1. Allgemeine Grundlagen der betrieblichen Mitbestimmung gem
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1. Allgemeine Grundlagen der betrieblichen Mitbestimmung gem
Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold 1. Allgemeine Grundlagen der betrieblichen Mitbestimmung gem. § 87 BetrVG Allgemeine Grundsätze Kernstück der betrieblichen Mitbestimmung Echtes Mitbestimmungsrecht Betrifft grds. nur Maßnahmen mit kollektiver Wirkung („Schutzfunktion“)+o Ausnahme: § 87 I Nr. 5 und 9 BetrVG („Ausgleichsfunktion“) Auch in Eilfällen (anders allenfalls in Notfällen) Zwingender Charakter des § 87 BetrVG Gesetz- und Tarifvorbehalt (§ 87 I Eingangssatz BetrVG) Ausübung des Mitbestimmungsrechts Vorherige Zustimmung des Betriebsrats Betriebsvereinbarung oder Regelungsabrede (vgl. insb. § 77 BetrVG) Grds. Initiativrecht des Betriebsrats Rechtsfolgen bei Nichtbeachtung des Mitbestimmungsrechts Individualrechtliche Ebene: „Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung“ o Einseitige AG-Anordnung grds. unwirksam o Einschränkungen im Einzelfall je nach der Art der Maßnahme nötig Bsp.: Überstunden, Kurzarbeit, Auswirkungen auf Dritte Kollektivrechtliche Ebene: o Unterlassungsanspruch des BR aus: §§ 1004 I, 823 II BGB i.V.m. § 87 I (str.) (vgl. BAG v. 3.5.1994 = AP BetrVG 1972 § 23 Nr. 23) Vorlesung Arbeitsrecht III § 5: Betriebsverfassungsrecht Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold I. Allgemeine Grundlagen der betrieblichen Mitbestimmung 2. Arten und Struktur der Mitbestimmung Unbeschränktes MitbestR, z.B. §§ 87, 94 I, 95 I, 97 II, 98, 103 BetrVG Mitbestimmungsrechte, d.h. Arbeitgeber kann nur mit Zustimmung des BR handeln, BR hat Initiativ- und Vetorecht Beschränktes MitbestR, z.B. §§ 91, 99 BetrVG Beratungs- und Vorschlagsrecht, z.B. §§ 90 II, 92a, 106 I, 111BetrVG Anhörungsrecht, z.B. § 102 I BetrVG Unterrichtungsrecht, z.B. §§ 80 II, 90 I BetrVG Mitwirkungsrechte, d.h. Arbeitgeber kann auch ohne Zustimmung des BR handeln Grundsätze der Zusammenarbeit, §§ 2 I, 74, 77, 79 BetrVG Basisregeln Allgemeine Aufgaben, § 80 BetrVG Vorlesung Arbeitsrecht III § 5: Betriebsverfassungsrecht Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold I. Beteiligungsrechte des Betriebsrats 3. Betriebsvereinbarung und Regelungsabrede a) Betriebsvereinbarung 1. Form und Arten Form: schriftlicher Vertrag zwischen ArbGeb und BR (§ 77 II) Arten: • Erzwingbare BV: Einigung kann durch Spruch der Einigungsstelle ersetzt werden, z.B. § 87 II • Freiwillige BV: nicht abschließende Aufzählung der Regelungsmaterie in § 88 2. Inhalt Schuldrechtlicher Teil: z.B. über Zeit und Ort der Sprechstunde des BR Normative Teil: umfassende Regelungskompetenz der Betriebpartner (so BAG, zum Meinungsstand vgl. unten) , z. B. • Inhaltsnormen (z.B. § 87 I Nr. 2, 3, 5; Zulagen) • Abschlussnormen (z.B. Auswahlrichtlinien für Einstellungen) • Beendigungsnormen (z.B. Altersgrenzen) • Betriebsverfassungsrechtliche Normen (z.B. §§ 38 I 3, 76 I, IV, 102 VI) Regelungssperren: §§ 77 III, 87 I (Einleitungssatz) 3. Wirkung (§77 IV BetrVG) Unmittelbar Zwingend (Ausnahme bei Günstigkeit und Öffnungsklausel [analog § 4 III TVG ]) Unverzichtbar, unverwirkbar Für alle dem BetrVG unterliegenden Arbeitnehmer des Betriebs 4. Beendigung Beendigungsgründe o Fristablauf bei Befristung o Aufhebungsvertrag oder ablösende Betriebsvereinbarung o Kündigung (§ 77 V) o Entgültiger Wegfall des BR oder Verlust der BR-Fähigkeit (str.) o Stilllegung des Betriebs (sofern BV nicht gerade für diesen Fall gedacht ist) Weitergeltung bei Beendigung (§ 77 VI 1) Vorlesung Arbeitsrecht III § 5: Betriebsverfassungsrecht Seite 1 von 3 Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold b) Verhältnis Betriebsvereinbarung zu anderen Regelungen Verhältnis BV - Arbeitsvertrag Öffnungsklausel „Günstigkeitsprinzip“; aber: o Abgelaufene erzwingbare BV kann durch ungünstigeren Arbeitsvertrag ersetzt werden, § 77 VI BetrVG o bei Kollision mit Einheitsregelung, Gesamtzusage oder betrieblicher Übung kollektiver Günstigkeitsvergleich Problem: Regelungskompetenz der Betriebsparteien? o BAG: Betriebsparteienbesitzen umfassende Kompetenz durch freiwillige BV (§ 88 BetrVG) Regelungen über Arbeitsbedingungen zu treffen o A. A.: Da Arbeitsvertrag die grundlegende Selbstbindung ist, kann der BV nur vertragsergänzende, nicht dagegen vertragsersetzende Wirkung zugesprochen werden! (vgl. Reichold FS Kreuz, erscheint 2009; Waltermann RdA 2007, 257) Verhältnis BV – „ablösende BV“ Ordnungsprinzip (lex posterior derogat legi priori); d.h. Verschlechterung möglich , Verhältnis BV – Tarifvertrag § 87 I BetrVG: Vorrang einer bestehenden tariflichen Regelung § 77 III 1 BetrVG: Sperrwirkung bereits bei Tarifüblichkeit (betrieblicher Geltungsbereich, nicht Tarifverträge anderer Bezirke oder Branchen) Verhältnis § 87 I und § 77 III BetrVG (stark umstr.) • „Vorrangtheorie“ (BAG u.a.): Spezialität, Schutzzweck des § 87 I • „Zwei-Schranken-Theorie“ (wohl h.L.): wegen unterschiedlicher Regelungsgegenstände und Schutzzwecke keine Spezialität; Gewährleistung der Tarifautonomie **************************************************************************************************** Vorlesung Arbeitsrecht III § 5: Betriebsverfassungsrecht Seite 2 von 3 Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold c) Regelungsabrede (= Betriebsabsprache) Begründet nur Rechte und Pflichten zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat („schuldrechtlich“) Wahrt die Beteiligungsrechte des Betriebsrats Unterschiede zur Betriebsvereinbarung: • Nicht formbedürftig gem. § 77 II • Keine normative Wirkung gem. § 77 IV • Keine Sperrwirkung gem. § 77 III (h.M.) Rechtsprechungsübersicht • Betriebsvereinbarung o BAG v. 22.3.2005 – 1 AZR 49/04 = NZA 2005, 773 Betriebsvereinbarung und Gleichheitssatz o BAG v. 14.8.2001 –1 AZR 619/99 = NZA, 2002, 276 Schicksal der Betriebsvereinbarung bei Betriebsübergang o BAG v. 17.8.1999 – 3 ABR 55/98 Kündigung einer Betriebsvereinbarung über betriebliche Altersversorgung • Verhältnis Betriebsvereinbarung zu anderen Regelungen o BAG v. 12. 12. 2006 – 1 AZR 96/06 – NZA 2007, 453 Regelungskompetenz der Betriebsparteien o BAG v. 28.6.2005 – 1 AZR 213/04 = NZA 2005, 1431 Ablösende Betriebsvereinbarung – Gesamtzusage o BAG v. 20.4.1999 – 1 AZR 631/98 = NZA 1999, 1059 Rückwirkende Genehmigung einer BV durch tarifliche Öffnungsklausel • Regelungsabrede o BAG v. 14.8.2001 – 1 AZR 744/00 Erweiterung des Mitbestimmungsrechts des BR durch Regelungsabrede o BAG v. 20.4.1999 – 1 ABR 72/98 Keine Geltung des Tarifvorbehalts nach § 77 III BetrVG für Regelungsabreden Vorlesung Arbeitsrecht III § 5: Betriebsverfassungsrecht Seite 3 von 3 Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold Prüfungsschema : Ansprüche aus Betriebsvereinbarung I. Wirksame Einigung der Betriebspartner (§ 77 II 1 BetrVG) 1. Rechtsgeschäftliches Zustandekommen (§§ 145 ff. BGB, „Vertragstheorie“) 2. Wirksame Vertretung von Arbeitgeber und Betriebsrat (§§ 164 ff. BGB, 26 II BetrVG) 3. Wirksame Willensbildung auf Seiten des Betriebsrats (§§ 29, 33) (oder verbindlicher Spruch der Einigungsstelle, § 76 III) II. Schriftform (§ 77 II 1, 2 BetrVG iVm §§ 125 S. 1, 126 I, II BGB) 1. Unterschriften auf einer gemeinsamen Urkunde (§ 126 II 1 BGB) 2. Aushang („Publikation“) keine Wirksamkeitsvoraussetzung, sondern nur Ordnungsvorschrift (§ 77 II 3) 3. (oder verbindlicher Spruch der Einigungsstelle, § 76 III 3) III. Formelle Kompetenz der Betriebspartner 1. Kein Vorrang eines Tarifvertrages, dabei zuerst § 87 I prüfen, falls nicht einschlägig, auf § 77 III zurückgreifen (BAG: „Vorrangtheorie“) 2. MB-Tatbestand genau prüfen (z. B. § 87 I Nr. 1 – „Ordnungsverhalten“) Sehr streitig, ob bei freiwilliger BV(§ 88) umfassende Regelungskompetenz IV. Materielle Wirksamkeit 1. Kein Übergriff in Hauptleistungspflichten der Vertragspartner (§ 611 BGB, Art. 12 GG); vgl. auch § 75 II BetrVG 2. Keine Überschreitung des räumlichen und persönlichen Geltungsbereichs (u. U. nach Mitbestimmungs- TB differenzieren) 3. Vereinbarkeit mit zwingendem Gesetzes- und Verfassungsrecht (Rechtskontrolle, vgl. § 75 bzw. Rangprinzip) V. Hilfsweise Umdeutung (§ 140 BGB) einer nichtigen Betriebsvereinbarung ausnahmsweise dann, wenn besonderer Verpflichtungswille des AG erkennbar. VI. Einwendungen des Arbeitnehmers 1. Abweichende Individualvereinbarung ohne Kollektivbezug (sog. „Günstigkeitsprinzip“) 2. Keine Geltung wegen Zeitablaufs (bei freiwilliger BV, vgl. § 77 V, VI) 3. Keine Geltung wegen formeller bzw. materieller Kompetenzüberschreitung. Arbeitsrecht III § 5 Betriebsverfassungsrecht Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold 4. Rechtliche Absicherung der Beteiligungsrechte Rechtsstreitigkeiten (die Kosten der gerichtlichen Rechtsverfolgung und der Einigungsstelle trägt der AG gem. § 40 I, 76 I BetrVG) Leistungsansprüche des Betriebsrats Unterlassungsansprüche des Betriebsrats Streit, ob Mitbestimmungsrecht besteht AG erfüllt seine Leistungspflichten ggü. dem BR nicht, z.B. Wenn AG gegen seine Pflichten aus dem BetrVG verstößt z.B. • Informations- u. Einblicksrechte • Beratungsrechte • Teilnahmerecht • § 74 II S. 1 – 3 • § 78 S. 1, 2 • § 87 I, wenn BR an mb-pflichtiger Maßnahme nicht beteiligt wurde Feststellungsantrag im arbeitsgerichtl. Beschlussverfahren Nicht: Einstweilige Verfügung Leistungsantrag im arbeitsgerichtl. Beschlussverfahren Unterlassungsantrag im arbeitsgerichtl. Beschlussverfahren Antrag auf Erlass einer einstweiligen (Untersagungs-) Verfügung Strafantrag gegen AG, wenn dessen Pflichtverletzung nach § 119 BetrVG strafbar Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung (i.d.R. Sicherungsverfügung) Anzeige bei der zuständigen Verwaltungsbehörde gem. § 121 BetrVG Vorlesung Arbeitsrecht III § 5 Betriebsverfassungsrecht Streit über die Regelung einer mb-pflichtigen Maßnahme Regelungsstreitigkeit Einigkeit, dass MBR vorliegt, Streit aber, wie Angelegenheit geregelt werden soll Einigungsstelle gem. § 76 V 1 Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht Prof. Dr. Hermann Reichold 6. Mitbestimmung während des Arbeitskampfes Arbeitskampf bleibt ohne Auswirkungen auf die Amtsstellung der BR-Mitglieder Beteiligungsrechte des BR bleiben grds. bestehen o Ausnahme: Beteiligungsrechte sind geeignet, die Kampfparität zu beeinflussen durch Beeinträchtigung der Kampffähigkeit des ArbGeb, dann: Einschränkung der Beteiligungsrechte bei arbeitskampfbedingten Maßnahmen in unmittelbar vom Arbeitskampf betroffenen Betrieben Dauer der Beschränkung der Beteiligungsrechte: ausschließlich während des Arbeitskampfes Vorlesung Arbeitsrecht III