerklichen
Selbstbeschäftigung der vermögenden Auftraggeber geführt haben. „Von Kurfürst
August von Sachsen“, erzählt Laues wissenschaftliche Mitarbeiterin Virginie Spenlé, „ist
beispielsweise bekannt, dass er eine Drechslerwerkstatt direkt über seiner Kunstkammer
eingerichtet hatte. Dort arbeitete er Seite an
Seite mit Künstlern wie Georg Wecker und
brachte Pokale hervor, die bereits gegen Ende
des 16. Jahrhunderts in die kurfürstliche
Kunst- und Wunderkammer eingingen. Dort
versinnbildlichten sie die Exzellenz des Landesherrn als fähiger Handwerker und in Analogie dazu als guter Regent.“
Dabei bleiben die „fürstlichen Drechseleien“ ja erstaunlich genug, wenn man in
ihrer kooperativen Entstehung nicht gleich
die Sinnstiftung guter Regentschaft sieht.
Man kann sich auch mit der Mode zufriedengeben, die den Landesherrn ebenso ziert wie
der Ausweis fähiger Handwerkerschaft.
Noch für die neuplatonisch gebildeten
Lehrer an den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Höfen wäre es gänzlich unvorstellbar gewesen, dass ihre jungen Fürsten
Hand an ein Werkstück legen könnten –
zumal wenn dafür der Einsatz einer Maschine
erforderlich war. Das pädagogische Curricu-
S
ENCORE
72
Elfenbein-Deckelpokal mit den Initialen von
Herzog Christian Albrecht von Schleswig-HolsteinGottorf, wohl Nürnberg, um 1685, Höhe 51 cm
lum sah neben der Reit- und Fechtkunst das
Studium antiker Autoren und christlicher
Traktate vor. Und wenn überhaupt ein
„Handwerk“, dann hatte der männliche
Nachwuchs das Kriegshandwerk zu erlernen.
Das änderte sich, als mit der kopernikanischen Wende der Himmel über der Erde
aufging und die Welt weit wurde, wie sie nie
gewesen war. Jetzt brauchte man zu ihrer
Erkundung technische Hilfsmittel. Fernrohre, Mikroskope, Uhren, Messgeräte. In
rasantem Tempo schuf die Technik immer
raffiniertere Instrumente, die dem Menschen
das Wissenwollen erst möglich machten und
ihn in die Lage versetzten, die Weltstoffe in
einer Exaktheit und Feinheit zu bearbeiten,
dass man noch heute den Atem anhält. Und
wenn die Renaissance auch noch einmal die
Feier des Alten in ihr höfisches Zeremoniell
aufnahm, dann interessierte jetzt mehr und
mehr das Neue. Und die Bildungsziele
begnügten sich nicht mehr mit Christentum
und Antike, sie schlossen die modernen Wissenschaften mit ein.
rasmus von Rotterdam, einer der Scharfsinnigsten unter den Humanisten,
schrieb 1516 in seiner Anweisung zur
Fürstenerziehung: „Man soll es nicht für schandbar halten, wenn wohlhabende Bürger oder
Patrizier ihre Kinder zum Erlernen eines
Handwerks anhalten: Die jungen Leute werden durch das Arbeiten von Schlechtigkeiten
aller Art ferngehalten, und sollte schon das
Handwerk nicht ausgeübt werden, so hat die
Lehrzeit doch auch nicht geschadet.“
Wer da nur die ranzige Moral heraushört,
verkennt das eigentlich Revolutionäre im Programm. Mit Handwerk ist ja nicht die unstandesgemäße Dienstleistung gemeint. Handwerk ist hier ein anderes Wort für Präzision,
Geduld, Kennerschaft, für all die Fertigkeiten,
die das wissenschaftliche Selbstverständnis
der neuen Zeit begleiten. Und Handwerk am
Hofe, das ist nichts weniger als Einübung in
die technische Beherrschung der Welt.
Die Drehbank war dafür ein starkes
Symbol, das stärkste womöglich. Noch
immer steht man vor diesen Präzisionsmaschinen, je nach Laune und Portefeuille sachlich, rustikal oder rokokomäßig verziert, wie
vor all den weißen Wundern, die auf und mit
ihnen entstanden sind. Es hat gar keinen
Sinn, dass einer versucht, uns zu erklären, wie
der Vortrieb funktioniert und wo genau der
„Passichtdrehstuhl“ angebracht ist. Das wäre
so hoffnungslos wie die Vorstellung, was sich
im Innern unseres Smartphones tut. Es sind
Wunderwerke der Technik, die mit der Zeit
immer perfekter geworden sind. Am Anfang,
das versteht man gerade noch, bewirkte die
Tretbewegung, dass sich die Spindel oben
vor- und zurückdrehte. Auch damit ließ sich
arbeiten. Aber als man daranging, den
Antrieb über eine Kurbelwelle zu lenken,
ging es mit der einen, endlich dauerhaften
Drehrichtung entschieden besser.
Und so folgte eine Erfindung auf die
andere. Und mit den Erfindungen war es wie
mit den Entdeckungsreisen. Sie haben das
Konsumverhalten verfeinert. Aus den sagen-
E
haften Dämonen und wilden Weltrandbewohnern waren beschreibbare Dickhäuter
geworden, deren gewaltige Zähne und Hörner als begehrte Importware galten. Was
genau es war, was das teure Elfenbein zum
Lieblingsmaterial der höfischen Auftraggeber und Sammler gemacht hat, lässt sich
heute nicht mehr sagen. Jedenfalls löste es in
den Vitrinen der noblen Häuser die Kleinbronze ab, die ein wenig kommun, kaum
noch aufregend geworden war. Irgendwie
ließ sich mit den artifiziellen ElfenbeinDrechseleien ungleich besser Pracht und
Macht demonstrieren, und es ist fast abenteuerlich, wie viel Geld, Kunstsinn und
mäzenatische Passion man auf die Liebhaberei verwandte.
Das Auffallendste an der Liebhaberei
bleibt allemal die kunst-, aber schwerlich artgerechte Strapazierung des Materials. Wie da
fast durchsichtige Dünnwandigkeit, fragile
Verzierungen und millimetergenaue Geometrie vergessen machen, dass es eine Naturform war, aus der sie herausgedreht worden
sind, eine Naturform, die halt nicht länger
und nicht dicker und nicht gerader gewachsen ist. Und wenn man an eines dieser großen Schiffe denkt, bei dem der Rumpf aus
einem Stück gearbeitet ist und die Schiffsmasten und -segel sowie der Fuß aus zwei
anderen Stücken, dann ist man gleichsam
Trinkschiff aus der Werkstatt von Lorenz Zick,
Nürnberg, 2. Hälfte 17. Jahrhundert, Höhe 26 cm
ENCORE
73
Augenzeuge, wie Berufsstand und Liebhaberstand in Tateinheit mit exzellenter
Maschinenkunst gegebene Grenzen überschreiten und den elfenbeinernen Skulpturstoff in etwas verwandeln, um das selbst der
stoßzahnberaubte Elefant mit Ehrfurcht
herumgeschlichen wäre.
Übrigens brauchte es dazu auch keine
besondere künstlerische Begabung, kein
Genie. Es genügten Training, Geschick, Einsicht ins Maschinensystem und gute Lehrbücher, die sich ganz ausdrücklich an die herrschaftliche Klientel richteten. Und wenn das
alles erfüllt war, dann sieht der Pokal des
Fürsten auch nicht anders, schlichter, kunstloser aus als der des Meisterdrechslers. Das
ist noch zu wenig bedacht worden, wie hier
in den höfischen Werkstätten der eigentlich
unüberwindliche Abstand zum Künstler als
Ausnahmemensch gegen Null schrumpft.
Gefragt ist ja nicht virtuose Eigenständigkeit,
wie sie dem Dilettanten beim Zeichnen oder
Malen nie gelingt. Der Drechsler hält sich
strikt ans vorgegebene Programm. Der
drechselnde Souverän so gut wie der drechselnde Künstler.
uf einem etwas einfältigen Porträtgemälde aus dem Jahr 1765 sitzt Kurfürst Max III. Joseph von Bayern an
der Drehbank und dreht sich um, als wollte
er Graf von Salern, der sich hinter ihm auf
die Stuhllehne stützt, zeigen, was er gerade
Schönes gedreht hat. Das Fenster steht weit
offen. Das Hündchen hält still. Wenn man
nicht wüsste, dass es der drechselnde Souverän ist, könnte man auch an einen Mann an
der Nähmaschine denken. Jedenfalls ist es ist
ein sehr friedliches Bild.
Aber wie immer währt der Frieden nicht
ewig. Und Moden kommen auch wieder aus
der Mode. Als man im 18. Jahrhundert lernt,
mit Porzellan so geschickt umzugehen wie
mit Elefantenstoßzähnen und Rhinozeroshörnern, rüsten die Wunderkämmerer in
Europa abermals um. Und jetzt prangt eine
chinesische Vase auf dem Abendtisch. Und
alle stehen drumherum und beugen sich mit
den gepuderten Perücken vor und klatschen
in die Handschuhhände und jauchzen artig:
„Ach, wie schön.“ Und niemand kann mehr
sagen, dass er das Wunder auf dem Damasttischtuch höchstselbst vollbracht habe.
A
TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER
ELFENBEIN
GEDRECHSELTES
RTSACHEN —
— GRAND PRIX — WE
— BL AU K ALENDER
A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK
GRAND PRIX
WEISSER FLECK
Die Kunst verlässt
Istanbul. Jetzt wollen
ehr häufig hört man zurzeit die Frage: Fährst du noch nach Istanbul? Immer häufiger
alle nach
lautet die Antwort: „Nein, die Situation ist viel zu unberechenbar. Die Lage ist aussichtslos. Außerdem weiß ich überhaupt nicht, wer gut und wer böse ist.“ So schnell
Teheran. Ein
wie die umherwandernde Gegenwartskunstszene Istanbul ihre Liebe erklärte, so schnell
Appell an scheint die Zuneigung nun versickert im Angesicht der Menschen auf den Straßen, die Erdogan
mit nationalistischen Parolen ihre Gefolgschaft schwören. Istanbul war lange ein weißer Fleck auf
untreue der Karte der Kunst. Anders als in der Musik oder Literatur brauchte die Stadt hier länger – dann
aber wurde sie gefeierte Nachfolgerin von Berlin, und die in Übertreibungen verliebte Kunstwelt
Sammler flippte völlig aus. Künstler zogen dorthin, die Galeristen reisten nach, dann die Sammler und KuraTEHERAN IST DAS
NEUE ISTANBUL:
SHADI GHADIRIANS
LIKE EVERY DAY #16
VON 2000
S
toren. Und die heimischen Künstler dachten: Alles ist möglich. Auf der Istanbuler Biennale spürte
man einen neuen, ungewohnten intellektuellen Kunstwillen, der mit aller Macht in eine freie
Zukunft steuerte und sich bei den Demonstrationen im Gezi-Park entlud. Man war fest davon
überzeugt, dass ein Land mit einer solchen – auch künstlerischen – Energie zum Widerstand sich
nicht unterkriegen lassen würde. Doch mit der Euphorie der Mutigen kam die Ernüchterung. Vor
einem Jahr hätten ihnen die Amerikaner und Europäer die Türen eingerannt, sagt die Mitarbeiterin
eines deutsch-türkischen Kulturprojekts in Istanbul. Jetzt sei es still geworden. Frage man nach,
wichen die Sammler aus. Sogar die Künstler kämen nicht mehr. Ist Istanbul wieder der weiße Fleck
auf der Kunstlandkarte? Wo sind all die Sammler hin? Die Kuratoren? Und die Künstler? All jene,
die im vergangenen Jahr noch gemeinsam auf den Jachten mit Blick auf den Bosporus die BiennaleEröffnung feierten? Sie haben sich abgewandt. Jetzt ist Istanbul für sie gefährlich. In Europa und
den USA hört man nun eine andere Frage: Bist du schon in Teheran gewesen? Und die Antwort ist
häufig: Ja, natürlich. Zurzeit schießen dort die Kunstprojekte aus dem Boden – politisch gefördert
wie einst in der Türkei, die für die EU fit gemacht werden sollte. Die iranischen Künstler kennen
die Erfahrung, vergessen zu werden, auch. Während ihrer Grünen Revolution 2009 wurde jeder
kleinsten Botschaft in Form von Kunst gehuldigt. Nach der brutalen Niederschlagung gingen sehr
viele Künstler ins Exil. Wurden gefeiert, hoch gehandelt und erzählten stellvertretend für die
Zurückgebliebenen vom brutalen Regime. Die aufkeimende Kunst im Land aber ist erstickt. Das
darf jetzt in der Türkei nicht passieren. Die Saat ist noch zu frisch. Einzige Rettung wären die
Sammler, die ihren Künstlern auch aus der Ferne treu bleiben und immer wieder Werke ankaufen.
Für diese Unterstützung müssen sie nicht reisen.
SWANTJE KARICH
ENCORE
74
IM MARTIN-GROPIUS-BAU
PINA BAUSCH
und das Tanztheater
16. September 2016 – 9. Januar 2017 in Berlin
Veranstalter:
Eine Ausstellung der Kunst- und Ausstellungshalle
der Bundesrepublik Deutschland
MARTIN-GROPIUS-BAU
Niederkirchnerstraße 7 · 10963 Berlin
In Kooperation mit
der Pina Bausch
Foundation, Wuppertal
Medienpartner
Laurent Philippe, Aufführung des Pina Bausch-Stücks „Vollmond”, Wuppertal, Mai 2006, Fotografie © Laurent Philippe
ei
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Eintr Jahre
bis 16
REZA DERAKSHANI
21.08.2016 – 16.10.2016
Kunstsammlungen Chemnitz MuseuM Gunzenhauser
Falkeplatz | 09112 Chemnitz | www.kunstsammlungen-chemnitz.de
abb.: Reza Derakshani | Black Water, 2016 | Öl und lackfarbe auf leinwand | 153 x 183 cm
Foto: Reza Derakshani © 2016 Reza Derakshani
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WIR
NENNEN
ES
LUDWIG
27.08.2016
– 08.01.2017
19.07.16 16:52
WERT
SACHEN
ELFENBEIN
GEDRECHSELTES
RTSACHEN —
— GRAND PRIX — WE
— BL AU K ALENDER
A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK
UNTER
FREUNDEN
Was uns gefällt: Highlights
und Abseitiges aus dem
Angebot des Kunsthandels
Brollo Collection
14. September
bei Artcurial
in Paris
Der Sammler Frédéric Brollo lernte
Diego Giacometti als Kind kennen.
Sein Vater nahm ihn mit ins Atelier des
Künstlers. Der Bruder von Alberto
Giacometti brachte es mit seinen
eigenwilligen skulpturalen Möbeln, storchenbeinigen Tischen,
Hockern und Kerzenständern zu Weltruhm.
Sie werden heute für
hohe Beträge gehandelt. Der junge Frédéric
aber war besonders eingenommen von Diegos
Gipsen, die in ihren flackernden Silhouetten etwas Skizzenhaftes haben.
Das 32 Zentimeter kleine sich aufbäumende Pferd schenkte ihm
Diego nach dem Tod des Vaters
(Taxe 6.000 bis 8.000 Euro). MÜ
STARMAN MIT BLITZ
Sein und Nichts
David Bowie, weißhäutig, mit kupferrot-hochgestylter Frisur und
aufgeschminktem Blitz, der sein Gesicht in zwei Hälften teilt –
das Bild ist eine Ikone. Bowie war eben nicht nur Bowie, sondern
auch Ziggy Stardust, eine Sci-FiKunstfigur zwischen Glam-Rock und
Prä-Punk und total Prä-PostInternet. Es war der Modefotograf
Brian Duffy, der Bowie 1973 für
das Albumcover von Aladdin Sane so
in Szene setzte. Ein Elvis-PresleyStyling inspirierte Bowie angeblich
zu dem Blitz, doch wahrscheinlicher ist wohl der Einfluss des
japanischen Modedesigners Kansai
Yamamoto auf den Musiker. Sicher
Made in Britain
ist: Bands wie Kiss sind ohne diesen
28. September bei Sotheby’s
Look nicht denkbar (Auflage 100;
in London
Taxe 8.000 bis 12.000 Pfund). GB
Lange war die amerikanische Künstlerin
Agnes Martin (1912–2004) ein Geheimtipp, Leslie Waddington
ihre Kunst ist pures Understatement.
Collection
„Ich habe keine eigenen Ideen“, sagte sie
4. Oktober bei
einmal. „Mein Geist ist leer, um das zu
Christie’s in London
tun, was die Inspiration mir sagt.“ Was für
eine klare Bildwelt aus dieser Haltung hervorgegangen ist,
konnte man zuletzt in London und Düsseldorf
bewundern. Und nun erscheint endlich Nancy Princenthals
wunderbare Biografie auf Deutsch. Wenn Christie’s
also ihr Gemälde Praise (1985) aus der Leslie Waddington
Collection versteigert, geschätzt auf 2 bis 3 Millionen
Pfund, dann wird ein Bild angeboten, das in seiner sanften,
spirituellen Konzentration zum Besten zählt,
was dieser Herbst bietet. Mit Acryl und
Churchills Markenzeichen war
Bleistift hat Martin ihre Linien gezogen –
der Bowlerhut und die Zigarre. Dass er es auch cooler konnte,
zärtlich und doch entschieden, auf
dafür steht der Stetson von 1929. Er trug den Hut in
Out of the Ordinary
einer körpergroßen Fläche von
Frankreich, wo er seinem Hobby, der Malerei,
14. September bei
185 mal 185 Zentimetern. GB
nachging (Taxe 4.000 bis 6.000 Pfund). SWKA
Christie’s in London
CHURCHILLS HUT
ENCORE
76
EINE AUSWAHL der BLAU REDAKTION
AUKTIONEN
14. SEPT.
CHRISTIE’S IN LONDON Out of the Ordinary
14. SEPT.
ARTCURIAL IN PARIS Brollo Collection
19. SEPT.
DOROTHEUM IN WIEN
Jugendstil und angewandte Kunst des 20. Jahrhunderts
21. SEPT.
LEMPERTZ IN KÖLN
Gemälde und Zeichnungen 15.–19. Jahrhundert
GALERIE HENZE & KETTERER
22.–24. SEPT. KOLLER IN ZÜRICH Kunst, Antiquitäten und Bücher
23./24. SEPT. VENATOR & HANSTEIN IN KÖLN
Moderne illustrierte Bücher, alte und moderne Grafik
24. SEPT.
STAHL IN HAMBURG Kunst und Antiquitäten
28. SEPT.
NEUMEISTER IN MÜNCHEN Alte Kunst
28. SEPT.
SOTHEBY’S IN LONDON Made in Britain
29. SEPT.
DOROTHEUM IN WIEN Meisterzeichnungen und
Druckgrafik bis 1900, Aquarelle, Miniaturen
4. OKT.
CHRISTIE’S IN LONDON Leslie Waddington Collection
MESSEN
UND FESTIVALS
von SEPTEMBER bis DEZEMBER
2.–4. SEPT.
DC OPEN in Köln und Düsseldorf: Galeriewochenende
9.–11. SEPT.
OPEN ART in München: Galeriewochenende
9.–11. SEPT.
SAISONSTART in Frankfurt: Galeriewochenende
»Brücke«
Expressionismus
Heckel
Kirchner
Mueller
Nolde
Pechstein
Schmidt-Rottluff
12./13. SEPT. KUNSTHERBST in Hamburg: Galeriewochenende
13.–18. SEPT.
BERLIN ART WEEK – ABC Kunstwoche
22.–25. SEPT. VIENNACONTEMPORARY in Wien: Gegenwartskunst
6.–9. OKT.
FRIEZE LONDON und FRIEZE MASTERS
Alte Meister bis Gegenwartskunst
20.–23. OKT. FIAC in Paris: Klassische Moderne bis Gegenwartskunst
26.–30. OKT. HIGHLIGHTS in München: Kunst und Antiquitäten
4.–6. NOV.
ARTISSIMA in Turin: Gegenwartskunst
12.–15. NOV.
PARIS PHOTO Fotografie
17.–20. NOV. COLOGNE FINE ART in Köln: Kunst und Antiquitäten
1.–4. DEZ.
ART BASEL MIAMI BEACH
Klassische Moderne bis Gegenwartskunst
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ELFENBEIN
GEDRECHSELTES
RTSACHEN —
— GRAND PRIX — WE
— BL AU K ALENDER
A U K TI O N EN — DER AUGENBL ICK
KAI
ALTHOFF
MOMA
NEW YORK
18.09.2016 –
22.01.2017
Unsere TERMINE im
September
SEURAT, SIGNAC,
VAN GOGH
Albertina, Wien
16.09.2016 – 08.01.2017
MAGALI REUS
STEDELIJK MUSEUM, AMSTERDAM
10.09.– 27.11.2016
Unt itle d , 19 97
„Lieber Kai, Du
hast uns persönlich und als
Institution
herausgefordert,
und es war
nicht leicht,
Deinen Wünschen und
Erwartungen
nachzukommen.“ Glenn
Lowry, Direktor
des New Yorker MoMA, ist
trotz dieser Worte im
Vorwort des Katalogs der
wohl glücklichste Museumsdirektor der Welt. Denn
Kai Althoff das Haus zu
überlassen, damit der dort
seine eigene Großausstellung einrichtet, ist ein
Coup. Und Althoff einer der
rätselhaftesten, unbestechlichsten und faszinierendsten Künstler unserer
Zeit. Geboren 1966 in Köln,
zelebrierte seine Band
Workshop eine Art coolen
Romantizismus. Eine
ähnliche Stimmung kommt
in Althoffs Installationen,
Skulpturen und Gemälden
auf: ein Stilmix aus
melancholischen, häuslichmorbiden Welten, die
auf sehr gegenwärtige Art
an Märchen, Traumsequenzen oder Jugendzimmer erinnern. gb
BLAU
K ALENDER
ROBERT DELAUNAY
Akte und Ibisse, um 1907
Er war ein Zeichner
von Gnaden.
Inniger als Georges
Seurat hat nach
Rembrandt keiner aus
Licht und Schatten
Stimmung gemacht.
Der Maler, der er
vor allem sein wollte,
ließ sich von
der zeitgenössischen
Wissenschaft der
Farben anregen,
vertiefte sich in die
Theorien des
„Simultankontrastes“,
um dann an einem
Dutzend bald
weltberühmter Bilder
zu arbeiten, die ihre
Figuren und Gegenstände aus unzähligen kleinen Farbtupfen modellieren.
Die Tupfenkunst hat
unter dem Namen
Pointillismus bald
Schule gemacht. Paul
Signac, Théo van
Rysselberghe, aber
auch ein Impressionist wie Camille
Pissarro ließen sich
von den Sensationen
der neuen Malweise
begeistern. Nun
begibt sich eine große
Ausstellung, die
die Wiener Albertina
vorbereitet, noch
einmal auf den Weg
vom Tupfen zum
Rasterpunkt, verfolgt
den Pointillismus
über van Gogh ins
20. Jahrhundert
hinein und entdeckt
Spuren selbst bei
Paul Klee und Piet
Mondrian. MÜ
ENCORE
78
Klappstühle, Kühlschränke, Abtropfsiebe – bei Magali
Reus werden sie zu dysfunktionalen Prothesen.
Was uns als Alltagsdesign aus Plastik vertraut ist,
bekommt plötzlich ein zweites Gesicht. Ihre
Zwitterwesen gestaltet die 1981 geborene Niederländerin ziemlich detailversessen. Readymades
gibt es bei ihr nicht. Reus baut alles selbst, verschmilzt
aber die Ästhetik des Selbstentwurfs mit der
von Massenproduktion. Im ersten Moment denkt man
daher an Industriedesign. Doch weil die Künstlerin
ihren Objekten die Gebrauchsgrundlage entzieht, sie
verfremdet und verseltsamt, führt sie den cleanen
Charakter, den wir von solchen Dingen erwarten, ad
absurdum. Ihre Werke sind Wiedergänger fehlgeschalteter Zivilisten, inerte Wesen, die nicht wissen,
wohin mit sich. In all
Leaves
ihrer Körperlichkeit vermit(Peat, March), 2015.
teln sie dennoch vor allem
Oben: Leaves
(Dale Arches), 2015
eins: Abstraktion. Reus
zeigt uns, wie sehr wir
auf künstlich
hergestellte Dinge
bezogen leben.
Doch in ihrer
Untauglichkeit
verlieren sie ihren
Charakter als
Gegenstände – und
werden darüber
unheimlich. GB
ASYLUM
KUNST­
VEREIN
BIELEFELD
27.08. – 30.10.2016
La donna che legge
Ca‘ Pesaro, Venedig
17.09.2016 – 08.01.2017
TOBIAS ZIELONY
The Citizen, 2015
Künstler wie der chinesische
Dissident Ai Weiwei, die
sich an Themen der politischen
Gegenwart reiben, werden
von Kritikern häufig nicht so
ganz ernst genommen. Ein
Kunstwerk im Augenblick der
Katastrophe? Pietätlos. Dann,
so der Vorwurf, folge die Kunst
nur dem Strom: reden über
die „Flüchtlingskrise“ und
schnelle Lösungen fordern. Die
Gruppenschau Asylum im
Kunstverein Bielefeld versammelt Arbeiten von Künstlern,
die in den vergangenen Jahren
von der Flüchtlingskrise
erzählt haben und dabei zeigen,
wie lange dieser Konflikt
schon schwelt. Nach dieser
Ausstellung wird niemand
mehr verdrängen können, dass
uns die Migrationsbewegungen immer weiter beschäftigen
werden. SWKA
Was Gabrielle „Coco“ Chanel geschaffen hat für das
runderneuerte Frauenbild des 20. Jahrhunderts,
ist legendär. Eine ganze Epoche lang sollten ihre längst
klassischen Symbole das Selbstbewusstsein der
modernen Frau prägen, die weiten Hosen, das „kleine
Schwarze“, Parfum N°5. Das Leben der Mode­
designerin und effizienten Unternehmerin ist in all seinen
bunten Details immer wieder erzählt worden. Weniger
weiß man von ihren Passionen für Kunst und Literatur.
Unter dem Titel La donna che legge („Die lesende Frau“)
versucht eine umfangreiche Ausstellung in Venedig, die
Bibliothek zu rekonstruieren, in die sich Gabrielle
Chanel immer wieder zurückgezogen hat. Werke von
Homer bis Mallarmé stehen neben Kunstobjekten aus
ihrem Pariser Apartment. Das Kapitel einer gebildeten,
neugierigen Frau, das zu ihrer Erfolgsgeschichte
dazugehört wie das Kostüm mit Jäckchen und ausge­
stelltem Rock. mü
Aus Karl
Lagerfelds
Kollektionen
für Chanel.
Oben:
Gabrielle
Chanel
ruhend mit
Buch,
ca. 1908
Art FAirs
Artist Films
Berlin BiennAle
exhiBitions
PrivAte ColleCtions
ProjeCt sPACes
www.BerlinArtweek.de
Denk KUNST
ist eine
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15 – 1 8 S e p t e m b e r 2 0 16
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S t r a ß e d e r P a r i s e r K o m m u n e 8 · 10 243 B e r l i n
w w w. p o s i t i o n s . b e r l i n
BILDNACHWEISE
Nr. 13 / September 2016
TITEL 1: ROBERT RYMAN: Foto: Bill Jacobson. Courtesy the Greenwich Collection, Ltd and Dia Art Foundation New York. TITEL 2: ALBERTO GIACOMETTI: Foto:
Peter Lindbergh für BLAU. Kunsthaus Zürich. Alberto
Giacometti-Stiftung © Succession Alberto Giacometti
(Fondation Alberto et Annette Giacometti) /2016 ProLitteris, Zürich., ADAGP, Paris. EDITORIAL: S. 5: Foto: Yves
Borgwardt für BLAU. INHALT S. 6: M. o.: Foto: Bill Jacobson. S. 6 l. u.: Foto: Courtesy Erling Kagge. S. 6 r. u.: Foto:
Peter Lindbergh für BLAU. Kunsthaus Zürich. Alberto
Giacometti-Stiftung © Succession Alberto Giacometti
(Fondatiion Alberto et Annette Giacometti)/ 2016 ProLitteris, Zürich., ADAGP, Paris. S. 8 M. o.: Foto Sarah Brück für
BLAU. S. 8 l. u.: Kunstkammer Georg Laue, München.
S. 8 r. u.: Courtesy The Hunterian. University of Glasgow.
CONTRIBUTORS: S. 10 u.: © Tineke de Lange /Suhrkamp Verlag. ESSAY: S. 13: Courtesy Erling Kagge.
APÉRO: S. 16 o.: Official White House Photo by Pete Souza. S. 16 u.: Courtesy Museum für Bildende Künste Leipzig.
S. 17 o.: Foto: Albrecht Fuchs für BLAU. S. 17 u.: Foto: An­
dreas Fischer. DICHTER DRAN: S. 18: Foto: Scala, Florence. The Museum of Modern Art, New York. 1935 Acquisition confirmed in 1999 by agreement with the Estate of
Kazimir Malevich and made possible with funds from the
Mrs John Hay Whitney Bequest (by exchange). INSIDE
THE WHITE CUBE: S. 20: Foto: Christian Knörr.
BEWEGTBILD: S. 24 l. o.: Foto: ­­Katlen Hewel. S. 24 l. u.:
Foto: dpa / Picture-Alliance. ­SCHNELLSTE SKULPTUREN: S. 24 r.: Foto: Lancia. BLITZSCHLAG: S. 26 o.: Foto:
Martin Fengel für BLAU. S. 26 u.: Foto: Roswitha Pross.
UM DIE ECKE BELGRAD: S. 30: Illustration: Kristina
Posselt für BLAU. S. 30/31: Fotos: Katarina Šoški für
BLAU. DER WEISSE GIACOMETTI: S. 36 bis 45: alle
Fotos: Peter Lindbergh für BLAU. Kunsthaus Zürich. Alberto Giacometti-Stiftung © Succession Alberto Giacometti
(Fondation Alberto et Annette Giacometti) / 2016 ProLit-
teris, Zürich., ADAGP, Paris. Alberto Giacometti Werk­
angaben im Einzelnen: S. 36/37: Von links nach rechts:
TÊTE QUI REGARDE (ÉTUDE), 1928. FEMME, 1929.
KOPF DER MUTTER, um 1920. GRAND BUSTE DE DIEGO D’APRÈS NATURE, um 1951. FEMME DEBOUT SANS
BRAS, 1965. TÊTE, LONG COU (BUSTE HIPPOLYTE), um
1949. FEMME DEBOUT SANS BRAS, 1954. FEMME DEBOUT, um 1956. PETIT BUSTE D’ANNETTE, um 1946.
BRUNO ALS KIND, um 1917. TÊTE SANS CRÂNE, um
1958. BUSTE DE DIEGO, um 1953. Alle Arbeiten Gips.
S. 38: FEMME DEBOUT (Detail), um 1956, Gips. S. 39: LA
MAIN, 1947, Gips und Eisenstab. S. 40/41: Von links nach
rechts: TÊTE, LONG COU (BUSTE HIPPOLYTE), um 1949.
PETIT BUSTE D’ANNETTE, um 1946. BRUNO ALS KIND,
um 1917. TÊTE SANS CRÂNE, um 1958. TÊTE QUI REGARDE (ÉTUDE), 1928. Alle Arbeiten Gips. S. 41: FEMME,
1929, COMPOSITION CUBISTE, um 1926 und GRAND
BUSTE DE DIEGO D’APRÈS NATURE um 1951, Details,
Gips. S. 42/43: Von links nach rechts: BRUNO ALS KIND,
um 1917. TÊTE SANS CRÂNE, um 1958. KOPF DER MUTTER, um 1920. BUSTE DE DIEGO, um 1953. PETIT BUSTE
D’ANNETTE, um 1946. FEMME DEBOUT SANS BRAS,
1954. FEMME, 1929. TÊTE, LONG COU (BUSTE HIPPOLYTE), um 1949. TÊTE QUI REGARDE (ÉTUDE), 1928.
FEMME DEBOUT, um 1956. FEMME DEBOUT SANS
BRAS, 1965. GRAND BUSTE DE DIEGO D’APRÈS NATURE, um 1951. Alle Arbeiten Gips. S. 45: BUSTE DE DIEGO, 1964/65, Gips. ROBERT RYMAN: S. 46: Foto: Bill
Jacobson. Courtesy The Greenwich Collection Ltd. S. 47:
Foto: Robert Ryman Archive. S. 48/49: Foto: Paolo Mussat
Sartor. Raussmüller, Basel. S. 50: © Christie’s Images, London. Foto: Scala, Florence. S. 52: Foto: Fabio Fabbrini.
Raussmüller, Basel. S. 53: Foto: Bill Jacobson. Courtesy
Pace Gallery. S. 54 l.: Raussmüller, Basel. S. 54 r.: Courtesy
SFMOMA. Purchase through a gift of Mimi and Peter
Haas. S. 55 l.: Foto: Poul Buchard / Brondum & Co. Louisia-
ENCORE
81
na Museum of Modern Art. Long term loan: Museumsfonden af 7. December 1966. S. 55 r.: Foto: Bill Jacobson.
Courtesy the Greenwich Collection, Ltd. S. 56: Fotos:
Christian Baur. S. 56 u. Courtesy Staatsarchiv Basel. S. 57:
Raussmüller, Basel. MARY REID KELLEY: S. 58, S. 59 u.,
S. 60, 61, 62: Courtesy the artist, Arratia Beer, Berlin, Pilar
Corrias Gallery, London and Fredericks and Freiser, New
York. S. 61: Foto: Christopher Hewitt. S. 59 r. o., S. 63: Fotos:
Sarah Brück für BLAU. WEISSRAUM: S. 64: © The Cecil
Beaton Studio Archive at Sotheby’s. S. 65: Foto: Interfoto /
Mary Evans. S. 66: Courtesy The Hunterian. University of
Glasgow. S. 67 l.: © Peter Kainz / MAK. S. 67 r.: Courtesy
Neue Galerie, New York. S. 68 l.: Foto: Delano Hotel, Miami Beach. S. 68 r.: Foto: Hotel La Maison, Paris. S. 69: bpk /
Ministère de la Culture – Médiathèque du ­Patrimoine,
RMN–Grand Palais/Francois Kollar. ELFENBEIN: S. 71:
Kunstkammer Georg Laue, München. S. 72: Kopenhagen,
Schloss Rosenborg, Kongernes Samling. S. 73: Kunsthistorisches Museum Wien, Kunstkammer. KOLUMNE: S. 74:
Courtesy Shadi Ghadirian. K ALENDER: S. 78 l.: Collection Barbara Gladstone. Courtesy the artist and Gladstone Gallery, New York und Brussels. © Kai Althoff. S. 78 M.:
Albertina Wien-Sammlung Batliner. © Robert Delaunay,
L & M Services B. V. The Hague. S. 78 r.: Courtesy the artist and The Approach, London. S. 79 l.: © Tobias Zielony.
Courtesy of Tobias Zielony and KOW, Berlin. S. 79 r. o.:
© Ferréol de Nexon. Ferréol de Nexon Collection.
S. 79 r. u.: Chanel Patrimoine Collection, Paris © Chanel /
Photo Patricia Canino. DER AUGENBLICK: S. 82: Courtesy the artist and Gisela Capitain, Cologne and Hauser
& Wirth, New York.
VG Bild-Kunst Bonn, 2016
Max Beckmann, Andreas Fischer, Diego Giacometti,
Agnes Martin, Roman Opałka, Robert Ryman
DER AUGENBLICK
NUR IN GEDANKEN
Ein Bild und das Immaterielle
abgehängt, der Haken des jeweils
unteren Drahtbügels in
der Querstrebe dessen darüber.
Dennoch fällt es schwer, sich
von der Vorstellung zu lösen,
die vielen Elemente wären ein
Ganzes, gehäkelt oder geknüpft.
Sind nicht in den geringen
grafischen Störungen, verursacht
durch Kragen und Bügel,
geheimnisvolle Schriftzeichen
verborgen? Und was macht
das weiße Licht da oben links –
steht eine Transformation
ins Immaterielle bevor?
Mit Gespür für kleine
Sensationen hat Zoe Leonard
eine Bildstörung eingebaut:
das blaue Hemd. Daran kann
man erkennen, dass farbige
Gegenstände anders „funktionieren“ (wie der Zeitgeist
sagt). Nur das Weiß – und auch
das Schwarz – bewegen sich
an der Schwelle zum Verborgenen, zum Geahnten oder nur
Gedachten. In China steht die
Farbe Weiß für die Trauer.
ZOE LEONARD
Das reine Weiß zu schauen ist
Owino Market, Kampala, Uganda 2004, aus der Serie Analogue,
unmöglich; weshalb das Auge
1998–2009, C-Print, 28 × 28 cm
dankbar ist für jede Abweichung
in Richtung des Diesseitigen,
verborgen, die in den Unterbau gesponnen, in Sweatshops genäht jeden Schatten einer Mitteilung,
ie fortgeschrittene Welt
einer Unterscheidung.
und von Händlern in Masse
der Verkaufstische eingelassen
der Flagship-Stores und
„Kann ich Ihnen helfen?“,
angeboten oder vielmehr in Serie.
Luxusboutiquen vermei- sind. Manches Schuhgeschäft
würde
jetzt wahrscheinlich
Es
gibt
Varianten.
Nur
auf
sieht aus wie ein Ikonenmuseum.
det es, die Masse der Ware
der ugandische Händler fragen.
den allerersten Blick zeigt die
In ganz armen Kulturen
sichtbar zu machen. Innenstädti„Nein“, würde ich sagen, „ich
Präsentation auf dem Owinoist jede Ware wirklich rar: Ein
sche Schaufenster inszenieren
war nur gerade in Gedanken.“
markt in Kampala mehrere
selbstgestrickter Pullover,
gewöhnliche Beispiele von
Dutzend
gleicher
Kleidungsauf
einer
Zeitung
am
StraßenPrêt-à-porter, als wären sie
ULF ERDMANN ZIEGLER
stücke.
Unikate. In den Verkaufsräumen rand ausgelegt ­­– ist zu verkauVon runden Balken in einer
fen. In den meisten Ländern der
werden die unmittelbaren
Wellblechhütte sind die
Welt jedoch wird Kleidung
Lagerreserven in riesigen, aber
Hemden in vertikalen Reihen
in Manufakturen gewebt oder
leichtgängigen Schubladen
D
ENCORE
82
E
DI E NÄCHST E AUSG AB AM
T
IN
VON BL AU ER SCHE
24. SEPTE MBER 2016 IN IM
DER WELT UN D DA NACH
FTENHANDEL
S E I T 17 0 7
Herbert Zangs, Verweißung, 1976, 99 x 212,5 cm, Auktion Zeitgenössische Kunst, November 2016
Palais Dorotheum, Wien
Zeitgenössische Kunst, Klassische Moderne
Auktionswoche 21. – 25. November
Düsseldorf, Tel. +49-211-210 77-47
München, Tel. +49-89-244 434 73-0
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-KEINE84