Die Blaue Reiterei stürmt voran

Transcription

Die Blaue Reiterei stürmt voran
Die Blaue Reiterei stürmt voran
Russenhaus – Murnau - Ella Münter & Wassja Kandinsky - und mehr
zusammengestellt von Sighard Wacker im Herbst 2006
Oben: Gabriele Münter: Foto Wassily Kandinsky 1910, Bild Wassily Kandinsky 1905
Unten: Wassily Kandinsky: Foto Gabriele Münter 1910, Bild Wassily Kandinsky Kirche in Murnau 1910
1
Inhalt
Vorwort – Münter und Murnau
Stets im Schatten von Kandinsky
1 Das Russenhaus
2 Die Umgebung und Murnau
3 Sommerfrische und Bahn, Villen und Parks
4 Murnau
5 Ödön von Horváth
6 braune Hochburg
7 Gabriele Münter
8 Kochel
9 Franz Marc
10 Wassily Kandinsky
11 Das Bauhaus
12 Arnold Schönberg
13 Marianne von Werefkin
15 Paul Klee
16 Hilla von Rebay
17 Entartet?
18 Rudolf Wacker
19 Synästhesie
20 Literaturverweise
21 Anhang Briefwechsel Kandinsky - Schönberg
2
3
4
6
9
12
13
16
18
22
27
27
28
35
36
37
42
43
46
48
49
50
Vorwort: Münter und Murnau
Gabriele Münter 1905 – mit Alexej von Jawlensky, dessen Sohn Andreas (6), Marianne von Werefkin 1908 in Murnau
(ist das die vielleicht die Sollerstraße nach Riegsee vorne rechts ab der Barmannweg?)
Das Titelbild zeigt Gabriele Münter und Wassliy Kandinsky in Pose ländlicher Arbeit. Rechts daneben je
ein Bild von Kandinsky zeigt die unglaubliche Entwicklung innerhalb weniger Jahre 1905 und 1910.
Meine Murnauer Oma Barbara Bauer geborene Fendt (1907 – 2001) hatte den Herrn Kandinsky mit
etwa 7 Jahren noch gesehen, als sie mit ihrer Mutter Barbara Fendt (1879 – 1967) gebügelte Wäsche in
das sogenannte „Russenhaus“ ablieferte. Sie wohnten damals in Murnau im Barmannweg 5 (jetzt
Glasgravuren und Naturheilpraxis), Urgroßvater Andreas Fendt (1881 – 1959) war Landwirt und
Zimmermann in Murnau. Ende der 20iger Jahre (ab 1928) arbeitete Barbara Bauer eine Weile bei
Gabriele Münter als Haushilfe und wohnte im „Russenhaus“ in der Dachbodenkammer. Meine
Großmutter mochte den Herrn Kandinsky gar nicht, weil der die Frau verlassen hatte und Gabriele
Münter deshalb zeitlebens eine traurige Frau geblieben war. Kandinsky war damals 1914 bereits 48
Jahre alt, Gabriele Münter 37. 1926 schrieb Münter in Ihr Tagebuch: "Ich war nur eine unnötige Beigabe
zu Kandinsky". Die Jahre mit Gabriele Münter waren wohl seine besten und nie wieder hat er so hart
arbeiten können, hat Kandinsky 1938 im Rückblick auf diese Lebensgemeinschaft gesagt. Erst 1928
kehrte Gabriele Münter, ab 1931 mit ihrem neuen Mann, dem Kunsthistoriker Johannes Eichner, fix
nach Murnau zurück. 1962 starb sie. Ihr Grab neben der Kirche, die sie oft aus ihrem Fenster heraus
gemalt hatte - ist bescheiden wie ihr Heim. Ihre einmalige Sammlung hatte sie der Stadt München zu
ihrem 80. Geburtstag 1957 geschenkt. Die eigenen Bilder und mehr als 80 Kandinsky-Werke machten
die Münchner Städtische Galerie im Lenbachhaus auf einen Schlag weltberühmt. Dafür hat die Galerie
einen Herzenswunsch Münters erfüllt: ihr Murnauer Refugium wurde zu einer sehr persönlichen
Gedenkstätte an eine Kunst, die dem 20. Jahrhundert weltweit eine neue Richtung gab.
Gabriele Münter Hinterglasbild Bauersfrau mit Kindern 1909/10 - Familien Fendt Bauer bei der Feldarbeit in Murnau etwa 1934
3
Stets im Schatten von Kandinsky
Auszug aus Dietmar Griesers Buch, "Alle meine Frauen. Eine Porträtgalerie", Residenz Verlag 2006
Die begnadete Malerin Gabriele Münter aus dem oberbayerischen Städtchen Murnau wird von der
Kunstwelt immer noch missverstanden und gering geschätzt.
Dass ich mich so sehr in ihre Bilder verliebt und späterhin auch alles, was mir an Veröffentlichungen
über sie in die Hand kam, ausgeschnitten und in einer eigens dafür angelegten Mappe gesammelt
habe, verdanke ich dem Dichter Ödön von Horváth, der eine Zeit lang am selben Ort gelebt hat wie sie:
Murnau. Ich hatte mich im Sommer 1973 einige Tage in dem oberbayerischen Marktflecken am Ostufer
des Staffelsees aufgehalten, um die Schauplätze des Horváth-Dramas "Italienische Nacht" zu
erkunden. Als ich damit fertig war, blieb noch ein wenig Zeit, die übrigen Sehenswürdigkeiten des 1200
Einwohner zählenden Ortes zu inspizieren, und so landete ich bei einem meiner Rundgänge in dem zu
jener Zeit noch ziemlich verwahrlosten "Russenhaus". Bei dieser Gelegenheit hörte ich zum ersten Mal
den Namen Gabriele Münter.
Die Landschaften, Porträts und Stilleben der 1877 Geborenen, die am 19. Mai 1962 in dem am
Ortsrand von Murnau gelegenen Besitz verstorben ist, sprachen mich so unmittelbar an, dass ich auf
der Stelle zum Münter-Fan wurde. Wäre ich zu dieser Zeit nicht schon dem Teenager-Alter entwachsen
gewesen, in dem schwärmerische junge Menschen ihre Zimmer mit den Fotos ihrer Idole zu tapezieren
pflegen, wäre bei mir zwischen Schreibtisch, Bücherregal und Bett wohl keine Wandfläche
freigeblieben, die ich nicht mit Bildpostkarten, Ausstellungsplakaten und Kunstdrucken aus dem MünterFundus geschmückt hätte.
Das Münter-Haus
Die kräftigen Farben ihrer Ölbilder mit den charakteristischen schwarzen Flächenumrandungen und der
unverstellt-zupackende Blick auf die durchwegs ihrer unmittelbaren Lebenswelt entnommenen Motive
schlugen mich so vehement in ihren Bann, dass es schon damals mein größter Wunsch gewesen ist,
einiges davon im Original zu besitzen.
Doch seit ihrer mit der Gedächtnisausstellung "Der Blaue Reiter in München" 1949 einsetzenden
Wiederentdeckung waren die Werke Gabriele Münters für meinesgleichen unerschwinglich: Ich musste
mich mit Bildbänden, mit Zeitungsausschnitten und Prospekten begnügen. Und mit der mehrmaligen
Wiederkehr nach Murnau.
Heute, da das 1998/99 restaurierte Münter-Haus und das unweit davon gelegene Schlossmuseum in
vorbildlicher Dokumentation Leben und Werk der Künstlerin vor dem Besucher ausbreiten, ist Murnau
das Mekka der Münter-Verehrer, denen schon ein Schaukasten auf dem Bahnhofsvorplatz den Weg
weist zu all den Wonnen, die sie in dem freundlichen kleinen Ort 50 Kilometer südlich von München
erwarten.
Der Reisende hat die Wahl zwischen der Lokalbahn und den Fernzügen Richtung Innsbruck, die Fahrt
führt durch malerisches Moorland mit herrlichen Ausblicken auf die Bergwelt der Kalkalpen, vorbei an
stillen Badeseen und schmucken Dörfern mit zwiebelturmgekrönten Kirchen. In Uffing, der letzten
Station vor Murnau, wird‘s deftig: Eine vielköpfige Trachtenkapelle steigt zu und verstellt Waggon und
Ausstieg mit ihren voluminösen Blasinstrumenten. Die Gruppe schwarzafrikanischer Studenten, die mit
mir in Murnau aus dem Zug klettert, peilt vermutlich das örtliche Goethe-Institut an; weitere Reisende
werde ich später im Münter-Haus wiedertreffen; sie haben dasselbe Ziel wie ich.
Ich beginne meinen Rundgang auf dem hinter der Kirche von St. Nikolaus versteckten Ortsfriedhof.
Gabriele Münters Grab mit den nüchternen Lebensdaten auf dem grob behauenen Steinquader fällt
gegen die benachbarten Prunkgrüfte einer k.u.k. Oberstabsarztenswitwe und einer Familie mit dem
klingenden Namen Wohlgeschaffen signifikant ab.
Auch der Münter-Platz im Ortszentrum ist trotz des an einer Betonsäule applizierten Porträtreliefs der
Künstlerin und eines ihrem Andenken gewidmeten modernistischen Brunnens wenig geeignet, auf die
Aura der zu Verehrenden einzustimmen. Wundervoll dagegen die im Schlossmuseum gezeigte Auswahl
an Münter-Originalen: "Winter im Murnauer Moos", "Liegende Dame in grün", "Kandinsky und Erna
Bossi am Tisch". Letzteres schon ein Hinweis auf Gabriele Münters so fruchtbare wie verhängnisvolle
4
Partnerschaft mit dem weltberühmten Vorreiter der abstrakten Malerei (der sie sich zeitlebens beharrlich
widersetzen wird).
Dirndl und Lederhose
Das Münter-Haus, das – wie auch schon bei meinen früheren Murnau-Aufenthalten – mein eigentliches
Ziel ist, lässt von dem späteren Zerwürfnis des so ungleichen Künstlerpaares nichts spüren. Da ist der
Garten, den sie in den Jahren zwischen 1908 und 1914 gemeinsam bestellt haben: sie im Bauerndirndl,
er, der bajuwarisierte Russe, in Lederhose und Wadenstutzen. Da sind die von beiden nach Art der
Einheimischen bemalten Möbel: Küchenkredenz und Bettstatt, Schreibtisch und Toiletteschränkchen,
Kleiderkasten und Bücherbord. Einfachste, der traditionellen Volkskunst abgeschaute Ornamentik – wie
von Kinderhand aufs Holz gepinselt.
Da sind die von der "Hausfrau" und dem um zehn Jahre älteren Dauergast benützten
Gebrauchsgegenstände: Waschschüssel, Petroleumlampe, Samowar. Dann die ins Obergeschoß
führende Holztreppe, von Kandinsky in leuchtenden Farben mit Blumen, Gräsern, Sonnen und
Reiterfiguren geschmückt. In einem der oberen Räume die auch auf manchen der Münter-Bilder
wiederkehrenden Einrichtungsgegenstände: Kachelofen, Esstisch, Fleckerlteppich. In seiner
Schlafkammer Kandinskys Ausgehkleidung für festliche Münchner Anlässe: Zylinder und Frack.
Zwei Welten
Kontrastreich auch die Paletten der beiden Maler: dicke Farbkrusten auf der seinen, zart-pastose auf
der ihren. Gabriele Münters volkstümlichen Heiligendarstellungen nachempfundenen Hinterglasbildern
stehen die Faksimiledrucke von Kandinskys Entwürfen für den 1911 gestalteten Umschlag des
Almanachs "Der blaue Reiter" gegenüber. Alles in allem zwei Welten, zusammengehalten durch das
Band der Liebe, das freilich nach zwölf Jahren Dauer schmählich zerreißen wird . . .
1902 lernen sie einander kennen: der sechsunddreißigjährige, in Moskau geborene Wassily Kandinsky,
der, in München zum Maler ausgebildet, in der bayerischen Kunstmetropole seine eigene Schule
gründet, und die zehn Jahre jüngere, in Berlin geborene Gabriele Münter, die in ebendiesem (auf den
Namen "Phalanx" getauften) Institut Malstunden nimmt. Lehrer und Schülerin kommen einander auch
privat näher: Man unternimmt gemeinsame Malreisen, feiert sogar, obwohl Kandinsky in seiner Heimat
Russland verheiratet ist, Verlobung, lässt sich schließlich in dem von Gabriele Münter 1909 erworbenen
Murnauer Landhaus nieder.
Mit Kriegsbeginn 1914 trennen sich die Wege der beiden: Kandinsky muss Deutschland verlassen,
Gabriele Münter wartet auf ihn im neutralen Ausland: in Stockholm. Doch statt sein Versprechen
einzulösen und zu ihr zurückzukehren, geht Kandinsky in Moskau eine zweite Ehe ein, die er der fernen
Geliebten feig verschweigt. Ihre zwischen Verzweiflung, Verbitterung und Anklage schwankenden Briefe
bleiben allesamt unbeantwortet: Kandinsky stellt sich tot.
Erst 1922 lässt der mittlerweile fünfundfünzigjährige Künstler nochmals von sich hören – aber auch da
nur über Mittelsmänner und mit einem Ansinnen, das bei der schnöde Verlassenen eine weitere, eine
noch heftigere Krise auslöst: Kandinsky verlangt seine in Murnau eingelagerten Bilder aus den
gemeinsamen Jahren mit Gabriele Münter zurück.
Es kommt zu einem aufreibenden Rechtsstreit, in dessen Verlauf die Gedemütigte auf einem
schriftlichen Schuldbekenntnis des nunmehrigen Kontrahenten besteht und der mit einem
außergerichtlichen Vergleich endet: Ein Teil der beanspruchten Bilder geht in Gabriele Münters Besitz
über, die anderen sowie Kandinskys persönliche Habseligkeiten treten den Weg nach Dessau an, wo
der in der Zwischenzeit aus der Sowjetunion in den Westen Abgewanderte die ihm angebotene
Lehrtätigkeit am Bauhaus aufgenommen hat.
Bezeichnend für Gabriele Münters Generosität und Gemeinsinn, dass sie das kostbare "Erbe" – mehr
als 90 Ölgemälde, 330 Aquarelle, Temperabilder und Zeichnungen, 29 Skizzenbücher und rund 300
druckgraphische Blätter von Kandinsky – in eine Stiftung einbringt und fünf Jahre vor ihrem Tod – ohne
irgendeine Gegenleistung – der Stadt München übereignet.
5
Es ist eine der größten Schenkungen, die die neuere Museumsgeschichte kennt; die Städtische Galerie
im Lenbachhaus, der der einzigartige Schatz anvertraut wird, steigt mit der Sammlung der
"Geburtsdokumente" der abstrakten Kunst in die Spitzenklasse innerhalb der Branche auf.
"Unnötige Beigabe"
Auch der Name Gabriele Münter rückt plötzlich in die Schlagzeilen der Weltpresse. Dass es dabei
weniger um ihr eigenes Werk als um ihre Rolle als Stifterin geht, ist Teil jener Tragik, die das gesamte
Leben dieser Frau überschattet: Das Schicksal, von den meisten zu einer bloßen Fußnote in der
Biographie Wassily Kandinskys reduziert zu werden, lässt sie auch für den Rest ihrer Tage nicht mehr
los. Schon 1926 hat sie in ihr Tagebuch eingetragen: "Ich war in vieler Augen doch nur eine unnötige
Beigabe zu Kandinsky."
Vielleicht ist es gerade diese Ungerechtigkeit, die mich – neben der tiefen Bewunderung ihrer eigenen
Arbeiten – so leidenschaftlich für Gabriele Münter einnimmt. Ist es denn zu fassen, dass ihr die Kritik
allen Ernstes zum Vorwurf macht, Kandinskys Schritt zur Abstraktion nicht mitvollzogen zu haben,
sondern im Gegenständlichen "steckengeblieben" zu sein? In keinem ihrer Bilder kann ich jenes
unbedarft naive Frauchen entdecken, zu dem eine arrogante Kunstwelt diese begnadete Malerin
herabgewürdigt hat und zum Teil weiterhin herabwürdigt.
Es ist also nicht nur Kandinsky, der sich an ihr versündigt hat, sondern ebenso jene Gralshüter der
Moderne, die nicht und nicht davon ablassen wollen, das Werk dieser überragenden Künstlerin an dem
ihres ehemaligen Lebenspartners zu messen. Die Gabriele-Münter-Gemeinde, die es sich zur Aufgabe
gemacht hat, gegen dieses Unrecht beharrlich anzukämpfen, hat noch eine Menge Arbeit vor sich.
Dietmar Grieser geboren 1934 in Hannover, lebt seit 1957 als Schriftsteller in Wien.
1 Das „Russenhaus“
Münter-Haus, Kottmüllerallee 6, 82418 Murnau
In diesem Haus von Architekt Ernst Hegemann 1906/07 – Vorbesitzerin „Frau Xaver Streidl“ - in der
Murnauer Kottmüllerallee lebten Gabriele Münter (1877-1962) und Wassily Kandinsky (1866-1944) in
den Sommermonaten von 1909-1914. Hier entstanden Werke und Ideen, die als Kunst des "Blauen
Reiter" später berühmt wurden. In diesem Haus fand eines der folgenreichsten Ereignisse der bildenden
Kunst des 20. Jahrhunderts statt, nämlich die Entwicklung der gegenstandslosen Kunst. Im Sommer
1909 verbrachten der russische Kunstlehrer Kandinsky, ein verheirateter Mann, und seine talentierte
Schülerin ihren ersten Studienaufenthalt in Murnau; „Ella“, „Ellchen“, sein "Schwimmfüchslein", nannte
er sie, „Wassja“ sie ihn.
Das Münterhaus gibt mit der von Wassily Kandinsky bemalten Treppe und den bemalten Möbeln auch
Zeugnis von den bedeutsamen Einflüssen der bayerischen Volkskunst auf die künstlerische
Entwicklung ihrer Bewohner. Das Haus beeindruckt schon von weitem durch seine einfache Schönheit.
In unmittelbarer Nähe und in den Räumen des Hauses entfaltet sich ein Strom an Empfindungen wie
Schöpfungskraft, Ruhe, Einsamkeit und auch Behaglichkeit, alles Eindrücke, die man so leicht nicht
6
vergessen kann. Ein Ort voller Geschichte. Und in den Gemälden und Hinterglasbildern der berühmten
Bewohner findet man kleine Welten von Farbe und Liebe. Der Blaue Reiter ist in verschiedenen
Malereien an den rustikalen Möbeln, am Küchenbüfett, am Bett, an Schränken und im Treppenhaus
wieder zu erkennen.
im Inneren des Hauses
Kandinsky war ein schöner Mann und sich seiner Wirkung auf Frauen bewusst. Und da dem russischen
Maler die gerade 24-jährige Schülerin seiner Kunstklasse, eine Tochter aus gutem Hause, besonders
gefiel, warb er intensiv um sie und die Kunststudentin verliebt sie sich in ihren verheirateten Lehrer.
Vielleicht erkannte der Meister früh die Talente seiner elf Jahre jüngeren Schülerin, die dem späteren
Bauhausprofessor und anerkannten Künstler nach Ansicht von Experten schon bald ebenbürtig war.
Jedenfalls aber verlobten sich Wassily Kandinsky und Gabriele Münter im Herbst 1903 geheim. Und
das trotz der bestehenden Ehe, aus der sich der Mann mit der russischen Seele nur sehr schwer zu
lösen vermochte. Die „Gewissensehe“, die die beiden Künstler nach Definition Kandinskys führten, war
der jungen Frau vor allem während der langen gemeinsamen Lehr- und Wanderjahre eine Stütze. Doch
jede Liebe braucht ein Stückchen Heimat, so dass das Paar sich 1908 entschloss, fern von München
und der abgelegten Ehefrau ein Domizil zu suchen. Das idyllische Sommerhaus, das Münter, von den
Freunden auch einfach „Mü“ oder „das Münterchen“ genannt, auf Drängen ihres Liebsten 1909 kaufte,
kostete ganze 11 000 Mark.
Im "Russenhaus" entstanden in den folgenden Jahren unzählige Skizzen und Bilder in starken Farben
und kraftvollen Konturen. Viele der Motive kann man im Murnau von heute wiederfinden: den Gasthof
"Griesbräu", in dem das Maler-Paar bei seinen ersten Aufenthalten wohnte, die Grüngasse, den
Burggraben mit seinen bemalten Häusern. Man kann die Bilder Gabriele Münters und Wassily
Kandinskys als Wegweiser nehmen und zu den Zwiebelturmkirchen von Riegsee und Froschhausen
wandern. Und vor allem: direkt hinter dem Russenhaus durch die alte Eichenallee schlendern und an
ihrem Ende staunend stehenbleiben, wenn plötzlich die gewaltige, unberührte Fläche des Murnauer
Mooses daliegt. Dieses Hochmoor mit seinen warmen, ruhigen Farbschattierungen muß jeden Künstler
inspirieren.
Der extravagante Kandinsky wurde von den Einheimischen nur "der Russe" genannt. Sehr willkommen
waren die beiden mit ihren avantgardistischen Ideen in dem oberbayerischen Marktflecken vor bald 100
Jahren dagegen nicht. "Wissen's, eigentlich haben die Murnauer die Künstlerin nie richtig gemocht",
erzählen ältere Einheimische. Auch als es 1990 darum ging, einen Platz nach der Malerin zu benennen,
gab es dafür nur eine knappe Mehrheit.
7
Wassily Kandinsky malt Gabriele Münter beim Malen, Gabriele Münter malt ihn am Schiff 1910
Das Portrait Bootsfahrt 1910 ist ambitioniert und bemerkenswert: Ein Sommer am Staffelsee. Kandinsky
steht beherrschend im Heck des Bootes vor dem blauen Gebirge und dominiert die kleine sitzende
Gruppe mit Gabriele Münter am Ruder, die dem Beobachter den Rücken zuwendet. Hat er auch die
Lederhose und die Wadenstrümpfe des Bildes mit Erma Bossi am Tisch von 1912 an? Werefkin, mit
ihrem grossen roten Hut, blauen Kleid und mit dem schwarzen Hund, - nahe bei ihr sitzt ein Kind, die
Hände in seinem Schoß gefaltet. Dieser Junge, Andreas Jawlensky, 8 Jahre alt, gehörte nicht Werefkin,
vielmehr ihrem jungen russischen Mädchen, Helene Nesnakomoff und ist der Sohn von Alexej
Jawlensky. Eine gewisser schüchterner Abstand zwischen Werefkin und dem Sohn Jawlenskys fällt auf.
Erst nach dem Krieg heiratet der Helene Nesnakomoff und anerkennt seinen Sohn, den er bis dahin als
Neffe bezeichnet hatte. Münter und Werefkin hatten beide Probleme mit den Männern, die sie liebten,
aber die Spannungen, die in den jeweiligen Verhältnissen der Künstlerpaare existierten, werden in der
reizenden Bootfahrt nicht wirklich gezeigt. Die dreieckige Anordnung deutet Stabilität an, doch am
Himmel braut sich bereits einiges Ungemach zusammen.
Gabriele Münter wurde Gefährtin, Muse und Seelentrösterin des unruhigen, teils überheblichen, aber
auch sensiblen Russen und lebte bis 1914 mit Kandinsky im „Russenhaus“. Doch einen Wunsch erfüllt
er ihr, trotz vieler Versprechungen, nicht: - sie zu heiraten. 1914 musste Kandinsky nach Russland
zurück. Dort erreichte er endlich seine Scheidung - und heiratete eine andere. Noch ein kurzer Brief,
dann ist Funkstille. Als Kandinsky 1921 ans Bauhaus ging, fordere er per Anwalt von Münter die bei ihr
gelagerten Bilder zurück. Münter war verbittert und kamt - trotz späterer Heirat mit einem anderen - nie
über die Trennung hinweg. Sie verweigerte die Herausgabe der meisten Gemälde. Was sich als
kleinliche Rache und Starrsinn darstellte, war für die Kunstgeschichte ein Glücksfall: Als Kandinsky's
Werke als "Entartete Kunst" vernichtet wurden, bewahrte Münter im Versteck in ihrem Murnauer Haus
über 100 seiner Gemälde auf - den größten Teil des bedeutenden Frühwerks von 1910-1914, das sie
nach dem 2. Weltkrieg in eine Stiftung einbachte. Im Freundeskreis stieß Gabriele Münter auf die
zeitbedingten Vorbehalte gegen die Nicht-Ehefrau seitens der Ehepaare Marc und Macke, deren Glück
durch den Kriegstod der beiden Maler nur von kurzer Dauer sein sollte. Ab 1930 wohnte Frau Münter
mit ihrem späteren Lebensgefährten Johannes Eichner (1886-1958) wieder regelmäßig in Murnau, - bis
zu ihrem Tode 1962 in diesem Haus. Ein Großteil des Frühwerks Kandinskys und ihrer eigenen Werke
bilden heute den bedeutendsten Bestand der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München.
Das Münter-Haus ist, nach umfangreicher Renovierung in den Jahren 1998/99 der Öffentlichkeit
zugänglich. Bei den Sanierungs- und Renovierungsmaßnahmen wurde versucht das ursprüngliche
Aussehen des "Russenhauses", also den Zustand von 1909-1914 wieder herzustellen. Spätere
Veränderungen, insbesondere Anbauten, die 1936 hinzugekommen waren, wurden entfernt. So hat die
Westfassade heute wieder die offene Veranda, wie wir sie von Aufnahmen von 1909-1911 kennen.
Erhalten gebliebene Baupläne erleichterten die Rekonstruktion. Das Dach hat wieder die Gauben über
8
den beiden Fenstern erhalten und zeigt somit eine feinere Gliederung. Die Terrasse, 1936 angebaut,
wurde abgetragen. Der Baukörper wirkt somit schlanker und aufragender, wie wir ihn nicht nur von
Photographien, sondern auch von Bildern Münters kennen.
Gabriele Münter „Russenhaus“ 1931
Alle verwendeten Farben orientieren sich an Befunden, berücksichtigen aber auch die Auffassung, die
Münter in ihren Gemälden zeigt. Die blaue Farbe der Holzstriche im Außenbereich ist Smalte, ein aus
zerstoßenen Glassplittern gewonnenes Pigment, das unter späteren Anstrichen gefunden wurde. Der
Garten, insbesondere das Rondell, wurde nach Skizzen und Bildern Münters wieder angelegt. Er soll
auch daran erinnern, mit welcher Freude Münter und Kandinsky sich dem Landleben in Murnau
widmeten. Der Zugang zum Münter Haus wurde über das Untergeschoß eingerichtet, d.h. der
Hauptzugang erfolgt heute von der Gartenseite. Dabei wurde im Inneren das Bodenniveau abgesenkt
um eine größere Raumhöhe zu erreichen. Der einstige „Millionenkeller“ ist zu einem Aufenthalts- und
Informationsraum für die Besucher eingerichtet. Dieser Raum hat seinen Namen daher, weil Gabriele
Münter hier ihren unglaublichen Schatz an Gemälden, eigenen und solchen von Kandinsky, aufbewahrt
hatte. Bei der Renovierung wurde sogar ein unbekannter Münter entdeckt. Die Wandmalerei im
Schlafzimmer Kandinskys, ein lebensgroßer Akt, war hinter einer zugemauerten Tür verborgen. Münter
und Kandinsky sammelten auch volkstümliche Objekte und ließen sich vom Murnauer Heinrich
Rambold und alten Vorlagen zu eigenen Hinterglasbildern inspirieren.
Es war ein besonderer Wunsch der Künstlerin, daß ihr Haus zu einer Stätte der Erinnerung an ihre
Kunst und an die Kandinskys werde. Gabriele Münter, die durch ihre Malerei eine herausragende
Stellung in der Kunst unseres Jahrhunderts einnimmt, hat darüber hinaus durch ihre einmalige
Schenkung an Kunstwerken des "Blauen Reiter" an die Städtische Galerie im Lenbachhaus in München
einen unschätzbaren Beitrag zur Kunstgeschichte geleistet. Das Münter-Haus ist ein Denkmal für sie
und Kandinsky, mit dem sie hier neue weitreichende Wege der Kunst beschritten hat. Das Münter-Haus
wird heute von der Münchner Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung betreut.
2 Die Umgebung und Murnau
Vom Russenhaus aus führt ein Weg aufwärts zu einer Allee von uralten Linden den Hochangerweg
hinauf nach Norden entlang der Bahn oder Richtung Südosten, abwärts als Fortsetzung der Kottmüller
Allee, - einer aus über 140 mächtigen Eichen bestehende Allee mit herrlichen Aussichtspunkten,
1870/80 auf Anregung von Emmeram Kottmüller als Spazierweg angelegt. Emmeram Kottmüller (1825 1905) war Bierbrauer im Pantlbräu, liberaler Reichstagsabgeordneter, Initiator des Eisenbahnbaus
Weilheim - Murnau, Mitglied des Magistrats, Offizier der Bürgerwehr und im Murnauer
9
Verschönerungsverein tätig. Als solcher gab er die Anregung für die einzigartige Allee, die später nach
ihm benannt wurde.
Auch der beliebte Sommerkeller des Pantlbräu, der Barbara-Keller wurde von Emmeram Kottmüller im
Jahre 1822 gebaut und 1857 vom Sohn erweitert. Seinen Namen erhielt der Barbara-Keller nach dem
Bau der Kemmelkaserne. St. Barbara ist auch die Patronin der Artilleristen und eine Abteilung des
GebArtRegt 79 zog als erste Einheit 1938 in die Kaserne ein. Der Barbara-Keller war anfangs nur
Fasslager und Schäfflerwerkstatt der Pantlbrauerei. In den tiefen Kellergewölben konnten die Bierfässer
kühl gelagert werden. Kastanienbäume wurden um den Sommerkeller gepflanzt, damit das Gebäude
vor der Sonne geschützt wird. Diese Plätze waren Anziehungspunkte für unsere Vorfahren, zumal man
das mit Pferd und Wagen mühsam zum Keller gebrachte und eingelagerte Bier gleich „ab Keller“
ausschenkte. Erste Biergärten waren geboren. Auch die Künstler des Blauen Reiters wurden inspiriert,
Marianne von Werefkin malte ein Bild des Barbara-Kellers der Pantl-Brauerei.
Marianne von Werefkin, Barbara-Keller der Pantl-Brauerei, Skizzenbuch Serie A, Nr. 24, Ascona, Fondazione Marianne Werefkin
Ziel der Allee ist die „Ähndlkirche“ am Rande des Naturschutzgebietes Murnauer Moos. Das
Ramsachkircherl oder Ähndl zum Heiligen Georg ist die älteste Kirche der Region, - schon der Heilige
Bonifaz (Winfried) den Bischof Ottloh von St. Emmeram in Regensburg „Vater aller Bewohner
Deutschlands“ nannte, soll hier im 8.Jh. gewirkt haben. Kandinsky war der heilige Georg als
Schutzpatron des Großfürstentums Moskau sehr vertraut und der Zwiebelturm der Pfarrkirche erinnerte
ihn an russische Turmhauben. Das Ähndl birgt Glaskunst früherer Jahrhunderte und ist Ausgangspunkt
für Wanderungen in Deutschlands größtem Hochmoor, dem Murnauer Moos, mit seltensten
Orchideenarten, fast ausgestorbenen Werdenfelser Rindern und dem „Wachtelkönig“, einem winzigen
Vogel, der hier in einer Population von etwa 60 Paaren lebt und von dem nur noch eine weitere Kolonie
in Nordeuropa bekannt ist. Neben der Kirche wartet eine Wirtschaft mit Biergarten unter uralten
Kastanien. Fleischpflanzerl, Kartoffelsalat und das Murnauer Bier der Traditionsbrauerei Karg ist ein
Paradies. An den rotkariert gedeckten Tischen unter den Kastanien des Biergartens haben Münter und
Kandinsky mit ihren Maler-Freunden vom "Blauen Reiter" sicher oft gesessen.
In der kleinen Ramsachkirche am Biergarten, wurde vor kurzem eine uralte eckige Glocke gefunden,
deren Alter auf die Zeit um 800 nach Christus datiert. Eine fast identische Glocke wurde auch in einem
irischen Kloster entdeckt. So vermuten Wissenschaftler, dass im Zuge der Christianisierung irische
Mönche Gefallen an Murnau fanden, wie auch die Weinterrassen am nahen Riegsee bei Weindorf
belegen könnten. Die kleine Ramsachkirche, das "Ähndl", – was Urahn – bedeutet, liegt am Rande des
Mooses. Es allein blieb von dem Moordorf übrig, das im Mittelalter dem Erdboden gleichgemacht wurde,
nachdem alle Bewohner der Pest zum Opfer gefallen waren. Sollte das Kirchlein verschlossen sein,
kann man sich den Schlüssel im Gasthof gleich nebenan holen und ein wenig unter dem Schutz des
hölzernen Sankt Georg verweilen. Von diesem Ähndl aus schlängelt sich ein Wanderweg am Moor
entlang zum Drachenstich und über den Bergrücken hinunter zum Staffelsee. Am Abend wird der
Staffelsee zu einem Aquarell. Das letzte Sommerlicht vergoldet die Wasserfläche und umspielt die
10
Konturen der sieben Inseln. Die Kette der Berge zerfließt im Dunst. Die Grenzen zwischen Land,
Wasser und Himmel verschwimmen. Hier oben könnte das „Fräulein“ Münter mit ihrer Staffelei
gestanden haben, als sie den "Staffelsee mit Nebelsonne" malte.
Um 1890 galt München vor Berlin und Wien weltweit als Zentrum der aktuellen Kunst. 1892 war der
"Verein bildender Künstler Münchner Secession" gegründet worden, Anfang 1909 die noch
progressivere "Neue Künstler-Vereinigung München" (NKVM) um Wassily Kandinsky, Alexej Jawlensky,
Gabriele Münter und Marianne von Werefkin. Schon bei der ersten Ausstellung - sie wurde am 1.
Dezember 1909 in der Galerie Thannhauser eröffnet - zeigten sich Publikum und Kritiker schockiert: Zu
viel Farbe und zu wenig Form sahen sie auf den Bildern der Italienerin (?) Erma Bossi, des Franzosen
Pierre Girieud und der Russen Jawlensky und Kandinsky. Der Kleingeisterei überdrüssig, trat Kandinsky
nach heftigen öffentlichen Anfeindungen aus der Gruppe aus und organisierte zusammen mit Franz
Marc die legendäre Ausstellung "Der Blaue Reiter". Was an den Bildern, die heute als Ikonen der frühen
Avantgarde in internationalen Museen hängen, verstörte den Blick? Was war das beängstigend Neue?
Die Abstraktion. Als "eine Neugeburt des Denkens" beschrieb Franz Marc, dessen Bilder "Die gelbe
Kuh" und "Reh im Wald" neben Arbeiten von Delaunay, Jawlensky und Gabriele Münter zu den
Höhepunkten der Ausstellung im Kunstbau zählen, das revolutionäre Moment am Anfang der Moderne.
Die Kunst wolle "Symbole der eigenen Zeit schaffen", resümierte Marc damals. Kandinsky ging 1912
noch einen Schritt weiter. Die Endlichkeit allen Daseins war sein eigentliches Thema, und damit auch
bereits die erst von der Moderne postulierte Relativität der Existenz.
„Abstrakte Kunst“ ist eine Kunstrichtung, die anfangs des 20. Jahrhunderts begann, als die ersten Maler
sich stets weiter von der Wiedergabe oder Interpretation der realen Natur in ihrer Malerei entfernten.
Man sprach darum auch von "gegenstandsloser Kunst", ihre überzeugten Anhänger von "absoluter
Malerei". Zu den Wegbereitern der abstrakten Malerei gehören M.K. Tschurlianis, ein Maler aus
Litauen, dem das erste völlig abstrakte Gemälde von 1904 zugeschrieben wird; der französischen Maler
Francis Picabia (1879-1953) und eben Wassily Kandinski (1866-1944), der nach eigenem Bekunden
sein erstes abstraktes Bild 1911 malte. Zu den ersten abstrakten zählen weiter Michail Larianow (18811964), der vom Kubismus beeinflusste Maler Robert Delaunay (1885-1941), der tschechische Maler
Frantisek Kupka (1871-1957) und der Schweizer Paul Klee (1879-1940). Seit diesen Anfängen hat die
Abstraktion in stets neuen Varianten, Stilrichtungen und Zusammenhängen ihren Platz in der
Kunstszene behauptet.
Die Geschichte des Blauen Reiters beginnt vorerst als Liebesaffäre. Im August 1908 trafen die Maler
Wassily Kandinsky (damals 42) und Gabriele Münter (31) in Murnau ein und bezogen für sechs Wochen
Quartier im "Griesbräu" , auf derselben Etage, doch - unverheiratet! - mit dem Abstand, den damalige
Schicklichkeit gebot. So zeigen ihre Bilder die Johannisgasse aus verschiedenen Blickwinkeln wie
Wassily Kandinsky: "Blick aus dem Fenster des Griesbräu, Murnau 1908" " oder Gabriele Münter beim
Malen der Tochter vom Griesbräuwirt, Murnau 1908".
1911 schrieb Gabriele Münter rückblickend über diesen Studienaufenthalt in ihr Tagebuch: "Murnau
hatten wir auf einem Ausflug gesehen und an Jawlensky und Werefkin empfohlen, die uns im Herbst
auch hinriefen. Wir wohnten im Griesbräu und es gefiel uns sehr. Ich habe da nach kurzer Zeit der Qual
einen großen Sprung gemacht - vom Naturabmalen - mehr oder weniger impressionistisch - zum Fühlen
eines Inhalts, zum Abstrahieren - zum Geben eines Extrakts. Es war eine schöne, interessante, freudige
Arbeitszeit mit vielen Gesprächen über Kunst mit den begeisterten Giselisten." Die Giselisten waren
Jawlensky und Werefkin im Schwabing der Jahrhundertwende, - als "Wahnmoching" wurde das lustige
und lasterhafte Treiben der Studenten, Künstler und Literaten damals von den ehrbaren Münchnern
skeptisch beäugt. Vor dem einstigen Salon von Marianne von Werefkin in der Giselastraße 23 - wo sich
ihre St. Lukas Bruderschaft traf - spielte sich das Bohemienleben und allerhand Skandalöses ab, um
die Elf Scharfrichter, den elitären Kreis des Inselverlages und um Kathi Kobus, der legendären Wirtin
11
der Künstlerkneipe "Simplicissimus". Den Namen "Wahnmoching“ verdanken wir der Schriftstellerin,
Malerin, Lebenskünstlerin, der „Königin von Schwabing“ Franziska Gräfin zu Reventlow - Fanny Sophie
Liane Auguste Adrienne Gräfin zu Reventlow - um 1903. Die Kunstakademie entstand 1884 neben dem
Siegestor, und es entstand damit eine ganz neue Szene: Geschäfte mit Künstlerbedarf sprossen hervor,
private Kunstschulen wurden gegründet, Kunststudenten mieteten Zimmer und brauchten Cafés, in
denen sie sitzen und schauen konnten. Schnell sprach sich herum, dass in München erschwinglicher
Wohnraum vorhanden und das politische Klima liberaler war als in Berlin. Schwabing wurde zum Ort
der unbegrenzten Möglichkeiten. Maler, Bildhauer, Dichter, Modelle, Nichtstuer, Philosophen,
Religionsstifter, Umstürzler, Erneuerer aus aller Herren Länder bildeten einen kulturellen Schmelztiegel,
eine Zusammenballung kreativer Kräfte, den späteren Dadaisten Hugo Ball und den späteren DDRKulturminister Johannes R. Becher, Franziska zu Reventlow und Ricarda Huch, Ludwig Thoma und
Rainer Maria Rilke, Olaf Gulbransson und Thomas Mann. Ständig entstanden neue Zirkel und Salons,
Vereinigungen und Zeitschriften. Anarchisten-, Feministinnen- und Lebensreformer-Vereine bastelten
an der Vision vom neuen Menschen. Ein russischer Exilant, der sich Lenin nannte, gründete mit seiner
Frau Nadeschda Krupskaja und einigen Getreuen die Zeitschrift "Iskra" und trieb die Weltrevolution
voran. Joachim Ringelnatz deklamierte Verse in Cafés, Frank Wedekind sang zur Gitarre und Stefan
George pflegte mit seinen Jüngern eine mystisch-esoterische Selbstinszenierung der abgehobensten
Art, bis ihn die Reventlow auf Normalmaß zurechtstutzte, indem sie ihn "Weihen-Stefan" nannte.
Der Schriftsteller Alexander Roda Roda, - Sandór Friedrich Rosenfeld - ein ehemaliger k. und k. MilitärReitlehrer, teilte die Münchner in mehrer Kategorien ein: 1. die ordentlichen Münchner Bürger. 2. die
noch akzeptierten Zuwanderer aus Altbayern, Schwaben, der Pfalz und Tirol. Als unterste Kategorie
schließlich die „Zugroasten“, (die er wiederum in „Preißen“ und „Schlawiner“ unterteilte) und die sich am
liebsten in Schwabing aufhielten. Er schreibt: „Die Schlawiner und Preißen reden untereinander
russisch, kaukasisch und schottisch, es ist eine große Sprachwirrung, darum heißt der Stadtteil
Schwabylon, und was dort vorgeht, davor muß sich die Jugend und der Bürger hüten, überhaupt ist es
nördlich vom Siegestor kein Bayern, sondern es ist mehr Preißen“.
3 Sommerfrische und Eisenbahn, - Villen und Parks
Der Siegeszug der Sommerfrische im Voralpenland begann mit der Eisenbahn. Station um Station
schob sich die Bahnlinie von München nach Süden vor. Im Jahr 1854 erreichte sie Starnberg, 1879
Murnau, 1889 Garmisch. Die Münchner zog es während der Sommermonate hinaus aufs Land. Die
Reichen träumten von einem Seegrundstück mit eigenem Bootshaus und eigenem Badesteg. Damals
waren die bayerischen Seeufer noch weitgehend unbebaut und zur Errichtung einer Villa boten sich die
wunderbarsten Plätze direkt am Wasser an. Der Grandseigneur unter den Villenarchitekten der
Jahrhundertwende war Emanuel Seidl, Sohn einer wohlhabenden Münchner Bäckerfamilie, der für Adel
und Grossbürgertum zum Teil schlossartige Villen baute. Zu seinem 50. Geburtstag wurde er in den
Adelsstand erhoben. Seidls Arbeiten waren ein Gesamtkunstwerk. Er war Architekt,
Landschaftsarchitekt und Innenarchitekt in einer Person. Die meisten seiner Villen entstanden rund um
den Starnberger See. Architekt von Seidl erbaute sich 1901-02 eine Villa in Murnau und legt einen an
englischer Gartenkunst orientierten Park an, verschlungene Wege, die zu Terrassen, Lauben,
Aussichtsplätzen oder Teichen führten, wo das Münchner Künstlervolk zu Gast war. Seidls Gästebücher
der Murnauer Villa sind ein Kunstwerk für sich, gestaltet von den Freunden Stuck, Lenbach,
Gulbransson. Die Seidls waren verwandt mit den Familien der Münchner Grossbrauereien. So baute
Emanuel von Seidl für den Löwenbräubesitzer Ludwig Brey eine Villa in Murnau am Staffelsee und in
Garmisch für den Komponisten Richard Strauss, dessen Mutter eine geborene Pschorr war. Die Städter
verbrachten zunehmds lieber ihre Sommerfrische draussen auf dem Land, mit Jagdgesellschaften,
Kutschfahrten, Bootsausflügen – in Ruhe und Zurückgezogenheit oder mit rauschenden Festen. Die
Villa befand sich seit 1941 im Eigentum des Marktes Murnau und wurde 1972 abgebrochen.
12
Villa und Park des berühmten Architekten Emanuel von Seidl (1856-1919), geraten in den 30er Jahren
in den Besitz der Gemeinde Murnau. Diese überläßt Gebäude und Anlagen sich selbst und dann der
Bayerischen Versicherungskammer an, die darauf eine Wohnanlage für ihre Angestellten errichten will.
Bedingung: Seidls Villa, ein intaktes Jugendstil- Kleinod, soll verschwinden. Die Gemeinde muss das
Gelände zurück kaufen. Die Wut der Murnauer darüber, dass sie nichts gegen den Abriss getan haben
wächst weiterhin. Sommerliche events "auf der Villa" werden veranstaltet. In der offiziellen Chronik der
Gemeinde werden Seidls Park und Villa mit keinem Wort erwähnt. 1972 wird die Villa wirklich beseitigt.
Der Berliner Schriftsteller Walter Reichsritter von Molo (1880 – 1958) Mitbegründer des PEN-Clubs und
der Akademie der Künste war einer der erfolgreichsten und angesehendsten Autoren der Weimarer
Republik. Molo blieb im Jahr der Gleichschaltung (1933) in der Akademie und hat sich 1934 in Murnau
niedergelassen und einen herrlichen („Dornröschen“) Park den Walter – von Molo – Park nordöstlich
des heutigen Seidl-Parks angelegt. Im Jahre 1969 verkauft seine Frau Annemarie das Anwesen der
Marktgemeinde auf Rentenbasis und stirbt in Murnau 1983.
Das Münterhaus steht nur deshalb noch, weil es seit 1956 der Stadt München gehört und darum der
Murnauer Abrisswut der 70er Jahre entging, wie der Rollischof (heute Parkplatz Angerbräu ), Horvaths
Hotel "zur schönen Aussicht", Horvaths und Seidls Villen, der alte Pfarrhof - von Münter als "Gelbes
Haus" verewigt - , die Seidlsche Gärtnerei - von Münter als "Weiße Mauer" verewigt - , der Pantlkeller von Horvath in der "Italienischen Nacht" verewigt.
Gabriele Münter ist es gelungen, ausgerechnet mitten im tiefbraunen Murnau Kandinskys "entartete"
Hauptwerke unentdeckt durch die NS-Zeit zu bringen. Lebensgefährte Johannes Eichner stapelte diese
im Keller, dort wo sich heute die Kasse befindet und meldete sich als Luftschutzwart, der die Keller der
Murnauer inspizieren durfte, während der der Münter unbeschnüffelt blieb. Während dieser braunen
Jahre lebte Gabriele Münter in äußerster Armut und versuchte gegen ihre Bilder Lebensmittel
einzutauschen. Der tiefbraunem Milieu entsprossene Hubert Kapfer etwa berichtet, wie Gabriele Münter
seiner Mutter ein Porträt gegen Naturalien aufdrängte. Das Bild aber entsprach so gar nicht dem
Kunstideal des geliebten Führers! Also wurde es verheizt, und wäre doch heute leicht an die 50.000 €
wert.
4 Murnau
„Blau, immer wieder Blau“ berichtet Sabine Schultes in der Berliner Zeitung 1996. „Ein ganz
besonderes Licht verzaubert das Alpenvorland rund um Murnau. Es taucht Seen, Berge und das Moor
in alle möglichen Blautöne, von knallig bis blaugrau. Spätestens an der Mariensäule im Zentrum
Murnaus bleibt man sprachlos stehen. Dieses Panorama! Zwischen den Häusern ragen Hohe Kiste,
Krottenkopf und Hoher Fricken empor, Bergriesen bei Garmisch-Partenkirchen, die sogar im August oft
noch Schneemützen tragen. Während die Bergkulisse zu großen Wanderungen lockt, kann man das
Glück auch nur wenige Schritte entfernt finden: bei knuspriger Schweinshaxe und selbst gebrautem
„Werdenfelser Ur-Dunkel“ im „Gasthof Griesbräu“. Kandinsky malte alles, was er dort sah, das Dorf, die
Kirche, den Staffelsee, die weite, klare Landschaft. Fast hätte König Ludwig II. sein Märchenschloss
mittendrin auf der Insel Wörth errichtet, wo einst die Pfarrkirche stand. Eine Büste vom heiligen
Georgius, die in der gläsernen Nische über dem Eingang der Grüngasse stand, direkt gegenueber dem
Griesbräu, die kleine Kirche in Ramsach mit dem Altarbild vom heiligen Georgius, das Deckengemälde
mit dem Märtyrertod und die Hinterglasbilder, Kandinsky wird in dieser Zeit die "Legenda aurea"
gelesen haben. Im "Griesbräu" gibt es ein kräftiges „Drachenblut-Bier“ oder den süffigen „Murnator“ und
Spanferkel, im Kargbräu gäbe es dann den "Schwarzen Wolpertinger" (Weizen-Bock). Kandinsky und
Münter wohnten im Griesbräu eine Zeit lang, und im ebenso traditionsreichen "Angersbräu" brachten sie
häufig Besucher unter.“
13
"Murnauer" schreibt Andreas Hamburger Psychoanalytiker aus Murnau in dem Bilderbuch MURNAU.JA
SCHON "sind im Publikum streng repräsentativ vertreten: entsprechend etwa ihrem Anteil an der
Weltbevölkerung." Das ist kein Reiseführer im herkömmlichen Sinn. Das ist eine Mischung aus
Liebeserklärung und psychoanalytischer Studie. Eine Fotografin (Ruth Rall) und der Psychoanalytiker
weisen dazu die erstaunlichsten Wege. Eine ganz typische Doppelfrage: "Murnau einmal anders? War
es je anders als anders?"
Der Exzentriker Herbert Achternbusch, der die Faszination dieser Gegend so kommentierte: "Diese
Landschaft hat mich kaputt gemacht. Und ich werde so lange bleiben, bis man ihr das ansieht".
„Wenn Sie Murnau noch nicht kennen" schrieb 1914 der Russe Kandinsky an den Juden Arnold
Schönberg , um ihn eben dort hin zu locken, "werden Sie viel Freude daran haben." Der Hintersinn in
Kandinskys Satz kommt erst nach Jahren so recht zum Klingen ...
Kandinsky liebte den Garten und klagte doch über die Mühen der Gartenarbeit. Vielleicht auch, weil er
keinen Schmutz mochte und behauptete: "Ich kann auch im Smoking malen!" Akribisch notierte er das
Geschehen: "Johannisb. Viel und gut. Kartof. Sehr gut u. groß geworden (20-25 cm). Gurken - 3tes
Blatt, gesund". Der Begründer der gegenstandslosen Malerei hielt Murnau und die Landschaft recht
naturgetreu fest. Gleichzeitig entstand zu jener Zeit Kandinskys erstes abstraktes Aquarell.
Hinterglasmalerei
Murnau stand in ständigem kulturellen und wirtschaftlich Kontakt zum Kunstzentrum Augsburg und dort
erhielten einige der Murnauer Glasmaler auch ihre Ausbildung, so daß auch die Murnauer im 18.
Jahrhundert eine sehr qualitätvolle Hinterglasmalerei hervorbrachten. Ihr Stil und ihre Motive waren von
der spätbarocken Tradition Oberbayerns geprägt, die sie unmittelbar über meist in Augsburg gedruckte
Kupferstich-Vorlagen für ihre Bilder übernahmen. Im 19. Jahrhundert führte die wachsende Nachfrage
nach diesen Bildern auch in kleinbürgerlichen und ländlichen Kreisen in Murnau und dem
nahegelegenen Seehausen, Uffing und Oberammergau zu einfacheren Bildtypen: Bilder, die nur die
Hauptformen der Figuren und Szenen in dunklen Konturen und in leuchtenden Farben wiedergaben.
Diese Bilder wurden in größeren Serien und unterschiedlichen Größen für einen Massenbedarf
produziert.
Charakteristisch blieb in dieser Region jedoch das Nebeneinander von malerisch anspruchsvollen
Bildern und routiniert in Serienherstellung gemalter Tafeln populärer Art. Verleger in den
Staffelseeorten, in Augsburg und in Oberammergau übernahmen den Handel über ihre weitverzweigten
Handelsnetze in Deutschland und in europäischen Zentren. Landhändler (Hausierer) gingen teils im
Auftrag der Verleger, teils eigenständig, wochenlang mit der Kraxe auf dem Rücken zu Fuß von Ort zu
Ort und verkauften ihre Waren: "...Sein Verlag ist sehr dick und er hat dabei ein schönes Vermögen
gesammelt. Er hält das ganze Jahr hindurch einige dreißig Kerle, die mit Butten auf den Rücken, oder
mit Karren voll heiliger Sermone ganz Tyrol, Baiern, Schwaben, Franken und Oesiereich durchstreifen,
und den gemächlichen Pfarrern das Futter für ihre geistliche Herde auf Jahre lang verkaufen." (Johann
Pezzl über den aus Seehausen stammenden Augsburger Verleger Rieger, 1784). Diese
Beförderungsart hatte den Vorteil, daß die Waren auf kleineren, schlechten Saumwegen leichter und
sicherer transportiert und auch abgelegene Orte und Käuferkreise erreicht werden konnten. Für das
Jahr 1790 werden in Murnau 56 Landhändler genannt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts verdrängten die
neuen farbigen Lithographien die Hinterglasbilder und es war in Murnau und Uffing in den 1860er
Jahren kein Hinterglasmaler mehr tätig. Neuer wichtiger Erwerbs- und Nebenerwerbszweig wurde der
Fremdenverkehr. Nur vereinzelt wurde die Hinterglasmalerei noch weiter gepflegt. Um die
Jahrhundertwende nahm der Murnauer Rotgerber Heinrich Rambold (1872 - 1955) die
Hinterglasmalerei auf und verkaufte nun auch an einen neuen Abnehmerkreis: die "Sommerfrischler".
In dieser Zeit wurde das volkstümliche Hinterglasbild auch von volkskundlich Interessierten im
Zusammenhang mit einer angestrebten Wiederbelebung der Volkskunst neu entdeckt.
Unabhängig davon sammelte der Murnauer Bräumeister Hans Krötz seit dem späten 19. Jahrhundert
14
Hinterglasbilder aus dem Staffelseeraum und trug bis zu seinem Tod im Jahre 1919 etwa 1.000 Bilder
zusammen.
Bei ihm lernten auch die Künstler der "Neuen Künstlervereinigung München" und des "Blauen Reiter"
diese volkstümlichen Hinterglasbilder kennen und ließen sich von diesen reizvollen Bildern anregen. Sie
begannen selbst in dieser Technik zu arbeiten und malten zunächst nach den historischen Vorbildern,
bald nach eigenen Entwürfen.
See- und Parkfeste mit Tanz und Feuerwerk im Sommer, die Seeprozession zu Fronleichnam, das
Fischerstechen im August, die König-Ludwig-Feier Ende August, die Leonhardifahrt am 6. November,
Weihnachtskonzerte und „Hoagartn“ im Advent sowie Narrentreiben im Fasching sind fest im
Brauchtumskalender des Blauen Landes verankert.
Die Leonhardifahrt
Am Tage des heiligen Leonhard am 6. November ziehen Wagen, Reiter und kleine Gruppen zu Fuß von
Murnau zur Leonhardskirche in Froschhausen, wo eine Feldmesse abgehalten wird. Danach
versammeln sich die Teilnehmer vor der Gastwirtschaft. Hier treten auch die Goaßlschnalzer mit ihren
langen Peitschen in Aktion.
Der Schäfflertanz
Murnau hatte früher 11 Brauereien und einige Schäfflerfamilien übten in Murnau ihr Handwerk aus. In
Südbayern heißen oben offene Gefäße „Schaff“ (z.B. Wasch-Schaff) wovon sich die Bezeichnung
„Schäffler“ ableitet. Die Holzteile mußten zunächst zugeschnitten werden, dann gehobelt, gekocht,
gedämpft oder erhitzt werden, um das Biegen zu erleichtern. Auch heute ist das Schäfflerhandwerk
noch lebendig, allerdings werden kaum mehr echte Gebrauchsgegenstände gefertigt sondern meist
Dekorationsstücke. Die Wurzeln des Schäfflertanzes reichen jedoch sicher noch viel weiter zurück: Der
Schäfflertanz ist einer der vielen Zunfttänze. So ist anzunehmen, daß die Aufführung des
Schäfflertanzes im Jahre 1517 in München, von dem die Überlieferung berichtet, die Fortführung eines
lange Zeit ausgeübten und nur durch die Pestzeit unterbrochenen Brauches ist. Als die Pest im
Abklingen war, traute sich wegen der Ansteckungsgefahr niemand auf die Straßen und in die
Wirtshäuser. Den Schäfflern fehlte damit die Arbeit und die Überlebenden drohten zu verhungern. Einer
von ihnen, die Überlieferung nennt ihn „Meister Martin“, sagte sich: „einer muß den Anfang machen“
und faßte den Entschluß, „den alten Zunfttanz der Schäffler wieder aufzuführen und damit die Leute
wieder aus den Häusern zu locken“. Mit Fiedel und Schwegelpfeife voran zogen sie vom Hause des
„Himmelsschäfflers“ am Färbergraben aus, um Angst, Trübsal und Gram aus den Gesichtern der
überlebenden Münchner Bürger zu vertreiben. Sie gelobten - sollte die Seuche nicht wieder auftreten den Tanz alle 7 Jahre aufzuführen um so an die Errettung aus jener schrecklichen Zeit zu erinnern.
1857 brannte fast der gesamte Murnauer Markt ab. In den beiden nächsten Jahren wurden die Häuser
wieder aufgebaut und 1859 die Mariensäule wieder aufgestellt.
Der berühmte Stummfilmregiseur Wilhelm Plumpe - Murnau (1888 – 1931) besuchte erstmals 1910 als
Student den Ort Murnau, wo Max Reinhardt William Shakespeares "Ein Sommernachtstraum" als
Freilichtaufführung im Park des Architekten Emmanuel von Seidl inszeniert. Mit der Umbenennung
seines Geburtsnamens "Plumpe" in den Künstlernamen "Murnau", die er kurze Zeit später vornahm,
bestärkte er seinen hier gefaßten Entschluß, künstlerisch neue Wege zu gehen. Murnau ging an die
Schauspielschule Reinhardts in Berlin und erschien 1912 das erste Mal in Wien auf einem
Programmzettel als "Wilhelm Murnau" in einer Inszenierung Reinhardts. „Nosferatu, - eine Symphonie
des Grauens, 1922“, ein erster Vampirfilm gilt als Meisterwerk des deutschen
Stummfilmexpressionismus. Zu seinen Künstlerfreunden gehören unter anderem die Autorin Else
Lasker-Schüler und die Maler der Gruppe Der blaue Reiter in Murnau.
15
Der Name Nosferatu wurde erstmals von der Reiseschriftstellerin Emily Gerard, der Frau eines kkOffiziers in Temesvar in dem Buch The Land beyond the Forest. Facts and Fancies from Transilvania
(Edinburgh u. New York 1888) erwähnt und mit "Untoter" übersetzt. Der Nosferatu unterscheidet sich in
vielen Dingen vom "normalen" Vampir. Im Gegensatz zum Vampir, der elegant gekleidet und sprachlich
eloquent ist, geht der Nosferatu in Lumpen gekleidet, ist kahlköpfig, bucklig, hässlich und kann kaum
sprechen. Auffällig ist auch, dass er als "Beißzähne" nicht vergrößerte Eckzähne besitzt, sondern
nagetierartig angespitzte Schneidezähne oben und unten. Klaus Kinski spielte ihn phänomenal in
Werner Herzogs Neufassung von 1979.
5 Ödön von Horváth
Literarische Inspiration bedeutete Murnau in den 1920er Jahren für den österreichisch – ungarischen
Schriftsteller Ödön von Horváth, (Edmund - ungarisch „Ödön“ - Josef von Horváth) der 1933 nach einem
Zusammenstoß mit Nationalsozialisten den Ort verließ. Ein Ausflug durch das bayerische Oberland
führten den Vater Ministerialrat Dr. Edmund von Horváth, seine Frau und die beiden Söhne Ödön und
Lajos 1920 nach Murnau am Staffelsee. Das idyllische Murnau gefiel den Horváths so gut, dass sie ein
Jahr später in der Bahnhofstraße ein Grundstück kauften. Nach eigenen Plänen ließen sie dort ein
Landhaus errichten. Im Herbst 1924 war die Villa bezugsfertig und diente neben dem Münchner Haus
als "Sommersitz". Ödön saß oft stundenlang den zahlreichen Wirtschaften des Ortes, in Biergärten und
Ausflugs-Cafés, las Zeitung, trank sein Bier, hörte den Leuten zu und machte sich Notizen. Er genoss
das außergewöhnliche Privileg, als "Zuagroaster" an den Stammtischen seiner Lieblingswirtschaften
willkommen zu sein. Er notierte sich auf losen Zetteln und in Notizbüchern Pläne, Titel, Konzepte,
Dialogfetzen. Sie bilden das Rohmaterial für seine späteren Volksstücke und Prosaschriften.
Zunächst genoss die Diplomatenfamilie in Murnau hohes Ansehen. Die Horváths waren in das Kleinstadtleben fest integriert, auch wenn man nicht so genau wusste, wovon die erwachsenen Söhne
eigentlich lebten und auch wenn sich ihr Lebensstil von dem der einheimischen Bevölkerung
unterschied. Die Horváths waren „bessere Leute“ und hatten Geld. Mehrere Bedienstete mit
Spitzenhäubchen servierten auf der Terrasse des "Herrn Baron" das Essen. Da es ihm in Murnau sehr
gut gefiel, stellte er 1927 bei der Marktgemeinde Murnau einen Antrag auf Einbürgerung. Er wollte
bayerischer Staatsangehöriger werden. Seiner Lektorin im Ullstein-Verlag erzählte Horváth: „Ich bin
Bayer, (. . .) die Eltern haben ein Gütchen in Murnau. Der Bayer, das is a Kreuzung zwischen an Aff und
an Tiroler.“ Sein Schriftstellerfreund Carl Zuckmayer bestätigte später, dass Horváth gern „in
Lederhosen und Bayernleinen herumlief“ und wunderte sich: „Höchst merkwürdig war es, dass er, in
dessen Stammbaum die ganze k. u. k. Monarchie, besonders deren östliche Völker lebten, sich völlig
aufs Bayerische stilisiert hatte, auch in seiner Sprache und Ausdrucksweise.“ Und: „Ödön neigte in
seinen jungen Jahren zu einer gewissen Dicklichkeit, was nichts ausmachte, da er hochgewachsen war.
Er war keineswegs ein großer Esser, er soff auch nicht, aber er trank gerne Bier ... Er empfand sich
selbst als einen Bayer aus Murnau, dort lebte seit einiger Zeit seine Familie, dort lebten seine Modelle auch die Dialektanklänge in seinen Stücken sind durchweg mehr bayerisch als österreichisch gefärbt.“
In Horváths erstem Bühnenwerk ging es um die schlechten Arbeitsbedingungen unter extrem harten
Witterungsverhältnissen beim Bau einer Bergbahn. Gemeint ist der Bau der Tiroler Zugspitzbahn in
Ehrwald von 1924 bis 1926. Ödön von Horváth hatte sich in Berlin als Arbeiter ausgegeben, der selbst
beim Zugspitzbahnbau gearbeitet hatte und nun das Selbsterlebte zu einem Bühnenstück geformt hatte.
Das Volksstück fand wenig Zuspruch durch die Kritik. Eine Neufassung wurde unter dem Titel „Die
Bergbahn“ 1929 in Berlin mit mehr Erfolg aufgeführt. Im Volksstück „Italienische Nacht“ vertreiben sich
die Parteimitglieder des fortschrittlichen "Republikanischen Schutzverbandes" die Zeit beim
Kartenspielen und organisieren eine harmlos-sentimentale "Italienische Nacht" mit Tanz und Theater,
16
während die Ortsgruppe der Faschisten mit Geländeübungen, militärischen Aufmärschen und einem
"Deutschen Tag" zum Umsturz der Demokratie rüstet.
Dafür bot Murnau als "Hochburg des Nationalsozialismus" reiches Anschauungsmaterial. Diesen
Namen hatten sich die ortsansässigen Nationalsozialisten 1933 selber gegeben, fühlten sie sich doch in
besonderer Weise der nationalsozialistischen Bewegung verbunden. Adolf Hitler hatte in der Murnauer
Turnhalle bereits am 6.Mai 1923 eine viel bejubelte Rede vor 2.000 (an anderer Stelle über 1000)
Zuhörern gehalten. „Noch nie sprach wohl hier in Murnau ein Mann mit solcher gewaltiger Kraft, mit
solch heiligem Feuer, noch nie spürten wohl Zuhörer die befreiende Gewißheit, dass dort oben einer
von den Seltenen, den Überragenden stand“ berichtete das Murnauer Tagblatt 1923 begeistert. Sechs
Monate später war es Julius Streicher, ein enger Vertrauter von Hitlers, der dort auftrat. Er produziert
die zügellos antisemitische Zeitung "Der Stürmer". Am 8. August 1935 verordnete der Gemeinderat
Murnau ein Badeverbot für Juden im Strandbad Staffelsee. Julius Streicher wurde am 16. Oktober 1946
gehängt. Seine letzten Worte waren: "Heil Hitler".
Sieben Blutordensträger, die am Hitler-Putsch im November 1923 teilgenommen hatten, wies der kleine
Ort auf. Überdurchschnittlich viele Murnauer wählten die NSDAP. In Murnau lebende Kriegsveteranen
und Offiziere gründeten nach dem Ersten Weltkrieg mehrere Vereinigungen national-chauvinistischer
Ausrichtung, etwa den "Verein für das Deutschtum im Auslande". Der Verbandsvorsitzende Major Pöppl
trug als ehemaliger Kämpfer in der deutschen Kolonie Südwest-Afrika - heute Namibia - auch im Alltag
seine Südwest-Kolonialuniform. Möglicherweise schnappte Horváth an einem der Stammtische den
Satz auf: "Halten Sie Ihr Maul! Und ziehen Sie sich mal das Zeug da aus, der Krieg ist doch endlich
vorbei, Sie Hanswurscht! Verzichtens lieber auf Ihre Pension zugunsten der Kriegskrüppel und
arbeitens was Anständiges."
Am 1. Februar 1931 kehrte Ödön von Horváth in der "Gaststätte Kirchmeir" (später Gasthof Traube) ein,
wo Sozialdemokraten eine Parteiversammlung abhielten. Horváth wurde Augenzeuge einer Schlägerei
zwischen sozialdemokratischen Reichsbannerleuten und Nationalsozialisten. Viele Nationalsozialisten
waren mit Bussen und mit der Bahn aus der ganzen Umgebung angereist mit dem Auftrag, diese
Versammlung zu sprengen. 26 Personen wurden zum Teil erheblich verletzt. Das "Murnauer TagblattStaffelsee-Bote" vom 2. Februar 1931 schreibt deutlich: "Die Sympathie ist hier in Murnau unbedingt auf
Seite der Nationalsozialisten." Am 20. Juli 1931 fand in Weilheim ein Prozess wegen
Landfriedensbruchs statt. Unter den Angeklagten: 26 Nationalsozialisten, die von hochkarätigen
Anwälten vertreten wurden, unter ihnen Dr. Hans Frank, Hitlers Rechtsberater und späterer
"Generalgouverneur" von Polen. Zeuge war Ödön von Horváth.
Ödön von Horváth belastete die NSDAP-Mitglieder schwer und bezog damit eindeutig Stellung gegen
die nationalsozialistische Bewegung. Der Prozess endete nach einem Revisionsverfahre mit dem
Freispruch aller Nationalsozialisten. Horváths Ansehen in Murnau war damit endgültig verspielt.
Horváths Gegnerschaft zur Murnauer NSDAP gipfelte in einem Streit zwischen ihm und SA-Männern in
seinem Stammlokal "Hotel Post". Am Abend des 10. Februar 1933 übertrug der Bayerische Rundfunk
die erste Rede des frisch ernannten Reichskanzlers aus dem Berliner Sportpalast, die von sämtlichen
deutschen Sendern übertragen wurde. Horváth fühlte sich von der bellenden Stimme Adolf Hitlers
belästigt und forderte die Bedienung auf, das Radiogerät abzuschalten. Das provozierte anwesende
Nationalsozialisten. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen. Zwei SA-Leute schafften Horváth aus
dem Lokal und brachten ihn nach Hause. Er verließ am nächsten Morgen Murnau und fuhr zunächst
nach München, dann nach Österreich. In der Villa seiner Eltern fand eine Hausdurchsuchung statt,
möglicherweise um die Familie einzuschüchtern und durch Repressalien zu vertreiben. Ödön von
Horváth musste von Österreich aus schmerzlich erkennen, dass es Murnau als Zuhause in Zukunft
nicht mehr gab. Auch seinen Eltern war der Boden in Murnau zu gefährlich geworden, und sie
verkauften die Villa im Dezember 1933. 1933/34 hielt er sich öfter über einen längeren Zeitraum in
Murnau auf, - nicht mehr in der Villa seiner Eltern, das wäre zu gefährlich gewesen, sondern im
17
Dachgeschoss des Nachbarhauses. Wieder ließ er sich von Details eines ihm vertrauten Milieus
anregen und sammelte Materialien, die er 1937 in seinem bekanntesten Werk, dem Roman "Jugend
ohne Gott", verarbeitet hat. Die Vorarbeiten - erzählerische Skizzen und das Fragment "Der Lenz ist
da!" - lassen sich bis 1933/1934 zurückverfolgen, als in Murnau die Vorbereitungen zum ersten
"Hochland-Lager" der Hitlerjugend voll im Gange war. Das Zeltlager wurde vom 4. bis 28. August 1934
in der Gegend um Aidling bei Murnau errichtet.
Sich mit Ödön von Horváths Leben und Werk zu beschäftigen, bedeutet für die Murnauer gleichzeitig
eine Konfrontation mit der braunen Vergangenheit des Ortes. Seine Volksstücke sind ein Stück
literarisches Gedächtnis des Marktes und halten ein paar Jahre Murnauer Geschichte in Erinnerung.
Doch je mehr die Vergangenheit verblasst, umso mehr lernen es die Murnauer zu schätzen, dass dort,
wo sie leben, ein Stück Weltliteratur entstanden ist. Denn welcher kleine Ort hat schon die Gelegenheit,
das, was früher dort passiert ist, auf den großen Theaterbühnen Europas immer wieder präsentiert zu
bekommen? Dass die Murnauer das alles dem "heimatlosen Ausländer" verdanken, den ihre Vorfahren
nicht einbürgern wollten, trübt den Genuss ein wenig. Horvath verließ Deutschland und reiste über viele
Zwischenstationen nach Paris. Der Roman “Jugend ohne Gott“ hat auch sein Schicksal besiegelt. Direkt
nach seinem Erscheinen 1937 sollte er verfilmt werden, und deshalb war Horváth ein Jahr später in
Paris. Er traf den amerikanischen Regisseur Robert Siodmak in einem Café, um die Verfilmung zu
diskutieren. Auf dem Heimweg wird er von einem Gewitter überrascht, ein vom Sturm losgerissener Ast
erschlägt ihn. Am Abend des 1. Juni 1938 starb er auf dem Champs-Elysees, gegenüber dem Theatre
Marigny.
1998 lehnte es der Gemeinderat ab, die einstige Hindenburg-, heute Bahnhofstraße nach Ödön von
Horvath zu benennen. Ein abgelegener Weg entlang seinem abgerissenen Haus darf nach Horvath
heißen - zur Strafe, dass er das Murnauer "Hochlandlager" der Hitlerjugend porträtiert hat und auch das
braune Murnau selbst. Ein populärer Murnauer Rodelhang trägt dagegen noch immer in Angedenken
den Namen Gottfried Feders, des Mitbegründers und führenden Wirtschaftstheoretikers der Nazipartei.
Auf dem "Thingplatz" des legendären "Hochlandlagers" der Hitlerjugend in Riegsee und Aidling bei
Murnau wies bereits im August 1934 die Losung von über 6.000 Hitlerjungen auf den geplanten Krieg
und dessen Ende „ ... es hämmert in ihnen der eiserne Wille: Wir sind zum Sterben für Deutschland
geboren". (Ehrenwand aus: Georg Pantel, Hochlandlager, München 1935)
6 Braune Hochburg
Der bekannteste Murnauer ist, wenn man von Siegfried Rauch (1932) absieht, der Sonderer Lenz.
Rauch lebt - ganze ohne Skandale - seit vielen Jahren in der Nähe von Murnau in einem Bauernhaus
mit seiner Frau Karin und diente als Traumschiff-Kapitän dem Fernsehvolk, Sonderer als NS-Charge
Adolf Hitler. Seine anhaltende Prominenz verdankt er der in hoher Auflage verbreiteten SuhrkampAusgabe von Horvaths „Jugend ohne Gott“, wo er auf dem Umschlag - als 1. von rechts, - der Murnauer
Jugend seine nordische Schönheit darbietet. Der Lehrer Lorenz Sonderer wurde 1942 Obmann des
Murnauer Verschönerungsvereines.
"Heimat bedeutet für mich, dort zu leben, wo die Wurzeln und Erlebnisse meiner Kindheit liegen", betont
der Schauspieler Rauch. "Bayern ist meine Heimat. Wo meine Sprache gesprochen wird und die Berge
vor der Tür liegen." Jedes Mal, wenn er in sein kleines Dorf in der Nähe von Murnau zurückkehrt, in
dem er sich vor vielen Jahren mit seiner Frau Karin ein altes Bauernhaus kaufte, fühle er sich "wie
umarmt. Im Spielfilm „Sommerwind“ 2000 darf er den Oldtimer polieren, ein wenig granteln und dabei
die herrliche Aussicht von Murnau genießen.
18
Murnau war früh eine Hochburg der Nationalsozialisten. Der Garmischer Bezirksamtmann Carl von
Merz klagte in einem Bericht an das Bayerische Innenministerium 1931: „Über Murnau ist die nationalsozialistische Bewegung in meinen Bezirk hereingedrungen, sie hat im gesamten Loisachtal bis
Garmisch-Partenkirchen sehr ansehnliche und feste Stützpunkte.“
Mit Veranstaltungen, auf denen über den „Kampf gegen Warenhaus, Konsumverein und
Großfilialbetriebe für Erhaltung des Mittelstandes“ gesprochen wurde, konnten die NS-Redner höchste
Zuhörerzahlen erreichen. Die „Not des Bauernstandes“ war ebenfalls ein Thema, das großen Anklang
fand. Kleinbürgerliche Emotionen sollten damals wie auch heute geweckt werden, wenn man sich
gegen „Negermusik, Jazz- und Animierkneipen“ wandte oder die lokale „Kulturschande“ geißelte, die in
der Gestalt eines schwarzen Amerikaners angegriffen wurde, der auf der Zugspitze „mit einem
Saxophon zum Tanz aufspielte.“
Berüchtigt war nicht nur die bereits erwähnte Murnauer Saalschlacht im Weinhaus Kirchmeyer in der
Schlossbergstrasse am 1. Feber 1931 (heute Hypo Vereinsbank).
Bereits am 8. November 1923 rief Adolf Hitler im Bürgerbräukeller in München an der Spitze des
Stoßtrupps die nationale Revolution aus. Am 9. November 1923 folgte das Verbot der NSDAP und SA
durch Generalstaatskommissar von Kahr. Beim Feuerüberfall an der Feldherrnhalle in München auf den
nationalsozialistischen Demonstrationszug wurden 14 Nationalsozialisten und 3 Polizisten erschossen,
es gab viele Verletzte unter ihnen Göring, der nach Innsbruck flüchten konnte. Hitler wurde durch
seinen ständigen Begleiter Ulrich Graf, der schwer verwundet wurde, gedeckt und deshalb nicht
getroffen. Vom tödlich verwundeten Scheubner-Richter zu Boden gerissen, trug er eine schwere
Schultergelenkverletzung davon. Der verletzte und verwirrte Hitler wurde vom obersten SA-Arzt Dr.
Walter Schultze ins Murnaunahe Uffing am Staffelsee, in die Villa von Ernst Hanfstaengl gebracht.
„Putzi“ Hanfstaengl war 1923 ebenfalls am gescheiterten Hitlerputsch beteiligt gewesen und flüchtete
nach Salzburg. Hanfstaengls Ehefrau Helene hat Hitler im Landhaus in Uffing versteckt, wo er am 11.
November 1923 von einem großen Polizeiaufgebot verhaftet und zur Festung Landsberg am Lech
gebracht wurde. Als der aus Münchner Bierkellern aufgestiegene Führer, 1907 und 1908 mangels
Begabung von der Wiener Kunstakademie abgelehnt, 1923 zum Sturm auf die Feldherrnhalle rief,
strömten viele in die nahe „Hauptstadt der Bewegung“. Ihr Führer wurde in „Ehrenhaft“ genommen und
brachte in Landsberg in acht Monaten durch seinen Sekretär Rudolf Hess seinen „Mein Kampf“ aufs
Papier.
Garmisch-Partenkirchen ist nicht weit. Hier sind die Hinterlassenschaften der NS-Zeit noch heute
deutlich zu sehen und viele Einwohner sind stolz darauf: Das Olympiastadion mit den kraftstrotzenden
Germanen-Figuren ist beliebtes Ausflugsziel. Hier feierten die Nazis 1936 mit den Winterspielen die
Generalprobe für die große Propaganda-Show der Olympischen Spiele in Berlin. Bevor die
internationalen Athleten eintrafen, hatte man die „Juden raus“-Schilder rund um Garmisch vorsorglich
abmontiert. In einem Brief an das Bezirksamt im Mai 1929 wies der Sprecher des GarmischPartenkirchner Hotel- und Gaststättengewerbes und Besitzer des Hotels "Sonnenbichl", Georg Bader
darauf hin, daß "zur Zeit wieder Bestrebungen im Gange" seien, "die Ereignisse vom November 1923
zu wiederholen ... in unserem schönen Werdenfelser Land greift die Bewegung, ausgehend von Murnau
und Oberau, immer stärker um sich ... Es dürfte dem Bezirksamt Garmisch nicht unbekannt sein, daß
die antisemitische Hetze dieser Kreise es mit sich brachte, daß in allen deutschen und außerdeutschen
jüdischen Blättern vor einem Besuch in Bayern gewarnt wurde, es ist auch damit erreicht worden, daß
das jüdische Publikum sich vollkommen zurückgezogen hat."
Nach Auftritten des damaligen Reichstagsabgeordneten Heinrich Himmler in Wallgau in Partenkirchen
im "Werdenfelser Hof", in denen der spätere Organisator des Massenmords "die Versammelten zum
Kampf gegen das Judentum" aufforderte, verschärfte der Verein für das Gastgewerbe am Jahresbeginn
1931 seinen Kampf gegen die NSDAP. Vorsitzender Georg Bader protestierte energisch gegen Plakate
der NSDAP mit der Aufschrift "Juden haben keinen Zutritt". Im Februar 1932 jubelten über 700 Zuhörer,
19
als Landrat Adolf Wagner in einer Rede in Garmisch feststellte, "daß im deutschen Staat Menschen
herumlaufen, die stinken, daß diese Menschen im Staat kein Recht haben." Der Garmischer
Marienplatz trug von 1934 bis 1945 den Namen dieses Mannes. Ein Innsbrucker NS-Redner sprach im
März 1932 in Garmisch vor rund 300 Zuhörern. Die Polizei berichtete darüber: "... sein Hauptvortrag war
die Judenfrage, die nach seinen Ausführungen alle aufgehängt
gehören, wobei er bei den Zuhörern große Begeisterung
auslöste." Adolf Hitler selbst besuchte Murnau neuerlich
vielbejubelt am 13.August 1934 auf dem Weg zu den
Oberammergauer Passionsspielen, der außerhalb des
Zehnjahres-Rhythmus zum 300-jährigen Jubiläums gespielten
Passion. Joseph Goebbels lobte das Spiel als ein Stück
"wahren Volkstums", das Gedanken der antijüdischen
Ideologie des Nationalsozialismus enthalte. (Ludwig Utschneider:
Oberammergau im Dritten Reich 1933-1945, 160 Seiten, Schriftenreihe
des Historischen Vereins Oberammergau 1999) In "Hitlers
Tischgesprächen" macht Henry Picker deutlich, was dem
Führer am frommen Spiel so gefiel: "Denn kaum je sei die
jüdische Gefahr am Beispiel des antiken römischen Weltreichs
so plastisch veranschaulicht worden wie in der Darstellung des
Pontius Pilatus bei diesen Festspielen, erscheine dieser doch
als ein rassisch und intelligenzmäßig so überlegener Römer,
dass er wie ein Fels inmitten des jüdischen Geschmeißes und
Gewimmels wirke."
Reichspräsident und „Führer“ Hitler wurde 1933 bereits
Murnauer Ehrenbürger des sich selbst gerne als
nationalsozialistische Hochburg seit 1923(!) und gar als
„nationalsozialistischer Kurort“ bezeichnete.
Alljährlich kommen Tausende Gebirgsjäger zum Pfingsttreffen bei Mittenwald. Während unter den zwei
riesigen Stelen des Gebirgsjäger-Denkmals Abgeordnete, Landrat, Bürgermeister und Pfarrer sprechen,
schwoll so manchem Veteranen die Brust unter den sichtbar getragenen Hakenkreuz-Orden, von einem
Kamerateam des Westdeutschen Rundfunks (WDR) gefilmt, aber sonst niemandem aufgefallen, - bis
heute! Die Mittenwalder Karwendel-Kaserne, in der bis heute die Gebirgsjäger untergebracht sind, hieß
bis 1995 Kübler-Kaserne - nach dem Generalmajor der Wehrmacht Ludwig Kübler. In Jugoslawien
wurde der Gebirgsjäger-General nach dem Krieg zum Tode verurteilt, denn Kübler war ein brutaler
Partisanenjäger, bekannt geworden unter dem Namen "Bluthund von Lemberg". Im Herbst 1943
richteten auf Kephallonia, einer Insel im Westen Griechenlands Truppen der 1. Gebirgsjägerdivision aus
Mittenwald ein Blutbad an, massakrieren mindestens 4000, eher aber 5300 italienische Soldaten. Adolf
Hitler hatte angewiesen, die Truppen dürften "keine italienischen Gefangenen" machen – da der
Verbündete einen Waffenstillstand mit den Alliierten geschlossen hatte. Die Deutschen metzeln ihre
Gegner nieder, als die sich längst ergeben hatten. Im Rahmen der jährlichen Gedenkfeier findet
abschließend ein traditionelles "Schweinebratenessen" der Gebirgssoldaten im Postkeller in Mittenwald
statt.
Aber auch Christof „Christl“ Probst wurde 1919 in Murnau am Staffelsee in der Kohlgruber Straße 20
geboren, war Student der Medizin und Mitglied der Weißen Rose. Probst verteilte Flugblätter gegen die
Kriegspolitik der Nazis und gehörte mit den Geschwistern Scholl, Willi Graf und Alexander Schmorell
zum engsten Kreis.
„... Im Namen der deutschen Jugend fordern wir vom Staat Adolf Hitlers die persönliche Freiheit, das
kostbarste Gut des Deutschen zurück, um das er uns in der erbärmlichsten Weise betrogen ...“ Sie
wurden zusammen mit Christoph Hermann Probst vom Volksgerichtshof unter der Leitung von „Henker“
Roland Freisler zum Tode durch das Fallbeil (Guillotine, eingedeutscht „Fallschwertmaschine“)
20
verurteilt. Dieses Sondergericht hatte eine „volkshygienische Aufgabe“, so Reichsjustizminister
Thierack, es sollte die „Seuchengefahr“ bannen und im typisch nationalsoziaistischen Vokabular: Es
komme darauf an, "den gesunden Körper unseres Volkes unter allen Umständen unversehrt und kräftig
zu erhalten". Dementsprechend sei es nicht Aufgabe des Gerichtshofs, Recht zu sprechen, sondern die
Gegner des Nationalsozialismus zu vernichten. Der berüchtigte Berliner Freisler führt gegen die
Angeklagten Schauprozesse, in denen er unter Mißachtung aller juristischen Formen zum Blutrichter
des Systems wurde. Der cholerische Großinquisitor des dritten Reiches, wollte den, der vor ihm stand,
nicht nur vernichten - er wollte auch seine Würde zerstören. Hausmeister Jakob Schmied: Heil Hitler!
Als ich nach der Mittagspause meine Arbeit antreten wollte, sah ich ein Blatt Papier auf einem
Steinsockel liegen. Bei näherem Hinsehen erkannte ich ein volksverhetzendes Flugblatt. Augenblicklich
hielt ich Ausschau nach weiteren Schmähschriften gegen unseren geliebten Führer. Gerade in der
Universitätshalle angekommen, schaute ich zufällig zur Galerieempore hinauf und entdeckte zwei mir
unbekannte Personen, die die gleichen verleumderischen Zettel hinunterwarfen. - Dort sitzt das Pack. Da gerade Vorlesungsschluss war, behinderte mich eine große Studentenschar. Dennoch konnte ich
zum Glück die Verräter stellen, denn solche Menschen dürfen nicht unbestraft davon kommen. Als
Volksgetreuer habe ich nur meine Pflicht erfüllt. Sieg Heil!“
Freisler:„Herr Schmied, Sie haben sich absolut vorbildlich verhalten. Es wäre wünschenswert, wenn es
mehr Menschen Ihres Kalibers hätten, die unseren Führer Adolf Hitler in so vorbildlicher Weise
unterstützen. Ich danke Ihnen. Sie können gehen.“
Das Urteil wurde noch am 22. Februar 1943 im Gefängnis Stadelheim vom Henker Johann Reichhart
vollstreckt, jenem Scharfrichter, der die meisten Hinrichtungen aller Zeiten vollzog. Christof Probst
durfte seine Familie nicht mehr treffen. Er spricht mit einem Pfarrer und läßt sich in articulo mortis - im
Angesicht des Todes - katholisch taufen. Das Grab befindet sich auf dem an den Hinrichtungsort
angrenzenden Friedhof "Am Perlacher Forst". Christoph Probst war verheiratet und Vater von drei
Kindern. Vater Hermann Probst war Privatgelehrter und Sanskritforscher in Murnau, pflegte Kontakte
mit Künstlern, die im Nationalsozialismus als "entartet" galten und heiratete nach der Scheidung von
seiner ersten Frau eine Jüdin. Probst war Unteroffizier in der Luftgausanitätsdienstabteilung München
und zum nebendienstlichen Medizinstudium ab Dezember 1942 in Innsbruck, - wohnhaft in Aldrans und ins Luftwaffen-Sanatorium in Eibsee befohlen. Er war von seiner Frau Herta Probst (geb. Dohrn),
und den Söhnen Michael und Vincent (Tochter Katja wurde erst 1943 geboren) öfters durch Studium
und Dienstzeit getrennt. Während seines Studiums in Innsbruck konnte er sie in Lermoos unterbringen
und öfter besuchen. („Seit wann sind Sie mit dem Student der Medizin Christof Probst aus Lermoos bei
Garmisch bekannt und in welchem Verhältnis standen Sie zu ihm?“ (aus Verhörprotokoll Sophie
Scholl)). „... Angesichts des heroischen Kampfes des deutschen Volkes verdienen derartige verworfene
Subjekte nichts anderes als den raschen und ehrlosen Tod." berichtete die Zeitung in München. Am 3.
Februar 1945 wurde Roland Freisler selbst auf dem Weg in den Berliner Luftschutzkeller von einem
herabstürzenden Balken getroffen und erschlagen.
Noch am 29. April 1945, wenige Tage vor dem Kriegsende in Europa, wurde im Perlacher Forst Harald
Dohrn erschossen, das letzte Opfer aus der Widerstandsgruppe "Weiße Rose".
Der Naziideologe und Wortführer der Frühzeit Dipl.-Ing.Gottfried Feder hat sich in Murnau am Eichholz
angesiedelt. Am 27. Februar 1925 wurde die NSDAP bei einer Versammlung im Münchner
Bürgerbräukeller neu gegründet. Zu den Anwesenden gehörten von den wenigen verbliebenden
Getreuen Hitlers unter anderem Julius Streicher, Gottfried Feder und Hermann Esser. Hitler hat es in
den wenigen Wochen nach seiner Haftentlassung geschafft, dass Verbot der NSDAP in Bayern
aufzuheben. Feder, Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium und Reichskommissar für das
Siedlungswesen hatte am Hitlerputsch 1923 teilgenommen und verfasste etwa 1927 "Das Programm
der NSDAP und seine weltanschaulichen Grundlagen" oder auch 1933 die antisemitischen Hetzschrift
"Die Juden“ in Murnau, starb jedoch bereits im September 1941 in Murnau. Von Feder stammt der
Spruch „Brechen der Zinsknechtschaft“, den sich Hitler später, angereichert um das Wort „jüdisch“ zu
Eigen gemacht hat. Ein Rodelberg in Murnau trägt noch heute seinen Namen, der Federberg.
21
Der NS-Liedschreiber und Jugendbuchautor Hans Baumann (1914 - 1988 Murnau) schrieb Lieder für
die Hitler-Jugend, SA und BDM wie etwa 1932 das berühmt berüchtigte SA-Kampflied „Es zittern die
morschen Knochen .. denn heute gehört (da hört) uns Deutschland und morgen die ganze Welt“ (in der
Urfassung gehört, später gemäßigter „da hört“ aus Hans Baumann, Horch auf Kameraden, Ludwig
Voggenreiter Verlag, Potsdam, 1934). Der Hauptreferent und Sachbearbeiter für Jungvolkfragen im Amt
für weltanschauliche Schulung beim Reichsjugendführer Baldur von Schirach und spätere Referent für
auslandsdeutsche Kulturarbeit im Kulturamt, Hans Baumann, empfing für seine Bücher im Reich und
auch noch danach viele Ehrungen.
Max Dingler gründete 1932 eine Kulturgemeinde Murnau, seine Großeltern hatten ein Haus hier. Max
Dingler (1883-1961) war Zoologe - „Käferforscher“ genannt - und Nazi. Wie Herbert von Karajan trat er
gleich zweimal in die NSDAP ein: 1922 und 1933. „Hitler -- es wäre schmählich, das zu leugnen -faszinierte uns", so Dingler. Er engagierte sich in der "Bewegung", gründete mit anderen die
Ortsgruppe Murnau der NSDAP. Am 15. Dezember 1922 sprach er mit Hitler persönlich "unter vier
Augen" und gelobte ihm "die Treue in die Hand". Beim "Hitlerputsch" am 8. und 9. November 1923 war
Dingler in München "an seiner Seite". zu finden. 1938 wurde er dafür zum Professor ernannt. 1945
verfasste er "In Trauer und Schmach" gerade zu Beginn eher von gekränkter Eitelkeit, Enttäuschung
und Wut geprägt. Hier werden die Amerikaner als "Vampire" bezeichnet, die "lang das Blut aus unsern
Adern sog[en]"; die "deutschen Mädchen und die Frauen" seien zu "feilen Huren" geworden; überhaupt
sind die Deutschen "kein Volk der Ehre, Nur Gemisch von schlechtem Samen" und, getreu der Meinung
Hitlers, gingen sie denn auch verdient unter. Er wurde durch die amerikanische Militärregierung seiner
Ämter enthoben und 1948 in den Ruhestand versetzt. Zu jener Zeit widmete sich Dingler vor allem der
Mundartdichtung, Übersetzungen, Kinderbüchern und dem Naturschutz. 1953 wurde er Murnauer
Ehrenbürger. Als ein Murnauer Lehrer dagegen Einspruch erhob, dass nach dem "Alten Kämpfer" 1980
die Murnauer Hauptschule benannt wurde, wurde dieser mit einem Themenwagen beim Faschingszug
öffentlich angegriffen!
Viele braune Maler hatten auch die Schönheiten der Landschaft entdeckt, etwa Wolf Bloem (1896-1971)
aus München mit „Staffelsee im Mondlicht“ oder „Vorfrühling bei Lermoos“ beide 1944 im Haus der
Deutschen Kunst gezeigt.
Der Kemmelpark ist mit fast 14ha das größte Areal der Gemeinde. Er ist benannt nach der früheren
Gebirgsjägerkaserne. Ein Oberst Kemmel? Kein Oberst, eine Anhöhe im belgischen Westflandern.
1914 überfielen deutsche Truppen das neutrale Belgien, setzten hier zum ersten Mal in der
Kriegsgeschichte Giftgas ein, massakrierten über 5500 Zivilisten, Frauen und Kinder und Geistliche,
trieben Zivilisten bei Angriffen als “menschliche Schutzschilde“ vor sich her verschleppten 60 000
Belgier als Zwangsarbeiter nach Deutschland und verbrannten die Städte Dinant und Loewen. Die
bayerische Artillerie schoss dabei ruhmreich mit: - eben am Kemmelberg. Murnau gedenkt der
Heldentaten von damals, indem es seine neuesten Wohnanlagen den Kanonieren von damals weihen
wollte.
In den 1930er Jahren erfolgte die Errichtung von zwei Kasernen. 1938 die Kemmelkaserne (früher
Artilleriekaserne) und 1939 die Werdenfelser Kaserne (früher Panzerjägerkaserne) an der B2 am
nördlichem Stadtrand von Murnau. Diese diente von 1939 bis zum Kriegsende als
Kriegsgefangenenlager (Oflag VII A) für über 5.000 polnische Offiziere. Beide Kasernen stammten von
Architekt Prof. Sep (Joseph) Ruf (1908 – 1982), der ausgerechnet in der Münchner Giselastraße 23
werkte. Beide Bauten werden in den Biografien des anerkannten Architekten nicht erwähnt.
Unter Regie der „Bauleitung der Waffen-SS und Polizei“ arbeiteten Dachauer Außenkommandos in
Fischbachau und Fischhorn (bei Salzburg), in Garmisch-Partenkirchen und Gmund am Tegernsee, in
22
Hallein, am Plansee, in Markt Schwaben und München-Oberföhring, in Nürnberg und Oberstdorf, und
auch in Seehausen bei Uffing am Staffelsee. Auf der Halbinsel Burg im Staffelsee errichtete die SS
1944 ein Außenlager des KZs Dachau mit zwei Baracken für je 65, später bis 300 Häftlinge. Die mußten
für die „Feinmechanische Werkstatt Dr. Jung; Seehausen-Dachau“ ein Zielfernrohr zusammenbauen,
das Dr. jur. Karl Jung "Oberführer (=Oberst) ehrenhalber" der SS entwickelt hatte. Jung (1883-1965)
war "Reichsamtsleiter" von Rüstungsminister Albert Speer, Träger von Ehrendegen des RFSS,
Totenkopfring der SS und durfte in seinem KZ auch gleich die SS-Wache kommandieren. Im
Heimatmuseum Seehausen sind Hinterglasbilder und Renken und Schleien zu bestaunen, nicht aber
der geringste Hinweis auf diese besondere Einrichtung, die die Einwohner Seehausens tagtäglich vor
Augen hatten.
2006 findet sich im Murnauer Burggraben ein „Sturmversand“-Laden mit Internetversand eines Matthias
Polt bzw. Martina Hanker, etwa mit der Marke „CONSDAPLE“, - Shirts, in deren Namensmitte NSDAP
auf der Brust sichtbar wird, wenn unter einer offenen Jacke getragen. Ebenso Flaggen mit „Türken
raus“, "Division 88" oder "Schwarze Sonne" und allerlei musikalische Feinheiten der rechten Szene.
Bürgermeister und Staatsschutz seien laut dem Murnauer Tagblatt bereits beim Betreiber "vorstellig"
geworden, bezüglich einer Kündigung der Konzession durch die Marktgemeinde Murnau. Das Motto für
Demonstrationen und Neonazikundgebungen im Sturmversand lautete: "Die Provinz einheizen!",
"Murnau wir kommen" und "Schluss mit lustig" waren die Parolen zum Aufruf für Treffen in Murnau. Der
Merkur titelte 2006 über Kundgebungen bei Sonderverkäufen: "Rechtsextreme: „Nächstes Treffen
schon geplant" - Murnau wird den "braunen Spuk" nicht los.....
7 Gabriele Münter
Malerin (1877 Berlin - 1962 Murnau)
In Berlin geboren als Tochter eines „amerikanischen Zahnarztes“ (ihr Vater hatte während seiner
Zeit in den USA dort als Zahnarzt gearbeitet). In Deutschland war es gerade die Zeit, als es
schlichtweg zum Prestige gehörte, von einem solchen „amerikanischen Zahnarzt“ behandelt zu
werden. Ihre Mutter, eine deutschstämmige Amerikanerin, eine geborene Siedlerfrau, derb mit
einem unendlich großen Herz, fühlte sich in Deutschland nie richtig wohl. Der Familie ging es
relativ gut, bis die Stimmung gegen die amerikanischen Ärzte umschwenkte. Es war
herausgekommen, dass in Amerika vom Küchenjungen bis zum Goldwäscher alle plötzlich
Zahnärzte wurden. Gabriele Münter reist nach dem Tode ihrer Eltern zu ihrer Tante in die USA,
bleibt dort einige Jahre, kehrt nach Deutschland zurück, beginnt sich mit Kunst beruflich
auseinanderzusetzen, malt. Sie tritt in die „Phalanx“-Schule in München ein, wo Kandinsky ihr
Lehrer ist. Es entwickelt sich die tragische Liebesbeziehung, die menschlich 1916 endete, aber
kunstgeschichtlich Meilensteine setzte: den Blauen Reiter und Kandinskys Weg zur Abstraktion.
23
Gabriele Münter 1906, malend bei Kochel 1902
Der größte Teil des Lebens dieser Mitbegründerin des "Blauen Reiter" stand im Zeichen einer
unglücklichen Beziehung zu ihrem Lehrer Kandinsky. 1897 hatte sie ihre erste Ausbildung an einer
Düsseldorfer Damen-Kunstschule bekommen, von der sie auf die Schule des Künstlerinnen-Vereins in
München überwechselte (1901-02). Von dort ging sie hinüber zur „Phalanx“ -Malschule, an der Wassily
Kandinsky Aktzeichnen unterrichtete („Abendakt“). Im Sommer 1902 folgt ein Malurlaub mit der
Malklasse Kandinsky in Kochel. Das Malen in freier Natur war ein wichtiger Bestandteil des
Malunterrichts Kandinskys, mit dem sie sich 1903 verlobte. Nach umfangreichen Reisen ließen sie sich
später in ihrem Haus in Murnau nieder, das anders als ihre ehemalige Münchner Wohnung, in der sie
regelmäßig von Marc, Macke, Klee, Jawlensky und dessen Freundin Marianne von Werefkin besucht
worden waren, zu einem Refugium wurde, in dem beide ungestört arbeiten konnten. Diese Idylle
unterbrach der Krieg; Kandinsky musste 1914 das Land verlassen. Die Entwicklung Kandinskys von der
figurativen zur reinen abstrakten Malerei hat Gabriele Münter nicht nachvollzogen. In all ihren Werken
blieb sie gegenständlich, bis in die Farbgebung. Allerdings brachte sie die Farbe häufig als Fläche auf
das Bild, wie es auch die Fauves und die Expressionisten des öfteren taten. Selbst ein Werk wie "An
der Staffelei" (um 1910), das wie ihr zauberhaftes Bildnis "Kandinsky am Tisch" (1910/12) nur aus
Farbblöcken zu bestehen scheint, ist bei aller Reduktion noch realistisch. Kurz vor ihrem Tode stiftete
sie (1957) der Galerie im Lenbachhaus (München) ihren gesamten Besitz an Kandinsky-Gemälden und
einen Teil ihrer eigenen.
Gabriele Münter: Kandinsky bei Tisch mit Erma Bossi 1912
Der mit seiner erhobenen Rechten dozierende Kandinsky sitzt in Lederhose und Wadenstrümpfen auf
einer Eckbank seiner Malerkollegin Erma Bossi am Kaffeetisch gegenüber. Was genau Gegenstand
dieser Unterhaltung gewesen sein mag, bleibt unseren Vermutungen überlassen – der feine Zynismus
der Malerin entgeht jedoch nicht. Kandinsky, der in schulmeisterhafter Pose das Pendant zu der
24
aufmerksam folgenden Erma Bossi bildet, wird mit sicherem Blick eingefangen. Erma Bossi (etwa 1885
– 1960, Erminia - Erma Barrera - Bossi) war auch Künstlerin aus Pula (Istrien, kuk österreichisch, nach
dem Krieg italienisch) und war in der "Neuen Künstlervereinigung München" (NKVM). 1910 lebt sie in
Paris und besuchte immer wieder München und Murnau. Die Einladungen zu den alljährlich
stattfindenden "Salons des Indépendants" und "Salons d'Automne" und zu den Münchner Ausstellungen
der "Neuen Künstlervereinigung" bringen die Künstlerin mit der internationalen Avantgarde und den
künstlerischen Neuerungen des befreundeten Künstlerpaares Kandinsky-Münter in Kontakt. Auch wenn
Bossi nicht zur Avantgarde gezählt werden kann, so gilt sie in der Kunstgeschichte doch als eine
wichtige Vertreterin der Moderne. Die biographische Daten Erma Bossis sind jedoch recht ungesichert.
Einen Rekordpreis erzielte kürzlich Bossis Stilleben „Nature morte à la carafe“ 1912, flächig in
expressiver Farbigkeit. Für das seltene Ölgemälde mit musealem Charakter wurden 55.000 Euro
bezahlt. (Ketterer - Das Porträt „Kandinsky und Erma Bossi am Tisch“ von Gabriele Münter erzielte
allerdings unglaubliche 954.000 DM)
“Erma Bossi will nicht das äußere Bild von Paris wiedergeben. Sie verwandelt die Dinge, Häuser und
Bäume in große vereinfachte Formen, deren Farben in einer ausgewogenen, feierlichen Harmonie
zusammenklingen.” (Sello); Ausstellungen: Paris, Mailand; 1930/35 Venedig, Biennale; Nur 8 Bilder sind
bekannt geblieben. Etwa das 1910 “Bildnis »Marianne von Werefkin” (Abbildung Salmen4).
Am Anfang des vorigen Jahrhunderts haben sich viele Künstler hier in Oberbayern vor den Toren
Münchens sozusagen getroffen, die vom Atelier weg und in die Natur hinaus strebten und innerhalb von
wenigen Jahren in der Kunstgeschichte Epoche gemacht haben. "Der Blaue Reiter", zwischen Murnau,
Sindelsdorf und Kochel aus der Taufe gehoben, gilt als eine der bedeutendsten künstlerischen
Bewegungen des 20. Jahrhunderts. Ihre kreativen Köpfe, Franz Marc und Wassily Kandinsky, kannten
sich schon von München her, haben sich aber erst hier richtig zusammengefunden - eine
schicksalhafte Begegnung!
Die Heimatgefühle, die Franz Marc für Kochel hegte, gehen auf frühe Kindheitserinnerungen zurück,
als die Familie hier Ferien machte und Vater Wilhelm Marc auch schon auf Motivsuche war. Von 1904
an - in München besaß er nun ein eigenes Atelier - ist Franz Marc Jahr für Jahr nach Kochel
herausgefahren. Viele der in dieser Zeit entstandenen Studien und Aquarelle sind im Kocheler Franz
Marc Museum zu sehen. Fünf Jahre später zog er ganz heraus in sein geliebtes "Blaues Land", nach
Sindelsdorf am Rande des Loisachmooses. Hier entstanden die meisten der Werke, die ihn
weltberühmt gemacht haben. In Sindelsdorf sind Marc und seine Frau Maria wiederholt von Kandinsky
und dessen Freundin Gabriele Münter besucht worden, die von Murnau, sozusagen als Nachbarn,
herüberkamen. Auch Kandinsky kannte die Gegend um Kochel schon länger. Im Sommer 1902 war er
mit seinen Malschülerinnen hier unterwegs gewesen, um, wie man damals sagte, zu “landschaftern".
Gabriele Münter war mit von der Partie
Münter und Kandinsky ziehen 1909 gemeinsam in das Rückgebäude der Ainmillerstraße 36 in
Schwabing, wo sie bis zum Ausbruch des Krieges leben. Im August erwirbt Münter ein Haus in Murnau.
Gemeinsam hat das Künstlerpaar eine ungemein fruchtbare Zeit in Murnau verbracht, wo Kandinsky
sich in eine neu gebaute kleine Villa verliebt hatte und seine Freundin "mit sanftem Druck" genötigt
hatte, diese zu erwerben. Nach unruhevollen Jahren der Trennung zogen sie nun in ihr erstes
gemeinsames Haus, obwohl Kandinsky bis dahin, wie ein Freund beobachtet hatte, seine Gabriele
immer am meisten liebte, wenn sie nicht in der Nähe war. Er hat seine Entscheidung nicht bereuen
müssen. Sie ist zur Grundlage einer schöpferischen Phase geworden, wie die Kunstgeschichte sie nur
selten verzeichnet hat. Gemeinsam arbeiteten und experimentierten sie. Doch in erster Linie ist es
Kandinsky gewesen, der die stimmungsvolle Landschaft um Murnau zum Ausgangspunkt für die neue
Malerei gemacht hat. Das geheimnisvolle Blau der Berge im Föhnlicht wird zum dominierenden Motiv
25
dieser Bilder, in denen die Farbe nicht beschreibend, sondern frei, expressiv und großflächig
eingesetzt wird.
Zu den beiden stößt ein anderes Paar: Alexander Jawlensky und Marianne von Werefkin, Schwabinger
russischer Abstammung, sind ebenso an der Weiterentwicklung der Malerei interessiert, speziell an
Kandinskys theoretischen Überlegungen, die auf die Befreiung der Farbe von den Gegenständen
abzielen. Die Bilder, die alle vier Künstler in den Jahren vor dem Weltkrieg malen, sind kaum
voneinander zu unterscheiden, und das ist auch beabsichtigt; ähnlich "austauschbar" malten zur
gleichen Zeit die Kubisten Picasso und Braque. Man porträtierte einander auf den gemeinsamen
Unternehmungen: Marianne Werefkin, aufrecht in den Bergen sitzend, mit dem typischen, extravagant
großen Hut, neben ihr Jawlensky, die Münter anschauend. Oder, Kandinsky im Ruderboot stehend,
während die Werefkin - mit dem schwarzblauen Hut - rudert.
Gabriele Münter Marianne v. Werefkin und Alexej v. Jawlensky 1908, Kandinsky am Schiff 1910
Und immer wieder der Blick aus dem neuen Haus - von den Murnauern "Russenhaus" genannt - auf die
Berge im Süden und auf den Ort mit Schloss, Eisenbahnlinie und den alles überragenden Kirchturm.
Der wird in Kandinskys sich immer weiter entwickelnden Bildern bald zum einzigen erkennbaren Symbol
inmitten der abstrahierenden Farbkompositionen.
Gabriele Münter Murnau 1910, Wassily Kandinsky Murnau 1910
Seit einigen Monaten heißt das "Russenhaus" offiziell "Münter-Haus". Nach alten Plänen gründlich
renoviert, vermittelt es heute wieder einen Eindruck vom gemeinsamen Leben Münters und Kandinskys
in der Zeit von 1909 bis 1914. Schaut man aus den Fenstern des Obergeschosses, wo Kandinsky sein
Atelier hatte, auf Murnau und Umgebung, ist manches vertraute Motiv noch zu erkennen. Auf der
Südseite freilich lässt dichtes Laubgrün die Moorlandschaft des Murnauer Mooses und die Bergkette
26
dahinter nur ahnen. Dabei fällt auf, dass die Maler sich offenbar weniger für den dramatischen
Talschluss des Zugspitzmassivs interessiert haben als für die eher bescheidenen Erhebungen des
Estergebirges.
Etwa acht Kilometer Luftlinie sind es von Murnau nach Sindelsdorf. Querfeldein wird Kandinsky, wenn
er seinen Kollegen und Geistesverwandten Marc besuchte, mindestens zwei Stunden unterwegs
gewesen sein. Zeitweilig hatten Kandinsky/Münter wohl auch ein Auto. In jedem Fall war der Weg von
hier nach dort keine verlorene Zeit. Während einer dieser Kaffeebesuche zündete der Funke. Lapidar
schreibt Kandinsky über eine Sternstunde der neueren Kunst, die Geburt des "Blauen Reiter": "Wir
erfanden ihn am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf. Beide liebten wir Blau. Marc liebte
Pferde, ich Reiter. So kam der Name von selbst."
„ .. in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen ...“ (FM 1911)
Wassily Kandinsky Lanzenreiter in Landschaft 1908, Franz Marc Pferd 1911
Münter ist mit eigenen Werken an den beiden Ausstellungen und dem Almanach des "Blauen Reiter"
beteiligt. Sie sammelt lokale, meist religiöse Volkskunst, die sie zu Stilleben arrangiert und in
mystifizierenden Bildern wiedergibt. Nach Beginn des Ersten Weltkriegs flieht sie 1914 mit Kandinsky in
die Schweiz und trennt sich dort von Kandinsky, der nach Rußland zurückkehrt. Sie reist über München,
Berlin und Kopenhagen nach Stockholm. Dort findet 1915 ein letztes Treffen mit Kandinsky statt, Münter
bleibt bis 1917 dort und dann in Kopenhagen. Kandinsky teilt Münter 1916 mit, daß er sich endgültig
von ihr trennt. In ihrer skandinavischen Periode schafft Münter zahlreiche Portraits und stellt mehrfach
aus, jedoch ist die Zeit auch von ihrer prekären finanziellen Lage und großer Einsamkeit bestimmt. Ab
1920 wohn sie abwechselnd in Köln, München und Murnau. Kandinsky kommt 1921 aus Moskau
zurück. Als er seine bei Kriegsausbruch in München und Murnau zurückgelassenen Werke bei Münter
einfordert, kommt es zu einem Rechtsstreit zwischen beiden, der sich bis 1927 hinzieht und an dessen
Ende Kandinsky ihr das Eigentumsrecht an diesen Bildern einräumt. Aufgrund von Depressionen hört
sie vorübergehend auf zu malen. Bleistiftporträts weiblicher Modelle in knappen Umrißlinien entstehen
ab 1925 in Berlin. Ein Paris-Aufenthalt 1929 gibt ihrem künstlerischen Schaffen neue Impulse.
Münter läßt sich mit ihrem zweiten Lebensgefährten 1930 endgültig in Murnau nieder. Es entstehen
Blumenstilleben und abstrakte Studien in Öl. 1937 erfolgt ein Ausstellungsverbot durch die
Nationalsozialisten. Sie versteckt die in ihrem Besitz befindlichen Werke Kandinskys vor den
Nationalsozialisten und rettet sie somit vor der Vernichtung. Nach dem Krieg ist sie ist mit neun Arbeiten
auf der ersten Ausstellung des "Blauen Reiter" nach dem Zweiten Weltkrieg im Münchner Haus der
Kunst vertreten. 1957 übergibt sie die noch in ihrem Besitz befindlichen Werke Kandinskys und anderer
Mitglieder des "Blauen Reiter" sowie eigene Bilder der Städtischen Galerie im Lenbachhaus in
München. Am 19. Mai 1962 stirbt Gabriele Münter mit 85 in Murnau.
27
Noch im Januar 1957, fünf Jahre vor ihrem Tod, schrieb die beinahe achtzigjährige Gabriele Münter die
Erinnerung an ein Bild nieder, das ihr besonders wichtig war. Das 1908 entstandene Gemälde Der
blaue Berg, dessen große Ausführung inzwischen verschollen ist, verbindet sich für die greise
Künstlerin mit einem besonderen Erlebnis: „Jawlensky war auf der Kohlhuber Landstraße
zurückgeblieben u. malte- ich war noch weiter gegangen bis ich ein Stück rechts ab zu Löb nach oben
abbog. Da sah ich von oben das Gasthaus Berggeist liegen u. wie der Weg aufsteigt u. dahinter den
blauen Berg und rote Abendwölkchen am Himmel. Ich schrieb das Bild, das sich mir bot, schnell hin.
Dann war es mir wie ein Erwachen u. ich hatte das Gefühl, als wenn ich ein Vogel wäre, der sein Lied
gesungen hat. Ich habe nicht von dieser Empfindung gesprochen, wie ich überhaupt nicht viel
schwatze. Aber die Erinnerung behielt ich für mich. Und jetzt, nach so viel Jahren erzähle ich es...“
Heute rauscht die Autobahn an Sindelsdorf vorbei. Trotzdem - oder eben deshalb? - ist das Dorf
unentdeckt geblieben. Das Marc-Haus steht noch. Auf den Wiesen ringsum weiden die Kühe,
vermutlich direkte Nachkommen derer, die dem Meister vor Herzogstand und Heimgarten Modell
gestanden haben und sich lange vor den Milka-Kühen bunt einfärben mussten. Anfang 1914 bezog
Franz Marc ein eigenes Haus in der Nähe, in Ried bei Kochel. Nur ein halbes Jahr war ihm hier zu
leben vergönnt. Gleich bei Kriegsausbruch wurde er einberufen; 1916 ist er vor Verdun gefallen. Das
Haus in Ried steht noch und wird privat genutzt, Auf dem großen, mit Obstbäumen bestandenen
Grundstück haben die Rehe geäst; der Maler hat seine Motive nicht lange suchen müssen. Die “Filla”",
wie das Haus bei den Nachbarn genannt wird, weckt auch Erinnerungen an den jungen Paul Klee. Der
hat als "neutraler" Schweizer friedliche Föhnstimmungen über Herzogstand und Heimgarten malen
dürfen, während sein älterer Freund Marc für Kaiser und Vaterland ins Feld ziehen mußte.
8 Kochel
Sieben Jahrzehnte nach dem Tod von Franz Marc hat man in Kochel einen Weg gefunden, den
berühmten Mitbürger, der auf dem Friedhof der Gemeinde begraben liegt, zu ehren. In einem schön
gelegenen Haus oberhalb des Ortes, in dem zuvor das Goethe-Institut untergebracht war, ist ein Franz
Marc Museum mit Archiv eingerichtet worden. Den Besucher erwarten vor allem Ölbilder und Skizzen
aus den Jahren 1902 bis 1909, mehrere Plastiken, zahlreiche Holzschnitte und Zeichnungen sowie eine
Reihe von Werken aus dem Umkreis des "Blauen Reiter", wie zum Beispiel Marianne von Werefkins
"Kalkofen bei Schlehdorf". Die Kocheler selbst waren am meisten überrascht, dass der Name ihres
Ortes den Kunstfreunden plötzlich etwas zu sagen hatte. Im Jahr 2007 wird ein größerer moderner
Zubau das Museum um eine weitere Münchner Sammlung mit Schwerpunkt „Blauer Reiter“ bereichern.
9 Franz Marc
1880 – 1914
In München als Sohn eines Malers geboren, studierte ab 1900 an der Kunstakademie München und
verbrachte ab 1902 mehrere Sommer auf der Staffelalm oberhalb von Kochel. 1903 folgte eine
viermonatige Frankreichreise während der er den Impressionismus für sich entdeckt. 1904 eröffnet er
sein erstes Atelier in der Münchener Kaulbachstraße in Schwabing. Eine Freundschaft mit der
verheirateten Malerin und Kopistin Annette von Eckardt belastet Marc sehr, er versucht vergeblich,
seine melancholischen Stimmungen und künstlerischen Selbstzweifeln durch einer Reise nach
Griechenland abzuschütteln. 1907 heitatet er die Malerin Marie Schnür, die Scheidung erfolgt bereits
nach einem Jahr. Wieder in Paris faszinieren ihn vor allem Werke van Goghs und Gauguins. Den
Sommer 1908 verbringt er mit der Malerin Maria Franck in Lenggries, wo Baumstudien und Pferdebilder
entstehen. Die beiden wichtigen Münchener Kunsthändler Thannhauser und Brakl kaufen ab 1909
28
Arbeiten von ihm. Diesen Sommer 1909 verbringen die beiden erstmals in Sindelsdorf und entschließen
sich im Frühjahr 1910, vollständig dorthin überzusiedeln. Eine Freundschaft mit dem Malerkollegen
August Macke, der den Kontakt zu Bernhard Koehler herstellt, durch den Franz Marc finanzielle
Unterstützung bald erfährt. Marc besucht die zweite Ausstellung der "Neuen Künstlervereinigung",
1911, wodurch er mit Wassily Kandinsky, Alexej von Jawlensky und Gabriele Münter in Kontakt kommt,
tritt dort auch ein und bald danach wieder aus. Eine Eheschließung mit Maria Franck folgt in London,
musste aber 1913 in München nachvollzogen werden. Die Galerie Thannhauser in München stellt Marc
aus, es entstehen etwa "Die gelbe Kuh" oder "Hocken im Schnee". 1912 folgen die Eröffnung der
zweiten Ausstellung des “Blauen Reiters” und die Veröffentlichung des Almanachs “Der Blaue Reiter”.
Gemeinsam mit Macke fährt Marc nach Paris, wo sie Robert Delaunay kennenlernen. Marc übernimmt
die technischen und stilistischen Errungenschaften des Kubismus. Es entsteht "Kühe, gelb-rot-grün".
1913 plant Marc zusammen mit Kandinsky, Alfred Kubin, Paul Klee, Erich Heckel und Oskar
Kokoschka, eine illustrierte Bibelausgabe herauszugeben. 1914 folgt ein Umzug nach Ried bei Kochel
am See und zeitgleich die Meldung als Kriegsfreiwilliger ebenso wie Macke, der bereits im Herbst an
der Westfront fällt. Sein Tod ist für Marc ein schmerzlicher Verlust. Ein weiterer Umzug nach Ried bei
Benediktbeuren folgt. Hier entstehen die letzten großen Gemälde, teils abstrakt, teils gegenständlich,
wie "Rehe im Wald II". 1916 stirbt Marc bei Verdun durch Granatsplitter, 1917 wird er nach Kochel am
See überführt.
1937 diffamieren die nationalsozialisten Marc als "entarteten Künstler" und beschlagnahmen 130 seiner
Werke aus deutschen Museen.
Franz Marc formuliert in - Die "Wilden" in Deutschland – 1911: "In unserer Epoche des großen Kampfes
um die neue Kunst streiten wir als "Wilde", nicht Organisierte gegen eine alte, organisierte Macht. Der
Kampf scheint ungleich; aber in geistigen Dingen siegt nie die Zahl, sondern die Stärke der Ideen. Die
gefürchteten Waffen der "Wilden" sind ihre neuen Gedanken; sie töten besser als Stahl und brechen,
was für unzerbrechlich galt.
(Franz Marc: Die "Wilden" in Deutschland. In: Der Blaue Reiter. Hg. von Wassily Kandinsky und Franz
Marc. Dokumentarische Neuausgabe von Klaus Lankheit. München, Zürich 1948, S. 28-32.)
10 Wassily Kandinsky
(1866-1944)
Wassily Kandinsky, der Russe mit den deutschen Wurzeln, 1866 in Moskau geboren, im
freigeistigen Odessa aufgewachsen, zwischen den Welten zuhause. In ihm, dem Intellektuellen,
vereinigen sich Kulturen aus dem fernen sibirischen Osten und dem deutsch-geprägten
Baltikum. Kandinsky blieb es vorbehalten der Kunstwelt die Abstraktion zu schenken. Mit seinen
Stationen in München (Der „Blaue Reiter“ mit Franz Marc, August Macke, Jawlensky, Marianne
von Werefkin, Gabriele Münter), in Murnau im „Russenhaus“( im Zusammenleben mit Münter),
seinen Erfahrungen in der postrevolutionären russischen Zeit (Moskau) und die
Auseinandersetzung mit der Russischen Avantgarde, sowie seiner Lehrerzeit am Bauhaus in
Dessau (Paul Klee und Gropius) entwickelt er eine neue Perspektive der Malerei.
29
Wassily Kandinsky etwa in jener Zeit in Murnau (Bild 2) fotografiert von Gabriele Münter (Bild 4)
Vasily Vasilyevich Kandinsky - Васий Васильевич Кандинский, Wassili Wassiljewitsch Kandinski
wurde am 4.oder 5. Dezember 1866 nach Julianischer Zeitrechnung in Moskau geboren. Er wuchs in
einer wohlhabenden Familie auf und hatte eine glückliche Kindheit, obwohl seine Eltern sich 1871
scheiden ließen. Da sie sich aber in Freundschaft getrennt hatten, beeinflußte dies seine Kindheit
weiterhin nicht negativ. Von 1876-1885 besuchte er das humanistische Gymnasium in Odessa und
studierte nach seinem Schulabschluß Jura und Nationalökonomie. Aus gesundheitlichen Gründen
mußte er jedoch nach vier Jahren, also 1889, sein Studium für drei Jahre unterbrechen, was ihn
allerdings nicht daran hinderte, viele Reisen zu unternehmen. 1892 heiratete Kandinsky seine Kusine
zweiten Grades und schloß dann ein Jahr später sein Studium mit einem Diplom ab. Um 1895 verlor er
sein Interesse an einer akademischen Laufbahn und entschloß sich Maler zu werden.
Im Juni 1889 bricht der Künstler, damals noch Jura-Student, aus Moskau auf. Er will erst im Nordural
Recht und Religion der dort ansässigen Syränen studieren: "Ich hatte das Gefühl, ich reise auf einen
anderen Planeten", schreibt er und will mehr über seine Wurzeln erfahren. Denn seine russischdeutsche Familie hat auch Vorfahren unter den asiatischen Urvölkern. Vom Fluss Kanda in Westsibirien
kommt der Stammvater, ein Mansen-Fürst, der dort den Ort "Kandinsky" gründete. Der Ururgroßvater
wiederum war mit einer Prinzessin der Tungusen verheiratet.
Aber die "primitive Kultur" der sibirischen Ureinwohner hat den Maler noch aus einem weiteren Grund
fasziniert: Die Formen ihrer Kunst galten als archaisch, ursprünglich und unbeeinflusst von
antrainiertem Lernverhalten, von Akademien und Kunsthochschulen. Die frühen abstrakten
Zeichnungen Kandinskys sind kaum davon zu unterscheiden, wie beispielsweise das Volk der
Tschukschen sein Universum darstellt. Andere Künstler der Moderne ließen sich auf dem Weg zur
Abstraktion von afrikanischer oder Südseekunst inspirieren - Kandinskys Bilder verzaubern uns mit der
Magie Sibiriens.
Antoine H. Becquerel hatte zu diesem Zeitpunkt die Radioaktivität und den Atomzerfall entdeckt. Dies
erschütterte Kandinskys gesamtes Weltbild und seinen Glauben an eine positive Wissenschaft.
Daraufhin verließ er Rußland mit seiner Frau Anna Chimyakina und schrieb sich in München in der
Malschule von Anton Azbe ein. Doch schon nach kurzer Zeit merkte er, daß der Unterricht nicht seinen
Vorstellungen entsprach, obwohl Kandinsky Azbe verehrte, von dessen Zeichnungen und ihm als
Mensch er beeindruckt war. Aber mit Azbes "Prinzip der Kugel" bei Kopf- und Aktzeichnungen nach
Modell konnte er nicht übereinstimmen und schloß sich deshalb dem Pointillimus, "der Kristallisation der
Farben" der Neoimpressionisten an. Ebenso zog er das Malen mit Farben dem Zeichnen vor. Dennoch
wechselte er zu Stuck, einem der angesehensten Maler dieser Zeit im Bereich der Zeichnung, weil
Kandinsky Defizite bei seinen Zeichnungen feststellte. 1901 beendete er sein Studium bei Stuck und
gründete die Künstlervereinigung "Phalanx" mit dem Ziel, gewisse Missstände in der
Künstlergenossenschaft zu beseitigen. 1902 baute er eine eigene eine Malschule auf, die aber schon im
darauffolgenden Jahr aus Mangel an Schülern geschlossen werden mußte. Zur selben Zeit lernte er
auch Gabriele Münter, eine seiner Schülerinnen kennen. Aufgrund einer Beziehung mit ihr ließ er sich
von seiner Frau Anna scheiden.
30
Wassily Kandinsky Gabriele Münter in Kochel 1903 Gabriele Münter 1903
Kandinsky nahm an vielen Ausstellungen teil. Seine erste war 1900 bei der Moskauer
Künstlervereinigung. Es folgten 11 weitere mit der „Phalanx“, deren Ausstellungen immer anderen
Künstlern gewidmet wurden. In den darauffolgenden Jahren nahm er an der Ausstellung im "Salon
d´Automne" teil und gewann auch einige Preise. Neue Impulse für seine Malerei gab ihm das rege
Musikleben 1907 in Berlin. Für Kandinsky existierte zwischen Musik und bildender Kunst eine
besondere Verbindung. Er wandte sich der Bühnen- und Raumkunst zu und setzte Anregungen 1909 in
eigenen Bühnenkompositionen um. Viele neue Eindrücke in anderen Kunstrichtungen gewann er durch
seine vielen Reisen. Wassily Kandinsky gilt als ein Begründer der abstrakten Malerei.
Der letzte König von Bayern (vermutlich um 1904/1909, - Prinzregent Luitpold) sah sich einmal in der
"Münchner Neuen Sezession" die Bilder der Expressionisten an. Vor einem Gemälde blieb er lange und
schweigend stehen. Endlich sagte der König zu seiner Begleitung die inhaltsschweren Worte: "Der
Mann malt halt so."
(Mitgeteilt in "Der Ararat", Jhrg.1, München / Januar 1920, Heft 4)
Wassily Kandinsky Landschaft mit Kirche Murnau 1909
Die Silhouette der Murnauer Pfarrkirche St. Nikolaus mit ihrem charakteristischen spätbarocken Turm
findet sich in zahlreichen Werken Kandinskys der Jahre 1909 und 1910 wieder. Während des
Abstraktionsprozesses der Jahre 1910/11, in dessen Verlauf der Künstler zur gegenstandslosen Malerei
findet, wird Kandinsky das Motiv zur reinen Bildchiffre umwandeln. Studie zu Murnau - Landschaft mit
Kirche I dokumentiert eine frühe Phase dieses Prozesses, in dem die Formen der Gegenstände zu klar
konturierten Farbfeldern reduziert werden. Das Werk ist eine Studie zum etwa doppelt so grossen Ölbild
Murnau - Landschaft mit Kirche I. Diese bezieht ihre intensive Präsenz aus der spannungsvollen
Beziehung polarer Gestaltungselemente: In der oberen Bildhälfte entsteht aus dem Zusammentreffen
31
von Rot- und Orangetönen mit komplementären, kalten Blau- und Grüntönen sowie Gelb eine Art
energetisches Feld, dessen Ausdruckswert durch die Bewegung der diagonal nach rechts oben
ziehenden Wolkenformen akzentuiert wird.
Kandinsky brachte sich das Holzschneiden selber bei. In der Drucktechnik folgt er der japanischen
Methode, zwei Holzstöcke zu bearbeiten und die Farben und Linien gesondert zu drucken. Anstelle von
Öl- verwendet er Wasserfarben, und für seine handgedruckten Abzüge wählt er jeweils verschiedene
Farbtöne. Eine seiner Schülerinnen erinnert sich, dass Kandinsky "gleich siebzig Platten hintereinander
schnitt, man sagte, Tag und Nacht, bis er Holz schneiden konnte. ... Dieses Drucken der verschiedenen
Farbplatten übereinander erfordert Können, Zeit und Geschick."
Kandinsky gründete 1909 die Münchener „Neue Künstlervereinigung“, die aus der Münchner Sezession
hervorging. Die Mitglieder der Gruppe waren nachimpressionistisch ausgerichtet. Die der NKM
angehörenden Maler suchten nach einer Formensprache, die nicht nur die Eindrücke der äußeren,
sondern auch der inneren Welt wiederzugeben vermochte. Der Vorsitzende Wassily Kandinsky, der die
von ihm dargestellten Objekte immer mehr abstrahierte, malte 1910 das erste rein abstrakte Aquarell.
Klee und Macke hatten ein Naheverhältnis zur Gruppe, der 1911 auch Franz Marc als Mitglied beitrat.
Die erste Ausstellung der NKM fand 1910 in der Galerie Tannhauser in München statt. Im Leitartikel der
angesehenen Tageszeitung "Münchner Neueste Nachrichten" wurden die Mitglieder der NKM der
ausgestellten Bilder wegen wie folgt charakterisiert: "Entweder ist die Mehrheit der Mitglieder dieser
Vereinigung unheilbar geisteskrank, oder wir haben es mit einer Gruppe von skrupellosen Hochstaplern
zu tun, die bestens um die Schwäche unserer Zeitgenossen für Sensationen wissen und versuchen,
diese große Nachfrage zu nutzen." Nach aufgetretenen Spannungen wegen eines ausjurierten Werkes
mit dem Titel "Komposition V", das Kandinsky 1911, bei der 3. Ausstellung der NKM, präsentieren
wollte, verließen Marc, Kandinsky, Kubin und Münter noch im gleichen Jahr die NKM. Die Jury
rechtfertigte ihre ablehnende Haltung damit, dass es sich bei besagtem Gemälde um abstrakte Kunst
handle. Otto Fischer, einer der Gegner Kandinskys, soll in dem Zusammenhang gesagt haben, dass ein
Bild ohne Gegenstand absurd sei.
Dem Austritt folgte 1911 der Kreis des „Blauen Reiters“. Der Name leitet sich von seinem 1903
entstandenen gleichnamigen Gemälde ab, auf dem ein romantischer Held auf einem weißen Roß
querfeldein durch eine Herbstlandschaft reitet.
Wassily Kandinsky „Der Blaue Reiter“ 1903
Gemeinsam mit Franz Marc vereinigte der "Blaue Reiter" bedeutende deutsche und russische Maler
unter einer expressionistischen Konzeption. Der Name Blauer Reiter entstand nach Kandinskys
Beschreibung 'am Kaffeetisch in der Gartenlaube in Sindelsdorf' am Wohnsitz von Franz Marc.
Kandinsky und Marc liebten die Farbe Blau, Marc mochte Pferde, Kandinsky Reiter. Die Künstler
32
verband sowohl eine gemeinsame Vorliebe für mittelalterliche Kunst und Primitivismus als auch ein
starkes Interesse an der zeitgenössischen französischen Kunst des "Fauvismus" und "Kubismus". Zu
den engeren Mitgliedern gehörten unter anderen August Macke, Gabriele Münter, Alfred Kubin (18771959) und Paul Klee; in Verbindung mit ihnen standen Marianne von Werefkin (1860-1938), Alexej von
Jawlensky und der Komponist Arnold Schönberg. Auch die Brüder Burljuk, R. Delaunay und H.
Campendonck beteiligten sich an Ausstellungen des Blauen Reiters.
In den Jahren 1910/1912 wurden in Murnau die weltweit ersten gegenstandslosen Bilder gemalt,
gleichzeitig kommt 1913 der österreichische Schulabbrecher und erfolglose Kunstmaler Adolf Hitler auf
der Flucht vor der Musterung nach München; - seine Bewerbung auf Aufnahme an der Wiener
Kunstakademie scheiterte zweimal. München war und ist berühmt für seinen Kunstsinn und die
Lebenskunst seiner Bürger. Die „Welthauptstadt der Gemütlichkeit“ wurde zum Geburtsort und
ideologischen Zentrum des Nationalsozialismus als „Hauptstadt der Bewegung“, eine einzigartige
Bühne für Genies, Exzentriker und Verbrecher.
Wassily Kandinsky „Der Blaue Reiter“ 1911
Kandinsky unterrichtete von 1922-1933 am Bauhaus "Analytisches Zeichnen" und "Primäre
künstlerische Gestaltung" als Bestandteil der Grundausbildung. Berühmt geworden ist sein
Farbunterricht, vor allen Dingen seine Zuordnung der drei Grundfarben Gelb, Rot und Blau zu den
Grundformen Dreieck, Quadrat und Kreis. Paul Klee unterrichtete parallel dazu von 1921 – 1931
„Elementare Gestaltungslehre". 1926 veröffentlichte Kandinsky seine Theorien über Gegenstand und
Abstraktion im Werk “Punkt und Linie zur Fläche“. Die Wurzeln der ungegenständlichen Malerei reichten
für Kandinsky bis zum Impressionismus zurück. Besonders beeindruckend war für ihn das Werk Claude
Monet's „Heuschober bei Sonnenuntergang“, das er 1895 bei einer Impressionistenausstellung in
Moskau das erste Mal betrachtete und dessen Gegenstand, den Heuschober, er kaum erkannt hatte.
„Er merkte mit Erstaunen, daß das Bild ihn packte und sich ihm unverwischbar in das Gedächtnis
einprägte (Zitat: Kandinsky).
Claude Monet „Heuschober bei Sonnenuntergang“ 1891
33
Die Vertreter des "Blauen Reiter" versuchten die bestehenden Grenzen des künstlerischen
Ausdrucksvermögens zu erweitern und zu einer eigengesetzlichen Bildwelt vorzudringen. Diese reicht
von der metaphysischen Tiersymbolik Marcs über die Farbphantasien Mackes bis zur märchenhaften
Zauberwelt Klees und den mathematisch-musikalischen Abstraktionen Kandinskys. In seinen abstrakten
Werken versucht Kandinsky der eigenen Emotionalität Ausdruck zu verleihen, um somit statt den
(falschen) Werten der wilhelminischen Gesellschaft zu huldigen, den Menschen zu helfen, die noch
weitgehend unbekannte Welt der menschlichen Seele zu entdecken.
Eine Ansichtskarte „Musée de Cluny“ aus 1912: Elisabeth Epstein an Wassily Kandinsky
[Poststempel unleserlich, 2. (?) X. 1912]
Lieber Wassili Wassiliewich.
Recht viele herzliche Grüsse; wie ich höre ist gerade Ihre Ausstellung
eröffnet worden. Wir sind bei mir in Montmarency. Waren bei Pellerin.
E. Epstein
[Zusatz von Maria Marc:]
Herzliche Grüße für Frl. Münter und Sie aus dem schönen Paris.
Maria Marc.
[Zusatz von August Macke:]
Freundliche Grüße Aug. Macke.
[Zusatz von Franz Marc:]
Wir gedenken Ihrer und gratulieren zur Eröffnung Ihrer Ausstellung!
Viel Erfolg! Frau Epstein schickt diese Tage cc. 3 Sachen an Goltz.Es ist reizend hier heraußen.
Herzlich Ihr Fz. Marc.
Ihre Ausstellung eröffnet: Die Kandinsky-Ausstellung mit Arbeiten der Jahre 1902-12
fand im Salon Hans Goltz, München, statt. (Gordon 1974, II, S. 814) Quelle: Wassily Kandinsky. Franz
Marc. Briefwechsel, Hrsg. Klaus Lankheit. München-Zürich
Gabriele Münter steckte im Vertrauen auf die Tüchtigkeit Hanz Goltz´ als Kunsthändler 5000 Mark in die
Buchhandlung, um für den Münchner Freundeskreis eine ständige Geschäftsverbindung zu schaffen.
Hans Goltz' Briefkopf enthielt fortan den Hinweis: „Neue Kunst, Odeonsplatz 1, Vertretung in
Deutschland für ›Der Blaue Reiter‹, Kandinsky, Emil Zoir und Egon Schiele“ was Differenzen mit dem
Ehepaar Marc hervorrief, das nach anfänglicher Zustimmung zu der von Münter eingeleiteten
Verkaufsförderung kurz darauf kein gutes Haar mehr an diesem „Kaufladen mit dem ideenlosen
Durcheinander“ ließ und sie aufforderte, ihr Darlehen schleunigst zu kündigen, zumal Goltz Kandinskys
Bilder als Blei am Bein eines Galeristen schelte. Kandinsky aber mahnte Münter zu wohlwollender
Geduld gegenüber dem Kunsthändler, dessen Mut er achte und der wohl auch mit seiner Bemerkung
Recht habe. „Vergiss nicht, dass doch Marcs hetzen!“ Er selbst blieb kaltblütig: „Das Leben siebt die
Freunde aus!“
(Mitgeteilt in ›Gabriele Münter und Wassily Kandinsky‹ von Gisela Kleine, S.
Die endgültige Trennung von Gabriele Münter erfolgte 1916. 1917 heiratete er seine Geliebte in Moskau
Nina von Andreewsky (Nina Nikolayevna Andreevskaya). Im gleichen Jahr wurde Sohn Vsevolod
geboren, der bereits im Jahr 1920 verstarb. 1923 folgte die erste Einzelausstellung in New York. In
Weimar traf er auch Paul Klee wieder, der dort unterrichtete. 1924 /26 wurde mit Alexej von Jawlensky,
dem amerikanischen Maler Lyonel Feininger und Paul Klee die Gruppe “Die blaue Vier” gegründet.
1926 zog das Bauhaus nach Dessau um. Die Ehepaare Kandinsky und Klee wohnten in dem von
Architekt Gropius geplantem Meisterhaus. Ebenfalls 1926 veröffentlichte er seine Theorien über
Gegenstand und Abstraktion imWerk“Punkt und Linie zur Fläche“
34
Der Titel des Bildes „Duftendes Grün“, von 1929 gibt auf den ersten Blick kaum einen Hinweis auf den
Sinn des Bildes. Grün ist die vorherrschende Farbe im Bild und „duftend“ der Farbauftrag in
Spritztechnik. Der Duft ist etwas Leichtes, Schwereloses und kann sich frei im Raum ausbreiten. Der
Inhalt dieses Bildes sei nicht im gegenständlichen gebundenen Wort „Duft“ zu suchen, sondern im
Abstrakten- „schwereloses Aufsteigen im Raum“.
Kandinsky starb im Winter 1944, seine Witwe Nina Kandisky wurde durch sein Werk allmählich sehr
reich, liebte Schmuck und Gigolos und wurde 1983 in ihrer Villa in der Schweiz ermordet und in Paris
begraben.
Wassily Kandinsky: „Über das Geistige in der Kunst“
„Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit, oft ist es Mutter unserer Gefühle.“
„Über das Geistige in der Kunst“ 1911
Eine kunsttheoretische Schrift von Wassily Kandinsky, erschienen 1911. - Zehn Jahre lang hat sich der
zum Juristen ausgebildete Russe, der sich erst mit dreißig Jahren für die Künstlerlaufbahn
entschied,1896 nach München ging und damit eine vielversprechende Karriere in Moskau abbrach,
Notizen gemacht, aus denen sich diese programmatische Schrift zusammensetzt. Das Besondere an ihr
ist, daß sie nicht nur die subjektive Selbstinterpretation eines modernen Künstlers bietet, wie sie in
vielen Autobiographien zu finden ist, sondern darüber hinaus als gedankliche Quelle für die Anfänge der
modernen Kunst fungiert. - Die geistigen Grundlagen für die Schrift fand Kandinsky einerseits bei
Goethe, Schiller, C. L. Fernow und dem Kunsttheoretiker K. Fiedler.
"Über das Geistige in der Kunst“ erschien kurz bevor Kandinsky sein erstes abstraktes Bild malte. Eine
Vordatierung des "Ersten abstrakten Aquarells" von 1913 auf 1910 wird heute nicht mehr angezweifelt.
Er nahm diesen neuen Schritt seines Schaffens in seiner Schrift theoretisch vorweg. - Im ersten,
allgemeinen Teil führt Kandinsky den Begriff der Notwendigkeit ein, die der inneren richtungweisenden
Kunst innewohnt und den Keim der Zukunft in sich birgt. Diese stellt er über die "l'art pour l'art", die der
handwerklich mehr oder weniger geschickte Künstler herstellt, um dafür seinen materiellen Lohn zu
empfangen: "Eine derartige Kunst kann nur das künstlerisch wiederholen, was schon die gegenwärtige
Atmosphäre klar erfüllt. Diese Kunst, die keine Potenzen der Zukunft in sich birgt ... ist eine kastrierte
Kunst."
Um die Gesamtheit des geistigen Lebens zu veranschaulichen, wählt Kandinsky die Form eines sich
"langsam, kaum sichtbar nach vor- und aufwärts" bewegenden Dreiecks, an dessen Spitze wenige
Menschen stehen, die neue, noch nicht erschlossene Wege gehen. Das, was ihnen heute verständlich
und dem "übrigen Dreieck eine unverständliche Faselei ist, wird morgen zum sinn- und gefühlvollen
Inhalt des Lebens der zweiten Abteilung". Zu den ganz oben befindlichen, die "geistige Wendung"
vollziehenden Menschen zählt Kandinsky auch die Theosophen. - In realer Form macht sich die geistige
Wendung zuerst in der Literatur, Musik und Kunst bemerkbar: "Diese Gebiete spiegeln das düstere Bild
der Gegenwart sofort ab, sie erraten das Große, was erst als ein ganz kleines Pünktchen nur von
35
wenigen bemerkt wird und für die große Menge nicht existiert." Am Beispiel der Musik seiner Zeit, die
der Kunst um einiges vorangeht.
Im zweiten, der Malerei gewidmeten Teil der Schrift behandelt Kandinsky die "Wirkung der Farbe auf
Physis und Psyche“ und stellt eine direkte Einwirkung der Farbe auf die Seele fest. "Die Neigung des
Blaus zur Vertiefung ist so groß, dass es gerade in tieferen Tönen intensiver wird und charakteristischer
innerlich wirkt. Je tiefer das Blau wird, desto mehr ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in
ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem." Die Farbenharmonie beruhe nur auf
dem Prinzip der "zweckmäßigen Berührung der menschlichen Seele". - Im wichtigsten Kapitel "Formenund Farbensprache" geht er davon aus, daß Form, aber nicht Farbe, selbständig existieren kann, das
heißt, die Form beeinflußt die Farbe. Eine Form habe immer den ihr eigenen Charakter, wo eine Farbe
den ihren verändere, je nachdem, welche Form sie ausfülle; z. B. verstärke sich der Charakter einer
"spitzen Farbe" wie Gelb in der spitzen Form eines Dreiecks. Kandinsky beschreibt die verschiedenen
Wirkungen von Form und Farbe und bildnerische Nutzungsmöglichkeiten im Sinne des "Prinzips der
inneren Notwendigkeit".
„Wir werden nicht mehr den Wald oder das Pferd malen, wie sie uns gefallen oder scheinen, sondern
wie sie wirklich sind, wie sich der Wald oder das Pferd selbst fühlen, ihr absolutes Wesen, das hinter
dem Schein lebt, den wir nur sehen... Wir müssen von nun an lernen, die Tiere und Pflanzen auf uns zu
beziehen und unsere Beziehung zu ihnen in der Kunst darstellen." Schreibt Franz Marc 1912/13
(Partsch 1993).
Kandinsky ging es nicht darum, mit seinen abstrakten Bildern "Musik zu malen". Sein Ziel war es,
bestimmte Gefühle und Eindrücke beim Betrachter allein durch Farben und Formen zu erwecken. Er
suchte nach dem "inneren Klang" der Farben und Formen, der die Seele in Vibration versetzt. So
beschreibt er etwa die Wirkung der Farbe Gelb: "Gelb, wenn es direkt betrachtet wird (…) beunruhigt
den Menschen, sticht, regt ihn auf und zeigt den Charakter der in der Farbe ausgedrückten Gewalt, die
schließlich frech und aufdringlich auf das Gemüt wirkt."
Die berühmt gewordene Schrift ist aufgrund ihrer Vielfalt an Gedanken, Ideen und Vorstellungen, die oft
aneinandergereiht scheinen, keine leichte Lektüre. Dennoch wirkte sie wie eine Offenbarung. Innerhalb
eines Jahres waren drei Auflagen vergriffen. Kandinskys Gedanken waren für die weitere Entwicklung
der abstrakten Malerei von grundlegender Bedeutung. Seine Schriften werden noch heute in
Abhandlungen über die Entwicklung der modernen Kunst immer wieder zitiert. Bereits 1911 hatte er die
bis heute relevanten Möglichkeiten abstrakten Gestaltens im Ansatz theoretisch vorformuliert.
(Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München.)
11 Das Bauhaus
(1919 – 1933)
Aus der bis 1914 von Henry van den Velde geleiteten Großherzoglich Sächsischen Hochschule für
bildende Kunst in Weimar wird durch die Bemühungen Gropius' 1919 das Staatliche Bauhaus in
Weimar. Sofort nach seinem Amtsantritt als Bauhaus-Direktor veröffentlicht Gropius das
Gründungsmanifest und ein detailliertes Programm in Form eines vierseitigen Flugblattes mit einem
Holzschnitt von Lyonel Feininger. Das Bauhaus in Weimar war Deutschlands berühmteste Kunst- und
Designeinrichtung der Klassischen Moderne. Die zwischen 1919 und 1933 am Bauhaus entstandenen
Arbeiten haben weltweit das Verständnis von Architektur und Design beeinflusst. Als Lehrer (Meister)
sind ab 1919 Feininger, Itten, Marcks, ab 1920 Klee, Muche, Schlemmer, ab 1922 Kandinsky, ab 1923
Moholy-Nagy tätig. Schon bald nach der Gründung ist das Bauhaus starken Angriffen ausgesetzt: es
wolle die Kunst zugunsten des Handwerks vernachlässigen; Linke herrschten vor. Ein Kommentar aus
der Zeitschrift Der Ararat 1920: "Die Hetze gegen das Weimarer Bauhaus zählt ... zu den
allerunerquicklichsten Erscheinungen. Widerlich vor allem, wie von den Gegnern des Systems Gropius
künstlerische Anschauungen mit politischer Gesinnung vermengt werden. Ein politisch und künstlerisch
36
reaktionäres Philistertum versucht hier sich schützend vor die morschen Institutionen und verbrauchten
Ideen einer abgelebten Zeit zu stellen. Der Berliner >Arbeitsrat für Kunst< und der >Werkbund< haben
in Kundgebungen gegen dieses schmähliche Treiben protestiert."
„Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der
bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. Heute stehen sie in
selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst wieder erlöst werden können durch bewußtes Mit-und
Ineinanderwirken aller Werkleute untereinander. Architekten, Maler und Bildhauer müssen die vielgliedrige
Gestalt des Baues in seiner Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen und begreifen lernen, dann werden
sich von selbst ihre Werke wieder mit architektonischem Geiste füllen, den sie in der Salonkunst verloren.
Die alten Kunstschulen vermochten diese Einheit nicht zu erzeugen, wie sollten sie auch, da Kunst nicht lehrbar
ist. Sie müssen wieder in der Werkstatt aufgehen. Diese nur zeichnende und malende Welt der Musterzeichner
und Kunstgewerbler muß endlich wieder eine bauende werden. Wenn der junge Mensch, der Liebe zur
bildnerischen Tätigkeit in sich verspürt, wieder wie einst seine Bahn damit beginnt, ein Handwerk zu erlernen, so
bleibt der unproduktive >Künstler< künftig nicht mehr zu unvollkommener Kunstübung verdammt, denn seine
Fertigkeit bleibt nun dem Handwerk erhalten, wo er Vortreffliches zu leisten vermag.
Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine >Kunst von Beruf <. Es
gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung
des Handwerkers. Gnade des Himmels läßt in seltenen Lichtmomenten, die jenseits seines Wollens stehen,
unbewußt Kunst aus dem Werk seiner Hand erblühen, die Grundlage des Werkmäßigen aber ist unerläßlich für
jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens.
Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige
Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den
neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen
Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden
Glaubens.“
Das Bauhausgebäude in Dessau wurde 1925 bis 1926 nach Plänen von Walter Gropius gebaut,
nachdem die Schule ihren Gründungssitz Weimar aus politischen Gründen verlassen hatte. Gleichzeitig
entstanden die vier sogenannten Meisterhäuser mit Wohn- und Arbeitsräumen für die Lehrkräfte und
der erste Abschnitt (60 Häuser) der Siedlung Dessau-Törten. Am 22. August 1932 wird im Dessauer
Gemeinderat der Antrag der NSDAP, den Lehrbetrieb des Bauhauses zum 1. Oktober einzustellen, mit
20 gegen 5 Stimmen angenommen. Das Bauhaus muß nach Berlin übersiedeln. Am 11. April 1933 wird
das Bauhausgebäude in Berlin polizeilich durchsucht und versiegelt. Studierende werden
festgenommen. Am 20. Juli beschließt eine Konferenz der Lehrkräfte, das Bauhaus aufzulösen. In
einem Schreiben der Geheimen Staatspolizei vom 21. Juli wird die Wiedereröffnung des Bauhauses
von mehreren Bedingungen abhängig gemacht. Kandinsky und Hilberseimer seien durch Lehrkräfte zu
ersetzen, die "auf dem Boden der nationalsozialistischen Ideenwelt stehen", ein neu aufzustellender
Lehrplan habe den "Ansprüchen des neuen Staates an seinen innerlichen Aufbau" zu genügen.
Namhafte Architekten und Designer, die aus Deutschland emigrieren mußten etablierten sich an
amerikanischen Universitäten und trugen das Label Bauhaus in die Welt. Ebenso bedeutsam waren und
sind bis heute die Arbeiten der Maler und anderer Bauhauskünstler wie Paul Klee, Wassily Kandinsky,
Lyonel Feininger, Oskar Schlemmer, Laszlo Moholy-Nagy, Marcel Breuer, Mies van der Rohe. Das
1975/76 restaurierte Architektur-Denkmal und die Meisterhäuser wurden 1996 von der UNESCO in die
Liste des Weltkulturerbes aufgenommen.
12 Arnold Schönberg
1874–1951
„Jede Formung, die traditionelle Wirkungen anstrebt, ist nicht ganz frei von Bewußtseins-Akten. Und die
Kunst gehört aber dem Unbewußten!“ schrieb der malende Wiener Komponist Arnold Schönberg dem
37
musikbegeisterten Maler Wassily Kandinsky Anfang 1911. Aus der geistigen Begegnung entstand die
Freundschaft zweier Männer, die kurz zuvor die traditionelle Musik entgrenzt, die gegenständliche
Malerei hinter sich gelassen, die Perspektive aufgelöst hatten. Kandinsky fühlte seine Werke durch
Schönbergs Schaffen wesentlich beeinflußt, schenkte ihm eine Mappe mit Holzschnitten und machte
ihn zum Mitglied des »Blauen Reiter«.
Arnold Schönberg Roter Blick 1910
Die geistige Verwandtschaft blieb das ganze Leben, der persönliche Kontakt aber hielt in dieser
Intensität nur drei Jahre. 1914 ging Kandinsky zurück nach Moskau, Schönberg rückte in die k.u.k.
Armee ein. Schönbergs Zwölftonmethode und Kandinskys streng formalistischer Bauhaus-Stil der
Zwanzigerjahre entstanden einmal mehr gleichzeitig – und unabhängig voneinander. Der weitere
Briefkontakt bis in die Dreißigerjahre, als Schönberg in Los Angeles, Kandinsky in Paris das Ziel ihrer
Lebensreise erreicht hatten, und ein zufälliges Treffen in Pörtschach am Wörthersee im Jahr 1927
waren persönlicher Natur. Erwähnenswert ist jedenfalls ein Vorschlag Kandinskys, die Leitung der
Musikschule in Weimar zu übernehmen, um der Bauhausbewegung nahe zu sein. Dieser erreicht
Schönberg im Frühjahr 1923 – zwei Jahre nachdem er den alljährlichen Sommerurlaub hatte verlegen
müssen, da im salzburgischen Mattsee die Anwesenheit von Juden unerwünscht war, und kurz
nachdem Gerüchte ihn über angeblich antisemitische Tendenzen am Bauhaus und namentlich
Kandinskys unterrichtet hatten. Schönbergs abschlägige Antwort, mehr noch aber seine Beweggründe,
trafen Kandinsky fassungslos. Die Weitsichtigkeit Schönbergs in diesen Briefen jedoch sollte sich in der
nationalsozialistischen Katastrophe bestätigen.
Kandinskys Weg zur Abstraktion beginnt 1908/09, in den Landschaftsbildern von Murnau und Kochel, in
denen eine kräftige Farbgebung und geometrische Formen als strukturbildende Elemente vorherrschen,
während die Notwendigkeit traditionell naturalistischer Darstellung an Bedeutung verliert. Die ersten
»Kompositionen« und »Improvisationen« entstehen und führen schließlich zur »Impression III
(Konzert)«, die Kandinsky noch in der Nacht des geschilderten Hörerlebnisses in München entwirft – ein
Werk, in dem eine große schwarze Fläche an den Deckel eines Konzertflügels erinnert, einige Konturen
an Publikum und Ausführende, während ein mächtig »klingendes« gelbes Plan das Bild dominiert.
Schönbergs Schritt zur freien Tonalität ist zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme Kandinskys Anfang 1911
ebenso getan wie Kandinskys Entwicklung zur abstrakten Malerei. Auch wenn – oder besser: weil – die
beiden ersten Briefe solch starke Überzeugung, ja übergroße Freude ausstrahlen, erscheint die
Erleichterung über einen interdisziplinären Weggefährten nach jenen Neuerungen von historischer
Dimension deutlich. Beide Künstler gingen den Weg allein und aus eigener Kraft. Die weitere
Entwicklung jedoch – bei Schönberg etwa im »Pierrot lunaire« (1912), bei Kandinsky in den späteren
»Improvisationen«, »Impressionen« und »Kompositionen« sichtbar – ist begleitet von regelmäßigen
Bezeugungen der gegenseitigen Wertschätzung und durch die Aufmunterungen des sogleich intensiven
Briefwechsels, der im Spätsommer 1911 am Starnberger See zum ersten persönlichen Treffen führt und
38
der in den folgenden Jahren neben Vielfältigem zu Musik und bildender Kunst Einblick in die
Gedankenwelt der im Entstehen begriffenen theoretischen Schriften und Bühnenexperimente gibt.
Die Parallelität der künstlerischen Entwicklung reduziert sich nicht auf das Werk von Schönberg und
Kandinsky, sie ist bei den Komponisten und Schülern der »Wiener Schule« ebenso erkennbar wie bei
den Mitgliedern des »Blauen Reiter«. Alexej von Jawlensky und Gabriele Münter verwendeten Farbe als
strukturbildendes Element, Alban Berg und Anton Webern Klangfarben zur Variantenbildung. Analoge
Verhältnisse im Bereich der Russischen Avantgarde, zu welcher Kandinsky den Kontakt auch in der
Münchener Zeit nicht abbrach, geben Zeugnis von der länderübergreifenden »Explosion der Künste«
nach 1900. Es liegt daher nahe, der Begegnung Schönbergs und Kandinskys weitere Aspekte der
geistigen Verwandtschaft durch Kunstwerke wichtiger Weggefährten zu jener Zeit zu zeigen, von
Jawlensky und Münter, Berg und Webern über Burljuk und Kulbin bis hin zu den Komponisten
Roslawetz und Herschkowitz, den Malern Ender, Filonow und Malewitsch, denen allen eines
gemeinsam ist: der Wunsch, das Empfundene unmittelbar auszudrücken.
Die innere Verwandtschaft von Musik und Malerei, von Klangfarben und Farbklängen, von Schönberg
und Kandinsky erscheint im Gleichklang . Als Nukleus manifestiert sich das Treffen der beiden Männer
»im Unbewußten«: im Eindruck des Münchener Schönberg-Konzertes, in seiner Abbildung »Impression
III (Konzert)« und im sogleich tiefgreifenden ästhetischen Austausch. Die Betrachtung der
Künstlergruppe »Der Blaue Reiter« und ihrer Werke in diesem Jahrzehnt legt eine erste »Bahn« um den
Kern, weitere Werke in den Zwanzigerjahren insbesondere Kandinskys bilden einen zweiten Ring, der
die Parallelitäten zur Entwicklung von Schönbergs Zwölftonmethode zeigt.
13 Marianne von Werefkin
(1860–1938)
Zu den genialsten Malerinnen ihrer Zeit gehörte die aus Russland stammende Künstlerin Marianne
(Wladimorovna, Baronin) von Werefkin (Marianna Wladimirowna Werewkina - Марианна Веревкина 1860–1938), die auch in Deutschland und in der Schweiz lebte. In ihrer Heimat wurde sie als
„russischer Rembrandt“ bezeichnet. Über sich selbst sagte sie einmal: „Ein Leben ist viel zuwenig für
alle die Dinge, die ich in mir spüre“.
Werefkin Selbstportrait 1910
Marianne von Werefkin wurde am 29. August 1860 als Tochter eines Barons und einer Ikonen
malenden Mutter im Gouverneurs-Palais von Tula bei Moskau geboren. Im Auftrag des Zaren zog die
Familie acht Jahre später nach Wilna (Litauen) um. Marianne wuchs auf dem Gut Blagodat im litauischrussischen Department Kowno auf und erhielt Zeichen- und Malunterricht. In ihrer Jugend hielt sich
39
Marianne von Werefkin zeitweise in Sankt Petersburg auf. Der ukrainische Realist Ilja Repin (1844–
1930) erteilte ihr Privatunterricht. 1888 durchschoss sie sich bei einem Jagdunfall die rechte Hand. Um
weiter zeichnen zu können, konstruierte sie eine Bleistiftkrücke. Durch Ilja Repin lernte Marianne von
Werefkin 1891 den 27-jährigen Alexej von Jawlensky (1864–1941), der durch seinen Militärdienst nach
Sankt Petersburg gelangt war, kennen und lieben. Gemeinsam mit Jawlensky, der seinen Militärdienst
quittierte, verließ die Baronin 1896 Russland, zog nach München und schloss sich dort der russischen
Künstlerkolonie an. Zunächst hatte sie eine Doppelwohnung in der Giselastraße 23 von Schwabing.
Ihren Lebensunterhalt bestritt sie mit einer von ihrem Vater geerbten zaristischen Pension von jährlich
7000 Rubel.
Bis 1899 besuchten Marianne von Werefkin und Jawlensky die „Azbé-Schule“, wo sie 1897 den
russischen Künstler Wassily Kandinsky (1866–1944), dem Begründer der abstrakten Malerei,
begegneten. 1901 haben sich die Werefkin und Jawlenski einander stark entfremdet. Der Maler hatte
mit der 15-jährigen Helene, die zur persönlichen Bedienung der Baronin mit nach München gekommen
war, eine intime Beziehung begonnen. Nachdem Helene auf Schloss Anspacki in Russland heimlich
den Sohn Andreas zur Welt gebracht hatte, wandte sich Jawlenski fortan der jungen Mutter und deren
Sohn so stark zu, dass die Werefkin vereinsamte.
1907 schloss sich Marianne von Werefkin im Alter von 47 Jahren in Paris der Gruppe „Fauves“ von
Malern um Henri Matisse (1869–1954) an. Damals begann sie, einen neuen Weg in der Kunst zu
suchen. Sie verstand, dass sie nicht das malen musste, was sie sah, sondern nur das, was in ihrer
Seele lebte. Die Natur, die vor ihr war, soufflierte ihr nur. Ebenfalls 1907 wurde die Werefkin Mitglied der
„Münchner Sezession“ und der Künstlergruppe „Der Sturm“.
1909 gehörte die Malerin zu den Gründungsmitgliedern der „Neuen Künstlervereinigung München“.
Später stellte sie immer wieder zusammen mit der Expressionistengruppe „Der blaue Reiter“ aus, deren
Name auf einem 1903 von Wassily Kandinsky gemalten Reiterbildnis basiert. Die übrigen
Gründungsmitglieder waren – neben Kandinsky – Gabriele Münter (1877–1962), Alfred Kubin (1877–
1959) und Franz Marc (1880–1916).
Außerdem beteiligte sich die Werefkin an der Gründung der Künstlervereinigung „Sankt Lukas“. Ihre
Gemälde stellte sie in Schweden, den Niederlanden, Russland, Österreich und in der Schweiz aus.
Beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 wurden alle Russen aus Deutschland in die Schweiz
abgeschoben. Damals ist auch die Künstlergruppe „Der blaue Reiter“ zerbrochen. Marianne von
Werefkin reiste über Saint Prex nach Zürich, wo sie unter anderem dem Dichter Rainer Maria Rilke
(1875–1926), dem Bildhauer Wilhelm Lehmbruck (1881–1919) und dem Pianisten und Komponisten
Ferruccio Busoni (1866–1924) begegnete.
In Ascona im schweizerischen Kanton Tessin fand Marianne von Werefkin 1914 ein ärmliches neues
Zuhause. Weil sie aus Russland keine Pension mehr erhielt, arbeitete sie vorübergehend als
Pharmavertreterin. Obwohl sie bettelarm war, wollte sie ihre Gemälde nicht verkaufen.
1924 schloss sich die Baronin Werefkin der Künstlervereinigung „Der große Bär“ an, 1920 beteiligte sie
sich an der Biennale in Venedig. Am 6. Februar 1938 starb Marianne von Werefkin im Alter von 77
Jahren in Ascona. Die Feierlichkeiten am Grab wurden von einem aus Mailand kommenden Priester in
russischer, französischer und italienischer Sprache zelebriert.
40
15 Paul Klee
(1879-1940)
Während des anderthalbjährigen Aufenthalts in München lernt Klee seine spätere Frau, die Pianistin Lily
Stumph, kennen und wird – gleichzeitig mit Kandinsky – an der Akademie im Malkurs des berühmten
Malers Franz von Stuck aufgenommen. Nach einem Schweizaufenthalt kehrt er 1906 nach München
zurück, wo er Lily heiratet. Das Paar bezieht eine Wohnung in der Ainmillerstraße, in der auch
Kandinsky wohnt. Durch Ausstellungen und Galerie-Besuche lernt er 1911 nacheinander Macke, Marc,
Jawlensky und Münter kennen und schließt sich, nach dem Bruch seiner Kollegen mit der Neuen
Künstlervereinigung, dem „Blauen Reiter“ an. Genau eine Woche nach dem Feldtod von Franz Marc
(4.3.1916) erhält Klee als deutscher Staatsbürger einen Einberufungsbefehl, der ihn zur
Grundausbildung nach Landshut beordert.
Paul Klee Föhn 1914 (im Garten von Franz Marc) und Mondaufgang
"Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."
16 Hilla von Rebay
(1890 – 1967)
Hilla von Rebay Bild R. Bauer, Selbstprtrait 1911, Foto 1913
Eine weitere Frau wurde für Kandiskys Zukunft von entscheidender Bedeutung, Hilla von Rebay,
genauer Hildegard Anna Augusta Elisabeth Baronin Rebay von Ehrenwiesen. Hilla Rebay übersiedelte
1910 nach München und blieb dort, wenn sie nicht gerade auf ihren häufigen Reisen war. Sie verpasste
die bahnbrechende erste Ausstellung der Künstlergruppe „Blauer Reiter“ im Winter 1911, mit der
41
insbesondere Wassily Kandinsky ins Rampenlicht trat – der Künstler, der später eine Hauptrolle in der
von ihr angeregten Sammlung spielen sollte. Kandinsky war ihr noch kein Begriff, - die ungewöhnlichen
Pferde von Franz Marc hat sie schon zur Kenntnis genommen. 1913 zeigte Rebay mehrere eigene so
genannte Negerbilder auf der Frühjahrsausstellung der Münchner Secession.
In Zürich kam es zu einer kurzen Affäre mit dem damaligen Dada-Künstler Hans Arp, vor allem aber
ging ihr der abstrakte Maler Rudolf Bauer, den sie 1916 in Berlin als glühenden Kandinsky-Verehrer
kennen gelernt hatte, nicht mehr aus dem Sinn. „Man fühlt ein Bild, wie man Musik fühlt“, sollte ihr
gemeinsames Credo werden. „Wie Sonne und Mond“ umkreisten die Baroness mit dem Siegelring und
der genialische Hungerkünstler einander. Ihre Beziehungen waren von Anfang an einem Wechselbad
der Gefühle – mal amourös, mal platonisch - ausgesetzt. Um 1916 entstehen Rebays erste
gegenstandslose Gemälde und Collagen. In ihrem neuen Schaffen ließ sie sich von Bildkonzeptionen
Kandinskys anregen, der in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg seine neue, gänzlich gegenstandsfreie
Bildsprache artikuliert hatte. Den Grundsätzen Kandinskys folgend, sah auch sie das innere Erleben
von Kunst als maßgebend an. Auch in der Verbindung von Malerei und Musik folgte sie Kandinsky, der
seit vielen Jahren die Synthese zwischen Malerei, Musik, Dichtung und Bühnenkunst gesucht hatte. Sie
nannte nun ihre Bilder u.a. „Impressionen“, „Improvisationen“ und „Kompositionen“. In der Berliner
Avantgarde-Galerie „Der Sturm“ besucht sie 1916 eine Kandinsky-Ausstellung. Neben Kandinsky,
dessen Werke „Über das Geistige in der Kunst“ und „Punkt, Linie zu Fläche“ sie später in englischer
Sprache übersetzte, hielt sie Rudolf Bauer für den zweiten bedeutenden abstrakten Maler und
verstärkte ihre Anstrengungen, vor allem sein Werk zu fördern.
Rudolf Bauer wurde seit langem als Kandinsky-Epigone abgetan. Manche Bilder lassen inzwischen die
Frage aufkommen, ob er tatsächlich immer nach oder nicht zuweilen doch vor Kandinsky zu
vergleichbaren Ergebnissen kam. Der selbstbewusste Kandinsky war höchst verwundert, dass in den
von Hilla von Rebay organisierten Ausstellungen stets Bauer am häufigsten vertreten war und nicht er
selbst. Es existiert ein umfangreicher Briefwechsel zwischen Hilla von Rebay und Wassily Kandinsky
aus dieser Zeit. Rebay stellt 1917 in einer Gruppenausstellung mit Hans Arp und anderen Künstlern in
der Galerie Dada in Zürich aus.
Irene Guggenheim, Wassily Kandinsky, Hilla von Rebay, Solomon R. Guggenheim 1919
1927 übersiedelt sie nach New York, beginnt 1928 mit einem Porträt von „Kupferkönig“ Solomon R.
(Robert) Guggenheim und begeistert ihn für die gegenstandslose Malerei sowie für den Aufbau einer
Sammlung gegenstandsloser Kunst. Von Rebay fuhr fort Guggenheim mit Wassily Kandinsky bekannt
zu machen, und mit ihrer Unterstützung kaufte er bald um 1929 mehr als 150 Werke des Künstlers
sowie Werke anderer abstrakter und nicht-gegenständlicher Künstler. Zu diesem Zeitpunkt schien die
Nichte Solomons, Peggy Guggenheim (Marguerite), das Geld ihres als Passagier der „Titanic“ 1912
umgekommenen Vaters Benjamin Guggenheim noch mit undurchsichtigen Künstlern in Frankreich
durchzubringen.
42
Benjamin Guggenheim war zusammen mit seiner jungen Geliebten Passagier der Titanic. Als er seiner
Geliebten einen Platz in einem Rettungsboot zugewiesen und anderen Passagieren geholfen hatte,
legte er seine Abendbekleidung an und sagte zu einem Mitglied der Crew: „Wir sind angemessen
gekleidet und bereit, wie Gentlemen unterzugehen“. Benjamin Guggenheim starb am 15. April 1912
beim Untergang der Titanic.
Solomon R. Guggenheim trat mit frisch erworbenen Kandinskys und Bauers in den Wettbewerb mit
anderen reichen New Yorker Familien um die bedeutendste Kunstsammlung ein. Am 7. Juli 1930
besucht Rebay mit den Guggenheims Kandinsky in Dessau. Guggenheim präsentiert seine neue
Sammlung in den neu renovierten Räumen im Plaza-Hotel in New York.
Die Guggenheim-Sammlung wird 1937 in der Philadelphia Art Alliance vorgestellt. Der Begleitkatalog
enthält Rebays Beitrag „The Beauty of Non-Objectivity“, in dem sie Bauer als „größten Meister der
Gegenstandslosigkeit“ bezeichnet, worauf Delaunay und Kandinsky verärgert reagieren. Rebay wurde
die erste Kuratorin und Direktorin der Guggenheim Sammlung. Sie war auch die treibende Kraft hinter
der Idee, das Museum zu Ausstellung moderner Kunst zu nutzen. "Art of Tomorrow", die Kunst von
morgen - hieß Rebays erste große Ausstellung 1939 in einem ehemaligen Autosalon in New York, die
sie mit Solomon R. Guggenheim ausrichtete. Die New Yorker waren begeistert. Die Bilder hingen in
Augenhöhe, der Boden war mit einem dicken Teppich ausgelegt, klassische Musik spielte dezent im
Hintergrund.
Aufgrund ihrer deutschen Herkunft wird Rebay 1942 als Enemy Alien - feindliche Ausländerin - für acht
Wochen interniert. 1943 nimmt Frau von Rebay Kontakt mit dem Architekten Frank Lloyd Wright auf,
der einen „Tempel der gegen-standslosen Kunst“ errichten soll. Sie fand in ihm eine verwandte Seele,
um das Museum ihrer Träume, "einen Tempel des Nicht-gegenständlichen", zu errichten. "Ich erklärte
ihm, was ich wollte, ein Museum, das langsam nach oben steigt. Keine Treppen, keine
Unterbrechungen", sagte von Rebay. "Er sagte: Haben Sie eine Skizze? Ich gab ihm eine Skizze." Das
Ergebnis steht in der Fifth Avenue in New York. Angeblich bestand sie darauf, die "Schnecke" weiß zu
streichen und nicht rot, wie Wright es favorisiert hatte. Er schrieb ihr: "Dieses ganze Gebäude ist für Sie
gebaut und um Sie herum, ob Sie das wissen oder nicht." Am 1. Juni 1939 war es schließlich so weit:
Das Museum of Non-objective Painting an der 54. Straße wurde eröffnet – unweit des 1929
gegründeten Museum of Modern Art. Dessen Direktor Alfred H. Barr sammelte die europäische
Moderne nach kunsthistorischen Maßstäben. Guggenheim hingegen sammelte die neuesten
Tendenzen. Die Eröffnungsausstellung nannte Hilla programmatisch „Art of Tomorrow“.
Hilla von Rebay muß als "Gesamtkunstwerk der alten Welt" in der Kunstszene der 30er Jahre gesehen
werden. Eine entsprechende Schau wurde bereits in New York, München und Murnau gezeigt. Hillas
Rivalin Peggy Guggenheim, Nichte von Solomon und Mäzenin der Surrealisten, zog 1942 mit ihrer
Galerie „Art of This Century“ nach. Nun kämpfte Hilla für einen eigenen Museumsbau, für den der
zunehmend kränkelnde Guggenheim das Grundstück am Central Park erwarb. Doch die Planung
verzögerte sich. Im November 1949 starb Hillas Gönner – ohne eine dauerhafte Regelung für ihre
Position im Museum zu hinterlassen. Hillas Stellung als Kuratorin des „Museums ungegenständlicher
Malerei“ wurde zunehmend prekär. Sie wurde bisweilen als herrisch beschrieben, und nach
Guggenheims Tod wurde offenbar, dass sie sich im Laufe ihrer teils beneideten, teils beargwöhnten
Ankaufstätigkeit manche Feinde geschaffen hatte. Ihr eilte der Ruf voraus, Guggenheims Geld in die
Bilder ihres Freundes Bauer investiert und ihn damit protegiert zu haben. Und doch – ohne sie wären
der weltberühmte Bau und die ebenso berühmte Sammlung nie entstanden.
Obwohl sie sich mit Kandinsky verkrachte, hat Hilla dessen Arbeiten weiterhin gekauft, so dass das
Guggenheim-Museum heute weltweit eine der wertvollsten Kandinsky-Sammlungen besitzt. Hilla konnte
Kandinskys „Courbe dominante“ (1936) erwerben, die Peggy Guggenheim vorher an den Galeristen
43
Nierendorf veräußert hatte (Peggy soll sich jahrelang über diesen Coup kurz nach Kandinskys Tod
geärgert haben). Hilla organisierte im März 1945 die erste Kandinsky-Gedächtnisausstellung mit 227
Werken des Meisters.
Das Museum war schon mit der komplizierten Beziehung zwischen Solomon Guggenheim und seiner
Nichte Peggy viele Jahre beschäftigt, ehe Peggys Sammlung der Guggenheim-Stiftung zugesellt
werden konnte. Von ihr, der Miterbin mit den wechselnden Affären, hieß es boshaft, sie sammele Kunst
und Künstler. 1945/46 bereitete sie die Veröffentlichung ihrer Memoiren vor, deren Arbeitstitel „Fünf
Ehegatten und ein paar weitere Männer“ lautete, – das war ihre Art von Ironie. 1947 übersiedelte sie mit
ihrer Sammlung in den Palazzo Venier dei Leoni in Venedig und stellte sie ein Jahr später auf der
Kunstbiennale in Venedig aus. Der Palazzo entwickelte sich zu einem Museum, das sie offiziell 1951
eröffnete. Peggy nannte man in Venedig L’ultima dogaressa, die letzte Dogin, ihre überdimensionalen
Sonnenbrillen und ihr Schoßhündchenrudel schienen aber zu dem Titel nicht recht zu passen.
In New York wurde der Guggenheim Privatbesitz mit über sechstausend Bildern und Objekten im Wert
von mindestens drei Milliarden Dollar erstmals ausgestellt und war und ist von da an in diversen Filialen
zu sehen. Franchising heißt diese neue Vorgehensweise, vergleichbar etwa mit einem Lizenzbetrieb. In
der heutigen Museumspolitik wird deshalb vom "Guggenheim-Prinzip" gesprochen.
17 Entartet?
1923 wetterte der Völkische Beobachter über „Zehn Jahre Kunstpest in München / Eine
kunstmedizinische Betrachung. Seit zehn Jahren wütet eine eigenartige Geistesseuche in unserer
Stadt, Neue Kunst, Expressionismus, von uns Kunstpest genannt. ... Dabei ist erfreulich, dass diese
Pest nicht zu einer allgemeinen septischen Verseuchung führte, sondern sich in Abszessen sammelte,
die man nur aufzuschneiden braucht. So ein Abszess ist die Kunsthandlung »Goltz«, Herr Goltz feiert
gegenwärtig das zehnjährige Jubiläum der Kunstpest durch eine Ausstellung. Sie zeigt an Werten der
bildenden Kunst die ganze pestilentische Entzündung, phosphoreszierende Fäulnis und den starren
Todeskampf des verlogenen, von der Natur abgeirrten Geistern in allen Varianten - von der
44
ungehemmten Tollwut bis zur hohlen Idiotie -, von der schamlosesten Gemeinheit bis zum religiösen
Wahnsinn. Dazwischen lallt Kubin in ekligen Fieberträumen, wühlt G. Grosz mit dem eifrigen Behagen
einer Made in verwesenden literarischen Gedanken, sitzt Davringhausen wie ein Pilz wohlig im Faulen.
Sein Selbstbildnis zeigt den Juden mit seinem urbösen Natternblick, seinen giftigen, polypenhaft
leuchtenden Glotzaugen. ...hier muss einmal, mit aller Entschiedenheit hineingehauen werden."
Mitgeteilt im ›Völkischen Beobachter‹ vom 29.3.1923. Anm.: Der Text ist - mit allen Rechtschreib- und Grammatikfehlern - authentisch.
Der Galerist Kandiskys und Münter Hans Goltz:
"An das / Rentamt II (Abteilung für Umsatzsteuer) / München / Betr. Statistik des Warenverkehrs,
Anmeldeschein für die Ausfuhr einer Original-Negerplastik (Holz). / Zu meinem Belauern kann ich Ihnen
den Hersteller der Neger-Plastik nicht mit Namen nennen, er hat das Kunstwerk nicht signiert. Es ist ein
Neger vom Dahomeystamm, der schwerlich in einem europäischen Adressbuch aufzufinden ist, auch
über seine Geburts- und Lebensdaten bin ich nicht informiert. Es kann sein, dass er noch lebt, es kann
sein, dass er am Rhein steht, es kann aber auch sein, dass er bereits verspeist ist. / Hochachtungsvoll!
gez. Hans Goltz"
(Der Ararat‹ 2. Jg. 1921, Nr. 11, S. 294)
1933 erfolgt die Schliessung des "Bauhauses". Adolf Hitler zur „Unkunst“ 1933:
"Was die Deutschen Künstler von der neuen Regierung erwarten! Sie erwarten, dass Materialismus,
Marxismus und Kommunismus (...) politisch verfolgt, verboten, ausgerottet werden. (...) Auf dem
Gebiete der bildenden Kunst bedeutet das: dass aus den Deutschen Museen und Sammlungen alle
Erzeugnisse mit weltbürgerlichen und bolschewistischen Vorzeichen entfernt werden. Man kann sie
vorher in einer Häufung der Öffentlichkeit vorführen, kann diese mit den dafür aufgewandten Summen,
den Namen der dafür verantwortlichen Galeriebeamten und Kultusminister bekannt machen - worauf die
Werke der Unkunst nur noch einen Nutzwert haben können: nämlich als Heizmaterial öffentliche
Gebäude zu erwärmen." (Mitgeteilt in der Zeitschrift: "DEUTSCHE KUNSTKORRESPONDENZ", 1933)
Kurz nach der am 10. Mai 1933 inszenierten landesweiten Bücherverbrennung erschien eine
regelmäßig aktualisierte Liste mit anfangs 131 Autoren, die aus deutschen Buchhandlungen und
Büchereien entfernt werden mussten. Zitat von Heinrich Heine: "Wo man Bücher verbrennt, verbrennt
man am Ende gar auch Menschen" und er sollte damit Recht haben.
Am 22. Sep. 1933 trat das Reichskulturkammergesetz in Kraft. Die Institution, deren Präsident Dr.
Joseph Goebbels war, setzte sich aus 7 Kammern zusammen, der Reichsschrifttumskammer, der presse-, der -rundfunk-, der -theater-, der -musik-, der -film- und der Reichskammer der bildenden
Künste zusammen. Die Aufnahme in eine der sieben Kammern, war für alle „freien Berufe“, also auch
für Kunsthändler zwingend vorgeschrieben. Alle Kandidaten mussten einen Fragebogen ausfüllen in
dem neben Fragen nach Name und Geburtsdatum ab 1935 auch danach gefragt wurde, ob der
Antragsteller oder seine Ehefrau ›arischer Abstammung‹ sei. Eine Nichtaufnahme - nicht arische
Antragsteller wurden grundsätzlich abgelehnt - oder der Ausschluss bedeutete automatisch den Fortfall
der Kranken- und Sozialversicherung und kam einem Berufsverbot gleich. Im November 1936
verkündete Goebbels, die Reichskammer sei nun ›judenrein‹. Schon am 10.4.1935 hatte Goebbels eine
Anordnung über die Veranstaltung von Kunstausstellungen herausgegeben. Danach wurde darauf
hingewiesen, dass jeder, der an der 1. Erzeugung, 2. Wiedergabe, 3. geistigen und technischen
Verbreitung, 4. Kunsterziehung Anteil hatte, Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste zu sein
und in Zukunft jede Kunstausstellung beim Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste
anzumelden hatte. Lediglich Atelierausstellungen, sofern sie ausschließlich Werke des Atelierbesitzers
umfassten, waren von der Anmeldungspflicht befreit. Nicht-arische, bzw. jüdische Kunsthändler, waren
damit gezwungen ihre Geschäfte aufzugeben. Fanden sie einen Käufer für ihre Unternehmungen,
wurden die Kunsthandlungen zumeist unter einem neuen Namen Weiterbetrieben. Jegliche Erinnerung
an den größtenteils jüdischen Kunsthandel in Deutschland sollte ausgelöscht werden.
Hans Brandenburg: München leuchtete. München 1953
45
1934 werden Werke auch von Kandinsky als entartet erklärt, da sie in keiner Weise dem nationalsozialistischen Kunstideal entsprachen.
Goebbels am 28.03.1937 vor Filmschaffenden: "Die Kunst ist frei. Und die Kunst soll frei bleiben,
allerdings muss sie sich an bestimmte Normen gewöhnen." 1937 werden 57 Werke Kandinskys in
deutschen Museen als "entartet" beschlagnahmt und verkauft. Die Ausstellung "Entartete Kunst" wurde
am 19. Juli 1937 im Münchner Hofgarten eröffnet und zeigte 650 konfiszierte Kunstwerke aus 32
deutschen Museen. Bis April 1941 wanderte sie in zwölf weitere Städte. Sie zog über 3 Millionen
Besucher an. In der Ausstellung wurden ihre Exponate mit Zeichnungen von geistig Behinderten
gleichgesetzt und mit Photos verkrüppelter Menschen kombiniert, die bei den Besuchern Abscheu und
Beklemmungen erregen sollten. So sollte der Kunstbegriff der avantgardistischen Moderne ad
absurdum geführt und moderne Kunst als "entartet" und als Verfallserscheinung verstanden werden.
Diese Präsentation "kranker", "jüdisch-bolschewistischer" Kunst diente auch zur Legitimierung der
Verfolgung "rassisch Minderwertiger" und politischer Gegner. Parallel zur "Entarteten Kunst" zeigten die
Nationalsozialisten in der "Großen Deutschen Kunstausstellung" im Münchner "Haus der Deutschen
Kunst" mehrfach, was man unter "deutscher" Kunst zu verstehen habe. Moderne Musik wie der Swing
oder der "Nigger-Jazz" wurden auf der am 24. Mai 1938 eröffneten Ausstellung "Entartete Musik"
ebenso rücksichtslos diffamiert wie der "Musikbolschewismus" von international bekannten
Komponisten wie Hanns Eisler, Paul Hindemith oder Arnold Schönberg, der ebenfalls zum
Freundeskreis Kandiskys und Münters gehörte.
Kandinsky wird 1937 in der Gruppe 9 gezeigt:
„Dieser Abteilung kann man nur die Überschrift "Vollendeter Wahnsinn" geben. Sie nimmt den größten
Teil der Ausstellung ein und enthält einen Querschnitt durch die Ausgeburten sämtlicher "Ismen", die
Flechtheim, Wollheim und Cohnsorten im Laufe der Jahre ausgeheckt, gefördert und verramscht haben.
Auf den Bildern und Zeichnungen dieses Schauerkabinetts ist meistens überhaupt nicht mehr zu
erkennen, was den kranken Geistern vorschwebte, als sie zu Pinsel oder Stift gegriffen. Der eine
"malte" schließlich nur noch mit dem Inhalt von Mülleimern. Ein anderer begnügte sich mit drei
schwarzen Linien und einem Stück Holz auf einem großen weißen Untergrund. Ein Dritter hatte die
Erleuchtung, "Einige Kreise" auf zwei Quadratmeter Leinwand zu malen. Ein Vierter verbrauchte
nacheinander für drei Selbstbildnisse gut drei Kilogramm Farbe, da er sich nicht einig werden konnte,
ob sein Kopf grün oder schwefelgelb, rund oder eckig, seine Augen rot oder himmelblau oder sonst
etwas sind. In dieser Gruppe des Wahnsinns pflegen die Ausstellungsbesucher nur noch den Kopf zu
schütteln und zu lachen. Sicher nicht ohne Grund. Aber wenn man bedenkt, dass auch all diese
"Kunstwerke" nicht etwa aus verstaubten Ecken verlassener Ateliers, sondern aus den
Kunstsammlungen und Museen der großen deutschen Städte herausgeholt wurden, wo sie teilweise
noch in den ersten Jahren nach der Machtergreifung hingen und der staunenden Mitwelt dargeboten
wurden, dann kann man nicht mehr lachen: dann kann man nur mit der Wut darüber kämpfen, dass mit
einem so anständigen Volk wie dem deutschen überhaupt einmal so Schindluder getrieben werden
konnte.“
Adolf Hitlers selbst erklärt in seiner Ansprache zum „Tag der Deutschen Kunst“ am 18.7.1937:
".. Nicht bolschewistische Kunstsammler oder ihre literarischen Trabanten haben die Grundlagen für
den Bestand einer neuen Kunst geschaffen oder auch nur den Fortbestand der Kunst in Deutschland
sichergestellt, sondern wir, die wir diesen Staat ins Leben riefen... ...wir werden von jetzt ab einen
unerbitterlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzen Elemente unserer Kulturzersetzung.“
Adolf Ziegler, Präsident der Reichskammer der Bildenden Künste, bei der Eröffnung der Ausstellung
"Entartete Kunst": "Mit der Eröffnung dieser Ausstellung aber hat das Ende der deutschen
Kunstvernarrung und damit der Kulturvernichtung unseres Volkes begonnen. Wir werden von jetzt ab
46
einen unerbittlichen Säuberungskrieg führen gegen die letzten Elemente unserer Kulturzersetzung.
Sollte sich unter ihnen aber einer befinden, der doch noch glaubt zu Höherem bestimmt zu sein, dann
hatte er nun ja vier Jahre Zeit, diese Bewährung zu beweisen. Diese vier Jahre aber genügen auch uns,
um zu einem endgültigen Urteil zu kommen. Nun aber werden - das will ich Ihnen hier versichern - alle
die sich gegenseitig unterstützenden Cliquen von Schwätzern, Dilettanten und Kunstbetrügern
ausgehoben und beseitigt. Diese vorgeschichtlichen, prähistorischen Kultursteinzeitler und
Kunststotterer mögen unseretwegen in die Höhlen ihrer Ahnen zurückkehren, um dort ihre primitiven
internationalen Kritzeleien anzubringen. Allein das Haus der deutschen Kunst in München ist gebaut
vom deutschen Volke für seine deutsche Kunst."
... und zur Eröffnung:
"Sie sehen um uns herum diese Ausgeburten des Wahnsinns, der Frechheit, des Nichtkönnertums und
der Entartung. Uns allen verursacht das, was diese Schau bietet, Erschütterung und Ekel. (...) Ich gebe
damit die Ausstellung "Entartete Kunst" für die Öffentlichkeit frei. Deutsches Volk, komm und urteile
selbst"
18 Rudolf Wacker
1893 - 1939
Der Österreichische Maler Rudolf Wacker aus Bregenz zählt zu den wichtigen Künstlern der Jahre
zwischen den beiden Weltkriegen und gilt als Hauptvertreter der Neuen Sachlichkeit in Österreich. 1911
folgte er seinem Professor Albin Egger-Lienz (1868 - 1926) nach Weimar, wo jener eine Professur an
der Hochschule für bildende Kunst erhielt. Dem 1. Weltkrieg folgten fünf Jahre Kriegsgefangenschaft in
Sibirien. Vorerst widmete er sich fast ausschließlich dem Zeichnen. In Berlin begann Wacker mit der
Malerei, zunächst im Expressionismus, in den späten 20er Jahren folgte die Hinwendung zur Neuen
Sachlichkeit. 1913 beginnen seine Tagebuchaufzeichnungen, 1922 entstehen erste Stilleben und es
folgt die Hochzeit mit Ilse Moebius. 1923 veröffentlicht Wacker „Direktiven für eine Kunst“, worin er
seinen Wandel vom Expressionismus zur Neuen Sachlichkeit beschreibt.
Bilder 1922 – 1925 Kasperl, Puppen, Selbstporträt und Engel
Amnfang September 1937 besucht er mit Frau Ilse die Ausstellung „Entartete Kunst“ und das „Kaus der
Deutschen Kunst“ in München und hält fest:
„Fast vollständig die moderne deutsche Kunst nach dem Krieg. Kaum irgendwo bisher in dieser
Konzentration beisammen. – Wieviel Herzblut! (drüben im Tempel „Birnensaft“). In der Auflistung der
Künstler nach Abteilungen etwa: „... Die Abstrakten u. Formalisten (die doch nicht weh tun!) ...
Kandinsky ... „ durch Unterstreichung hervorgehoben, wie auch „ ... (begreiflich) die Dadaisten. - ...“ für
die er nichts übrig hatte. „Aufmachung: „Schandaustellung“ wie sie mit erdachtem Raffinement nicht
47
besser als solche zu kennzeichnen wäre. Die Bilder teils ungerahmt, dicht nebeneinander, gegen´s
Licht, schief gehängt, Kreideschrift auf den Rahmen, Preise der Bilder ....Täuschung durch
Inflationspreise, .. – Trotzdem ich das Meiste schon wusste, es krampft sich das Herz. ... die freilich die
„Masse“ (in Millionen strömt sie hinein // in die „Entartete“, ohne Eintritt, bis zur Dunkelheit, rechts
gehen, Jugendliche unter 16 keinen Zutritt//) – zum erstenmal sieht.“ Und weiter:
„Haus der Deutschen Kunst. Davon gibt es einen Katalog, mag er, gehalten gegen die Liste der
Entarteten (wovon es keinen Katalog gibt) historisch werden. – Es sind nur ganz wenige Bilder die einer
Diskussion würdig sind. Das Gros ist Mittelmäßigkeit und der tollste Kitsch ist an die repräsentativste
Stelle gerückt. - .... – Das ganze Land ist eine Kaserne. – Der entmündigte Bürger exerziert. –
Herrschaft der Geistlosen. ...“
19 Synästhesie
Der Philosoph John Locke berichtete 1690 von einem blinden Mann, der die Farbe scharlachrot mit dem
Klang einer Trompete gleichsetzte. In Versuchen forderte man „Nichtsynästhetiker“ auf, sich Farben
vorzustellen. Der englische Augenarzt Thomas Woolhouse beschrieb den Fall eines Blinden, der von
Tönen ausgelöste Farbvisionen hatte. Während des neunzehnten Jahrhunderts widmeten sich
zunehmend auch Wissenschaftler der Synästhesie, im Besonderen Naturphilosophen, Künstler und
Psychologen. Sir Isaak Newton versuchte 1704 eine Formel zu finden, die eine Gleichsetzung der
Schwingungsfrequenzen von Schallwellen mit entsprechenden Wellenlängen des Lichtes erlaubte. Es
gelang ihm zwar nicht, diese Formel zu entwickeln, die Idee des Translationsalgorithmus fand jedoch
praktische Anwendung in der „clavecin oculaire“, einem Instrument, welches Töne und Licht
hervorbrachte.
Die Idee der Vereinigung der Sinne ist ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts, die Beachtung durch
eine große Künstlerbewegung fand. Multimodale Konzerte, bei den mit Musik, Licht und sogar Düften
gearbeitet wurde, fanden regen Zulauf. In der „gehobenen Gesellschaft“ gehörte der Begriff der
Synästhesie zum guten Ton. Es war Mode und Glaubensbekenntnis zugleich, denn zu dieser Zeit war
die Vorstellung von Geist oder Seele unter Wissenschaftlern nicht anerkanntes Gedankengut. Ein
mechanistisches Denken herrschte vor, welches den menschlichen Körper mit einer Maschine verglich.
Alles „objektiv“ Beweisbare war akzeptabel, Subjektivität- wie Emotion, Seele etc. hingegen nicht und
galten als ein Gebilde der Fantasie. Die Kunst war Ort der Entfaltung synästhetischer Ideen. Aleksander
Skrjabin (1871- 1975) versuchte seine eigene Synästhesie in seiner 1911 geschriebenen Symphonie
„Prometheus“ zum Ausdruck zu bringen. Auch die Grundlage der „Color Symphony“ von Arthur Bliss
unterlag synästhetischen Vorstellungen.
Als einer der bekanntesten Synästhetiker gilt Wassily Kandinsky, der 1910 die gegenständliche Malerei
aufgab und sein Interesse mehr dem Ausdruck seiner “Visionen“ schenkte. Der Beziehung von Farbe
und Klang galt sein Interesse. Er benutzte Begrifflichkeiten aus der Musik, um seine Bilder zu
beschreiben. Seine einaktige Oper „der gelbe Klang“ (1912) bezeichnete er als Mixtum compositum,
denn sie verband Farben, Licht, Klang und Tanz. Die Musik komponierte Thomas von Hartmann, ein
Freund Kandinskys und wie er auch ein Mitglied der Avantgarde-Gruppe „Der blaue Reiter“.
KANDINSKY - AUTOBIOGRAPHISCHES 1912:
Ich bin geboren 5. Dezember 1866 in Moskau. Bis zu meinem dreißigsten Jahr habe ich mich gesehnt
Maler zu werden, da ich die Malerei mehr als alles andere liebte, und es war mir nicht leicht, diese
Sehnsucht zu bekämpfen. Es schien mir damals, dass die Kunst für einen Russen heute ein unerlaubter
Luxus ist. Deshalb wählte ich auf der Universität die Nationalökonomie zu meiner Spezialität. Die
Fakultät bot mir an, mich der Gelehrtenlaufbahn zu widmen. Als ›Attache‹ der Universität zu Moskau
48
habe ich auch die offiziellen Möglichkeiten dazu bekommen. Nach sechs Jahren bemerkte ich aber,
dass mein früherer Glaube an den heilenden Wert der sozialen Wissenschaft und schließlich an die
absolute Richtigkeit der positiven Methode stark geschmolzen war. Endlich entschloss ich mich, die
Resultate der vielen Jahre über Bord zu werfen. Und es schien mir, dass diese ganze Zeit für mich
verloren war. Heute weiß ich, was sich in diesen Jahren in mir gesammelt hat und ich bin dankbar dafür.
Früher hatte ich mich hauptsächlich mit dem Problem des Arbeiterlohns theoretisch beschäftigt. Jetzt
wollte ich an dieselbe Frage von der praktischen Seite herantreten und nahm in einer der größten
Druckereien in Moskau die Stellung eines Leiters an. Mein neues Fach war der Lichtdruck, welcher
mich einigermaßen in Berührung mit der Kunst brachte. Meine Umgebung waren Arbeiter. Ich blieb aber
nur ein Jahr in diesem Fach, da mit 30 Jahren mich der Gedanke überkam: jetzt oder nie. Die
allmähliche Innere mir bis dahin unbewusste Arbeit war jetzt so weit, dass ich zu dieser Zeit meine
künstlerischen Kräfte mit vollkommener Klarheit fühlte und Innerlich war ich so reif, dass mir die
Berechtigung Maler zu werden ebenso klar wurde. So ging ich nach München, dessen Schulen damals
in Russland hoch geschätzt wurden. Zwei Jahre besuchte ich die berühmte Ažbe-Schule und zwang
mich, die Zeichnung von der organischen Seite zu studieren, was mir widerwärtig war. Danach wollte
ich die Zeichenklassen der Münchener Akademie versuchen, fiel aber bei der Prüfung durch. Nach
einem Jahr selbständiger Arbeit zeigte ich meine Entwürfe Franz Stuck und wurde von ihm in seine
Malklasse auf der Akademie aufgenommen. Ich verdanke seiner Korrektur vieles und von ganz
besonderem Werte war für mich sein Ratschlag zur Vollendung des Bildes. Nach einem Jahr fand ich,
dass ich weiter allein arbeiten muss und das war der Anfang meiner künstlerischen Laufbahn. Seitdem
sind zehn Jahre vergangen, welche sich in dieser Kollektion abspiegeln. Diese Kollektion zeigt, dass
mein Ziel immer dasselbe blieb und nur an Klarheit gewann und dass meine ganze Entwicklung nur in
dem Konzentrieren der Mittel zu diesem Ziel bestand, welche allmählich von dem für mich
Nebensächlichen sich befreiten. KANDINSKY, München, September 1912.
20 Literaturhinweise:
Nina Kandinsky klagte Lothar-Günther Buchheim, der in seinem Buch über den Blauen Reiter die
ganzseitigen Kandinsky-Reproduktionen als "Zitate" verstanden wissen wollte, auf Tantiemen.
Buchheim sah darin nur einen Rachefeldzug, weil er erwähnt hatte, Kandinsky habe ihrer Vorgängerin
Gabriele Münter einst in Murnau "hoch und heilig" die Ehe versprochen. Während der dreizehn Jahre,
die der Prozess dauerte (bis 1973), verhinderte Nina Kandinsky nach Möglichkeit alle Leihwünsche von
deutschen Museen. Das Urheberecht siegte zwar in der letzten Instanz, aber die Geschichte der
Rivalität Nina Kandinsky/Gabriele Münter war damit gleichsam aktenkundig. Buchheims bissiger
Kommentar: "Wer Nina Kandinsky kennt, mag die indische Sitte der Witwenverbrennung nicht mehr zu
verurteilen." Aus dem Leben von Alexej von Jawlensky möchten die Erben mit gleichem Eifer Marianne
von Werefkin streichen. Nachdem der Maler sich 1921 von ihr getrennt hatte, heiratete er Helene
Nesnakomoff, Werefkins Zofe und die Mutter des 1901 geborenen Andrej Jawlensky. Ihre
Schwiegertochter und die beiden Enkelinnen fungieren nicht nur als Herausgeber eines umstrittenen
Werkverzeichnisses, das als echt aufführt, was als Fälschung gilt. Sie verbieten auch jede Abbildung
eines Jawlensky-Werkes in Zusammenhang mit Gemälden der Werefkin. Es bleibt zu hoffen, dafür nicht
verklagt zu werden.
HP Schloßmuseum des Marktes Murnau a. Staffelsee 2003
HP www.kunstzitate.de
L. B. BUCHHEIM, Der Blaue Reiter u. die NKM, Feldafing 1959
Ausstellungskatalog: Der Almanach Der Blaue Reiter. Bilder und Bildwerke in Originalen,
Schlossmuseum Murnau 1998
R. GOLLEK, Der Blaue Reiter im Lenbachhaus, Kat. der Slg., München 1988
Gisela Kleine, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares, Insel Verlag 1994
49
Stefanie Schröder, Im Bann des blauen Reiters. Das Leben der Gabriele Münter, Herder Verlag 2000
Tagesspiegel 2.10.2005
Programmheft Art of Tomorrow: Hilla von Rebay und Solomon R. Guggenheim von art-perfect by Birgit
Eisinger-Wolf
Klaus Hammer, Literatur- und Kunstwissenschaftler, freier Buchkritiker, Literaturverlag
Dr. Elisabeth Tworek "Ödön von Horváth. Einem Schriftsteller auf der Spur", Literaturhaus München und
Literaturhaus Wien, Monacensia München und Stadtmuseum München 2001/2002,
DEARBORN, MARY V.: Ich bereue nichts! Das außergewöhnliche Leben der Peggy Guggenheim.
Übersetzt aus dem Englischen von Cornelia Panzacchi. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2005
FALTIN, SIGRID: Die Baroness und das Guggenheim. Hilla von Rebay – eine deutsche Künstlerin in
New York. Libelle Verlag, Lengwil am Bodensee 2005
Superfrauen: 14 Bücher auf einer CD-ROM" www.buch-shop-mainz.de
Rudolf Wacker Tagebücher 1913 – 1939 Rudolf Sagmeister (Hg), Topos, Liechtenstein 1990
Alexej von Jawlensky-Archiv AG (Hrsg.): Forschungsbeiträge zu Leben und Werk Alexej von
Jawlenskys. Bd. 2. Alexej von Jawlensky-Archiv AG
Christian Meyer: Konzept zur Ausstellung »Schönberg, Kandinsky, Blauer Reiter und die russische
Avantgarde – Die Kunst gehört dem Unbewußten« ASCenter
Reinhold Heller, Gabriele Munter: The Years of Expressionism, 1903-1920, New York and Munich,
Prestel-Verlag, 1997
Sue Taylor "Gabriele Munter: Espoused to Art - German Expressionist painter". Art in America. Jan
1999
"Im Bann des blauen Reiters. Das Leben der Gabriele Münter." Stefanie Schröder
"Gabriele M|nter und Wassily Kandinsky. Biographie eines Paares.", Gisela Kleine, Insel 1994
"Das Münter Haus in Murnau", Helmut Friedel, Prestel 2003
Inge Scholl: Die Weiße Rose. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt 1993
Freddy Litten, Max Dingler -- Die andere Seite, DFG-Forschungsprojekt "Das Schicksal der
Naturwissenschaftler an der Universität München 1945-1949 und Literatur in Bayern, Nr. 43, 1996, S.
10-23
Richard Beiderbeck, Schwabing-Wahnmoching, Franziska zu Reventlow, die Münchner Bohème und
die Kosmiker, www.koinae.de/Reventlow.htm
21 Anhang: Briefwechsel Münter / Kandinsky – Schönberg
„Die blaue Reiterei stürmt voran.“
Gabriele Münter an Arnold Schönberg, 27. September 1911
Lieber Herr Schönberg!
Hier kommt die Erinnerung. Bitte, seien Sie doch so gut zu veranlassen, daß der erwähnte Artikel aus
dem bewußten Taschenbuch baldmöglichst in Kandinskys Hände kommt – und was Sie sonst noch
Gutes geschrieben haben. Sie würden auch ein sehr gutes Werk thun, wenn Sie gute Reproduktionen
(Photos oder Clichés) von Kokoschka, der ja auch in Berlin ist, direkt schicken lassen könnten. Wenn
nicht, bitte um Kokoschkas Adresse, daß wir uns selbst an ihn wenden können. Die blaue Reiterei
stürmt voran. Ein Haufen Arbeiten. Es soll mit dem Druck angefangen werden, helfen Sie! Stürmen Sie
mit, damit das Ziel erreicht wird.
50
Wir warten sehr auf Artikel u. Bildermaterial.
Und wie geht es Ihnen u. den Ihren in Berlin? Sie werden wohl entschuldigen, daß Kandinsky heute
nicht selbst schreiben kann. Ich muß auch gleich an Herrn Berg schreiben, wegen Ihren Bildern.
Und nun – ich muß auch eilen. Herzlichste Grüße u. beste Wünsche von uns beiden, denen sich auch
Marcs anschliessen.
Ihre ergebene
Gabriele Münter
Arnold Schönberg an Wassily Kandinsky, 11. November 1911
Lieber Herr Kandinsky, auf den »blauen Reiter« bin ich schon sehr neugierig. Wann erscheint er denn
endlich? Oder sind Sie noch nicht so weit?
Ihnen einen Aufsatz für die zweite Nummer zu schreiben, fand ich noch immer nicht Zeit. Aber vielleicht
komme ich doch bald dazu. Augenblicklich geht’s wohl kaum, denn ich habe vom 20. November
angefangen im Sternschen Konservatorium einen Cyklus von 8 – 10 Vorträgen über »Aesthetik und
Kompositionslehre«. Wie Sie sich wohl denken werden, handelt es sich dabei darum, beide
umzustoßen. Vielleicht werde ich einen dieser Vorträge schriftlich ausarbeiten und ihn dem blauen
Reiter geben. […]
Wassily Kandinsky an Arnold Schönberg, 16. November 1911
[…] Nun, der Blaue Reiter! Der erscheint ja erst Mitte Januar, vielleicht sogar Ende. Und deshalb haben
Sie noch einen sehr guten Monat für Ihren Artikel. Erste No. ohne Schönberg! Nein, das will ich nicht.
Wir werden eben 3 – 4 musik[alische] Artikel haben – Frankreich, Rußland. Der eine ist groß, heißt
»Musikwissenschaft«, stammt von Moskau u.
stellt vieles auf den Kopf. Geben [Sie] uns 10 – 15 Seiten! Wie gesagt – ohne Schönberg darf es nicht
sein. […]
München
5. 5. 1914
Lieber Herr Schönberg
Es freut uns sehr, daß Sie und Ihre Familie im Sommer nach Bayern kommen. Wirklich fein! Münter
schlägt Ihnen Uffing*) vor – stiller Ort am Staffelsee, (2 Hotels: "Seerose" – einfach, nett; "Kurhaus
Staffelsee" – teuer, nicht sehr gut)
oder Seehausen, viel näher zu uns. Beide Orte mit sehr feinen Badegelegenheiten und Kahnfahrten.
Von Uffing bis Murnau – 1 Stunde im Kahn, ebenso zu Fuß. Von Neuhausen [= Seehausen] – 20 Min.
Uffing ist netter. Sie können sich aber auch ebenso gut in Murnau einmieten – nur liegt M. hoch, und so
ist man gezwungen, nach dem Schwimmen und Rudern auf den Hügel zu klettern. Am allerbesten
fahren wir von München aus in die Murnauer Gegend zusammen u. Sie sehen sich alles selbst an.
Wollen Sie eine Wohnung mit Küche? Oder werden Sie keinen Haushalt führen?
Hier gibt es allerhand Theaterpläne, wovon Sie von Marc schon gehört haben. Sie werden deshalb
besonders gierig erwartet.
Viele herzliche Grüße von Haus zu Haus
Ihr Kandinsky
[Münters Schrift]
51
*) Uffing gefiel mir im Jahre 1908 besonders gut wegen der Seenähe, u. ich wünschte das nächste Jahr
statt Murnau dorthin zu gehen. Badegelegenheit schien mir gut – kann aber nicht garantieren.
[Münters Schrift]
[undatiert, 7. 5. 1914?]
Sonntag um 6. Lieber Herr Schönberg! Wir meinen, das Holzhäuschen im See ist zu klein, zu primitiv
eingerichtet – die Schnaken [Mücken] werden Sie zu sehr eßen. Schränke u. Komfort fehlen ziemlich –
bei schlechtem Wetter sitzen Sie ganz im Wasser u. kriegen den Schnupfen. Es ist nix für 5 Leute, von
denen einer arbeiten will. Dagegen bitten wir Sie zu wählen zwischen dem heute ausführlich beschrieb.
Haus Staib Seidlstr. 6 u. der Villa Achilles am See. Morgen telegraphieren wir Ihnen den Preis von
Achilles, nachdem wir es besichtigt haben – das ist eine Villa auch ganz für sich – s. Wohnungsliste! mit
allem Komfort – unten am See. Es wird wohl teurer als Staib, aber der Vermieter geht sicher von seinen
1000 M. herunter, da Sie es nur 5 Wochen brauchen. Das Haus Staib hat den Vorzug der Heizbarkeit u.
daß oben beim Dorf weniger Schnaken sind u. daß es sehr billig ist u. alles nötige vorhanden. Küche
scheint sehr genügend eingerichtet.
Bei Staib sind die Betten sicher gut – bei Seefried etwas provisorisch aussehend. Ich laße wieder den
Schluß für K – damit wir nichts vergessen.
[Kandinskys Schrift]
Bei Staib sind gute Kachelöfen. Ihren Eilbrief um 4 Uhr erhalten. Dienstag haben Sie die
Staibbeschreibung und den Preis Achilles. Dann telegraphieren Sie bitte, was wir nehmen sollen. Bayer.
Sommer kann kalt sein und Ofen u. Holz nötig.
Ihr K.
12. 5. 1914
Lieber Herr Schönberg, vor einigen Tagen waren wir in Murnau. Dort haben wir (wie beabsichtigt) mit
der früheren Besitzerin unseres Häuschens gesprochen, die jetzt ein anderes größeres Haus hat und
Zimmer vermietet. Es ist eine sehr anständige, gewissenhafte und nette Frau, die wir beide aufs
wärmste empfehlen können. Sie hat verschiedene freie Zimmer, die bis 4. Juli frei sind (später ist alles
vermietet). Die Preise sind: 1. Stock pro Bett 1 Mark, II. St. – – 80 Pf. Dabei können Sie auch 2 Zimmer
haben oder 3, Küchenbenutzung inbegriffen. Ich weiß nur leider nicht, ob etwas speziell gerechnet wird,
wenn Sie die Küche allein benutzen wollen, d. h. nur für sich allein in Anspruch nehmen. Ich glaube –
nicht. Doch! 80 Pf. pro Tag. Wenn es Sie interessiert, Näheres zu erfahren, so schreiben Sie doch an
Frau Xaver Streidl, Kohlgruberstraße, Murnau a. Staffelsee, Oberbayern. Sehr schöner Blick auf
Murnau, aus manchen Fenstern auf den See. Schöner Balkon. Zimmer zur Ost (Murnau) – und
Südseite (Berge), wichtig für das kalte Bayern. Durch schöne Anlagen und Wald zum See. Viele
Kaninchen! N. B. für die junge Generation!! Wiesen, einsame Hügel, Wald, wo sich oft Rehe zeigen u.
wunderschön singen.
[Kleine Lageskizze mit See und Kohlgruber Straße "nach Kohlgrub u. Oberammergau. wohin auch eine
elektr. Bahn fährt"]
Von uns 5-8 Minuten! Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie bei Streidls mieten würden. Aber eins habe
ich vergessen! Ich weiß ja nicht, wie lange Sie in unserer Gegend bleiben wollen! Da doch die Zimmer
nur bis 4. Juli frei sind. Aber dann ziehen Sie vielleicht etwas in die Kochelgegend – Kochel selbst od.
an den feinen Walchensee. Aber auch Kochel ist fein! Nur finden wir Murnau mannigfaltiger, freier.
Schnell will ich den Brief in den Kasten stecken. Schreiben Sie uns doch ein paar Worte, wie Sie sich
entschließen! Ja?
Viele herzliche häusliche Grüße Ihr Kandinsky
52
Mödling bei Wien
Bernhardgasse 6
19. 4. 1923
Lieber Herr Kandinsky,
wenn ich Ihren Brief vor einem Jahr bekommen hätte, würde ich alle meine Grundsätze fallen haben
lassen, hätte auf die Aussicht, endlich komponieren zu dürfen, verzichtet, und hätte mich, den Kopf
voran, in das Abenteuer gestürzt. Ja ich gestehe: noch heute habe ich einen Augenblick geschwankt: so
groß ist meine Lust zu unterrichten, so leicht entzündlich bin ich noch heute. Aber es kann nicht sein.
Denn was ich im letzten Jahre zu lernen gezwungen wurde, habe ich nun endlich kapiert und werde es
nicht wieder vergessen. Daß ich nämlich kein Deutscher, kein Europäer, ja vielleicht kaum ein Mensch
bin (wenigstens ziehen die Europäer die schlechtesten ihrer Rasse mir vor), sondern, daß ich Jude bin.
Ich bin damit zufrieden! Heute wünsche ich mir gar nicht mehr eine Ausnahme zu machen; ich habe gar
nichts dagegen, daß man mich mit allen andern in einen Topf wirft. Denn ich habe gesehen, daß auf der
Gegenseite (die ja für mich nicht weiter vorbildlich ist) auch alles in einem Topf ist. Ich habe gesehen,
daß einer, mit dem ich gleiches Niveau zu haben glaubte, die Gemeinschaft des Topfes aufgesucht hat;
ich habe gehört, daß auch ein Kandinsky in den Handlungen der Juden nur Schlechtes und in ihren
schlechten Handlungen nur das Jüdische sieht, und da gebe ich die Hoffnung auf Verständigung auf. Es
war ein Traum. Wir sind zweierlei Menschen. Definitiv!
Deshalb werden Sie begreifen, daß ich nur noch dasjenige tue, was zur Erhaltung des Lebens nötig ist.
Vielleicht wird eine spätere Generation wieder imstande sein zu träumen. Ich wünsche das weder für
sie, noch für mich. Ja im Gegenteil, ich gäbe viel darum, wenn es mir vergönnt wäre, ein Erwachen
herbeizuführen.
In meine herzlichen und hochachtungsvollen Grüße mögen sich der Kandinsky der Vergangenheit und
der jetzige mit Gerechtigkeitsgefühl teilen.
Auf Schönbergs Briefkopie keine Unterschrift
Dieses Dokument ist ein nicht-kommerzielles Projekt, ein reines Hobby. Es sind keinerlei kommerzielle
Absichten damit verknüpft. Sollten Sie hinsichtlich des Textes oder der darin enthaltenen Illustrationen
und Szenenfotos Ihre eigenen Urheberrechte verletzt sehen, bitte ich Sie, mich umgehend per Mail oder
postalisch zu kontaktieren. Der Text dieser PDF-Dokumente unterliegt der CreativeCommons
Attribution-NonCommercial License. In auch für Nichtjuristen lesbarer Form bedeutet dies: Sie dürfen
die Texte beliebig kopieren, weitergeben, aufführen und ausstellen sowie eigene, hiervon abgeleitete
Werke anfertigen, sofern Sie die folgenden Bedingungen akzeptieren: - Sie müssen den Autor, S.
Wacker, als Quelle nennen - Sie dürfen die Texte nicht für kommerzielle Zwecke verwenden,
- Sie verpflichten sich, im Falle einer Weiterverarbeitung oder Weitergabe des Buches die hier
genannten Lizenzbedingungen dem bzw. den Empfänger(n) mitzuteilen, - Abweichungen von den
Lizenzbedingungen sind nur nach schriftlicher Genehmigung durch den Autor zulässig. Das geltende
Recht zu Zitaten und anderen Rechten bleibt natürlich unangetastet. Die Urheberrechte von
Abbildungen und Trailern liegen bei den jeweiligen Rechteinhabern, sofern nicht anders vermerkt.
Alexander Roda Roda
53
Alexander Roda Roda, als Alexander Friedrich Rosenfeld 1872 in Slavonien geboren, war zunächst
Offizier der K. u. K.-Monarchie. Seit 1901 schrieb er Anekdoten und humoristische Geschichten, die er
auch in Kabaretts vortrug, bis sie zum Teil in Österreich verboten wurden. Er ging 1907 nach München,
wo er unter anderem für die Zeitschrift „Simplicissimus“ schrieb. Später lebte er in Berlin und Paris. Vor
dem 1. Weltkrieg lebte er zeitweise auch in Murnau, wie seine Tagebuchaufzeichnungen zeigen. Nach
dem Reichstagsbrand 1933 verließ Roda Roda Deutschland und emigierte nach New York, wo er 1945
starb.
Bald nach seiner Geburt übersiedelte die Familie nach Zdenci (Slawonien). Sándor
Rosenfeld studierte in Wien Jus (ohne Abschluß) und begann eine Offizierslaufbahn. 1894
konvertierte er vom mosaischen zum römisch-katholischen Glauben. 1899 Änderung
seines Nachnamens auf Roda.
Ab 1901 veröffentlichte er humoristische Geschichten, meist aus dem Militärleben, die er
auch in Kabaretts vortrug, so zum Beispiel in Wien im "Cabaret Nachtlicht", in der
"Fledermaus", im "Pavillon", dessen Direktion Fritz Grünbaum inne hatte, und im "Simpl",
wie auch in Berlin. Darüberhinaus schrieb er auch für den "Simplicissimus" und feierte
seine ersten Bühnenerfolge. Übersiedlung nach Berlin, 1906 Änderung des Nachnamens
auf Roda Roda, Heirat mit Elsbeth Freifrau von Zeppelin (1907), danach wurde München
der Wohnort. 1909 Geburt der Tochter Dana Adriana, die 1933 den Schriftsteller Ulrich
Becher heiraten wird. Im Ersten Weltkrieg Kriegsberichterstatter, ab 1919 wieder in
München, 1926 Übersiedlung nach Paris, 1928 nach Berlin. Drehbuch-Mitarbeit bei
Filmen sowie Versuche als Schauspieler ebendort. Mitarbeiter der "Weltbühne", KabarettVorträge in Zürich und Berlin. Roda Roda verfaßte Beiträge für diverse Zeitungen und
Zeitschriften, Romane sowie Theaterstücke, dessen bekanntestes "Der Feldherrnhügel"
(Mitautor C. Rößler) ist. 1933 Rückkehr nach Österreich, läßt sich vorerst in Graz nieder.
Im März 1938 floh er in die Schweiz, von dort mußte er 1940 über Spanien und Portugal
in die USA emigrieren. Dirk Heißerer
Wo die Geister wandern
Eine Topographie der Schwanbinger Bohème um 1900
Diederichs Verlag, München 1993
Die "Kunststadt" München fand im alten Dorf Schwabing den Ort für ihre Bohème: "Er
war lange die ästhetische Experimentierstation der Kulturstadt München", schreibt 1946
der Schriftsteller René Prévot in seinem Buch "Seliger Zweiklang.
Schwabing/Montmartre". Das Bayerische Montmartre, von ähnlichen Begriffen wie
Wahnmoching (Gräfin Reventlow), Wett-Vorort (Ludwig Klages), Schwabylon (Roda
Roda) und Traumsstadt (Peter Paul Althaus) stilisiert und unter einer dicken
Anekdotenkruste der Jahrzehnte fast verschwunden, hat allgemeine und ganz konkrete
Bedingungen für seine Anfänge um 1900. Ex oriente lux:Der Begriff Bohémien steht im
Französischen für den Böhmen und den Zigeuner; die Bohéme meint allgemeiner die
ungebunden und freizügige Künstlerwelt. I
54