Empowerment im Kinderschutz Arbeit mit gewaltbelasteten

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Empowerment im Kinderschutz Arbeit mit gewaltbelasteten
Empowerment im Kinderschutz
Arbeit mit gewaltbelasteten Familien oder Familien mit Mehrfachbelastungen
Ein Unterschied, der einen Unterschied macht!
In diesem Fachartikel werden Praxiserfahrungen und methodische Ansätze in der Arbeit mit sog. gewaltbelasteten Familien im Rahmen ambulanter Erziehungshilfe dargestellt.
Einleitung
Gewaltbelastete Familien müssen unter den Gesichtspunkten des Kinderschutzes gesehen werden jedoch nicht ausschließlich. Belastungsfaktoren für die Kinder herauszuarbeiten und das gesamte
Familiengeschehen gegenüber Jugendamt und Familiengerichten gewissenhaft darzulegen und Interessenslagen sowohl einzelner Kinder als auch der jeweiligen Erwachsenen und der Familie insgesamt fachlich zu vertreten und darzustellen, erfordert multiple Anforderungsprofile seitens der ambulanten Helfersysteme. Gleichzeitig soll deutlich werden, wie die Vorgehensweisen der Profession Sozialpädagogischen Familienhilfe (im weiteren SPFH) bei Gewalt im Alltag von Familien wirken können,
welche methodischen Ansätze erforderlich sind, welche Kompetenzen vorhanden sein müssen und
wo Grenzen liegen. In diesem Spannungsgefüge müssen sich Helferinnen darüber bewusst sein, dass
unterschiedliche Erwartungshaltungen an sie herangetragen werden, wie z. B. die Hoffnung, Gewalt in
Familien schnell und dauerhaft zu beenden. Hierzu gehört neben der Frage eines Zugangs für vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Familien genauso die rationale Erkenntnis über die zur Verfügung stehenden sachlichen Ressourcen von Zeit und Budget. Vor dem Hintergrund einer solchen
Herangehensweise ist es der Autorin wichtig, die Berufsrolle der SPFH dahingehend zu reflektieren,
dass die Möglichkeiten der Einflussnahme dort ansetzen, wo explizit das Thema Gewalt auftritt und
die Belastungsfaktoren im jeweiligen Familiensystem, die zu Gewalt führen können, bearbeitet werden.
Die hier zur Diskussion gestellten Erkenntnisse basieren auf umfangreichen Praxiserfahrungen der
Jugendhilfeeinrichtung Familienhaus Magdeburg gGmbH, die im Bereich Hilfen zur Erziehung ausschließlich ambulant und teilstationär tätig ist und einen differenzierten Aktivierungsansatz für Familien
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in belasteten Lebenssituationen entwickelt hat. Das in 5 Stufen aufbauende Konzept M powerment
basiert auf einem Ansatz niedrigschwelliger Familienbildungsarbeit. Dieser Aktivierungsansatz hat für
die Familien einen wesentlichen Stellenwert zur Sicherung von Nachhaltigkeit über die Zeit der Begleitung hinaus.
Zugänge zu Familien und Rahmenbedingungen der SPFH-Akteure
Der Alltag sozialpädagogischer Familienhilfe bedeutet, in der jeweiligen Phase des Hilfeprozesses
wiederkehrend Problemlagen und Ressourcen im Gesamtsystem der Familie sowie den einzelnen
Familienmitgliedern zu erfassen und Arbeitsansätze daraus abzuleiten. Das hierfür zur Verfügung
stehende zeitliche Budget einer SPFH ist beeinflusst von unterschiedlichen Parametern, wie die Komplexität von Problemlagen, der Anzahl der Familienangehörigen, der Gefährdungssituation des Kindeswohls und strukturellen Aspekten, wie Finanzlage der jeweiligen Kommune, internen Festlegungen
im Jugendamt u. a..
Legt man die Praxiserfahrungen des Trägers zugrunde, so ist von einem durchschnittlichen Stundenvolumen für die ambulante Erziehungshilfe von 24 Fachleistungsstunden pro Monat in gewaltbelasteten Familien, in denen keine akute Kindeswohlgefährdung vorliegt, auszugehen. Dies bedeutet i.d.R.
2-3 Kontakte mit der Familie pro Woche. Dies erscheint auf den ersten Blick viel „professionelle Zeit“.
Setzt man die zur Verfügung stehende Zeit im Verhältnis der Gesamtzeit, die einer Familie im Monat
zur Verfügung steht, verschieben sich die Relationen deutlich! 24 Fachleistungsstunden entsprechen
3% der Gesamtzeit einer Familie im Monat. Dies bedeutet: für die Arbeit einer SPFH, dass sie die
Gewaltbelastungen der einzelnen Familienmitglieder und die potentiellen Übergriffe in einem zeitlichen
Fenster von 3% aktiv beeinflussen und Schutz gewähren kann. Jedoch 97% der übrigen Zeit befindet
sich die Familie für die SPFH in einer „Black Box“. Damit unterliegt die SPFH einem enormen Leistungsdruck! In durchschnittlich 3% zur Verfügung stehender Gesamtzeit einer Familie im Monat sollen
langfristig und dauerhaft durch pädagogische Interventionen unterschiedliche Problemlagen und Krisen aufbereitet und bewältigt werden. Daher liegt es auf der Hand, dass grundlegende Konzepte und
unterschiedlichste Methoden vorhanden sein müssen, die nicht in einer einzelnen Fachkraft entspringen können, sondern ein Trägerprofil notwendig ist, in dem unterschiedliche Erfahrungen zusammenfließen, reflektiert und Rahmenbedingungen existieren müssen, die sowohl die Bedürftigkeit der Fami-
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lien als auch die Professionalität und die psychosoziale Gesundheit der Helferinnen einbezieht. Träger
im Bereich der SPFH benötigen multiprofessionelle Teams, die die einzelne Fachkraft in der Interaktion mit der Familie unterstützen.
Betrachtet man sog. gewaltbelastete Familien in der SPFH, so finden wir zu Hilfebeginn bzw. in der
Kennenlernphase ganz unterschiedliche Bedingungen vor. Nur bei einem geringen Teil der Familien,
die von der Familienhaus Magdeburg gGmbH begleitet werden, erfolgten in der Vergangenheit offensichtliche Gewalthandlungen. Die überwiegende Anzahl der Familien hatte explizit keinen Kinderschutzauftrag bzw. keine häusliche Gewalt gegen ein Elternteil. Bei den meisten Familien sind Gewaltbelastungen in der Kennenlernphase nicht bekannt bzw. zu Beginn der Hilfe nicht benannt. Gewalt wird vorsichtig artikuliert, mehr oder weniger vermutet. Andere Problemlagen, wie z.B. Überschuldung, Verwahrlosung, unregelmäßiger Schulbesuch sind hingegen regelmäßig Anlass einer Hilfe. In Bezug auf das Kindeswohl liegen häufig Vernachlässigungsstrukturen und unzureichende Sicherung der Grundbedürfnisse vor, die im Rahmen von sogenannten „Zwangskontexten“ für einen bestimmten Zeitraum die Arbeitsbasis mit einer Familie bestimmen. Zielgerichtetes Arbeiten in der Kenennlernphase bedeutet für uns, Schwerpunkte sowohl in Verhaltensbeobachtungen (insbesondere
bei den Kindern) als auch in Anamnese und Genogrammarbeit zu setzen, wobei „möglichen“ Gewalterfahrungen einzelner Familienangehöriger nachgegangen wird. Je nach Leidensdruck und Offenheit
der Familie können bereits hier Gewaltbelastungen eingeschätzt werden. In vielen Familien befindet
man sich in dieser Phase jedoch noch im Bereich der Hypothesenbildung. In unterschiedlichen Problemlagen sind möglicherweise Gewalterfahrungen Einzelner in der Vergangenheit bzw. Gegenwart
verankert bzw. die Kompensation von Problemenbelastungen stärkerer Familienmitglieder (Angehöriger) gegenüber Schwächeren könnte durch Gewalt erfolgen.
Familiäre Belastungsfaktoren
Die Erfahrungen der SPFH-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Familienhauses Magdeburg gGmbH
sind geprägt von Familiensystemen, die Mehrfachbelastungen vorweisen. So sind häufig die soziale
und familiäre Situation gekennzeichnet von unzureichender Integration in sozial tragfähige Netzwerke
bis hin zur Isolation, insbesondere der Elternebene. Die Ursachen hierfür sind vielfältig, z. B. aufgrund
von Trennungen und Beziehungsabbrüchen, häufigen Schwangerschaften in kurzen Zeiträumen, fehlende Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, uvm.. Betrachtet man die persönliche Situation der Erziehungspersonen zeigen sich nicht selten Einschränkungen in der Leistungs- und Belastungsfähigkeit, unzureichende Erziehungskompetenzen in Bezug auf Anzahl und Anforderungen
der Kinder. Zudem liegen unterschiedliche psychische Belastungsfaktoren bis hin zu Traumata vor.
Die materielle Grundsicherung ist häufig instabil und belastet von Arbeitslosigkeit, Schulden u.ä..
Auf der konkreten Erscheinungsebene sind ein Großteil überlastete alleinerziehende Elternteile –
meist – Mütter – mit ein bis mehreren Kindern bzw. Patchworkfamilien, deren Lebenssituation insgesamt sehr fragil ist. Ein Teil der Kinder zeigt deutliche Entwicklungsverzögerungen und ein auffälliges
Verhalten.
Betrachtungs- und Herangehensweisen/ Grundhaltungen der SPFH
Gewaltbelaste Familien oder Familien mit Mehrfachbelastungen – welchen Fokus die jeweilige Fachkraft zur Betrachtung einer Familie wählt, kann entscheidend für den weiteren Verlauf der Hilfe sein.
Setzen wir primär den Fokus der Intervention auf die Reduzierung bzw. Abwendung von Gewalt, so
verkürzen wir die Sichtweise von Familie auf massive Defizite und bewerten Verhalten und Reaktionen durch monokausale Erklärungsansätze.
Komplex belastete Familiensysteme benötigen komplexe Vorgehensweise in der Hilfestellung und
Problemlösung, die sowohl von der (Krisen)Intervention als auch Prävention geprägt sind! So hat die
Verbesserung der individuellen Situation der Familie, die Verminderung von Stressfaktoren, die Stabilisierung einer gleichberechtigten Partnerschaft (wenn vorhanden) und die Erweiterung von Erziehungskompetenzen wesentliche Auswirkungen auf alle Lebensbereiche. Eine Reduktion ausschließlich auf Gewaltphänomene im Familiensystem, würde die Vielfalt an Entwicklungsmöglichkeiten und
der sozialpädagogischen Interventionen verhindern. Bezogen auf die konkrete Bewältigung von Gewalt bedarf es eine direkte und eine indirekte Bearbeitung, wobei z. T. deutliche Unterscheidungen der
Erwachsenen- und Kinderebene notwendig sind.
Gewalt bearbeiten auf der Erwachsenenebene
Sind konkrete Vorfälle von gewalttätigen Handlungen bekannt, so können gewaltauslösende Faktoren
bzw. Situationen reflektiert und analysiert werden mit Methoden und Techniken, die den intellektuellen
Fähigkeiten der/s Betroffenen und des Kontextes entsprechen. Alternative Handlungs- und Konflikt-
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bewältigungsstrategien müssen entwickelt und in „Trockenübungen“, wie z. B. Rollenspiele, geübt
werden. Auch können Techniken zur Selbstregulation hilfreich sein.
Zudem bedarf es bei der SPFH viel pädagogisches Geschick und Motivationsarbeit, die Erwachsenebene zu ermuntern, sich in den Prozess einer biographischen Auseinandersetzung zu stellen mit
dem Ziel, die eigene Opfer- und Täterrolle zu reflektieren, worauf sich nicht alle Erwachsenen einlassen können. Sollte hier eine permanente Verweigerungshaltung vorliegen, bedarf es eines langen
Beobachtungsprozesses, um zu klären, ob die bisher erarbeiteten Gewaltbewältigungsstrategien auf
Dauer wirksam sind.
In der Arbeit mit gewaltausübenden Elternteilen, deren Erfahrungen in der eigenen Herkunftsfamilie
häufig massiv gewaltbelastet waren, bedarf es eine durch den professionellen Helfer initiierte besondere Auseinandersetzung. Dem Elternteil muss vermittelt werden, dass er als Kind ggf. Opfer war,
aber als Erwachsener Täter ist und eine Straftat begeht. Eine Konfrontation mit dem Tätersein und
eine Verantwortungsübernahme sind unumgänglich!
Bei all der Hilfestellung für den Erwachsenen steht der Schutz der Kinder im Vordergrund, der bei
Notwendigkeit in einen konkreten Schutzplan mit Handlungsschritten und Hilfestellungen, Notfallnummern und Folgen bei Nichteinhaltung mündet. Sollte die individuelle Hilfe und Orientierung für den
Erwachsenen, ggf. unter Einbeziehung eines professionellen Netzwerkes nicht ausreichen, um Gewalt
gegen Kinder zu schützen, muss eine Meldung an das Jugendamt gem. SGB VIII § 8a und ggf. ein
familiengerichtliches oder sogar ein strafrechtliches Verfahren erfolgen. Wie und welche der nachfolgenden Schritte eingeleitet werden sollten, sollte mit dem zuständigen Jugendamt gemeinsam entschieden werden. Diese Darstellung soll exemplarisch ausreichen, um darzustellen, welche methodischen Möglichkeiten einer SPFH zur Verfügung stehen können, um auf der Erwachsenenebene direkt
Gewaltbewältigung zu leisten.
Die indirekte Bearbeitung von Gewalt findet seine Umsetzung in der Arbeit in der Familie sowie im
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Rahmen des Aktivierungsprogramms M powerment . Innerhalb der Familie werden wesentliche Belastungsfaktoren analysiert und abgebaut, hierzu gehört häufig die Stabilisierung der finanziellen
Grundsicherung der Familie bzw. die Sicherung des Wohnraums. Dazu sind umfangreiche Behördenbegleitungen notwendig, da Familien unzureichend über ihre Rechtsansprüche informiert sind bzw.
sich als unwirksam in behördlichen Dingen erleben, diese dann vermeiden und hierdurch Belastungen
und Problemlagen verursachen. Auf der individuellen Ebene können bei Bedarf Strategien erarbeitet
werden, um Überforderungssituationen zu vermeiden, z. B. in der Erziehung. Direkte und indirekte
Bearbeitung von Gewalt auf der Erwachsenenebene findet i.d.R. in der Problemlösungs- bzw. Arbeitsphase des Hilfeverlaufs statt.
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Der Aktivierungsansatz M powerment richtet sich an die gesamte Familie, wenngleich mit unterschiedlicher Ausrichtung für Kinder und Erwachsene.
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Stufen
Soziale Selbstorganisation
Familiy bush camp (5 Tage 1x jährl.)
Family on tour (1 Tag 4x jährl. )
family action (1/2 Tag mtl.)
Elternfrühstück mit Bildungsanteil (2,5 Std. wöchentl.)
Angeleiteter Spielnachmittag (2 Std. wöchentl.)
Ziel
5. Stufe
4. Stufe
3. Stufe
2. Stufe
1. Stufe
Wie der Abbildung 1 zu entnehmen ist, besteht das MDpowerment® aus fünf Stufen, die anfänglich im
Haushalt der Familie bzw. im Nahbereich der Familie Umsetzung finden und erweitert sich bis über die
Landesgrenzen hinaus. Vier der fünf Stufen richten sich an alle Familienangehörige, lediglich die 2.
Stufe richtet sich primär an die Erziehenden.
In der ersten Stufe finden angeleitete Spielnachmittage statt, in denen die Familie sich neu erleben
kann. Hier steht positiv besetzte Familienzeit im Vordergrund anstelle Problemlagen, Belastungen und
innerfamiliäre Konflikte, Gewalt und Krisen. In kleinen Schritten sollen die Familien befähigt werden,
gemeinsame Zeit zu verbringen, die außerhalb von Medienkonsum liegt und unterschiedliche Interessenlagen des einzelnen Familienmitglied integriert bzw. wechselnd die Bedürfnisse des Einzelnen in
den Vordergrund rückt.
Die 2. Stufe ist ein wöchentliches Elternfrühstück. Bei Bedarf wird selbstverständlich Kinderbetreuung
während des Elternfrühstücks gewährleistet bzw. Säuglinge können mitgebracht werden. Das Elternfrühstück ist zweigeteilt, neben dem eigentlichen Frühstück wird im Bildungsanteil niedrigschwellig
Themen rund um die Familie und deren Belastungen angeboten, in denen sich die teilnehmenden
Elternteile mit ihren Ideen, Ressourcen und Erfahrungen einbringen und voneinander lernen und somit
ihre Handlungskompetenzen erweitern können.
Stufen drei bis fünf unterliegen erneut dem Prinzip der gemeinsam positiv besetzten Zeit. Hier variieren die Dauer sowie die Häufigkeit der Einzelaktivität. Hervorzuheben ist, dass die Stufen drei bis fünf
Angebote gemeinsam mit anderen Familien sind. Während Stufe drei „family action“ sich an einem Ort
innerhalb der Stadt befindet, der als kostenneutraler bzw. –günstiger Familienort, vielen Familien häufig unbekannt ist, liegen die Zielorte bei „family on tour“ außerhalb des eigenen Wohnorts. Gleiches gilt
für das „family bush camp“, in dem Familien gemeinsam mit sozialpädagogischen Fachkräften zelten
und damit eine besondere Form der Familienzeit erleben. Nicht immer durchlaufen die Familien jede
Stufe des Aktivierungsprogramms oder beginnen mit der ersten Stufe. Ein Quereinstieg ist jederzeit
möglich und orientiert sich an den Fähigkeiten und Motivation jeder einzelnen Familie. So ist es für
einige Familien herausfordernd, sich der Stufe eins zu stellen, manche Elternteile zeigen deutliche
Unsicherheiten, einer Gruppe von Eltern im Rahmen des Elternfrühstücks zu begegnen. Fest steht,
dass wiederkehrend die Anforderungen für Eltern in den unterschiedlichsten Stufen grenzerfahrend
ihrer Rolle als Eltern und Erwachsene ist.
Nun mag sich die Leserschaft fragen, was diese Stufen mit der indirekten Bearbeitung von Gewalt auf
der Erwachsenenebene zu tun hat. Ein wesentlicher Schlüssel wurde bereits benannt, die gemeinsam
positiv besetzte Zeit, die insbesondere gewaltbelastete Familien benötigen, in denen Übergriffe erfolgt
sind. Hier sei am Rande die Mehrgenerationenperspektive angedeutet, was konkret bedeuten kann,
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dass ein Elternteil als Kind Gewalt erlebt hat, deren Folgen noch in der Nachfolgegeneration, in der
das Opfer Erwachsener ist, wirksam sein kann.
Pädagogische Bestandteile
Interaktion /
Kommunikat. /
Sozialkompetenzen
Mobilität /
Orientierung
Selbstorganisation
Belastungstraining
(Steigerung der
Belastungsfähigkeit der Eltern)
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Mitbestimmung
Eltern / Kinder
NachMachbarkeit
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Kommen wir noch einmal zurück auf das M powerment und seine Bestandteile. Neben den 5 Stufen,
haben die einzelnen pädagogischen Bestandteile gem. Abbildung 2 seine Funktion. So haben in allen
Stufen die Interaktion und Kommunikation sowie die dazugehörigen Sozialkompetenzen eine wesentliche Bedeutung. Nachdem die unterschiedlichen Elternteile durch wiederkehrende Begegnungen
einander vertraut sind, beginnen sie sich gegenseitig in einem durch die Fachkräfte moderierten Rahmen zu stärken, zu kritisieren und regulieren in ihrem Verhalten anderen Erwachsenen gegenüber,
insbesondere aber den jeweilig zur Familie gehörenden Kindern. Zudem entstehen Kontakte untereinander und Isolationen brechen anteilig auf, in dem nicht durch den Träger organisierte Begegnungen
im Privaten erfolgen und eigene Netzwerke entstehen können. Der Bestandteil Mobilität / Orientierung
hat zum Ziel, die Welt der Familie zu vergrößern und Erfahrungen außerhalb von (gewalt)belasteten
Räumen gemeinsam zu erleben. Daher sind die Aktivitäten „family action“, „familiy on tour“ und das
„family bush camp” am Öffentlichen Nahverkehr bzw. der Bahn ausgerichtet. Zwischendistanzen werden zu Fuß, ggf. mit Dreirädern, Kinderwagen, Bollerwagen o.ä. überbrückt. Der Baustein Selbstorganisation soll Eltern im Zeitmanagement und altersangemessener Versorgung der Grundbedürfnisse
der Kinder über unterschiedliche Zeiteinheiten (2 Stunden, ganzer Nachmittag, ganzer Tag bzw. 5
Tage) anleiten. Die hier bewusst platzierten Stress- und ggf. Überforderungssituationen werden von
der jeweiligen SPFH durch kleinschrittige Anleitung kompensiert. Es schließt sich das Belastungstraining der Eltern insgesamt an. Eine der wesentlichen Erkenntnisse ist: Belastete Eltern verbringen
aus unterschiedlichsten Gründen heraus keine bzw. nur wenig qualitativ genutzte Zeit mit ihren
Partnern und Kindern gemeinsam. Entstehende erzieherische Anforderungen, die Moderation von
Konflikten und die Stressbewältigungsstrategien können in wechselndem zeitlichen Rahmen trainiert
und gestärkt werden, „Echt“-Situationen entstehen – Hilfestellungen, Empowerment und ggf. die kurzfristige Notwendigkeit des Schutzes der Kinder sichern die SPFHs ab. Kinder und Eltern erleben sich
im Alltag an unterschiedlichen Orten und Situationen wirkungslos, ungefragt und wertlos. Im
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M powerment sind ihre Ideen und Vorschläge im Rahmen der Grundidee des Konzeptes gefragt,
gewünscht und umgesetzt. So richteten sich bisher viele Ziele in den Stufen drei bis fünf an den von
Familien eingebrachten Vorschlägen aus. Als letzter pädagogischer Bestandteil ist die Nachmachbarkeit (finanzielles Budget und Equipment) zu benennen, die den Familien die Möglichkeit bietet, neu
erschlossene Lebenswelten eigenständig und unabhängig von der Erziehungshilfe aufzusuchen und
zu nutzen. So können ggf. spendenfinanzierte Zelte u.a. ausgeliehen werden.
Gewaltbearbeitung auf der Kinderebene
Kinder in sog. gewaltbelasteten Familien – oder besser – in Familien mit Mehrfachbelastungen, sind in
hohem Maß Loyalitätskonflikten ausgesetzt, unabhängig davon, ob sie von häuslicher Gewalt (unter
Erwachsen) bzw. Gewalt und Aggression gegen sich selbst gerichtet erleben. Je nach Alter und Reflexionsvermögen erkennen der Kinder, dass ein offenbaren außerhalb der Familie offenbaren bedeu-
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ten kann, dass eine für sie wichtige erwachsene Bezugsperson die Familie verlassen muss bzw. sie
(das Kind) selbst davon bedroht ist, die Familie (zum Schutz) verlassen zu müssen. Bei massiven
Gewaltbelastungen innerhalb der Familien können möglicherweise bei Kindern und/oder Elternteilen
massive psychische Belastungen bzw. Traumata vorliegen.
Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass Gewaltbearbeitung, insbesondere in der Phase der Gewaltaufdeckung mit Kindern äußerst sensibel erfolgen muss. Das professionelle Vorgehen einer SPFH
erfordert bei Gewaltaufdeckung je nach gründlicher Risikoeinschätzung in einem Team mit einer Kinderschutzfachkraft das Erstellen eines Schutzplans bzw. einer Meldung gem. § 8a SGB VIII an das
Jugendamt. Während eine offensichtliche körperliche Misshandlung direkt von einer SPFH wahrgenommen werden kann, bedürfen körperliche Misshandlungen an verhüllten Körperstellen bzw. andere
Formen von Gewalt andere Erkennungsmerkmale und Interventionen. Hier ist eine vertrauensvolle
Beziehung zwischen einem Elternteil bzw. Kind zur SPFH Voraussetzung, damit sich der Betroffene
bzw. deren Bezugsperson sich offenbaren kann. U. U. kann das Aufzeigen von Widersprüchen, verändertem Verhalten und Konfrontationen oder eine behutsame Gesprächsführung durch die SPFH
dazu beitragen, dass eine Aufdeckung erfolgt. Soweit ein Vorgehen, was jeder SPFH bekannt sein
sollte.
In Familien, in denen Gewaltanwendungen erfolgten - sofern nicht massiv – können Kinder und Eltern,
die eine Bindung zu einander haben und deren Erwachsene eine Kooperationsbereitschaft zeigen, d.
h. wenn Ressourcen der Veränderung vorhanden sind, zusammen bleiben unter der Option, Hilfe und
Unterstützung anzunehmen. Dann sollten in der pädagogischen Arbeit unterschiedliche Methoden und
Strategien verfolgt werden, die den Kindern neue Sicherheiten geben, geschützt zu werden bzw. je
nach Alter eigenständig handlungsfähig zu sein. Nach einem Vorfall und ersten sich anschließenden
Interventionen kann ein Ritual zur Entschuldigung zwischen Opfer und Täter hilfreich sein, um weiter
in Kontakt zu sein. Dies ist eine pädagogisch-therapeutische Herausforderung, die ein SPFH gut mit
unterschiedlichen Gesprächen vorbereiten und das Kind im Zentrum des Augenmerks sein muss. So
sind z. B. Fragen zu stellen, wie wünscht sich ein Kind eine Entschuldigung / Wiedergutmachung?
Was erscheint ihm glaubwürdig? Wann ist der richtige Zeitpunkt dafür? Kann die Erwachsenenebene
dies leisten, was braucht es dazu?...
In Situationen, in der ein leibliches Elternteil nach Gewaltanwendung gegen ein Kind nicht mehr im
Haushalt lebt und ein Schutz in unbegleiteten Begegnungen nicht sicher erscheint, kann ein professionell begleitetes Ritual zur Entschuldigung / Wiedergutmachung eine Neubegegnung im Rahmen
eines begleiteten Umgangs ggf. erleichtern.
In der direkten Auseinandersetzung mit Gewaltübergriffen im Familiensystem kann erfahrungsgemäß
die Arbeit mit 2 SPFH-Helferinnen/ Helfern in Form von Co-Arbeit zielführend sein. Insbesondere Kinder erleben es bereichernd, dass es eine Fachkraft gibt, die für sie zur Verfügung steht und sie als
Sprachrohr nutzen können und die besonders auf ihren Schutz achten und nicht für andere Dinge
zuständig sind.
Während sich die Schutzpläne primär an die Personensorgeberechtigten ausrichten, sollen Notfallpläne in unserem Verständnis, Kinder ab ca. 6 Jahre Handlungskompetenzen vermitteln, wie sie mögliche gewaltbelastete Situation erkennen und dann idealerweise Hilfe anfordern können. Dies kann eine
vertrauensvolle Großmutter sein, die einbezogen werden kann, die dann auch aktiv in den Notfallplan
einbezogen wird und ihren Auftrag kennt. Telefonische Notfallnummern spielen hier eine große Rolle,
sowohl in einer drohenden Krisensituation als auch im Nachhinein, wobei das Anrufen und Schildern
mit Kindern bei Notfallnummern mit pädagogischen Fachkräften in einer entspannten Situation geübt
werden sollte. Hierbei sollte maximale Transparenz im Familiensystem angestrebt werden.
Unter besonderen Aspekten sollte die SPFH mit den Personensorgeberechtigten reflektieren, ob eine
Beantragung von Opferhilfe ggf. sinnvoll sein kann, da mögliche langfristige Folgen und Schädigungen nicht einschätzbar sind.
Die dargestellten Methoden mögen ausreichen, um die Vielfalt der direkten Gewaltbewältigung für
Kinder mit Unterstützung der SPFH zu verdeutlichen.
Genauso vielfältig erscheinen die indirekten Möglichkeiten, wobei hier nochmals das AktivierungsproD
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gramms M powerment aus den Blickwinkeln der Kinder betrachtet werden soll. Übergriffe finden
häufig zuhause oder im Nahraum der Wohnung statt. Diese Orte sind daher für Kinder primär negativ
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besetzt. Neue Verhaltensmuster hingegen können auf der Erwachsenenebene schwieriger im eigenen
Umfeld, das von festgelegten Verhaltensweisen geprägt ist, erprobt werden. Neutrale Orte sind hingegen nützlich. Die am Aktivierungsprogramm teilnehmenden Kinder genießen die insbesondere die
Aktivitäten „family action“, „family on tour“ und „family bush camp“, da sich ihre Eltern auf sie konzentrieren, aktiv sind, sich selbst in unterschiedlichem Verhalten und Handlungen erproben. Zudem statten
die zuständigen sozialpädagogischen Fachkräfte Eltern vor Aktivitäten mit besonderen Übungsaufgaben aus, um das Lernfeld der Eltern zu vergrößern. Exemplarisch seien hier das Training einer Lobkultur und Kommunikationsübungen zu benennen. Bei Kindern erhöht sich durch die positiv besetzte
Familienzeit die Hoffnung auf Normalität, Sicherheit und Vertrauen. Durch die Hilfestellung der SPFH
können die positiven Erfahrungen wiederkehrend reflektiert und in den Alltag integriert werden. Zudem
entstehen nicht nur Kontakte unter den Erwachsenen, sondern auch Kinder untereinander befreunden
sich.
Ein weiterer wichtiger Bereich indirekter Auseinandersetzung mit Gewalt gehört dem Themenkomplex
„Kinder stark machen“, was sowohl in der Erweiterung der Erziehungskompetenzen der Eltern, als
auch in der Einzel- und Gruppenarbeit mit Kindern seinen Platz hat. Die Gruppenarbeit kann auch
ihren Ausdruck in moderierten Selbsthilfegruppen finden.
Da ambulante Hilfen endlich sind, aber Familiensysteme wiederkehrenden Belastungen ausgesetzt
sind, ist ein Aufbau von Bezugspersonen außerhalb der Kernfamilie für Kinder wichtig. Menschen,
denen sie sich anvertrauen können, wenn es ihnen nicht gut geht; Menschen, die aufgrund der Kontinuität der Begegnung Veränderungen beim Kind wahrnehmen und diese ansprechen. Wo diese Personen verortet sind, hängt von den individuellen Interessen der Kinder ab, Vereine spielen dabei z.B.
eine wichtige Rolle. Diesen außerfamiliären Bezugspersonen sollte bekannt sein, wenn innerhalb der
Familie keine ambulante Begleitung mehr erfolgt, um dann sensibel auf das jeweilige Kind zu achten
ohne zu problematisieren.
Anforderungen an die SPFH und den Träger
Eine fachkompetente und selbstkritische SPFH sollte sich im Hilfeprozess wiederkehrend fragen, welche Aufgaben sie in der Arbeit mit gewaltbelastete Familien allein bewältigen kann, wann ggf. CoArbeit nützlich ist oder andere Fachkräfte und Institutionen mit einbezogen werden sollten. Während in
Akutsituationen das Jugendamt, die Polizei, Ärzte und Kinder- und Jugendnotdienste, Schutzhäuser o.
ä. in der Zusammenarbeit dominieren, können in der dauerhaften Gewaltbewältigung therapeutische
Netzwerke in unterschiedlichen fachlichen Ausrichtungen nützlich sein. Hier sollen insbesondere Angebote für Kinder unterschiedlicher Altersstufen und Entwicklungen hervorgehoben sowie therapeutische Angebote für Täter werden. Weitere Kooperationspartner richten sich nach dem Einzelfall.
Die dargestellten Praxisbeispiele und Ansätze machen deutlich, dass hohe Anforderungen an die
jeweilige Fachkraft gestellt werden. Da sind sowohl die Personalqualifikation mit päd. Hochschulabschluss sowie psychosoziale Zusatzausbildungen zu benennen. Zudem ist sozialpädagogische Familienhilfe i.d.R. kein Berufsfeld für den Berufseinstieg, da aufgrund des häufig Alleinagierens, u. a. die
Gefahr besteht, von der Familie zu sehr ins Familiensystem eingesogen zu werden und Objektivität zu
verlieren, selbst zu bagatellisieren o.ä.. Für die unterschiedlichen Anforderungen zum Abbau von
Mehrfachbelastungen sowohl Methodenvielfalt als auch Netzwerkkompetenzen und ein Überblick über
lokale Angebote gefragt. Weitere Kenntnisse sind Grundlagen von Gewaltanamnesen, rechtliche
Grundlagen, insbesondere des Kinderschutzes. Zudem benötigt die SPFH eine psychische Belastungsfähigkeit.
Neben der Qualifikation und den Kompetenzen der Fachkraft braucht es ein Gesamtkonzept, in dem
die Fachkraft Orientierung und Entlastung erhält und in dem reflektierte Erfahrungen als Know-How
genutzt werden können. So fordert die Fürsorgepflicht des Trägers, regelmäßig Fallberatung und Supervision zum Schutz vor Burnout der Mitarbeiter zu sichern sowie bei Notwendigkeit Einzelberatung
bzw. Einzelsupervision vorzuhalten. Bedarfsausgerichtete Weiterbildungen ermöglichen, für neue
Anforderungen Antworten zu finden. Vor allem aber brauchen Mitarbeiter aber die Sicherheit des Trägers, dass Selbstschutz vor Fremdschutz ein Arbeitsprinzip ist, das getragen wird, da im Kontext von
Gewalt nicht auszuschließen ist, dass sich im Einzelfall die Gewalt auch gegen die SPFH wenden
kann. Bei erforderlicher Notwendigkeit muss reflektiert werden, ob Co-Arbeit sowie andere Schutzaspekte die/ den jeweiligen Mitarbeiterin/ Mitarbeiter sichern kann.
Grenzen der Sozialpädagogischen Familienhilfe
Trotz aller pädagogischen Konzepte und Ansätze sowie maximal günstige Rahmenbedingungen im
Hilfeverlauf eines Familiensystems kann Gewalt in einem Maß in den Vordergrund rücken, in dem die
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Grenzen der ambulanten Hilfe überschritten sind. Nicht immer haben alle professionellen Akteure die
gleiche Einschätzung zu einem Sachverhalt, so dass der Leistungserbringer eine fachliche Unabhängigkeit braucht, um seine Sichtweise der Grenze der Hilfe aufzuzeichnen. Als Kriterien sind zu nennen:
• Wiederkehrende Rückfälle / Übergriffe
• Schutz der Betroffenen kann dauerhaft nicht gewährleistet werden
• Notwendigkeit dringender therapeutischer Hilfe des Täters, aber keine Bereitschaft der Betroffenen zur Hilfeannahme vorhanden ist
• Wiederholte Verstöße von Auflagen in Zwangskontexten zum Schutz der Kinder
• Dauerhafte Gefährdungssituation der SPFH vorhanden sind
• Nach mehreren (interdisziplinären) Fallberatungen eine Teameinschätzung des Trägers vorliegt, dass die Grenze der Hilfe erreicht ist
• Unüberbrückbare unterschiedliche Einschätzung der Gefährdungssituation durch das Jugendamt, Familiengericht und dem Träger vorliegt bzw. eine massive Bagatellisierung der Gefährdungssituation durch eine Seite eingeschätzt wird.
Fazit
Die skizzierten Ansätze und Methoden sollen verdeutlichen, dass in gewaltbelasteten Familien der
Kinderschutz eine besondere Bedeutung hat, jedoch die Betrachtung eines Familiensystems ausschließlich unter Gesichtspunkten von Gewalt andere, möglicherweise ursächliche Belastungsfaktoren
ausblendet und Familien gegebenenfalls dadurch Entwicklungen des Einzelnen und der Familie insgesamt behindert.
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Durch die teilweise Öffnung des Aktivierungsprogramm M powerment für andere, nicht in die Erziehungshilfe eingebundene Familien, haben Familien nach Beendigung der ambulanten Erziehungshilfe
die Möglichkeit, Stärkung zu erhalten. So kann z. B. im Anschluss des themenzentrierten Elternfrühstücks niedrigschwellige Einzelberatung für Eltern erfolgen mit unterschiedlichen Fachkräften, die sie
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durch die Angebote des M powerment während der Hilfe kennengelernt haben. Zudem können weiterhin Kontakte aufgefrischt und neue aufgebaut werden. Eine Nachhaltigkeit ist hierdurch gesichert.
Marina Wölk
Dipl. Päd. / Systemische Familientherapeutin / Kinderschutzfachkraft
Geschäftsführerin Familienhaus Magdeburg gGmbH
[email protected]
Hohepfortestr. 14
39106 Magdeburg
www.familienhaus-magdeburg.de
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