Moutschen Linda

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Moutschen Linda
Von wertlos zu wertvoll:
Über Wert und Wiederverwertung von Müll in der Kunst
Par la présente, je soussignée,
Linda MOUTSCHEN,
déclare avoir réalisé ce travail
par mes propres moyens.
2
MOUTSCHEN Linda
Professeure candidate nommée au
Lycée Michel-Lucius à Luxembourg
Von wertlos zu wertvoll:
Über Wert und Wiederverwertung von Müll in der Kunst
Luxembourg 2014
3
Kurzfassung:
Die vorliegende Arbeit behandelt die vielfältigen Wiederverwertungsmöglichkeiten des von der
Gesellschaft abgestoßenen und scheinbar wertlosen Materials Müll.
In einem thematischen Einstieg, einer Art Materialkunde, wird der Facettenreichtum des Materials
erläutert. Hieraus schließt sich, dass Müll durch Recycling nicht nur zum wertvollen Rohstoff wird,
er hat einen weitaus vielschichtigen Mehrwert.
Der Hauptteil besteht aus einer Art Künstlerfundus, sowie einer Analyse der vielseitigen
Eigenschaften des Mülls im kunsthistorischen Kontext. Um die Problematik von Müll in der
Kunstwelt und die Konfrontation von Wertlos und Wertvoll in ihrer Ganzheit zu erfassen, wird eine
Art „Mülltrennung“ vorgenommen. Hierbei werden unterschiedliche Eigenschaften von Müll
sortiert. Jeder Künstler verfolgt seine ganz individuellen Interessen um mit dem Material zu
arbeiten. So wird das Material einer philosophischen Lektüre unterzogen, die stofflichen
Parameter
werden
herausgearbeitet
und
seine
vielseitigen
praktischen
Anwendungsmöglichkeiten werden wahrgenommen. Der Müll wird als Dokument unseres Alltags,
als Erinnerungsstück unseres Lebens sowie als kritischer und aussagekräftiger Zeitzeuge
betrachtet.
Von Beginn des 20. Jahrhunderts bis hin zum zeitgenössischen Kunstgeschehen bietet die
Bühne der Kunst dem Müll vielseitige Möglichkeiten um an Wert zu gewinnen. Es wird erklärt, auf
welche Weise Künstler wie Mario MERZ, ARMAN oder Daniel SPOERRI sowie zahlreiche
zeitgenössische Künstler und Designer das schäbige Material in einen neuen Kontext setzten
und den Wert von Müll als Objekt der Kunst neu definieren.
Die theoretische Arbeit wird durch eine Reihe persönliche gestalterische Recherchen
untermauert.
4
Von wertlos zu wertvoll:
Über Wert und Wiederverwertung von Müll in der Kunst
Einleitung
Teil 1: Zum Material Müll
1.a Terminologie: Was ist Müll?
1.b Wiederverwertung: Über Leben und Tod im Zyklus der Konsumgesellschaft
1.c Potenzial: Der Wert des Mülls
Teil 2: Zum Müll als Objekt der Kunst
2.a Philosophische Lektüre: Die Renaissance des Totgeglaubten, die
Transzendenz des Wertlosen und die Ästhetik von Müll
2.b Stoffliche Lektüre: Die Form und Antiform des Materials
2.c Dokumentarische und poetische Lektüre: Die Geschichte des
Weggeworfenen
2.d Kritische Lektüre: Mangel, Last und Nachhaltigkeit
2.e Praktische Lektüre: Re-Design und Um-Funktion von Müll
Schlusswort
Bibliografie
5
6
Einleitung:
«Rien ne se perd, rien ne se crée, tout se transforme.»1
Antoine Laurent LAVOISIER (1743-1794)
Vor immerhin 250 Jahren etablierte der französische Chemiker LAVOISIER das chemische
Gesetz, dass nichts von sich aus verloren geht, kein Material einfach so verschwindet und kein
Stoff aus dem Nichts heraus neu entsteht. Jedes chemische Element, Bauteil allen Materials, ist
hingegen wandelbar und verändert sich unter bestimmten Voraussetzungen. Ob Wasser, Eis
oder Dunst, die Materie bleibt in Bewegung und nichts ist dem ewigen Stillstand geweiht.
Aus der Idee der materiellen Transformation entwickelt sich der Leitfaden meiner These. Diese
naturwissenschaftliche Erkenntnis lässt sich nicht nur auf molekularer Ebene feststellen. Das
Gesetz der Veränderung findet sich auch in Materialien und Dingen aus unserem Umfeld wieder.
Sie unterliegen über kurz oder lang Verwandlungen. In der vorliegenden These konzentriere ich
mich in erster Linie auf die von der Gesellschaft ausgesonderte Materie: unseren Müll. Das von
uns weggeworfene Material soll nicht mehr verloren gehen, sondern uns Menschen erneut vor
Augen geführt werden. Durch Recycling, Restauration, Umgestaltung und Wiederverwertung wird
dieses Material dem Kreislauf des Konsumguts nicht total entrissen, sondern erhält eine neue
Form, eine neue Funktion, einen neuen Kontext, eine neue Bedeutung und somit einen neuen
Wert.
Mein Interesse für dieses Thema rührt aus eigenen Erfahrungen in meiner Kindheit. Aus Liebe
zum Material, aus Sammelleidenschaft und Sentimentalität hob ich bereits damals allerlei
Kleinkram auf, den sonst jeder entsorgen würde wie: Muschelschalen vom Abendessen,
Baumrinden vom Sonntagsspaziergang, reifenlose Micromachine-Autos von meinen Brüdern,
einzelne Barbiepuppenschuhe, zerbrochene Fliesen oder schön rostige Wasserhähne. Auch
heute bewahre ich noch jegliches Kleinzeug auf, welches sich bei der Renovierungsarbeit
unseres Bauernhofs findet oder das ich jedes Jahr Mitte Juli aus den Mülltonnen der Kunstsäle
ziehe; immer mit der Idee, die Dinge, die andere weggeworfen haben, irgendwann noch einmal
gebrauchen zu können. Nicht nur, dass ich es zu schade finde Material zu vergeuden. Sobald ich
Potential in altem Schrott erkenne, male ich mir bereits neue Formen dafür aus. Zuvor
abgestoßene Objekte werden somit in meinem Kopf gleich lebendig, unmöglich sie dann wieder
auszurangieren. So ist es auch kein Wunder, dass ich es liebe in voll gestopften Speichern, auf
Trödelmärkten, in Brockenhäusern und Recyclingzentren herumzustöbern. Dann bricht in mir das
Jagdfieber aus. In diesen Goldgruben findet man gelebte und lebendige Gegenstände zum
Mitnehmen, zum Sammeln, zum Verbasteln. So wird der Flohmarkt für mich zum Museum für
„take-away art pieces“2,ein Festmahl für die kreative Seele.
Durch die aktive Wiederverwertung (franz.: la récupération) habe ich für mich gelernt, meine
Sammelleidenschaft kreativ zu nutzen und altes, weggeworfenes, vergessenes, scheinbar
wertloses Material zu neuen Formen umzugestalten. Um es mit den Worten der Schüler zu
beschreiben: „I pimp my garbage“.
1
LAVOISIERs Gesetz der Massenerhaltung: „Nichts geht verloren, nichts wird geschaffen, alles verändert
sich“.
2
Der Begriff „Take-away Art“ wird für Werke von Künstlern wie dem Kubaner Felix GONZALEZ-TORRES
oder dem Briten Bill WOODROW benutzt. Sie erlauben den Besuchern ein Stück ihrer Installationen, wie
Bonbons oder Münzen, einfach mitzunehmen.
7
Regelmäßig wühle ich dann in meinem Fundus und „tune“ alte Gegenstände, gebe ihnen eine
neue Form, eine neue Funktion, passe sie meinem Lebens- und Wohnraum neu an. So nähe ich
vererbte Kleider um, bemale und gestalte Möbel neu, bastle Schmuck aus kleinem Krimskrams,
setze Fund- und Erinnerungsstücke zu Mosaiken zusammen.
3
In erster Linie treibt mich also meine eigene Leidenschaft dazu, dieses Thema aufzugreifen. Im
Verlauf der These habe ich mich immer wieder auf die unterschiedlichen Qualitäten des Mülls
sowie auf Möglichkeiten seiner Transformation eingelassen um eigene Produktionen zu
erarbeiten. Dieses zyklische Wieder-neu-Aufleben von zuvor abgesondertem Material und
ausgedienten alten Dingen beschäftigt mich auch in meiner alltäglichen Praxis als Pädagogin. Im
schulischen Rahmen kann ich jungen Menschen den Umgang mit ihrem Müll näher bringen und
sie zugleich auf wichtige fachliche Themenkreise aufmerksam machen, ihnen Form, Farbe,
Funktion, Materialverarbeitung und –umgestaltung anhand alltäglicher Dinge visualisieren und
ihnen den Restwert von Abfall erkennbar machen.
Müll ist ein so vielseitiges Arbeitsmaterial. In einem Akt der qualitativen Mülltrennung werde ich
seine Facetten aussortieren und unterschiedliche Wege suchen, wie Müll durch materielle,
formale, emotionale Transformation aufgewertet werden kann. Ich werde aufzeigen, auf welche
Arten Müll wiederverwertet wird, an Wert gewinnt und wertvoll wird. Ich werde erklären aus
welchen Überzeugungen heraus unterschiedliche Künstler wertloses, weggeworfenes, unnützes
Material wieder in einen aktiven und kreativen Prozess aufnehmen, um so Abgeschobenes und
scheinbar Unsichtbares der Welt erneut sichtbar zu machen.
3
Dies ist ein Mosaikspiegel aus Dingen und Fragmenten, die ich bei Aufräumarbeiten in unserem Haus
und Garten gefunden habe. Da wir keine alten Fotos des Gebäudes besitzen, sind diese Reliquien für mich
zu einer Art Erinnerungsrahmen für die vergangenen 200 Jahre Hausgeschichte geworden.
8
TEIL 1: Zum Material Müll
1.a Terminologie: Was ist Müll?
Was ist eigentlich Müll?
Ein Material, eine Ansammlung verschiedener Materialien, ein Haufen Abfall, Schrott, Kehricht,
Schutt, Ballast, Dreck, Unrat, Gerümpel, Rest, Rohstoff, Konsumwaise…, ein Zustand, eine
Eigenschaft, ein Problem?
Es existieren jede Menge Synonyme und Nuancen des Begriffs Müll, viele Wörter um das zu
bezeichnen, was dem Menschen nicht mehr nützlich erscheint und was er aus seinem
Lebensraum verbannt, also wegwirft.
Karl-Josef PAZZINI meint:
„Müll ist das, was abfällt, beim gesamtgesellschaftlichen
Verdauungsprozess.“4
Ist Müll somit unser aller Ausscheidung?
Müll ist zu allererst legal definiert, denn unser Abfall hat, trotz Minderwert, ein Recht: eben
Abfallrecht. Als Teilbereich des Umweltrechts definiert das Abfallrecht nicht nur den legitimen
Umgang mit Müll, seinen Transport sowie seine Entsorgung. Der Hauptartikel des deutschen
Abfallrechts (§3.KrWG)5 definiert zudem den Begriff Abfall als „alle beweglichen Sachen (...) Stoff
oder Gegenstand, dessen sich sein Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss“.
Entledigen bedeutet hier, „die Sachherrschaft über einen Gegenstand aufgeben“. Aber wie
erkennt man eindeutig, ob jemand die Absicht hat etwas wegzuwerfen? Der Abfallbegriff scheint
somit wohl rechtlich geregelt, diese Definition weist allerdings einen erheblichen
Interpretationsspielraum auf und lässt Fragen über die persönliche Bewertung von Müll und
Nicht-Müll offen.6
Müll und Abfall sind laut Abfallgesetz gleich bedeutend, doch für einige Theoretiker wie den
Schweizer Kunstpublizisten und Ausstellungsmacher Paolo BIANCHI unterscheiden sich beide
Begriffe Abfall und Müll voneinander:
„Abfall, das meint das Abfallen der Blätter oder eines Apfels vom
Baum,... Müll ist menschengemacht, beabsichtigt, recyclierbar und
materiell.“ Paolo BIANCHI7.
Hier scheint das Abgestoßene gleich etwas poetischer, denn Abfall repräsentiert für BIANCHI
eine Art Bewegung des Materials. Der Ausdruck schmeichelt dem Material und meint eher einen
natürlichen Rest, einen Anteil, der in einem Prozess dabei ist von etwas Ganzem abzufallen.
Das Wort Müll ist hingegen eine direkte Bezeichnung für greifbares Material, welches als feste
Instanz im Rhythmus der Konsumgesellschaft mit einkalkuliert ist. Es wirkt wie ein knallhart
berechnetes Opfer der Massenproduktion: zuerst wird es besorgt, dann benutzt, dann entsorgt,
4
Karl-Josef PAZZINI wurde zitiert von Paolo BIANCHI, Theorien des Abfalls, Kunstforum international,
Band 167, Seite 38.
5
Das Kreislaufwirtschaftsgesetz, auch KrWG, ist das zentrale Bundesgesetz, welches die Meidung oder
Minderung von Abfällen, sowie den nachhaltigen Umgang mit Müll regelt. Ziel ist es, wertvolle Rohstoffe so
lange wie möglich in einem Nutzungskreislauf zu behalten. Die Erstauflage geht auf das Jahr 1994 zurück.
6
Ich habe mich auf die deutsche Gesetzgebung bezogen, da ich Missverständnisse bei der Übersetzung
vermeiden wollte. Zudem ist eine europäische Direktive zu Müll derzeit noch nicht existent.
7
Paolo BIANCHI, „Alles Abfall“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 38.
9
sich somit dessen entledigt und endgültig erledigt. Nach dieser Zerstörung besteht allerdings die
Hoffnung, wieder kontrolliert neu aufgebaut und in einen temporären zyklischen Nutzungsprozess
aufgenommen zu werden.
Abfall bleibt sozusagen rein, fruchtbar und funktioniert im Einklang mit der Natur, wohingegen
Müll industriell und synthetisch erscheint. Beide Bezeichnungen bieten dem abtrünnigen Material
jedoch Aussicht auf einen neuen Lebenszyklus, auf Transformation und somit auf eine Zukunft.
Zur Unterscheidung der beiden Begriffe meint der deutsche Soziologe Andreas NEBELUNG
hingegen:
„Abfall ist das ausgeschlossene Dritte, Müll ist noch
systematisierbar, recyclingfähig, verwendbar. Abfall ist es nicht.
[Abfall ist] das Entzauberte, Wertlose und Entrechtete, so wird er
entsorgt“8.
In seiner Auffassung ist Müll konkret greifbares Material und unserem System noch von Nutzen.
Abfall hingegen ist ein Zwischenfall, gehört weder richtig zur Konsumgesellschaft, noch zur Natur
und fristet somit ein gespenstisches Dasein zwischen zwei Welten.
Entgegen den Auffassungen von BIANCHI und NEBELUNG wird auf der online
Enzyklopädieplattform Wikipedia9 das Wort Abfall gleichbezeichnend mit Müll aufgelistet. Danach
bestimmt es global gesehen „falsches Material zur falschen Zeit am falschen Ort“.10
Was bedeutet eigentlich falsch? Müll ist doch kein „falsches Material“ sondern echtes, reales
Material. Müll lässt sich wiegen, anfassen, riechen. Meint falsch vielleicht schlecht, im Sinn von
böse oder ungewollt, verbannt aus der Gesellschaft, Opfer unseres unumsichtigen
Konsumverhaltens?
Und was heißt „am falschen Ort“? Ist der Mülleimer so ein „falscher Ort“? Ist Müll nur an
unpassenden Orten als solcher zu erkennen? Wenn Müll nur am „falschen Ort“ existiert, wo ist
dann sein „richtiger Ort“?
Nehmen wir uns ein praktisches Beispiel:
Auf dem Bordstein steht ein älteres, etwas ramponiertes aber funktionstüchtiges Sofa. Es ist kein
Umzugswagen in Sicht, doch der kommunale Sperrmülltag rückt näher. Der Umstand, dass das
Sofa nicht in seiner Funktion an einem für es bestimmten Ort wie einem Wohnzimmer steht,
sondern auf dem Gehweg, erscheint fatal.
11
8
Andreas NEBELUNG, „Das ausgeschlossene Dritte“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international,
Band 167, Seite 83.
9
Ich habe diese Quelle gezielt in meine Arbeit aufgenommen, um eine pauschale Meinung und Erklärung
zu erhalten und um zu belegen wie unterschiedlich die Definitionen des Wortes Müll in der Gesellschaft
sind. Wikipedia ist eine freie Online-Enzyklopädie, die sich zu einem großen Teil aus dem Wissen seiner
User zusammensetzt. Jeder hat die Möglichkeit Artikel unentgeltlich zu lesen und zu bearbeiten.
10
http://de.wikipedia.org/wiki/Abfall, eingesehen im Juni 2011.
10
Sperrmüll scheint somit eine Frage des Kontextes zu sein: „Gehsteig“ ist hier gleichbedeutend
mit „ab zur Deponie!“. Was für den Sperrmüll der Straßenrand ist, ist für unseren Hausmüll der
Rand des Mülleimers. Wie das Damoklesschwert richtet er über die Grenze zwischen richtig oder
falsch, gut oder böse. Dieser Rand entscheidet über Leben und Tod eines Objekts.
Doch ist der räumliche Kontext der einzige „Übeltäter“?
Müll ist zudem ein temporäres aber zyklisches Phänomen. Jedes Objekt kann zu einem
bestimmten Moment Müll sein oder auch nicht.
Nun gehen einige Passanten an dem deponierten Sofa vorbei. Dem ersten erscheint es wie ein
ekliger, übelriechender, von fingergroßen Monsterbakterien durchsetzter Schmuddelberg - bloß
schnell weg damit! Ein zweiter Passant ist redlich angetan vom Objekt und erkennt in ihm ein
originelles, knallbuntes 70er Jahre Fundstück mit Flair und voll Kindheitserinnerungen. Dieser
organisiert sich schnell zwei Kumpel und packt ihn in seine Studentenbude.
12
Was für den einen Müll ist, wird von jemand anderem als nützliches oder wertvolles Objekt
angesehen. Wie eine heimatlose herumirrende Waise wird Schrott oder auch Müll abgelehnt oder
aber in einem neuen Zuhause aufgenommen. Müll ist also nicht an sich schlecht oder falsch,
sondern wird erst durch die Sichtweise und die (Vor-) Urteile jedes Einzelnen zum Unwesen der
Gesellschaft. Jeder bestimmt für sich selbst, ob ein Objekt einen Nutzen hat – sei er praktischer
oder sentimentaler Natur – und folglich an richtiger oder falscher Stelle steht.
Müll definiert sich in meinen Augen somit weder durch Raum, noch durch Zeit, sondern alleine
durch die persönliche Bewertung eines jeden Benutzers von einem Objekt. Müll entsteht durch
11
Der Schweizer Konzeptkünstler Eric HATTAN („On the road – Paris“, 2002-03, Fotoserie) und die
italienische Kunstfotografin Paola DI BELLO („Concrete Island“, 1997, Diaprojektion) bieten uns zwei
fotografische Sichten auf (hin-) ausgesetzte Sofas.
12
Die französisch-türkisch-stämmige, in Zürich lebende Künstlerin und Second-Hand Expertin Aline
OZKAN erlaubt uns einen Blick in eine Wohnung, die ausschließlich mit Waren aus zweiter Hand
eingerichtet wurde. „Brockenhaus-Zimmer“, Ausstellungsansicht „Alles Abfall? Recycling im Design“,
Museum Bellerive, Zürich, 2003.
11
den mentalen und physischen Aussonderungsprozess eines Materials oder Objekts. Der
Ausdruck Müll wird in ein Objekt hineininterpretiert oder projiziert und existiert - ähnlich einem
Vorurteil oder Fluch - als abstrakter Begriff, als Materialeigenschaft. Das Konsumgut wird
schlecht. So bezeichnet der Ausdruck Müll einen relativen und vor allem subjektiven
Wesenszustand, den Charakterzug eines Objekts und kein konkretes und definiertes Objekt.
Es gibt folglich keine eindeutige Definition von Müll. Eine Definition hat immer etwas Finales,
benennt etwas Konkretes, hält einen Begriff fest, doch Müll ist eine schwer definierbare Materie.
Müll ist weder zwingendermaßen dreckig oder schäbig, noch kaputt oder gänzlich nutzlos. Müll
kann alles sein, ebenso wie nichts wirklich Müll sein muss. Müll ist tot und scheint zugleich
mehrere Eigenleben zu führen. Müll ist extrem. Müll ist transformierbar. Müll ist relativ. Müll liegt
im Auge des Betrachters. Und genau in diesem unsicheren und gleichzeitig flexiblen Wesen des
Materials, in seiner Wandlungsfähigkeit, steckt enormes Potential, ein enormer Wert, den es
auszuschöpfen gilt.
12
1.b Wiederverwertung: Über Leben und Tod im Zyklus der Konsumgesellschaft
Die Natur regelt ihren Haushalt in einem natürlichen zyklischen Vorgang selbst. Durch die
Zersetzung von biologischen Stoffen wird neues Leben, neue Energie erzeugt: der Baum verliert
Blätter, die von Würmern und Bakterien zersetzt werden, deren Ausscheidungen den Boden
düngen, sodass der Baum wieder neue Nährstoffe erhält um im kommenden Jahr die Blätter
wieder sprießen zu lassen.
Der Mensch musste allerdings lernen, wie er seinen zusehends synthetischer werdenden
Haushalt selbst regelt. Zwar erleichtern künstlich hergestellte Produkte wie Plastikverpackungen
unseren Alltag, doch unser Abfall wird dadurch für die Natur unverdaulich. Produkte werden
kurzlebiger, natürliche Ressourcen schwinden und die Erde versinkt unter einem Müllberg.
Einmal ausgedient wird der Müll schnellstmöglich beseitigt - Endstation Mülldeponie! Die
moderne Massenkonsumgesellschaft drängt wertvolle Rohstoffe schnell wieder in einen
nutzungsfreien Status zurück, wo sie sich unaufhaltsam ansammeln und zum Problem werden.
Die Wegwerfgesellschaft behält ihren Müll in einem wa(h)ren Teufelskreis!
Doch führen wir uns kurz vor Augen, was der Begriff „wegwerfen“ eigentlich bedeutet. Heißt es
nicht, etwas auf den Weg werfen? Es scheint für den Müll entscheidend zu sein, welchen Weg
der Konsument für ihn vorsieht. Entweder verrotten die von ihm erzeugten Abfälle über kurz oder
lang auf diesem Weg oder sie werden beWegt, durch Einsammlung, Trennung,
Wiederverwertung. So bleibt Müll in einem materiellen und zyklischen Transformationsprozess.
Der Zustand „Müll“ ist soweit nicht gezwungenermaßen definitiv.
Paolo BIANCHI fordert: „Recycling statt Finalität“13.
Durch die Wiederverwertung von Materialien, somit durch Recycling, bleibt das Material in
Bewegung, in einem aktiven Lebenszyklus, in einem Nutzungskreislauf. Dem Rohstoff Müll
stehen die Wege offen und er ist nicht mehr durch die Deponie zum ewigen Stillstand verurteilt.
14
Recycling ist zum allgegenwärtigen Schlagwort geworden. Unsere verschwenderische
Wegwerfgesellschaft wird sich des Problems immer stärker bewusst. Bio, Recycling, Grün, sind
nicht mehr nur Ideologie oder Schlagwörter einer konsumsüchtigen und gleichzeitig reumütigen
13
„Alles Abfall“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 32.
Das Recycling-Logo Der Grüne Punkt wurde von Duales System Deutschland entwickelt und ab 1994 in
elf Ländern, später europaweit als Kennzeichnungssystem für wiederverwertbare Verpackungsmaterialien
benutzt. Er soll dem Endverbraucher die Mülltrennung vereinfachen. Rechts daneben eine Variation des
allgemeinen Recyclingsymbols (U+2672), entwickelt von Gary ANDERSON im Jahre 1969 und angelehnt
an die unendliche Möbiusschleife.
14
13
Nachkriegswelt, sondern Notwendigkeit. Es unterstreicht den Willen einer Gesellschaft für das
einzustehen und das zu kompensieren, was sie der Natur entnimmt.15
Eine umweltbewusste Müllbeseitigung ist fester Bestandteil unserer Erziehung. Die Mülltrennung
praktizieren wir meist schon automatisch. Da unser Verbrauch sich jedoch noch nicht drastisch
mindert, hat die Industrie stark energiefressende aber rentable Infrastrukturen entwickelt, Müll
wieder in funktionales Material umzuwandeln. Wie läuft dieser künstliche Zyklus ab?
Als erstes muss der Müllverursacher selbst Hand anlegen. Der Recyclingprozess setzt eine
disziplinierte Trennungsgewohnheit der Konsumenten voraus. Hierbei wird der Konsument zum
Richter und entscheidet über die Zukunft seines Abfalls: Die graue Tonne bedeutet das
Todesurteil, gefolgt von Einäscherung oder Verscharrung in einem Massengrab. Die bunten
Tonnen bedeuten Bewährung, also noch mal Glück gehabt! Blaue, grüne, braune oder gelbe
Tonnen katapultieren unseren Abfall wieder auf den Weg in ein neues Leben. In die grüne Tonne
wandern Bioabfälle, die blaue Tonne bunkert Altpapier und die blauen transparenten16
Varlorluxtüten sind reserviert für Dosen, TetraPak und Plastik.17 Einige Gemeinden bieten die
braune Tonne für unkompliziertes Entsorgen von Glas an, ansonsten sind Sammelcontainer an
öffentlichen Plätzen vorgesehen. Dann gibt es noch Altkleidersammlung, Sperrmüll und
Grünschnitt. Batterien werden in speziellen Behältern gesammelt, giftige Farbbehälter kommen in
Kartons für Sondermüll, alte Fliesen kommen in den Bauschutt-Container, behandeltes Holz
wieder in einen anderen Container, Kleinzeug, das noch gebraucht werden kann ins
Secondhand-Areal und beim restlichen getrennten Müll fragt man einfach den netten
Angestellten des kommunalen Recyclingzentrums um Hilfe, Verwirrung vorprogrammiert! Schön
waren wohl auch die Zeiten, als man vom Lumpensammler für alte Kleidung noch ein
chinesisches Teeservice erhielt und Schweine die Essensreste in saftigen Speck umwandelten!
Heute gilt das Trennen als selbstverständlich, der Lohn ist das gute Gefühl etwas für die Umwelt
getan zu haben.
All diese gesammelten Stoffe werden dann in unterschiedlichen Prozessen recycelt und somit
der Konsumwelt kurzfristig entzogen. Es wird getrennt, gefiltert, gesäubert, getrocknet, gesiebt,
ausgesondert, zerkleinert, pulverisiert, geschleudert, zusammengepresst, eingeschmolzen und in
einer Kette von Prozessen zu neuen heterogenen Stoffen verarbeitet. Bei einem
Recyclingvorgang entsteht aus Müll ein so genannter Sekundärrohstoff (z.B. Plastikgranulat),
dem man Farbe und Form der vorangegangenen Stoffe meist nicht mehr ansieht. So werden
neue Rohstoffe aus alten Konsumreliquien hergestellt.
Verlierer der Runde: Der Restmüll! Alles Übriggebliebene landet in der grauen Tonne.18 Zu einem
Teil wird dieser Müll vernichtet. In optimierten Verbrennungsanlagen kann so wieder Strom
erzeugt werden. Zum anderen Teil wird der Müll unter einer Lehm-Erdschicht vergraben und man
lässt „Gras darüber wachsen“. Interessanterweise lautet der Name der größten Mülldeponie
15
Die Bemühungen von Umweltorganisationen wie Greenpeace, WWF, Friends of the Earth oder Robin
Wood tragen bereits ihre Früchte. Die Mission des 1993 von Michael Gorbatschow gegründeten grünen
Kreuzes, das Green Cross International, lautet, ökonomische und politische Konflikte im Zusammenhang
mit Umweltzerstörung zu schlichten. Die Organisation besteht auf eine weltweite Einschreibung der 1992
erarbeiteten Völkerrechtskonvention Erd-Charta in die Grundgesetzordnung. Diese fordert, dass jede
Nation sich verpflichtet die Ökosysteme der Erde zu schützen und wiederherzustellen, sowie Schäden zu
vermeiden bevor sie entstehen.
16
So erkennt man auf den ersten Blick wer richtig und wer falsch trennt. Schwarze Schafe der
Abfalltrennung werden damit bestraft, dass die Tüten vor der Haustür liegen bleiben!
17
Farben und Materialzugehörigkeiten variieren je nach Gemeinde oder Land.
18
Bei der Anmeldung in unsere Gemeinde meinte der Beamte, dass alles getrennt werden könne. Streng
gesehen gehören fast nur Babywindeln in die graue Tonne, denn wer amüsiert sich schon diese
aufzutrennen?!
14
Luxemburgs „um Fridhaff“, also „auf dem Friedhof“. Es scheint als fänden dort die ausgelebten
Dinge ihren ewigen Frieden. Ein Massengrab unserer Gesellschaftskonsumgüter. Hier wird totes
Material zu Hügeln aufgeschüttet und ein blühender Schleier des Vergessens drübergelegt.
Graue Tonne bedeutet somit für unseren Müll: Scheiterhaufen oder geologische Neugestaltung
von Landschaftsstrichen.
19
Das Material verliert durch sein „Abfall“-en aus unserem direkten Lebensraum im besten Fall nur
kurzfristig an Funktion. Durch Recycling begegnen wir das von uns abgeschobene Material im
Alltag wieder. Ein Art Renaissance, also Wiedergeburt von totgeglaubtem Material. Aus Altglas
wird Recyclingglas, aus Papier wird Karton, aus Altmetall entstehen Tetrapakbehälter, aus
Tetrapak entsteht Dämmmaterial, leere Plastikflaschen werden zu neuen Plastiktüten,
ausgediente Plastiktüten werden eingeschmolzen und zu Kunststoffgranulat aufbereitet, die
Grundlage für wieder neue Plastikerzeugnisse, usw. Der Kreis der Produktionskette schließt sich
somit nicht, sondern öffnet sich immer neu, wie ein vielschichtiger Lebenskreislauf 20. Die
Wiederverwertung macht Müll zu einem wa(h)ren Schatz!
21
19
Persönliche Fotoarbeit über unseren Kehricht, aufgekehrt und angehäuft auf der Deponie „um Fridhaff“,
aus der Sicht einer hungrigen Handschaufel.
20
Wir erinnern uns an LAVOISIERs Gesetz, das meine These einleitete.
21
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich die Themen Atommüll und Tierkadaver bewusst nicht in
meiner These erwähne, denn ihre Erläuterung würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Die künstlerische
Verwertung von Tierkadavern schließe ich zudem aus ethischen Gründen aus. Atomarer Müll hingegen ist
als „Material“ ungreifbar, unerreichbar, nicht steigerungsfähig und verheerend. Atommüll ist zum aktuellen
Zeitpunkt nicht recyclingfähig, also auch nicht transformierbar. Jede Art der Renaissance ist demnach
ausgeschlossen.
15
1.c Potenzial: Der Wert des Mülls
Wertvoll ist entweder etwas, das einen Nutzen hat, etwas, das Geld einbringt, also einen
funktionalen oder materiellen Wert hat. Es kann allerdings auch sein, dass ein Objekt einen
sentimentalen, einen persönlichen oder gesellschaftlichen, sogar einen künstlerischen Wert in
sich birgt.
Hierbei bleibt der Wert selbst in vielerlei Hinsicht schwer einschätzbar, ungewiss, ja sogar
abstrakt.
Das amerikanische Sprichwort bringt es auf den Punkt:
„One man's trash is another man's treasure.“
Hat nicht jedermann schon beim Spaziergang ein glänzendes Schmuckstück auf dem Boden
gefunden, einen kleinen Schatz, der sich auf den zweiten Blick doch nur als Bonbonpapier
entpuppte? Müll kann einen flüchtigen Wert haben, uns etwas vormachen und uns zum Narren
halten.
Müll kann aber auch einen längerfristigen Wert haben. Einerseits gibt es die Menschen, die ihre
Tüten gleich wegwerfen (es könnte schließlich noch ein ekliger Keim in einer Ritze haften),
andere benutzen sie mehrmals. Dann gibt es noch die Menschen, die neue Objekte aus alten
Plastiktüten herstellen, wiederum andere säubern sie, falten sie sorgfältig und bewahren sie
liebevoll in einer Kiste auf, wie meine Oma es machte - für schlechte Zeiten, denn man weiß ja
nie! Und nicht zu vergessen die Menschen, die besonders lustige, bedeutende oder seltene
Exemplare leidenschaftlich sammeln und katalogisieren.
Für jedes Individuum bedeutet Wert und somit auch Müll etwas anderes.
Hoch- oder minderwertig, neu oder alt, intakt oder kaputt, Handys vom Vorjahr oder ranziger
Joghurtbecher, an sich steht jedes Objekt und jedes Material im Verdacht früher oder später zu
Müll zu werden. Die „Müllproblematik“ wird somit in erster Linie zu einer Wertungsproblematik:
Was ist Müll dem Verbraucher oder der Gesellschaft noch wert?
Betrachten wir den Müll nun einmal im erweiterten Sinn und in sämtlichen Nuancen der
Wertvorstellung22, beginnend mit einigen Fakten:
Was zahlen wir, damit unsere Abfälle schnellst möglich aus unserem Radius verbannt werden?
Konkret: Für eine 240 Liter Restmülltonne, muss man in einer Luxemburger Gemeinde etwa 7,50
Euro pro Entleerung, dazu etwa 200 Euro Grundgebühr zahlen23. Hierfür wird der Restmüll zwei
bis vier Mal, lokal sogar öfter im Monat vor der Haustür abgeholt. Teurer Ballast, wenn man sich
vor Augen hält, dass in Luxemburg pro Kopf durchschnittlich 700 Kilo Hausmüll im Jahr
anfallen24!
Was ist aber nun sein wahrer Wert? Ist es der Warenwert, das, was Müll einmal wert war?
Im Abfall landen nicht nur mehr ausgediente Verpackungen, kaputte und verbrauchte Dinge oder
Nutzungsreste. Immer mehr füllen durch Ersatz entwertete Waren und sogar gänzlich ungenutzte
22
Die unterschiedlichen Werte von Müll werde ich im zweiten Teil meiner These vertiefen, folgende
Aufzählungen sind somit erste Denkanstöße.
23
Dies sind die Zahlen für die Gemeinde Bettemburg. Andere Gemeinden berechnen zuzüglich der
Entleerungskosten einen Abfall-Kilopreis. Eine Entleerung in Bertrange kostet beispielsweise, neben einer
jährlichen Gebühr von 120 Euro, 2 Euro, zuzüglich 0,15 Euro pro Kilo Haushaltsmüll. www.bertrange.lu
24
Mit diesen Zahlen lag das Großherzogtum 2011 EU-weit an vierter Stelle. Gleichzeitig verzeichnen wir
allerdings auch mit 42,1% die besten Recyclingquoten Europas.
www.tageblatt.lu/nachrichten/luxemburg/story/28610187
16
Güter wie Überproduktionen25 und Modeerscheinungen die Müllcontainer. Einmal kurz
abgewaschen könnte solch intakter „Müll“ problemlos weiterbenutzt werden. Dies sind typische
Abfallbeispiele unserer verwöhnten modernen Konsumgesellschaft, ein Teufelskreis für das
Material, das immer wieder produziert wird und ungenutzt wieder zu Müll wird. Computer und
Handys werden nicht mehr repariert, sondern einfach ausgetauscht. War der Fernseher vor
zwanzig Jahren noch wertvolles Statussymbol und die Fernbedienung Vaters wohlbehüteter
Schatz, so spielen heute bereits die Kleinsten mit dem iPad. Nicht nur der Wert der Waren und
des daraus resultierenden Mülls, auch das Wertempfinden an sich hat sich in unserer
Gesellschaft verändert. Alles ist kurz- und schnelllebiger, ist austausch- und ersetzbar geworden.
Mit dem steigenden Wohlstand unserer Gesellschaft verlieren Objekte schneller an Wert.
Konsequenterweise ist unser Müll heute wertvoller als noch vor fünfzig Jahren.
Müll hat somit immer noch einen reellen Markt-WERT:
Zum einen können bereits benutzte, aber vom Erstbesitzer abgestoßene Waren einen reellen
Wiederverkaufswert auf Flohmärkten, in Troc- oder Second-Hand Läden oder auf e-bay
einbringen. Hierbei werden nicht nur die Geldbörsen von weniger Betuchten geschont, es gibt
mittlerweile auch Luxusvarianten solcher Vintage-Boutiken und Internetplattformen wie
www.vestiairecollective.com. Hier kommt man etwas günstiger an modische Luxusware. Da die
Käufer in diesen Kreisen kaum auf die Produkte selbst angewiesen sind und ihre Kleiderschränke
wahrscheinlich aus allen Nähten platzen, stellt sich die Frage, was die Leute an aussortierter
Ware so reizt? Das Schönste für den Einkäufer, der häufig zum Wiederholungstäter wird, ist wohl
das Stöbern an sich, wenn einen das Jagdfieber packt auf der Suche nach dem einen Stück
Glück, nach dem heiligen Gral, nach dem einen Teil, um das die Freundinnen einen beneiden
werden.
26
25
Im August 2013 drohten bretonische Eierbauern damit, täglich hunderttausend Eier zu zerstören. Sie
wehrten sich so gegen die von Discountern berechnete Überproduktion und die damit einhergehenden
Dumpingpreise.
www.welt.de/wirtschaft/article118795949/Bauern-wollen-pro-Nacht-100-000-Eier-zerstoeren.html
26
Zur Idee von Müll als heiligem Gral, als Trophäe des immer Stöbernden, hier ein Bildbeispiel von Gerd
ROHLINGs Recyclingplastiken „Wasser und Wein“, 1989-2009.
17
Zum anderen hat unser Weggeworfenes, das bereits die Schwelle des Müll-Seins übertreten hat,
einen Preis. Für Rohstoffe wie Altmetall, Altglas oder Elektroschrott wird gut gezahlt, denn nicht
erneuerbare, fossile Rohstoffe werden immer knapper und folglich auch teurer. Um dieses selbst
gegrabene Loch an Rohstoffen zu schließen ist die Industrie auf Recycling angewiesen. Müll wird
somit zur Notwendigkeit, eine greifbare Basis zur nachhaltigen und umweltbewussten
Wiederverwertung, also ein konkret verwertbarer Stoff, ein WERT-Stoff.
Große Recyclingfirmen verdienen gut an unserem Müll und dessen Ver-WERT-ung. Auch für
Einzelpersonen scheint das Geschäft mit dem Abfall profitabel. So bestreiten beispielsweise in
Shanghai ganze Stadtviertel ihren Lebensunterhalt mit dem Weiterverkauf von Müll. Diese
Menschen (über-)leben auf den Müllkippen der Vororte mit dem Gestank und Gesundheitsrisiko,
doch sie verdienen oft das Doppelte bis Dreifache eines Taxifahrers in der Stadt.27
Recycling ist ein lukratives Geschäft. Für eine Tonne Altpapier wird momentan etwas unter 100
Euro gezahlt, weißes Papier ist mehr wert28. Mit Altmetallen und Hightechgeräten29 macht die
Branche die rentabelsten Geschäfte.
Müll hat somit einen bewährten Marktwert und kurbelt die Wirtschaft immer wieder neu an.
Wirtschaft wird zu WERT-schaft, schafft neuen Wert und gibt dem bereits abgestoßenen Material
unter ökonomischen Aspekt einen neuen Wert.
Ein weiterer materieller Wert von Müll liegt in seiner physischen Beschaffenheit. Dank der
Verpackungsindustrie lassen sich durch Aufdrucke (prints) wie Schriftzeichen, Muster, Motive,
Texturen unterschiedliche Fabrikate schnell zuordnen. Sie geben jedem Produkt einen
markttypischen Wiedererkennungswert.
Müll bietet zudem finanziell hilfsbedürftigen Menschen einen direkten Wertstoff. Ausgesondertes
Material wiederzubenutzen um neue brauchbare Artikel oder sogar Kunstgegenstände
herzustellen ist in Zeiten von Finanzkrise und Geldnot für viele Menschen unumgänglich.
30
27
Mit etwa dreiundzwanzig Millionen Einwohnern produziert Shanghai beispielsweise 30.000 Tonnen
Bauschutt, 1.300 Tonnen Essensreste und 1918 Tonnen Altpapier am Tag.
www.china-a.de/de/china/doc/shanghai in zahlen.html, eingesehen am 1. September 2014.
28
Laut Recycling- und Entsorgungsdienst Euwid, www.euwid-recycling.de. Die Preise für Wertstoffe
schwanken stark. War 2007 eine Tonne Altpapier noch 100 Euro wert, fiel ihr Wert während der
Finanzkrise auf 5 Euro. Einige gaben das Papier sogar umsonst her.
www.welt.de/wirtschaft/article2720239/Haendler-bleiben-auf-ihrem-Schrott-sitzen.html
29
Ein Mobiltelefon besteht beispielsweise zu einem Viertel aus Metall, wobei etwa 250 Milligramm Silber
und 24 Milligramm Gold enthalten sind. Ob wiederverkaufbar oder -verwertbar, auf Internetportalen wie
www.wirkaufens.de oder www.handysfuerdieumwelt.de erhält man für sein gebrauchtes Apple iPhone 3G
16GB bis zu 57,16 Euro.
30
Ein in Madagaskar aus einer Getränkedose hergestelltes Modellauto (Citroën CV2) und eine Tränke von
Gennady VLADIMIROVICH, 1997, gesammelt vom russischen Künstler Vladimir ARKHIPOV.
18
Auch Abfälle ohne ersichtlichen Marktwert, wie abgelaufene Nahrungsmittel, können immer noch
ihren Wert enthalten. Um der Vergeudung von noch genießbaren aber sich jenseits des
Verfallsdatum befindlichen Produkten entgegenzuwirken und einen karitativen Beitrag zu leisten,
haben sich Vereinigungen wie die Banque Alimentaire (Luxembourg) a.s.b.l. gegründet, die diese
Überschüsse vor ihrer Entsorgung retten und direkt unter hilfsbedürftige Leute bringen.31
Neben den materiellen und funktionalen Eigenschaften hat Müll auch einen kritischen WERT. Er
sagt viel über unser Konsumverhalten aus, wird zum Sprachrohr der Gesellschaft. Der Müll gibt
Aufschluss darüber, wie reich und entwickelt ein Volk oder ein Land ist. Müll ist zeitgleich Opfer
und Zeuge einer verschwenderischen Gesellschaft. Somit transportiert das Material Wissen über
eine Gesellschaft, Informationen über die Haushaltswirtschaft einer Privatperson und wird zum
sozialkritischen Erkennungsfaktor.
32
Müll kann auch einen ideellen WERT haben, viele Menschen trennen sich schwer oder
überhaupt nicht von ihrem eigenen Abfall33. Jedes Objekt, egal ob von der Mehrheit der
Gesellschaft als wertlos oder als wertvoll bezeichnet, kann eine emotionale Bedeutung für einen
Menschen haben, kann ein Erinnerungsstück oder ein unverzichtbares Lebensdokument sein.
Sogar der Müll von anderen kann für einige Menschen zum „treasure“, also zum Schatz werden.
Ist ein Splitter von Kurt Cobains zerschmetterter Gitarre für den einen bloß ein Stückchen Holz,
so wird es für einen Nirvana-Fan zur heiligen Reliquie.
31
2013 verteilte der Lions Club in Luxemburg 55.670 Kilo abgelaufene Nahrungsmittel aus Spenden
lokaler Restaurants und Supermärkten an arme Leute. Immerhin sind laut einer Studie der „chambre des
salariés“ aus dem Jahr 2013 etwa 14,9% aller Haushalte im Großherzogtum von Armut betroffen.
32
Für einen Paparazzi, der ein brisantes Detail über ein Starlet aus dem Müll fischt, bedeutet der richtige
Müll pures Bargeld. Bruno MOURON und Pascal ROSTAIN durchsuchen den Müll der Stars, sondern
Unappetitliches aus, präparieren den Rest auf einem schwarzen Hintergrund und fotografieren diese
Müllsammlungen. „Michael Jackson“, 1990. Mehr zu dem Künstlerduo ab Seite 68.
33
Siehe hierzu den Absatz über das sogenannte Messie-Phänomen auf Seite 91.
19
34
Müll kann zudem auch einen ganz eigenen ästhetischen Wert haben, bei dem jeder Mensch
seine Vorstellung von Schönheit in ein Objekt hinein interpretiert oder projiziert. So kann für ihn
jedes Objekt, unabhängig davon, ob es ein Andrer zuvor weggeworfen hat, auf ganz eigene
Weise zum Wertgegenstand werden, denn wie David HUME es bereits ausdrückte:
„Die Schönheit der Dinge existiert im Geist dessen, der sie anschaut.“35
Erst wenn man genauer hinsieht, erkennt man die Vielseitigkeit, die ungeahnten Qualitäten, den
Mehr-WERT dieses scheinbar trostlosen Materials. Sie machen die Arbeit mit Müll so
facettenreich und wertvoll. Das weggeworfene, fehlerhafte, überschüssige, verbrauchte Material
scheint als solches endlos erschöpfbar. Gerade durch seine Unperfektion ruft Müll eine
unglaubliche Dynamik hervor, ein Potenzial zur Veränderung, zur Metamorphose, welches
insbesondere in der Kunstszene von vielen kreativen Menschen geschätzt wird. Die Problematik
der Wertsteigerung oder Werte-Transition im künstlerischen Wirkungsfeld werde ich im
anschließenden Kapitel ausführlich behandeln.
34
Christian BOLTANSKI schafft Monumente der Erinnerung durch Ansammlung von persönlichen
Objekten wie Kleidungsstücken. „Personnes“, 2010, Installationsansicht, Monumenta 10, Grand Palais,
Paris. Siehe weitere Referenzen zum Künstler ab Seite 67.
35
David HUME: „Philosophie für die Badewanne“, Stuttgart: Kreuz, 2004, Seite 90.
20
Teil 2: Zum Müll als Objekt der Kunst
„Als Archäologen der Gegenwart verwandeln die Müllkünstler
Relikte des Alltags zu Reliquien des Profanen.“ 36
Die Zeiten, in welchen nur reine, edle Materialien wie Gold, Marmor und feine Pigmente als allein
würdig für eine elitäre, repräsentative oder spirituelle Ausdrucksform empfunden wurden, sind
längst vorüber. Galt es doch früher als künstlerisch wertvoll, den Ausgangsstoff an sich zu
überwinden und in den Hintergrund zu rücken, so wird heute das Material in der Kunst offen
zelebriert und thematisiert. Die Idee, Kunstwerke nicht mehr länger aus neuen Rohstoffen zu
kreieren, sondern Alltagsgegenstände aus ihrem gewöhnlichen Kontext zu entnehmen, sie zu
transformieren und sie in Werken wiederzubeleben, ändert sich zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts radikal mit der Einführung von Alltagsgegenständen in die Kunstwelt. Pioniere der
Kollage und Assemblage haben den Weg geebnet für den Auftritt „unüblichen“ Materials. Bilder
mit
aufgeklebten
Alltagsgegenständen
oder
Objekte
aus
unterschiedlichen
Materialkombinationen sind aus der Kunsthistorie nicht mehr wegzudenken.
Die Institution Kunst gilt mittlerweile als Transformator für jedes erdenkliche Material. Hierbei
spielt sich ein Paradoxon der Wertigkeit ab. Wertloses Material trifft unwiderruflich auf wertvolle
Kunst. Der Trichter des Systems bietet dem Müll die Möglichkeit, an ästhetischem, spirituellem,
kritischem, poetischem, historischem, stofflichem, formalem, funktionalem sowie ökonomischem
Wert zu gewinnen. Abfall schafft zudem eine direkte Verbindung zu unserem Alltag und bringt
unser aller Leben in die Kunst mit ein. Müll wird zum Kunstschatz, denn das vermeintlich wertlose
Material scheint als solches endlos erschöpfbar und transformierbar zu sein. Die Mischung aus
unterschiedlichen Materialien, vielfältigen Formen und Farben, sowie der wertvollen Ikonografie
und natürlich dem sozialkritischen Punkt, den jede „Müllproduktion“ ad hoc vermittelt, machen die
Arbeit mit Abfall zu einer wa(h)ren Herausforderung.
„[...] das winzigste authentische Bruchstück des täglichen Lebens
sagt mehr als alle Malerei“, Walter BENJAMIN37
Avantgardistische, postmoderne und zeitgenössische Künstler machen sich das vielseitige
Potenzial von Müll zunutze. Durch neue Techniken wie die Collage und Assemblage finden
abgelebte Dinge in den 1910er Jahren ihren festen Platz in der Kunst. Im synthetischen
Kubismus klebten Künstlergrößen wie Pablo PICASSO und Georges BRAQUE Ausschnitte aus
ihrem Alltag wie Zeitungsschnipsel, Seile oder Flaschenetiketts in ihre Bildkompositionen ein. 38
Zeitgleich wagte es der damals sechsundzwanzigjährige französische Bildhauer und Maler
Marcel DUCHAMP die Schwelle zwischen Gebrauchsgegenstand und Kunstwerk zu übertreten.
In einem Akt der Desakralisierung befestigte er eine handelsübliche Fahrradfelge kopfüber auf
einem Hocker39. Reine Provokation? Nein, er holte durch diese Geste das Kunstwerk von seinem
Podest herunter, wobei sich das neuentstandene Kunstwerk mit einer völlig neuen
Wertvorstellung konfrontiert sieht.
36
Paolo BIANCHI, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 35.
Der Autor als Produzent, in: Gesammelte Schriften in 5 Bänden, hrsg. V. Rolf TIEDEMANN und
Hermann SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt/M. 1972/1982, Bd.2, 2, Seite 692, zitiert von Monika
WAGNER in From Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Seite 51.
38
Siehe Details hierzu, im Teil 2.b. Ab Seite 42 wird belegt, wie der Müll die Bühne der Kunst betreten hat.
39
„Roue de bicyclette“ (Fahrrad-Rad), 1913.
37
21
Das Ready-made war geboren. Plötzlich wurden uralte Konventionen der Kunst in Frage gestellt.
Sogar ein Pissoir konnte plötzlich ein Kunstwerk sein, nur weil jemand irgendeinen Namen und
ein Datum draufpinselte.40 Tatsächlich wagte es der junge Künstler sich über alle Dogmen,
Konventionen und Klischees hinwegzusetzen und die Kunstwelt neu zu definieren. In einer Zeit,
in der sich bereits viele Künstler fragten, wie es mit der Kunst weitergeht und ob Kunst nicht
bereits an ihre Grenzen gestoßen sei, schien DUCHAMP die Karten des Kunstspiels neu zu
mischen. Er nahm das Kunstwerk einfach von seinem Sockel und entzog ihm somit eine wichtige
Existenzgrundlage. Hiermit hat er das Rad, das das Kunstgeschehen in Bewegung hält, neu
erfunden und bringt einen neuen Zyklus ins Rollen: den des trivialen Objektes in der Kunst. Seine
artistische Kühnheit löste heftige, teilweise noch andauernde Diskussionen über die Schwelle
zwischen Kunstobjekt und banalem Gebrauchsgegenstand aus.
Marcel DUCHAMP, „Fahrrad-Rad“, 1913, Replik von 1951 und „Fontäne“, 1917, Replik von 1964, Tate
Gallery, London, beide Originale gingen verloren
Sherrie LEVINE, „Fountain” (After Marcel Duchamp) oder Madonna, 1991, Private Kollektion, London
Zwar ist das Ready-made keine „Müllkunst“, doch die Grundideen sind verwandt. Der Akt der
Appropriation, also die Aneignung von Alltagsgegenständen an sich ist vergleichbar. Hier spielen
sich ähnliche intellektuelle Vorgehensweisen ab. Über den konzeptuellen Weg des „Fertiggemachten“ wird es ermöglicht, nicht nur einfachen Objekten, sondern auch nutzlosem Material
wie Müll einen Platz in der Kunstwelt einzuräumen. Beide Objektkategorien haben ähnliche
Eigenschaften: Sie stammen aus dem direkten Umfeld des Menschen, sie sind
menschengemacht, industriellen Ursprungs, sie sind belanglos, weder besonders anziehend,
noch besonders wertvoll und leicht zu beschaffen. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer
Benutzbarkeit, denn der Hocker war vor seiner Appropriation noch funktional. Die Konsumware,
ob nun zweckentfremdet oder nicht, entfernt das Kunstwerk von der Idee eines Unikats und rückt
die Kunst näher an unser alltägliches Leben.
Trotzdem stellen wir uns die Fragen: Kann ein Objet trouvé, also ein „ohne jedes ästhetische
Vorurteil ausgesuchter Alltagsgegenstand“ (DUCHAMP), einfach so Kunst sein? Wann und wie
wird eine Sache zur Kunst? Durch welche Parameter verändert ein Objekt seinen Wert, seine
Bedeutung, seine ästhetischen Qualitäten?41 42
40
Beim Flaschentrockner von 1914 war es nicht einmal DUCHAMP selbst, der seinen Namen aufmalte.
Seine Schwester signierte ihn in dessen Auftrag.
41
Siehe eine genauere Analyse der Hilfsmittel, die es einem Objekt erlauben zum Kunstwerk zu werden ab
Seite 31.
22
Wenn wir von Kunst reden, suchen wir automatisch nach Ästhetik, ja sogar nach Perfektion und
begegnen zweifellos den Fragen: Was ist „schön“?
Durch den Akt der Entzauberung des Kunstwerks stellt DUCHAMP in seinen Werken die Ästhetik
des Objekts und der Kunst in Frage. Marcel DUCHAMP meinte einmal, zu den Auswahlkriterien
seiner Ready-mades befragt:
«[…] das Entscheidende ist, eines [ein manufakturiertes Objekt] auszuwählen, von
dem Sie nicht angezogen werden wegen seiner Form oder sonst was, sehen Sie.
Mit dem Gefühl der Indifferenz ihm gegenüber pflegte ich es zu wählen, sehen Sie.
Und das war schwierig, weil alles schön wird, wenn Sie es lange genug
anschauen.»43
Für den Betrachter allerdings bringt die Appropriation das Problem mit sich, eine klare Grenze
zwischen trivialem Objekt und Kunstobjekt zu ziehen, in unserem Fall zwischen Müll und
Kunstobjekt.
Wann ist nun etwas Müll, wann ist es Kunst? Frei nach dem Motto: Ist das Kunst oder kann das
weg?, zeigt uns die so oft zitierte BEUYS-Anekdote von der Putzkraft und der Fettecke44, dass
der Grat zwischen Müll und Kunst sehr schmal sein kann. Missverständnisse sind
vorprogrammiert! Das Hauptproblem für den Betrachter von Müllkunst besteht in der Erkenn- und
Definierbarkeit des „minderwertigen“ Materials Müll als Kunstwerk.
Auf welche Weise ermöglicht es nun aber die Kunst, als eine Art Drehtür zu funktionieren,
zwischen Alltagsgegenstand (der in unserem Fall bereits ausgedient hat) und wertvollem
Kunstobjekt? Kann man einfach einem angesammelten und gepressten Schrotthaufen einen
Preis aufsetzen? Bezahlt man Müllkunst auf das Kilogramm, auf den Kubikzentimeter? Welche
Rolle spielt der Künstler? Und welche Rolle spielen wir, die Konsumenten45?
Dies sind viele Fragen auf die es sicherlich keinen universell gültigen Antworten gibt, doch sie
helfen mir, die Müll-Kunst Problematik in ihrer Komplexität zu begreifen und mir Pfade zu ebnen,
denen ich im anschließenden Kapitel folgen kann.
Auf der Suche nach den Wegen, die unsere alltäglichen, bereits ausgedienten Gegenstände
zurücklegen, von der Mülltonne in die Galerien, finden sich unterschiedliche und unendlich viele
Konzepte und plastische Umsetzungsmöglichkeiten. Die Plattform der Kunstszene demonstriert
uns unzählige variationsreiche Seiten der Müllverwertung. In den folgenden Kapiteln werden
verschiedene Herangehensweisen an das Material Müll erklärt und anhand von
Künstlerbeispielen belegt. Die einen bedienen sich aus der Mülltonne um ihre
Sammelleidenschaft zu befriedigen, einige interessieren sich lediglich für ihre kostengünstige
Anschaffung, andere für die rudimentäre aber zugleich aussagekräftige Seite, wieder andere für
die Wandelbarkeit des Materials an sich oder eine „Resozialisierung“ dieses schäbigen Materials,
42
Um auf diese Fragen eine vorübergehende und provokante Antwort zu geben, kann man es nehmen wie
der Fluxus-Künstler BEN, der meinte „Tout est art“, also alles sei Kunst und geht somit vielen Problemen
aus dem Weg, schafft der Situation allerdings auch keinen Ausweg!
43
Marcel DUCHAMP, Serge STAUFFER, Marcel Duchamp - Interviews & Statements, Hatje Cantz Verlag,
Schuber, 1991, Seite 215.
44
1986, kurz nach Joseph BEUYS‘ Tod, beseitigten Reinigungskräfte das Werk „Fettecke“ aus dessen
Atelier in der Düsseldorfer Kunstakademie. Johannes SCHÜTTER, dem der Künstler die Fettecke
geschenkt hatte, verklagte daraufhin die Gesellschaft auf 50.000 Mark, eine Aktion, die in den Medien
öffentlich zerrissen wurde.
45
Konsument ist hier im doppelten Sinn zu verstehen: als müllproduzierenden Konsumenten und als
Kunstkonsumenten - ob nun Käufer oder visuell und intellektuell konsumierenden Betrachter.
23
für die eklige, erbärmliche Seite unserer „Alltagsleichen“. Unterschiedliche Gesichtspunkte
werden beleuchtet, Themenbereiche erforscht, Künstler und Künstlergruppen zitiert,
Überlegungen, Schaffensmotivationen und Ziele der Künstler freigelegt und ausgebaut. Auch
wenn Künstler ein Material vorwiegend mit einem bestimmten Ziel sprechen lassen, so zeigt das
Sprachrohr des Mülls in viele Richtungen. Müll wird also nicht nur wegen einer bestimmten
Eigenschaft in einem Werk eingesetzt, sondern die Komplexität und Mehrdeutigkeit macht den
Reiz des Materials aus.
Um dem Überschuss an unterschiedlichen Künstlerkonzepten und der Vielfalt von Müll Herr zu
werden, bietet es sich förmlich an diesen „Müllberg“ zuerst zu trennen – aktive Mülltrennung zur
Bewältigung der Massen. Müll hat auch seine ordentlichen Seiten! Die Komponenten werden
weder nach Material oder Farbe getrennt, sondern rein nach unterschiedlichen Konzepten und
Herangehensweisen an die Müllproblematik:
Gleich am Anfang stelle ich mir die Frage, wie sich Müll als Objekt und Material in der Kunst
bewährt, besser: „be-Wert“! Wie ist der „Werte-gang“, also die Wertsteigerung von Müll in der
Kunstwelt zu erklären und nachzuvollziehen? Zuerst versuche ich gemeinsame Parameter für die
Begriffe Kunst und Müll zu finden. Ich forsche zudem nach dem unmittelbaren „Leben-danach“
des zeitweilig toten Materials Müll. Ich wage somit gleich zu Beginn eine besonders abstrakte
24
Herangehensweise an die Müll-Kunst Problematik. Ich taste mich an die „Seele“ des Mülls heran,
um zu verstehen, über welche philosophischen Prozesshürden ein so wertloses Material
gehoben wird um ein „Second life“46 als Kunstwerk zu erhalten. Ich versuche zu beleuchten wie
weggeworfenes, minderwertiges Material zur erhabenen Kunst werden kann und wie die
intellektuelle Wertsteigerung vor sich geht, um den darauf folgenden Ideen überhaupt eine
Grundlage zu geben.
Dann beziehe ich mich auf den Müll als konkretes Material. Müll hat eine Form, eine Substanz,
eine Konsistenz, die eine künstlerische Aussage unterstützen und tragen. Ich nehme eine Reihe
Künstler unter die Lupe, die sich in ihren Arbeiten auf die materiellen, stofflichen und formalen
Eigenschaften des Materials konzentrieren.
Anschließend gilt mein Interesse der sentimentalen Vergangenheit des Materials Müll und den
unterschiedlichen Methoden, wie gelebte Geschichte wieder neu zum Ausdruck gebracht werden
kann und zugleich Geschehnisse dokumentiert.
Einige Künstler benutzen Müll vorrangig wegen seines gesellschaftskritischen Beigeschmacks.
Müll ist Zeuge des globalen verschwenderischen Umgangs mit wertvollen Rohstoffen. Dieses
Zeugnis stellt unsere Gesellschaft an den Pranger.
Zuletzt gehe ich auf die primäre Idee der Wiederverwertung als Nutzobjekt ein und konzentriere
mich auf die Funktionalität des Materials. Die künstlerische Plattform des Designs bietet Müll die
Chance, als Konsumobjekt wieder aktiv in den Lebenszyklus mit eingeschlossen zu werden.
Um mir selbst bei dieser Trennungsarbeit einen Leitfaden zu ermöglichen, greife ich auf eigene
Produktionen zurück. Mein Interesse gilt der vielseitigen Transformierbarkeit und den
unendlichen Ver-wert-ungsmöglichkeiten des Mülls, auf die ich mich auch in meiner Praxis
einlasse. Ich probiere unterschiedliche Wege aus, auf denen Müll zum aussagefähigen („Kunst-“)
Objekt werden kann.
Die Müllplastik mit dem Titel „Recycling Bonsai“, begleitet hierbei meine theoretischen
Recherchen. Es handelt sich um einen mit Plastikstreifen umwickelten Bonsaibaum, der
eingegangen war. Waren die Ursachen etwa falsches Licht, Überwässerung, Kälte oder Hitze,
Mangel an Wurzelpflege oder Überbevormundung, Erschöpfung durch seine Behandlung,
Erdrosselung durch die Brutalität seiner Zuchtmaßnahmen, vielleicht aber auch schlichtweg
Heimweh? Den Grund für sein Ableben kenne ich nicht. Trotzdem war dieses “Bäumchen Elend“,
dieses voll- und geendete Lebewesen mit den drahtumsponnenen filigranen Verästelungen und
der knorrigen Stammstruktur, optisch wie emotional so wertvoll für mich, dass es nicht
weggeworfen werden durfte. Durch sein Ableben wertlos geworden, gehörte der Bonsai
eigentlich auf den Kompost. Angezogen durch die Schönheit der Miniaturverästelungen und
Holzmaserungen, hatte ich Mitleid mit ihm und bewahrte ihn auf.
Im Rahmen dieser These ließ ich den Baum zu neuem Leben aufblühen und zu meinem
leitenden Recyclingprojekt heranwachsen.47 Anhand dieses plastischen Beispiels lassen sich
sämtliche Überlegungen, auf welche Weise und aus welchen Gründen sich Müll zum Kunstobjekt
entwickelt, nachvollziehen und die Idee der Transformation von wertlos zu wertvoll verdeutlichen.
46
„Second life“ ist ein Online-3D-Plattform, entwickelt von dem Unternehmen Linden Lab (San Fransisco,
USA), wo sich etwa 28 Millionen offiziell registrierte User in virtuellen Welten ein zweites, erfolgreicheres
Leben vorspielen und sich oft mit ihrem Avatar, ihrem idealisierten zweiten Ich besser identifizieren können
als mit ihrem realen Leben.
47
Nur nützlich ist der Baum wohl nicht. Im letzten Kapitel über die Funktionalität bediene ich mich daher
alternativer Beispiele.
25
26
2.a Philosophische Lektüre: Die Renaissance des Totgeglaubten, die
Transzendenz des Wertlosen und die Ästhetik von Müll
Zuerst nähern wir uns dem Zusammenspiel von Müll und Kunst auf philosophischer Ebene.
Diese doch sehr abstrakte Herangehensweise an die Thematik hilft uns dabei, nachfolgende
Konzepte besser zu verstehen. Es geht hierbei um die Fragen, auf welche Weise diese
Transzendenz von wertlosem Müll zum wertvollen Kunstobjekt abläuft und welche Parameter
zusammenwirken, wenn Abfall aus seinem gewöhnlichen trostlosen Kontext entrissen und in
einen kreativen, aktiven Kunstkontext einbezogen wird.
Um die Position von minderwertigem Material gegenüber hochwertiger Kunst einzuleiten, beziehe
ich mich auf meine persönliche Arbeit „Recycling Bonsai“:
Das Zierbäumchen war verdorrt und die Plastiktüten waren ausgenutzt. Das Material, aus dem
sich die Assemblage zusammensetzt, drohte somit auf die Müllhalde, beziehungsweise auf den
Komposthaufen zu fliegen. Ich habe dieses Stückchen abgelebte Natur sowie die synthetischen
Stoffe, die es umschließen, aus ihrer prekären Situation heraus „gerettet“ und ihren Weg für eine
materielle und symbolische Wiederbelebung geebnet.
Beginnen wir mit dem Baum, dem formalen und gleichzeitig natürlichen Hauptbestandteil des
Objekts. Er symbolisiert das Leben selbst. Bei richtiger Pflege können Bonsaibäume über
hundert Jahre alt werden und sie werden äußerst teuer gehandelt.
Das kubanische Künstlerduo GUERRA DE LA PAZ übernimmt auch den Baum (Daphne, 2008)
und insbesondere die Form des Bonsais als Sinnbild für das Leben, den Anfang der Menschheit
und den Garten Eden. Die beiden Künstler gestaltet nicht nur Bäume, sondern auch eine ganze
Serie fantastischer Bonsais (Bonsai, 2006 oder Bonsai Jeweled, 2007) aus ausrangierten
Textilien48.
GUERRA DE LA PAZ, „Daphne“, 2008 und Beispiele ihrer Serie „Bonsai culture“,
Ausstellungsansicht, Kashya Hildebrand Gallery, Zürich, 2011
Die Zuchtkultur des Bonsais erinnert uns an die alten Lehren und Traditionen Asiens. Als
wichtigste asiatische Glaubensgemeinschaft lehrt der Buddhismus, dass das Leben ein einziger
Leidenskampf ist: von der Geburt über Alter und Krankheit zum Tod. Der Glaube an die
Wiedergeburt, lässt die Seele hierbei in ihrem zyklischen Zustand unendlich trostlos erscheinen,
sozusagen Recycling bis in alle Ewigkeit. Einzig die Überwindung irdischer Laster sieht die
Erlösung von diesem quälenden Rhythmus vor und befördert die Seele in das Nirwana, einen
Zustand ewiger Leidlosigkeit und Glückseligkeit. Die Emporhebung des sündigen Mülls zum
Kunstgegenstand findet ihre Parallelen in dieser göttlichen Idee der Erlösung.
48
Siehe hierzu die kritische Aussagekraft von GUERRA DE LA PAZ‘ Werken ab Seite 83.
27
In meiner Reinterpretation habe ich die Waldkiefer (Pinus sylvestris) mit dünnen Streifen aus
ausgedienten Plastikeinkaufstüten umbunden. Sie ummanteln das tote Bäumchen teilweise und
befestigen auch einige zerbrechliche Wurzeln und Äste. Die Plastikbänder scheinen im
medizinischen Sinn zu bandagieren, so als würde der Müll als Verband mithelfen Gebrochenes
zu stützen und zu schützen. Die übliche Mullbinde wird hier zur „Müllbinde“. Der synthetische
Müll verbindet den natürlichen Baum und hilft, ihn zu heilen.
Der Baum wirkt zudem mumifiziert, eingewickelt um dem Tod zu trotzen, in Erwartung einer
Wiedergeburt. So als würden die Bandagen - wie die alten Ägypter es glaubten - den toten
Körper auf dem Weg in ein neues Leben konservieren. Die Synthetik scheint hierbei die Natur für
die Unendlichkeit bewahren zu wollen.
Die ummantelnden Plastiktüten bilden stellenweise Laub- oder Blütenbündel und unterstreichen
noch einmal die Idee des Wiederauferstehens. Die lebhaften und künstlichen Farben geben
Hoffnung auf eine neue, diesmal jedoch synthetische Lebensweise. Wie eine Art Lebensprothese
wird sie dem toten Baum aufgesetzt. Recycling als Renaissance. Hierbei scheinen diese
knallbunten Plastikpompoms den Baum zusätzlich an synthetische Kaufhausbonsais „Made in
China“ erinnern zu lassen. Falsche Plastikzierpflanzen sind der Inbegriff von Kitsch. Der Begriff
Kitsch gilt allgemein als Gegensatz zum künstlerischen Bemühen auf der Suche nach dem
Wahren und Schönen. Kitsch und Müll sind sich in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich: abgewertet,
unnütz, überflüssig und minderwertig. So fristen beide ein Leben jenseits der allgemeinen
Wertschätzung. Kitsch und Müll sind sich zudem in ihrer Wortherkunft sehr nah. So stammt der
Begriff Kitsch vom familiären und alten Ausdruck kitschen, welcher für „Straßenschmutz oder
Schlamm zusammenkehren“ steht und im Sinn von „zusammengeschmiertem Dreck“ benutzt
wird49. Kitsch und Müll atmen sozusagen die gleiche Luft! Die Kitsch-Kunst Beziehung verhält
sich somit sehr ähnlich wie die Müll-Kunst-Beziehung. Die drei Bezeichnungen Kitsch, Müll und
Kunst sind relativ und unterliegen einer subjektiven Betrachtungsweise.
Das Objekt „Recyling Bonsai“ befindet sich allgemein in einem ambivalenten Stadium, zwischen
Tod und ewigem Leben, Zerfall und Auferstehung, Bruch und Heilung, Formfesselung und
Interpretationsfreiheit, Natur und Synthetik, zwischen Müll und Kunst. Abfall wurde durch eine
neue Konfrontation, eine Neubestimmung und Neugestaltung zu einem von sich selbst redenden,
interpretierbaren, autonomen Objekt.
Müll und Kunst stehen hier auf gemeinsamer Ebene und sind in einem gewissen Sinn
gleichberechtigte Spielfiguren in ein und demselben Gesellschaftsspiel.
Wie aber definieren wir dieses „Gesellschaftsspiel“ und wie funktioniert eine solche Aufwertung
von Müll zum Kunstobjekt, wo haben Müll und Kunst etwas gemeinsam?
„Paradox, dass sowohl die Kunst als auch der Abfall etwas Unberührbares
haben, wenn auch der Gegensatz nicht krasser sein könnte: das Erhabene
und das Eklige.“ Paolo BIANCHI50.
Setzt man Müll und Kunst in einen gemeinsamen Kontext, so besteht durch ihre
Gegensätzlichkeit zuerst ein Wertungsproblem: Weggeworfenes wird dem geheiligten,
goldgerahmten, hinter Glas gesetzten Kunstwerk gegenübergestellt. Kostenloses begegnet
Kostbarem, Abstoßendes wird anbetungswürdig, Wertloses wird wertvoll. Es scheint absurd, aber
wie gelingt eine solche Transition, nein, nennen wir sie Transzendenz, die Emporhebung des
Trivialen in die Heiligtümer des ewig Guten?
49
50
de.wikipedia.org, zur Etymologie des Wortes „Kitsch“, eingesehen am 08.01.2013.
Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 32 und 35.
28
Die Position des Mülls in der Kunst ist sehr ambivalent. Beides, Müll und Kunst, sind ungleich in
ihrem Anspruch aber gleich in ihrer Undefinierbarkeit. Zwischen Müll und Kunst scheinen Welten
zu existieren und doch sind beide sich so nah: Beide sind schwer greifbar in ihrer Existenz. Müll
scheint, eben wie Kunst, im Auge des Betrachters zu liegen. Die Begriffe „Müll“ und „Kunst“
bezeichnen im Wesentlichen nicht direkt ein Material, sondern den Wesenszustand, die
Charaktereigenschaft eines Objekts oder Materials, welches durch die Hände eines Verursachers
gegangen ist.
Unter welchen Bedingungen, durch wessen Urteil wird ein Objekt zum wertvollen Kunstobjekt?
Unter welchen Umständen kann das gleiche Objekt zu wertlosem Müll degenerieren? Wann ist
ein Schrotthaufen Kunst, wann nur Müll? Vor allem aber: Wie wird Müll zur Kunst?
Sowie der Rand des Mülleimers eine leere Bierdose entwertet, zu Müll degradiert und somit ihren
indirekten „Tod“ vorsieht, so scheint ein goldener Bilderrahmen oder ein Podest dem gleichen
Objekt künstlerischen Mehrwert bis hin zu ewigem Leben zu schenken.
Um genauer zu verstehen wie dieser Wertewandel funktioniert und die Wertsteigerung von Müll
zur Kunst vor sich geht, müssen die Parameter beider Parteien in ihrem Zusammenhang
analysiert werden.
Bei der Entstehung eines KUNSTWERKS treffen viele verschiedene Mitspieler mit gegenseitiger
Beeinflussung aufeinander. Auch der Müll profitiert an dieser Stelle von der Institution Kunst und
ihren „traditionellen Spielregeln“ um ewig leben zu können:
Zuerst ist der Künstler selbst die Quelle aller Werke. Er initialisiert die Transition von wertlos zu
wertvoll durch den Akt des Ent- und Annehmens (fr.: l’appropriation). Er wählt dieses
minderwertige Material gezielt aus, dann lenkt er den Weg des Materials und bestimmt Technik,
Form, Idee sowie den Spielraum für Kontext und Interpretationsfreiheit. Er verändert es,
inszeniert es, um es dem Publikum erneut vor Augen zu führen. Der Künstler lässt sich auf das
Material ein, hört ihm zu und entwickelt Konzepte in denen es wieder in den Kreis des aktiven
Gemeinschaftsspiels der Kunst aufgenommen wird. Der Künstler aktiviert sozusagen passives
Material und setzt es in ein aktives Umfeld. Sobald ein Gedanke in ein Objekt oder Material
hineininterpretiert ist und es vorerst nur als Fiktion besteht, hat das Material bereits an Wert
gewonnen, und sei es nur an ideellem Wert. Durch die Wiederverwertung werden neue
spirituelle, konzeptuelle, nostalgische, persönliche, kritische, wirtschaftliche, formale oder
stoffliche Zyklen angeregt. Recycling erlaubt somit nicht nur eine industrielle Wiedereingliederung
in einen produktiven Prozess. Durch die Wiederverwertung ermöglicht der Künstler dem
totgeglaubten Material auch eine Art Renaissance. Hierfür unterbricht er den Kreislauf des
Konsumguts und geleitet das Material in den Kreislauf des Kunstprodukts. Hier wird der Müll
vielfältigen Variations- und Interpretationsmöglichkeiten ausgesetzt und das Material kann sich in
sämtliche Richtungen entfalten.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Begriff für Wiederverwertung auf
Französisch la récupération lautet, wobei das Verb récupérer gleichbedeutend ist mit sich
erholen, neue Kräfte sammeln. Die Wiederverwertung kommt in diesem Sinn also einer
Genesung sehr nah. Sterbendes Material wird vom „Doktor Künstler“ reanimiert, wie ein
verunglückter Patient in den Händen eines Notarztes. Der Künstler diagnostiziert sozusagen den
Zustand des Mülls, fühlt seinen Puls und um seinen „Patienten“ nicht zu verlieren, setzt er
lebensrettende Maßnahmen ein. Der Künstler wird zum Heiland. Er heilt physische wie seelische
Wunden und rettet die Konsumreliquie vor dem sicheren Ende. Auferstehung der Toten,
aufgefahren in den Himmel… Wiederverwertung als letzte Chance! In der Mülltonne tut sich das
weiße Licht am Ende des Tunnels auf, die Hoffnung auf Wiedergeburt, die Renaissance des
bereits Totgeglaubten.
29
Dieser Interpretation stehen die Werke der amerikanischen Künstlerin Nancy RUBINS nah. Sie
präsentiert 1992 in ihrer Installation „71 Mattresses and Steel and Wire“ eine gigantische Rebe
aus ausgedienten, alten, schmuddeligen Schlafmatratzen. In ihrer zusammengebunden Masse
überwältigen sie den Zuschauer, scheinen ihn zu überrollen und einzunehmen. Der mit Mikroben
übersäte, abtrünnige Sperrmüll wirkt zugleich schwebend, als auch schwer und gewaltig, wie
eine bedrohliche, feindliche Wolke, besser: wie ein keimendes Geschwür, ein bösartiger Tumor,
Ursünde, „zur Gestalt gewordenes schlechtes Gewissen unserer Wegwerfgesellschaft“51. Die
Künstlerin versucht erst gar nicht die Gebrauchsspuren und Fehler zu verstecken, sondern stellt
sie an den Pranger, wie einen Märtyrer hängt sie sie einfach auf.
Nancy RUBINS, „71 Mattresses and Steel and Wire“, Installationsansicht Galerie Magers, Köln, 1992
Ein Künstler, der ein solch desolates, sündiges, heidnisches, unkoscheres und ketzerisches
Material in seinen Kunstprozess aufnimmt, scheint dem Müll zuerst die Beichte abzunehmen. Er
akzeptiert sein fehlerhaftes Dasein, denn er weiß: Müll ist selbstverschuldete Umweltsünde, das
Vergehen der Menschheit. Beim künstlerischen Prozess der Wiederverwertung hört der Künstler
dem Müll zu, erkennt seine Fehler, wäscht seine Seele rein, erlöst ihn und schenkt ihm ein neues
Leben. Drei Vater unser und ein Ave Maria. Dann integriert er ihn wieder in eine Kommune als
gleichwertiges Mitglied. Der neuernannte Beichtvater bietet dem Müll die unendliche Erlösung
von dem Bösen, die Absolution eines Kunstwerks.
Durch das Eingreifen des Künstlers, durch Wiederverwertung und Transformation widerfährt dem
Müll eine Transzendenz, eine Emporhebung in die heiligen Hallen der Kunst, getragen von den
Flügeln seines Schöpfers.
Die Kunst selbst ist hierbei die Religion, an sie müssen alle Beteiligten glauben. Der Künstler als
Schöpfer52 haucht dem Müll ein neues Leben ein.
51
Kathrin LUZ über RUBINS Werk in Nancy Rubins: Versöhnungsutopie zwischen Zivilisation und ihrem
Ausschluss, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 121.
52
Gott verwertete auch eine Rippe von Adam um Eva zu formen und somit die Menschheit zu erschaffen.
30
Letzterer bedient sich hierbei einiger Hilfsmittel. Auf der einen Seite verfügt der Künstler über
ideelle, individuelle Behelfe wie: seine Biographie, sein charakteristischer Arbeitsvorgang, sein
Marktwert oder seine Unterschrift53. Alleine durch Spuren seiner Person wertet der Künstler ein
Material auf. Auf der anderen Seite nutzt dieser sein technisches Repertoire um neuen Wert zu
schaffen. So unterzieht beispielsweise Alicja KWADE triviale, auf dem Gehweg gefundene Steine
einem Brillantschliff. Ordentlich poliert und arrangiert werden so aus unbedeutenden Elementen
bezaubernde „Bordsteinjuwelen“. Die polnisch-deutsche Künstlerin spielt, wie auch Catherine
BERTOLA, die Hausstaub zu zarten Arabesken anordnet54, mit der Qualität der Formgestaltung.
Sylvie FLEURY hingegen konzentriert sich auf die Materialität und überzieht eine Mülltonne mit
Gold55. Dies sind nur einige Beispiele, wie Künstler ihre Mittel einsetzen um einem wertlosen,
banalen Material einen neuen Wert einzuhauchen.
Alicja KWADE, „Berliner Bordsteinjuwelen (Die 100 Auserwählten)“, 2008
Die Kunst lebt nicht alleine von und durch ihren Erzeuger und durch dessen Umgestaltung oder
Materialveränderung. Es fehlen weitere Voraussetzungen zu ihrem Gedeihen und Überleben:
Kunst ist situationsbedingt. Dadurch, dass ein Künstler ein Objekt in einen bestimmten Kontext
platziert, scheint eine Tür aufzugehen und das Objekt kann sich mitteilen. Die Präsentation, also
der Kontext, beeinflusst die Aussagekraft und somit auch den Wert jeden Materials.
Dieser Kontext kann sowohl Rahmen oder Sockel, also Präsentationskontext sein, als auch
räumlicher Kontext, also Museum oder Galerie. Jeder dieser Kontexte zieht eine Grenze
zwischen Alltags- und Kunstgegenstand.
So wie eine Theaterbühne den eigenen Nachbarn zum König macht, so scheint ein ordentlicher
Rahmen aus einem bekritzelten Papierfetzen ein Kunstwerk zu zaubern. Der Rahmen schafft hier
eine primäre Illusion, eine Fiktion von Kunstwerk. Er flankiert oder eskortiert den Akt der
Emporhebung eines Objekts zum Kunstwerk.
Die Erben DUCHAMPs, des Meisters der Transzendenz von trivialen Objekten zur heiligen
Kunst, sind zahlreich. Insbesondere die Neuen Realisten nutzen die doch traditionellen
Präsentationsmöglichkeiten von Rahmen oder Sockel um dem Publikum minderwertiges Material
in ihrer neuartigen Zusammensetzung zu offenbaren und prägen hiermit ab 1960 die
Objektkunst.56 So sammelt der französisch-US-amerikanische Objektkünstler Armand
53
So sträubte sich beispielsweise Jacques de la VILLEGLÉ dagegen seine Werke zu signieren. Er tat es
ausschließlich um ihrem Verschwinden und Vergessen und somit Wertlos-werden vorzubeugen: „Dennoch
erleichterte ich mit meiner Schutzmarke die Erkenntnis, und verhüte die Zerstörung. Die Schönheit ist nun
einmal den bürgerlichen Verhältnissen tributpflichtig.“ Zitat nach: Dufrène, Hains, Rotella, Villeglé, Vostell Plakatabrisse aus der Sammlung Cremer, Katalog zur Ausstellung, Staatsgalerie Stuttgart, 1971.
54
Siehe Catherine BERTOLAs Bodeninstallation „After the Fact“ auf Seite 76.
55
Siehe Sylvie FLEURYs Plastik „Dream“ auf Seite 39.
56
Siehe zum Thema Materialität im Nouveau Réalisme auch den Text ab Seite 46.
31
Fernandez, genannt ARMAN beispielsweise diverse Gegenstände und bewahrt sie wie Reliquien
in Vitrinen auf. In Assemblagen wie „Portrait-Robot d’Yves Klein“ häuft der Künstler den Abfall
bekannter Personen und bettet ihn in Plexiglasbehälter. Hiermit gewährt er voyeuristische
Einblicke in deren Privatsphäre unterschiedlicher Menschen und verewigt damit deren
individuellen Rest. ARMAN zelebriert nicht nur die Person, die sich hinter dem Dreck verbirgt,
sondern vor allem das Material Abfall als solches. Er demonstriert die künstlerische Ästhetik des
Schäbigen.
ARMAN, „Poubelle ménagère“, 1960 und „Portrait-Robot d’Yves Klein“, 1960
Rahmen oder Podest scheinen ein Objekt nicht nur vor Umwelteinflüssen, sondern auch vor dem
Vergessenwerden, in unserem Fall vor dem Weggeworfenwerden, zu schützen. Rahmen und
Podest ziehen die Aufmerksamkeit auf ein Exponat und grenzen es gleichzeitig von der Umwelt
ab. Rahmen und Podest entreißen ein Objekt der alltäglichen Realität und verleihen ihm Gehör.
Sie sagten: Achtung Kunst!
Ich habe eine Reihe meiner Arbeiten diesem Phänomen der Rahmung gewidmet. In meiner Serie
„Cad-re-made in Luxembourg“ konfrontiere ich Rahmen, die ich aus Verpackungsmaterialien
typisch luxemburgischer Produkte hergestellt habe (eine Art „Recy-cadrage“), mit
unterschiedlichen Hintergründen, sodass ein Dialog zwischen “Rahmeninformationen“ und „Bild“
entstehen kann. 57
57
Unten zu sehen ist das Beispiel „La vie en Rose“, eine Arbeit über die Luxlait-Butter Rose. Siehe auch
meine weiteren persönlichen Projekte zum Thema ab Seite 84.
32
Nicht nur Rahmen oder Podest, sondern auch der räumliche Kontext, wie Museum oder Galerie
scheinen dem Müll den Maulkorb zu lösen. Sobald etwas präsentiert und veröffentlicht ist,
beginnt man generell zu interpretieren und über den Wert – sei er intellektuell, sentimental,
dekorativ, kulturell oder wirtschaftlich - nachzudenken. Denn wen interessiert schon eine Kiste
Waschmittel, wenn sie bei Mutti im Keller steht? Andy WARHOL setzt sie trotzdem in eine
Galerie und macht den ohnehin schon populären Markenartikel zum Kunst-Kultobjekt, zur
wa(h)ren Ikone, eine Karikatur der amerikanischen Konsumgesellschaft58. Plötzlich sagt ein
trivialer Gegensand mehr aus als in seiner üblichen Umgebung, ja birgt sogar einen ästhetischen
Reiz, den man im Alltag übersieht.
Der räumliche Kontext funktioniert als Drehtür zwischen Nichtkunst und Kunst. Wie mein Beispiel
“Recycling Bonsai“ zeigt, kann der Ort in situ sogar selbst zum Bestandteil eines Werkes werden
und verleiht dem Werk eine neue Dimension, neue Perspektiven, neue Entfaltungsmöglichkeiten.
Ob nun auf einer Müllhalde oder im Wald zwischen anderen Bäumen, die Außenwelt hat einen
Impakt auf die Aussagekraft eines Objekts. In sein ursprüngliches Umfeld zurückgepflanzt, spielt
der Kontrast zu den benutzten synthetischen Materialien eine neue Rolle. Die
Plastiktütenfragmente scheinen den Baum vor seiner natürlichen Umgebung abzugrenzen und zu
schützen. Er wird lange darum kämpfen müssen, wieder gänzlich zum Waldinventar
zurückzufinden.
Auf einen Ausstellungssockel gehoben und somit endgültig dem Alltag entrissen, sieht sich die
Plastik auf eine höhere Ebene erhoben. Der Bonsai erhält in dieser Situation „à part“ eine neue
Daseinsberechtigung. Diese Emporhebung erweckt scheinbar tote Materie endgültig zu neuem
Leben, macht sie zum lebendigen, aussagekräftigen Subjekt mit Aussicht auf Kunstwerk. Durch
diese Geste erhebe ich selbst meine Arbeit zum „Kunstobjekt“, hierdurch scheint Müll die
Möglichkeit zu einer spirituellen Neugeburt und zu ewigem Leben zu enthalten.
58
Warhol stapelte 1964 rund 400 Kisten, aus Holz nachgebaute und im Siebdruckverfahren bedruckte
Kisten Brillo, Campbell’s Tomatensaucen, Kellogg’s Corn Flakes oder Heinz Tomatenketchup bis zur
Decke der Galerie von Eleanor Ward, Stable Galery, New York.
33
Neben dem Künstler und seinen Hilfsmitteln, der Präsentation und dem
Kontext gehören weitere Faktoren zum Prozess der Kunst-Werdung. Hierbei
erinnere ich mich gerne an eine Folge von „The Simpsons“59, in der der leicht
unterbelichtete Familienvater Homer Simpson einen Gartengrill aufbauen
sollte und durch sein Ungeschick alles im einbetonierten Chaos endete. Eine
Galeristin für Outsiderkunst sah diesen Müllhaufen und Homers künstlerische
Blitzkarriere war über Nacht eingeläutet!
Sicherlich vertrauen wir als Kunstkonsumenten einflussreichen Sammlern, Förderern und
Investoren, kunstkritischen Publizisten, Galeristen und Kuratoren. Sie scheinen „des Königs
Kleider“ nähen zu können. Sie entscheiden über den Marktwert jedes Künstlers.
Ein Künstler, ein Rahmen und ein Galerist machen noch immer kein Kunstwerk. Der Betrachter,
der Empfänger oder Rezeptor und somit der Kunstkonsument selbst scheint aus einem Objekt
endgültig ein Kunstwerk zu machen.
Passives Material gerät erst durch den Betrachter in einen aktiven Prozess. So assoziiert jeder
etwas anderes mit einem Objekt und schafft seine ganz eigene Sicht auf ein Kunstwerk. Ein
Werk muss wahrgenommen, be- oder ver-WERTet werden, damit Ideen transportiert, Gedanken,
Gefühle oder Kritik vermittelt werden können, damit Kunst lebt. Kunst führt keine Monologe,
Kunst kommuniziert. Das Auge, die Seele, der Intellekt, die Interessensbereitschaft des
Betrachters, ob in seiner kontemplativen Wahrnehmung, seiner spirituellen Anteilnahme oder
seiner eigenen Mitgestaltung, machen ein Werk erst komplett.
Das Kunstwerk steht somit inmitten einer Dreiecksbeziehung zwischen Künstler, Kontext und
Betrachter. Diese drei essentiellen Grundpfeiler definieren im Wesentlichen den Ausgangspunkt
jedes Kunstwerks.60
Was aber definiert MÜLL? Welche Parameter benötigt ein Material um zu Müll zu werden?
Hier lassen sich Parallelen zur Dreiecksbeziehung der Kunst ziehen, mit einem Unterschied:
Erschaffung und Bewertung von Müll liegen meist in den Händen einer Person. Derjenige, der
den Müll produziert, ist zwar nicht zwingend der Gleiche, der den Müll auch entsorgt, wir können
ihn aber als gleichen Faktor ansehen. Er ist der Urheber, er produziert und richtet über einen
Gegenstand.
Joseph BEUYS meinte:
„Wenn Du ein waches Auge hast für das Menschliche, kannst Du
sehen, dass jeder Mensch ein Künstler ist. Ich war jetzt in Madrid und
habe gesehen, wie die Männer, die bei der Müllabfuhr arbeiten,
große Genies sind. Das erkennt man an der Art, wie die ihre Arbeit
tun und was für Gesichter sie dabei haben. Man sieht, dass sie
Vertreter einer zukünftigen Menschheit sind.“61
An diesem Punkt drängt sich noch einmal die Frage nach der Be-Wert-ung von Müll und somit
nach der ÄSTHETIK VON MÜLL in Kunstwerken auf.
59
th
„The Simpsons“, Episode Nummer 222, „Mom and Pop Art“, 1999, Matt Groening, 20 Century Fox.
Hierzu wirken auch andere Parameter auf die Kommunikationsform jedes Kunstwerkes, wie das Medium
selbst, die Funktion die das Werk hat, sowie die Botschaft, die es enthält. Was ist Kunst, Maria Carla
PRETTE und Alfonso DE GIORGIS, Neuer Kaiser Verlag, Klagenfurt, 1999, Seite 9 und Seite 12.
61
Joseph BEUYS, Basel, 28.10.1985, zitiert von Paolo BIANCHI, im Kunstforum Band 168, Seite 37.
60
34
„[…] Tout est art. Je ne pouvais plus rien jeter, une allumette était
aussi belle que la Joconde“.62
Die Materie unterliegt einer persönlichen Wertung. Was für den einen wertloser Schutt ist, sieht
ein anderer als wertvolle Reliquie. Für den Müll besteht somit die Möglichkeit durch die
Bewertung seines Wahrnehmers zu transzendieren, erhoben über den Weg der Ästhetisierung.
Schönheit liegt eben im Auge des Betrachters. Jeder interpretiert seine ganz eigene
Wertvorstellung in ein Objekt.
Der Gesichtspunkt ist für die Ästhetik von Müll ausschlaggebend.
Vincent VAN GOGH erkannte:
„Heute bin ich auf dem Fleck gewesen, wo die Aschemänner Müll
hinbringen. Donnerwetter war das schön […] Heute Nacht werde ich
wahrscheinlich davon träumen.“63
Müll kann unter bestimmten Voraussetzungen anziehend sein, ja sogar Objekt der
Kontemplation. Ob nun für Augen oder Intellekt, Müll hat seine attraktiven Seiten.
Der Kontext ist auch für den Müll maßgebend, nicht der Goldrahmen in einer Galerie, sondern
die Mülltüte im Abfalleimer. Wie die Kunstbühne jedes Material zu Kunst erhebt, so degradiert ein
Mülleimer identisches Material zu Müll. Eine Socke kann in einem Museum Bestandteil einer
BOLTANSKY Rauminstallation sein64, die gleiche Socke ist auf der Müllhalde bloß Müll.
Dieser Kontext muss natürlich vom Betrachter als solcher anerkannt werden.
Beide Extreme, MÜLL und KUNST, haben gleiche Wurzeln: Sowohl Kunst als auch Müll sind
abhängig von einem bestimmten Kontext. Sie sind von Menschen erzeugte, ungenormte, schwer
zu bestimmende Produkte, deren Wertung im Auge des Betrachters liegt. Sie sind in erster Linie
nicht zwingend materiell und existieren, ähnlich einer Illusion, in den Köpfen der Menschen. Sie
bieten den Menschen Anreiz zur Interpretation und Projektion von eigenen Ideen. Jeder hat somit
die demokratische Möglichkeit Müll gleichermaßen wie Kunst nach eigenem Sinn und Unsinn zu
interpretieren.
So starten Müll und Kunst von der gleichen undefinierbaren Ebene.
Die Fusion von Müll und Kunst, dieses paradoxe Zusammenspiel von scheinbar Wertlosem und
offensichtlich Wertvollem bietet einer Reihe von Künstlern eine bedeutende Schaffensmotivation.
Der 1944 geborene Niederländer Diet WIEGMAN spielt mit diesem Gegensatz von schäbig und
schön und bedient sich hierfür der Formensprache der Antike. Aus gesammeltem Schrott und
Strandgut wie Schwemmholz, Muscheln oder kaputten Dosen, arrangiert der Schattenkünstler
eine scheinbar knorrige und ärmliche Skulptur. Erst aus dem richtigen Winkel beleuchtet,
projiziert sich der Schattenumriss von MICHELANGELOs David an die Ausstellungswand. Aus
einem schäbigen Haufen Müll lässt der Künstler die Verkörperung der anatomischen Perfektion,
den Inbegriff der männlichen Schönheit entstehen, zumindest schafft er diese Illusion. Wiegman
62
Der Fluxus-Künstler BEN (Benjamin Vautier) meinte dies im Zusammenhang mit seiner Einsicht, dass für
ihn 1958 die Malerei vorüber ist. Zitiert in Comprendre et reconnaître les mouvements dans la peinture,
Larousse-Bordas, Paris, 1997, Seite 186.
63
Brief an Anton VAN RAPPARD, Sämtliche Briefe, Bd. V, Zürich 1968. Zitat nach Anette HÜSCH, From
Trash to Treasure - Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Kunsthalle zu Kiel, S.16.
64
Siehe Christian BOLTANSKYs Installation „La Réserve du Musée des Enfants I und II“, Seite 68.
35
thematisiert die alttestamentarische Figur des Jünglings David, der gegen seinen körperlich
überlegenen Gegner Goliath, in diesem Fall einen scheinbar unförmigen Müllklumpen,
triumphiert. David tritt in seiner unerschütterlichen harmonischen Körperhaltung aus dem
Schatten seines Feindes hervor. Das klassische Ideal von Gleichgewicht und Proportion scheint
die frivole Masse zu überwinden und in der Hintergrund zu rücken, gleichzeitig ist diese
Projektion des klassischen Inbegriffs für Ästhetik noch zerbrechlicher als der Müllberg, aus dem
er hervorgeht.
Diet WIEGMAN, David after Dinner, 1983
Auch die Werke des bereits kurz erwähnten deutschen Künstlers Gerd ROHLING lassen unsere
konventionelle Vorstellung von Ästhetik mit der von Müll aufeinandertreffen. Er sammelt auf dem
Strand liegengelassene, verblasste, milchig angelaufene Plastikflaschen und sonstige alte PETGegenstände, an denen Wind, Wasser und Sand ihre Spuren hinterlassen haben. Diesen
patinierten Strandabfall schneidet ROHLING auseinander und fügt ihn wieder zu neuen alten
Trinkgefäßen zusammen. Die Präsentation dieser eigentlich rudimentären Plastikbastelei macht
dann den Rest: in gedämpftem Museumslicht, in Glasvitrinen zu passenden Serien angeordnet
und wirkungsvoll ausgeleuchtet, erscheint der Plastikmüll dem Besucher wie antike Weinbecher
mit weitreichender Historie. Von der Wasserflasche zum Weinkelch, ROHLING scheint die
Hochzeit von Kanaan neu zu interpretieren. Wie Jesus in der Vorstellung der Menschen Wasser
in Wein umwandelte, so passiert auch hier etwas im Kopf des Betrachters. Erst ein zweiter Blick
lässt den aufmerksamen Betrachter erkennen, dass der Schein trügt und ROHLING eigentlich
„nur“ modernen Konsumabfall gekonnt arrangiert hat. Meint man, dass Plastik unschön altert, so
belehrt uns dieser Künstler eines Besseren. Seine „Plastiken“ verwirren durch die Diskrepanz von
Schein und Wirklichkeit, von Original und Imitat und stellen unterdessen die Qualität der heutigen
Kultur bloß. Er macht einfache PET-Trinkflaschen zum heiligen Gral, zur begehrten Trophäe,
36
zum Quell des ewigen Lebens. Die Mittel der Kunst stellen diesem Müll ein ewiges oder
zumindest ein sehr langes Leben in Aussicht. Als Künstler schafft ROHLING es, aus Wertlosem
Wertvolles entstehen zu lassen und bietet kurzlebigen Objekten die Aussicht auf Unsterblichkeit.
Gerd ROHLING, „Wasser und Wein“, Serie, 1989-2009
Tina HAUSER erkennt auch im Müll das Ästhetische, nicht umsonst betitelt sie ihre Zeitplastiken
„The Beauties“. Ihre fotografischen Werke dokumentieren umfangreiche Abfallansammlungen
und aufwändige Müllinstallationen. Sie thematisiert den Prozess der Lagerung und die Idee, dass
Dinge in der Zeit ihrer Aufbewahrung an Wert verlieren (wie Wein mit Korkbefall), ihren Wert
behalten (wie schlechter Wein, der mit der Zeit auch nicht besser wird) oder an Wert gewinnen
können (wie ein guter Bordeaux, der bei richtiger Lagerung ein vielfaches an Wiederverkaufswert
erzielen kann). Die Schweizerin sucht gezielt temporäre Abfall-Bildwerke auf Müllhalden und in
Verbrennungsanlagen oder präpariert sie selbst in Ausstellungsräumen oder Bunkern. Sie
belichtet unpassierbare, überwältigende Müllmassen, die wie bedrohliche Wasser(ab)fälle wirken.
Der zwischen dicken Betonmauern hervorquellende Dreck scheint in dem Moment abgelichtet zu
sein, in dem er gerade noch im perfekten Gleichgewicht ist. Wird diesen Müllwänden ein
Baustein, nur eine kleine Tüte entzogen, so scheint die Lawine mit aller Kraft auf den Betrachter
einzubrechen und ihn unter sich zu begraben. HAUSER zeigt, dass Müll die Energie hat, den
Menschen mit brachialer Gewalt zu bezwingen. Nicht ganz ungefährlich! Bewaffnet mit
Schutzanzug, Funkgerät und Fotokamera, dokumentiert HAUSER selbst vor Ort bis zu 25 Meter
hohe Müllberge.
„[...] eine paradoxe Schönheit. Nur wenige Müllhaufen erfüllen die
Kriterien, damit ich meine Urheberschaft darüber erkläre. Der
Bestand umfasst heute 14 Beauties. Es handelt sich um
ungeschönte direkte Porträts unserer Sozialkultur.“65
65
Tina HAUSER zitiert von Nadia SCHNEIDER, in „Kunstschlacke“, Müllkunst, Kunstforum international,
Band 168, Seite 92.
37
Tina Hauser, „The Beauty #1“, „The Beauty #10“, „The Beauty #5“, 2000
Hierbei wirken die lebensgefährlichen Müllwände fast schon architektural. Formell erinnern die
Wirrungen und Verknotungen der Müllbänder an action paintings, was optisch eine
Rhythmisierung und Ästhetisierung dieser Müllmassen provoziert.
Sylvie FLEURY illustriert die Müll-Kunst Problematik auf charmante Weise. „Dream“66 von 2003
sind insgesamt fünfundzwanzig kleine Mülltonnen, die mit 24-karätigem Gold überzogen wurden.
Die schweizerische Künstlerin präsentiert den Mülleimer als wertvolles Geschenk, wie einen
Schatz, makellos schön, glänzend veredelt: Was da wohl drin ist?
Mülleimer in Gold verpackt, dieses Werk hat mehrere Facetten: Einerseits würde man sich so ein
objet très chic als optischen Hingucker sicher in die Küche stellen. Etwas dekadent, seine
Essensreste in Gold zu entsorgen!? Andererseits sind die Goldmülleimerchen, wie bei FLEURY
stets üblich, ein anmutendes und luxuriöses Designobjekt. Diese kleinen goldenen Mülltönnchen
erinnern an Parfümfläschchen von Dior oder Gaultier. Nur riechen tut der Inhalt wohl etwas
anders. Fleury interessiert sich generell in ihren Arbeiten für die Prozesse der Ästhetisierung, für
das Dekorative an der industriellen Produktionsware. Sie spielt mit den fast schon
hypnotisierenden Reizen, mit einschlagenden und blendenden Werbetaktiken von luxuriösen
Marken, mit den Vorgängen, die herbeigeführt werden, wenn wir Louis Vuitton Taschen, schnelle
Autos oder exklusive Kleider konsumieren. Sie thematisiert und manipuliert den Wert von
Objekten. Sie „recycelt“ Konsumgüter (manchmal auch Kunstwerke) und re-interpretiert sie im
Sinn einer neuen Ästhetik. Mit dieser Absicht scheint sie auch Autos zu „schminken“, knallrosa,
wie mit Lippenstift übermalt (Skin Crimes, 1997). FLEURY führt dem Publikum, mit einem
Augenzwinkern und auf sympathische Weise, die Drecksschleuder Mülltonne einfach erneut vor
66
Courtesy Art of this Century, New York/Paris.
38
Augen. Auch auf diesem Weg der Neuinterpretierung werden triviale Objekte zu wertvollen
Kunstwerken.
Sylvie Fleury, „Dream“, 2003, mit 24-karätigem Gold veredelte kleine Mülltonne
Wenn man sich etwas näher auf diese kleinen goldenen Mülleimerchen einlässt und diese
ästhetische Kulisse durchbricht, erweckt ihre Arbeit auch ein Bewusstsein für die eigenen
Konsum- und Wegwerfgewohnheiten. Wir werfen tagtäglich so viele Dinge sorglos weg! Die
Goldmülleimer vermitteln eine unterschwellige Kritik an unserer Gesellschaft. Gold strahlt eine
göttliche Aura aus, symbolisiert Erhabenheit, Macht und Ewigkeit. Müll ist aber nun eher
überhaupt nicht göttlich. Macht uns diese goldene Tonne nur etwas vor? Kombiniert mit dem
Werktitel „Dream“ fragt man sich: Ist dieser Traum nicht eher ein Albtraum? Ist Müll die Zukunft
der Menschheit? Ist Müll unser Verderben? Un cadeau empoisonné, wie ein trojanisches Pferd,
welches wir uns selbst in unser Haus eingeschleust haben?
Wenn von Müll-Ästhetik die Rede ist, befinden wir uns in einer paradoxen Situation, in der uns als
Betrachter jedes Urteil schwer fällt. Abstoßend und anziehend zugleich, macht gerade dieser
Spagat die Ästhetik von Müll aus. Müllkunst erlaubt dem Künstler wie auch dem Betrachter alle
Be-Wert-ungsfreiheiten.
Die behandelten Künstlerbeispiele befassen sich mit schäbigem Müll, weil sie in ihm etwas
Anziehendes, ja Ästhetisches und schlussendlich auch Wertvolles erkennen. So werden die
Mittel der Kunst benutzt um Müll einer Illusion von Ästhetik auszusetzen, um Müll zur
monumentalen Architektur, zur idealen Projektion, zum Schmuckstück werden zu lassen.
Die Kunst wird für den Müll zum keimenden Geburtskanal auf dem Weg in ein neues Leben.
39
Nachdem die Parameter von Kunst und Müll in ihrem Zusammenhang beleuchtet und eine Reihe
Möglichkeiten erfasst wurden, auf welche Weise Müll auf eine höhere Daseinsberechtigungsstufe
emporgehoben wird, widmen wir uns nun den greifbaren Stofflichkeit des Mülls in der Kunst. Eine
Reihe Künstler sehen eben im Müll das, was man primär als Müll erkennt: dreckigen,
übelriechenden, unhygienischen, gärenden, ekligen Abfall.
40
2.b Stoffliche Lektüre: über Form und Antiform von Müll
„Es gibt aber Künstler, deren Kreativität total ist, die in den Müll
greifen können, und schon entsteht etwas Neues.“67
Als zweiten Punkt behandele ich nun den konkreten Einsatz von Müll in der Kunstwelt. Wie wird
Müll für die Schaffung von Kunstwerken genutzt, in all seinen Formen und Nicht-Formen, in
seiner Substanz, seiner Stofflichkeit, seiner greifbaren Materialität?
Einleitend beziehe ich mich auf die Materialauswahl meines eigenen Recycling Projekts:
„Recycling Bonsai“ besteht aus Müll natürlichen und synthetischen Ursprungs. Im Kern ist das
tote Bäumchen Holz und somit natürlicher Abfall, Biomüll oder Kompost. Holz zersetzt sich als
Stoff relativ leicht in der Umwelt und ist Teil eines natürlichen Verwertungsprozesses. Die feinen
Zweige können schnell und einfach von der Erde verdaut werden und geben dem Boden
Nährstoffe zurück.
Ihm gegenüber steht synthetisches Material, Polyethylen und Polypropylen, also die Plastiktüten.
Bunt bedruckt, dienten sie dem Konsumenten zu „Lebzeiten“ als Tragehilfe und der
Konsumgüterindustrie als Verpackung und Werbeträger. Leicht, elastisch und doch stabil,
künstlich aus Erdöl hergestellt, ist dieser Stoff in der Natur schlecht zersetzbar.
Wie funktionieren diese gegensätzlichen Stoffe nun gemeinsam, wie habe ich diese heterogenen
Materialien kombiniert und in Form gesetzt?
Beginnen wir bei den Wurzeln des Baumes. Sie sind nicht in natürlicher Erde unter einer
Mulchschicht gebettet, sondern in eine synthetische Müllschicht verpackt.
In feine Bänder geschnitten, scheinen die künstlichen Plastiktüten von den Wurzeln aufwärts den
natürlichen Baum materiell zu unterstützen und zu schützen, wie ein Mantel, denn das Holz ist
saftlos und brüchig. Die Plastiktüten sind sehr leicht formbar und flexibel. Sie bewahren das Holz
vor seinem sicheren Zerfall.
67
Kommentar von Thomas ZAUNSCHIRM in „Ein bisserl narrisch, aber furios“, von Almuth SPIEGLER,
Die Presse, Feuilleton, Ausgabe des 27. August 2008, Seite 25. Der Kunsthistoriker bezieht sich auf ein
Ausstellungsobjekt des österreichischen Installationskünstler Christian EISENBERGER in der Wiener
Galerie Konzett. Mit armen Materialen wie Holzresten, Draht, Klebeband, Klopapier, Rasierschaum oder
auch zerdrückten Schnecken bewaffnet, schafft er eine Art symbolträchtige Gerümpelkunst ganz ohne
ästhetischen Anspruch.
41
Formell habe ich mich bei meiner Verarbeitung am Verlauf und an der
Kraft der Spanndrähte, die das Bäumchen im Griff halten, inspiriert. Sie
wirken wie ein Gerüst, welches dem Baum zu Lebzeiten eine
Wachstumsrichtung und somit seine typische Form aufzwangen.
Die zum Teil verknotete Ummantelung erinnert zudem optisch an eine
beliebte Form des Street Art. Beim sogenannten yarn bombing oder urban
knitting68 umstricken und umhäkeln sowohl Künstler als auch Großmütter,
Kinder und Hobbystricker vorzugsweise Bäume an öffentlichen Stellen,
eine freundliche Abwechslung im grauen Stadtalltag.
Die Plastikpompoms an den Extremitäten verstärken diese Wirkung und
übertünchen die eigentliche Leblosigkeit des Baumes, der in einem
künstlich-kitschigen Koma verweilt, behängt wie ein Karnevalsjeck.
Die Assemblage funktioniert somit auf der Komplementarität zweier Stoffe die einerseits
natürlicher, andererseits synthetischer Herkunft sind.
Die Mülltonne hat der Kunst aber noch viel mehr zu bieten: Einige Materialien werden integral in
ihrer Gesamtform wiederverwertet, sind sauber oder zumindest ohne großen Aufwand zu
reinigen. Andere Substanzen sind schäbig, kaputt, zerrissen, gebrochen, aufgequollen, wiederum
andere sind einfach nur abstoßend. Sie gären, verwesen, riechen übel und sind ekelig. Müll ist in
seinen diversen Beschaffenheiten und Phasen vielseitig und facettenreich. Während eines
künstlerischen Wiederverwertungsprozesses kann der Künstler alle formalen, chromatischen und
materiellen Merkmale des Mülls zerstören und neu organisieren, er kann sie allerdings auch
konserviert und neu präsentieren.
Welche Künstler bedienen sich denn nun wie und aus welchen Gründen aus den Mülleimern und
verwerten ihren Inhalt in seinen spezifischen Formen, Qualitäten und Zuständen?
Man muss zuerst gestehen, Müll hat einen sehr trivialen aber ebenso praktischen Vorteil: sein
Anschaffungspreis! Wie CÉSAR es formulierte: „Parce que ça ne coûtait rien“69. So verwerten
einige Künstler den Müll weniger aus Überzeugung, als vielmehr aus finanzieller Not heraus. Die
daraus resultierenden Werke sind folglich automatisch mit Müll-Ikonographie behaftet, ob gewollt
oder nicht. Sobald ein Künstler Abfall sichtbar in seinen Werken einsetzt, muss er damit rechnen,
dass das Matetrial „spricht“. Falsch eingesetzt, kann Müll ebenso gut Kunstobjekte inhaltlich
überrüsten. Einfach zu viel des Guten? Die eigentliche Aussage des Künstlers riskiert
missverstanden zu werden oder wird durch den „Geruch“ von zu viel Müll übertüncht. Müll ist mit
Bedacht einzusetzen, denn er hält seinen Mund nicht!
Bevor wir dem materiellen Verstand von Müll auf den Grund gehen, beginnen wir zuerst damit,
wie diese Substanz überhaupt die Bühne der Kunst betreten hat:
Die Introduktionsphase Müll
Kunst verlief nicht wie ein langsames, sanftes Herantasten,
sondern wie ein Donnerschlag. Sein Kunst-Debüt feierte der Abfall anfangs des zwanzigsten
Jahrhunderts. Erste Versuche alltägliche Materialien in eine Bildkomposition einzubauen fanden
in der Avantgarde statt. Künstler wie die Kubisten Pablo PICASSO oder Georges BRAQUE sowie
später auch Dadaisten wie Kurt SCHWITTERS, Raoul HAUSMANN oder Max ERNST
entnahmen ihrer direkten Umwelt Elemente und verarbeiteten sie in ihren Werken.
68
Hier ein Beispiel von Tania KREMER-SOSSONG, die Anfang 2014 in Zusammenarbeit mit dem Foyer
Scolaire Kiem in der Avenue de la Gare in Luxemburg-Stadt nicht nur ein Fahrradüberdach, sondern gleich
auch ein Fahrrad umsponnen hat.
69
Zitiert von Pascale LE THOREL-DAVIOT, Petit dictionnaire des artistes contemporains, Larousse, Paris,
1997, Seite 53.
42
Um Gegenstände nicht nur optisch in allen Facetten wiederzugeben, sondern auch materiell,
bedienten sich die Vertreter des sogenannten synthetischen Kubismus aus der Realität.
PICASSO und BRAQUE erkannten in der neuen Technik der Kollage die Möglichkeit der
Multiplikation von Dimensionen der Realitätswahrnehmung. Flaschenetiketts oder
Zeitungsausschnitte ergänzten so ihre Bildkompositionen. Schnipsel, Pappe, Seile,
Plastiktischtücher oder ähnliche Materialien wurden passend zum Bildinhalt und zur Farbpalette
ausgewählt, zugeschnitten und nahmen einen gezielten formalen Platz in ihren Bildern ein. Diese
Fragmente waren nicht bloß eine Referenz zum Alltag, der Alltag selbst floss in ihre Kunstwerke
mit ein.
Pablo PICASSO, „Stillleben mit dem Rohrstock Stuhl“, 1912
Raoul HAUSMANN, „Der Kunstkritiker“, 1919-20
Der Initiator der hannoverischen Dada-Sektion, Kurt SCHWITTERS, setzte Gegenstände als
Gestaltungsrohstoffe oder formgebende Materialien in seinen Bildwerken und Assemblagen ein
und er schrieb:
„Bei der Merzmalerei wird der Kistendeckel, die Spielkarte, der
Zeitungsausschnitt zur Fläche, Bindfaden, Pinselstrich oder
Bleistiftstrich zur Linie, Drahtnetz, Übermalung oder aufgeklebtes
Butterbrotpapier zur Lasur,[…]“70
Für das breite Publikum wurde die Bedeutung dieser eingeklebten Blickfänger gegenüber der
Form des Bildes immer autonomer. Reklamebildchen schaffen eine direkte Verbindung zwischen
Kunstwerk und Realität und locken den Betrachter durch ihren Wiedererkennungswert ins Werk
hinein. Auch wenn ein „objet trouvé“ als formelles Element in Abfallcollagen eingesetzt wird, so
bleibt ein Teil davon immer informell und wird zur Realitätsreferenz, zum Symbol für unsere
Konsumgesellschaft: „Eine neue Welt aus Abfällen bauen.“71
Ein Stück Zeitung, welches bei den Kubisten nicht mehr und nicht weniger als dieses gleiche
Stück Zeitung war, konnte nun als von-sich-selbst-erzählendes Bezugsobjekt, als kritischer,
verwirrender oder ironisch interpretierbarer Zeitzeuge verwendet werden. So war ein auf dem
70
Kurt SCHWITTERS, Die Merzmalerei, in: Der Zweemann, Hannover, 1919, Seite 18, zit. nach Annette
WEISNER, From Trash to Treasure - Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Kunsthalle zu
Kiel, Zusatzheft Wertewandel, Seite 6.
71
Frei übersetzt von: „Construire un nouveau monde avec des débris.“, Kurt SCHWITTERS, zitiert von
Florence DE MÈREDIEU, Histoire matérielle et immatérielle de l’art moderne, Editions Bordas, Paris, 1994,
Seite 218.
43
Boden gefundenes und eingeklebtes Zugticket nicht nur ein Stück einfaches gelbes Papier,
sondern erzählte von einer Reise zu einer bestimmten Zeit an einen bestimmten Ort, barg also
eine eigene Geschichte in sich.
Konkret bedeutet dies für den Müll: Wiederverwertetes hat einen neuen formalen, stofflichen und
intellektuellen Wert, vor allem aber eine ikonologische Autonomie erhalten.
Die Avantgarde öffnete die Tür für die neuen Techniken der Kollage und Assemblage und von da
an ließ sich in der Kunstwelt die Flut an unterschiedlichsten Materialzusammensetzungen nicht
mehr bremsen, die Kunstbühne war fortan für jede erdenkliche Art von Materialinput frei.
Die Kunst bedient sich von dem, was die Müllhalde so hergibt. Egal ob nun stofflich „arm“ oder
„reich“, die neue Materialpalette macht alles möglich:
Einerseits gibt es die natürlichen „armen“ Materialien. Es sind ursprüngliche Stoffe, welche
meist in ihrem Rohzustand eingesetzt werden, wie Holz, Laub, Gras, Erde, Steine, Staub, Stroh
oder Nahrungsmittel und alles was sonst noch auf den Kompost gehört. Auch bearbeitete Stoffe
natürlichen Ursprungs wie Papier, Wolle, Filz, Jute, Keramik oder Glas können als „arme“
Materialien bezeichnet werden.
Auf der anderen Seite haben wir die synthetischen, nennen wir sie „reichen“ AbfallMaterialien. Zu ihnen zählen homogene Stoffe wie Plastik, PVC und Styropor, aber auch
heterogene,
zusammengesetzte
Stoffe
wie
beschichtete
Isoliermatten
oder
Verpackungsmaterialien wie Tetrapak. In Mülleimern oder Recyclingcentren findet man zudem oft
noch vollkommen intakte Objekte wie veraltete Haushaltsgeräte, Spielzeug, Stühle oder Geschirr.
Müll ist somit nicht gezwungenermaßen kaputt oder nutzlos, eben nur abgewertet und dadurch
für seinen (Hin-) Richter wertlos geworden.
Nach dem zweiten Weltkrieg macht die Kunst einen Abstecher in die Kompostanlagen. Seit den
späten Sechzigern interessieren sich eine Reihe von Künstlern immer mehr für den Müll, der für
die allgemeine Gesellschaft als wertlos gilt, mit dem Ziel, der Sterilität der modernen Welt
entgegenzuwirken und mit banalen Materialien auf die Wirren der Nachkriegszeit zu reagieren.
In Italien formte sich um Germano CELANT die Künstlerbewegung Arte Povera, die mit
unterschiedlichen Kombinationen, dieser sogenannten armen Materialien experimentiert. Wie der
Name es bereits andeutet, arbeiteten Künstler wie Michelangelo PISTOLETTO, Mario MERZ
oder Jannis KOUNELLIS vorzugsweise mit scheinbar reizlosen, einfachen, primitiven Materialien
um „Arme Kunst“ zu schaffen. „Arm“ bedeutet in diesem Sinn, willentlich losgelöst von kulturellen
Errungenschaften, somit einfach und unvorbelastet durch die konsumhungrige Kulturindustrie der
Zeit. Brutal banale, schnörkellos schäbige, allzeit verfügbare und leicht zu beschaffende
Materialien fanden so ihre Autobahn in Richtung Kunstmarkt.
So scheint PISTOLETTOs „Venus der Lumpen“ von 1967, als Inbegriff für klassische Traditionen,
Kultur, Ästhetik, Weiblichkeit und Wert, einen desolaten Haufen Altkleider auszusortieren. Wie
eine Galionsfigur kümmert sich die industriell reproduzierte Venusstatue um den Müll der
Modewelt. Klassisch-antike Rarität begegnet hier zeitgenössischer Überschussware.
PISTOLETTOs Worte erklären die Installation am besten:
„Mit meiner Lumpen-Venus und anderen Werken, die als Arte
Povera bezeichnet werden, gelang es mir zu zeigen, dass auch der
Konsum ein Ende haben kann. Die Lumpen sind das Ende der
Mode, Endstation dieses Systems, konsumierter Konsum.“72
Michelangelo PISTOLETTO, zitiert von Valérie PAILLÉ, Michelangelo Pistoletto – Ein furchtloser
Künstler für Arme zückt den Vorschlaghammer, www.arte.tv/de/michelangelo-pistoletto-einfurchtloser-kuenstler-fuer-arme-zueckt-den-vorschlaghammer/6457028,CmC=6455804.html, eingesehen
am 22. Januar 2013.
72
44
„Die Venus bringt einen neuen Geist, gibt diesem Material einen
neuen Impuls. Es geht darum, durch die Kombination aus Schönheit
und Hässlichkeit, Altem und Neuem einen neuen Weg zu finden,
und über diese Verbindung müssen wir nachdenken.“73
Michelangelo PISTOLETTO, „Venus der Lumpen (Venere degli stracci)“, 1967/74
und „Walking Sculpture (Scultura da Passeggio)“, 2010, Philadelphia
PISTOLETTO sollte im gleichen Jahr für eine Ausstellung ein publikumsnahes interaktives Werk,
welches in direktem Kontakt mit dem Zuschauer steht, erarbeiten. Komplexes Thema simpel
gelöst: Er knüllte ganz einfach Zeitungspapier zu einer Kugel. Die „Walking Sculpture“ rollte er
dann wie ein Mistkäfer durch die Straßen von Genua bis in die Galerie. Sein Werk interagierte
auf diesem Weg mit den Passanten, die die Kugel herumreichten oder mit ihr Fußball spielten.
An diesem Beispiel demonstriert PISTOLETTO zugleich die geniale Einfachheit und
Bodenständigkeit des Materials Müll, gepaart mit dem inhärenten Potenzial zur Vermittlung
sozialen Engagements.74 Gerade dieses Engagement ist das Hauptanliegen der
Künstlerbewegung. Die Arte Povera Künstler lassen ihre Werke durch das Material sprechen.
Das Material, der Stoff selbst wird so zum Leitfaden und zum Träger des Werkinhaltes an sich.
In einfacher, fast ritueller Weise benutzen auch die Vertreter des Art brut Abfall und
minderwertige Materialien für ihre Arbeiten. Ihre Objekte und Bilder entstanden „avec les moyens
du bord“, also mit dem, was sie so fanden. Ohne finanziellen Aufwand kombinierten sie
unterschiedliche Stofffetzen zu Kleidern, Keramikscherben oder Muscheln zu Möbeln, Holzabfälle
und Büchsen zu Spielzeug, Heu und Stroh zu Reliefbildern. Zur Gesellschaft des Art brut75
gehören namhafte Künstler wie Jean DUBUFFET, André BRETON oder Antoni TÀPIES, aber
auch einige „Künstler“, die selbst keinen Anspruch an die Kunst erhoben. So gehören zu den
Mitgestaltern des Art brut Fundus, sowohl anonyme Gefängnisinsassen, als auch psychisch
kranke Menschen, die aus gemanschtem Brotteig Burgen bauten, aus Schnürsenkeln Schlüssel
formten und auf diesem Weg kunstvoll feine aber gleichzeitig rudimentär einfache „Kunst“
schufen.
73
PISTOLETTO zitiert auf www.steiermark.orf.at/tv/stories/2535301, 31. Mai 2013, eingesehen am 22.
Januar 2013.
74
PISTOLETTO wiederholte und variierte diese Aktion einige Male. Im Rahmen des The long Weekend
2009, rollte und schipperte er beispielsweise mit zahlreichen anderen Beteiligten die „Walking Sculpture“ in
die Londoner Tate Gallery of Modern Art.
75
1947 gründete Jean DUBUFFET mit einem Kreis von Gleichgesinnten in Paris die Compagnie de l'Art
brut, deren Ziel es war, alternative Kunst zu dokumentieren und zu sammeln.
45
Joseph GIAVARINI, alias Der Gefangene von Basel, „Vengo sulla tribuna presto“, 1928-34, Brotskulptur
Judith SCOTT, ohne Titel, 1993, ein „Objet secret“ aus Wolle
Die Vertreter des Nouveau Réalisme, eine Künstlerbewegung, die sich ab 1960 vor allem in
Frankreich und der Schweiz formierte, nahmen ihre Realität und somit auch ihre materielle
Umwelt verändert und neuartig wahr. Sie etablierten neue Techniken und bislang
unbeanspruchte Werkstoffe in der Kunstszene. So führten sie beispielsweise den Begriff der
Assemblage in die Literatur ein und erkannten den schäbigen Abfall als vollwertiges, oft sogar
eigenständiges Arbeitsmaterial und schufen hiermit sogenannte Objektkunst.
Als einer der Gründungsmitglieder der Bewegung erkennt Daniel SPOERRI76, dass das
alltägliche Leben materielle Spuren hinterlässt. Der Schweizer Künstler mit rumänischen Wurzeln
dokumentiert sein Leben anhand von „objets trouvés au hasard“77 oder halb bis ganz
konsumierten Resten, die für ihn stets mit Erinnerungen behaftet sind. Er definiert sich selbst
über seinen eigenen, alltäglich hinterlassenen Abfall und meint: „Mein Zimmer und der Mist
gehören zu mir“78. Sie gehören nicht nur ihm, sie gehören zu ihm, sie definieren ihn. Er beseitigt
dieses Inventar der Erinnerung nicht, er räumt seinem Leben nicht hinterher, sondern bewahrt es,
so wie es ist, „la réalité telle qu'elle est sans y changer la moindre miette de pain“79, als eine Art
Lebensdokumentation auf. SPOERRI hält die Einzigartigkeit und Zufälligkeit eines Tages fest und
klebt hierfür einen Moment an die Wand. Durch das Medium Kunst macht er seine
Lebensbahnen, bestehend aus Abfall, für die Ewigkeit dingfest. Memento mori, er hängt sein
(Still-) Leben und somit seinen Lebensstil auf, wie andere Leute ihr Hochzeitsfoto. Er fixiert seine
horizontal ausgerichtete Esstischplatte samt Geschirr und Mahlzeitresten als eine Art
Momentaufnahme vertikal an die Ausstellungswand. Er verschiebt ordinäre Dinge aus ihrer
üblichen Horizontale in die vertikale Lage. Hiermit erteilt er dem Betrachter eine, wie er sie
bezeichnet, „leçon optique“, eine optische Lektion, stellt ihm eine Wahrnehmungsfalle, „piège“,
durch die schnörkellose, unmissverständliche Verschiebung der gewohnten Sichtweise. Seine
76
Eigentlich Daniel Isaac FEINSTEIN.
Frei übersetzt: „ zufällige Fundobjekte“.
78
Zitiert von Paolo BIANCH, „Subversive Botschaft“, Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band
167, Seite 54.
79
Frei übersetzt: „die Realität, sowie sie ist, ohne den kleinsten Brotkrümel dran zu ändern“, Pascale LE
THOREL-DAVIOT, Petit dictionnaire des artistes contemporains, Larousse-Bordas, Paris, 1996, Seite 242.
77
46
„tableaux-pièges“ sind zudem als Dokumentation der Vergänglichkeit des Augenblicks und des
Lebens selbst zu verstehen.
1961 geht der Künstler so weit, dass er per Stempel gewöhnlichen Lebensmitteln das Siegel des
Kunstobjekts aufdrückt. In einer Kopenhagener Galerie80 verkauft SPOERRI mit Müll
angereicherte Brotlaibe, ein kritischer Zusammenschluss, der Müll, Kunst und „täglich Brot“ in
einen Topf wirft.
Der Künstler vor einem seiner „tableaux-pièges“ im Stadtmuseum Graz, März 2011
Daniel SPOERRI, „Assemblage mit dem Kopf eines Pferdes“, 1990 und „Brote“, 1965
Abfall löst beim Betrachter Reaktionen aus: Ablehnung, Übelkeit, die Angst vor der eigenen
körperlichen Verderblichkeit und vor seiner Nichtigkeit. Ob tot oder lebend, im Müll steckt immer
ein gewisses „Ekelpotenzial“, wobei auch hier die ganz subjektive Grenze gezogen werden
kann. Insbesondere der verderbliche, organische Anteil von Müll ist abstoßend, triefend, fest oder
weich in der Konsistenz, klebrig, schmuddelig und sogar schädlich. Abfall löst mit seinem
80
Die Ausstellung „L’Epicerie“, Der Krämerladen, fand 1961 in der Kopenhagener Galerie Koepcke statt.
47
Gärungs-, Moder- und Verwesungsgestank, den schwarz-grünen Verfärbungen oder
Schimmelpilzen, die körperlichen Alarmglocken, also Übelkeit und Brechreiz aus. Natürlich sind
dies in erster Linie negative Potenziale und machen Müll zu einem gesellschaftlichen Tabuthema.
Doch einige Künstler sehen gerade darin den Reiz und nutzen das Material Müll gezielt in seinem
desolaten, aber dafür nicht weniger interessanten Zustand der Verwesung und scheinen
provokativ mit den Urängsten der Menschen vor Vergiftung und Tod zu spielen.
Dieter ROTH gehört dazu. Der Schweizer Dichter, Aktions- und Objektkünstler demonstriert in
seinen Werken organische Zersetzungsprozesse von Lebensmitteln. Natürliche Lebenszyklen
rufen bei dem Betrachter nicht nur Gedanken an die Vergänglichkeit der Dinge, sondern ebenso
gut Ekelgefühle hervor. Schon beim Eintreten in seinen Ausstellungsraum strömt dem Besucher
ein strenger Verwesungsgeruch entgegen. ROTH häuft Inseln81 aus Essensresten auf oder formt
Kaninchen aus ihren Kotknödeln82. Er lässt seine Kunst absichtlich vergammeln, verfaulen und
langsam zersetzen. Dieter ROTH provoziert durch den Ekeleffekt seiner Kunstwerke. Ein
plakatives Beispiel hierfür ist sicherlich seine Antwort auf einen Auftrag der Baseler
Werbeagentur GGK. Der gelernte Grafiker sollte einhundertzwanzig Weihnachtsgeschenke für
Angestellte und Kunden produzieren. Reisegutscheine waren ihm wohl zu einfallslos und so
schuf der Künstler gleich ganze Inseln, für jeden eine. Kleiner Haken: Diese Inseln waren auf
Holzplatten festgenagelte und übermalte, zum Teil verderbliche Abfälle. Die Beschenkten
machten beim Anblick und vor allem Geruch dieser „Schimmelhaufen“, sicherlich Luftsprünge!
Mit der Verwendung von organischen Werkstoffen bezieht ROTH den Prozess des Verfalls mit in
sein Werk ein und macht ihn zum konstituierenden Bestandteil. Diese vergängliche Kunst ist der
Zersetzungsgefahr ausgesetzt, arbeitet immer weiter und verändert im Laufe der Zeit sowohl
Form als auch Materialität. Selbst nach dem Tod des Künstlers arbeiten Bakterien hinter
Plexiglasverkleidungen an seinen Werken weiter.
Dieter ROTH, „Kleine Insel“, 1968
81
Dieter ROTHs „Insel“, besteht aus Brot, Küchenabfällen, Draht und Nägeln, Gips, Acryl- und Ölfarbe auf
Spanplatte, 1968, Dieter Roth Foundation, Hamburg.
82
„Köttelkarnickel“, 1969/1975, Dieter ROTH Foundation, Hamburg.
48
Müll ist aus stofflicher Sicht zugleich totes, wie auch lebendes Material. Tot, weil abgelebt,
abgeschoben, verbraucht, nutzlos, gebrochen, entfernt, ermordet durch seinen Konsumenten.
Lebendig, weil keimend, wuchernd, gärend, mikrobenverseucht, krankheitserregend, von
Kleintieren, Insekten, Schimmelpilzen oder Bakterien befallen. Manche Müllkunstwerke leben
eben physisch weiter, verändern sich, ein Work in Progress. Das Thema der Verwesung gehört
somit zum Müll wie sein Gestank.
In diesem Sinn zeigt die englische Videokünstlerin Sam TAYLOR-WOOD dem Betrachter im
Video Still Life83 von 2001 eine Art fast romantische Sicht auf verwesende Obstschalen, die im
Zeitraffer von saftigem Obst über ungenießbaren, schimmeligen, pelzigen, modrigen Abfall
wieder zu neuem Leben erwachen. Die Künstlerin gibt den Prozess der „Zur-Kunst-Werdung“
sowie das Überleben ihrer Werke aus ihrer Hand. Auch sie überlässt die aktive künstlerische
Phase dem natürlichen Lauf der Dinge. Sie hält fest, wie aus altem Leben neues Leben gedeiht.
Sam TAYLOR-WOOD, „Still Life“, 2001, Videoauszüge
Hat Müll nicht gerade im süffelnden und tabuisierten Zustand auch etwas Erotisches? Gärend,
schmelzend, klebrig, weich, brutal und stinkend. Irgendwie eklig und doch instinktiv anziehend,
so im Dreck zu wühlen, diese Welten der pulsierenden Körpergerüche und Ausscheidungen.
83
Still Life ist ein 3:18 minutiger Film, von 2001, der die Zersetzung von Obst über eine Zeitspanne von
mehreren Wochen im Zeitraffer zeigt. Vorbilder waren die Stillleben des 17. Jahrhunderts mit ihrem
klassischen Bildaufbau.
49
Einige Künstler, wie der Wiener Aktionist Otto MÜHL, scheinen sich regelrecht im Dreck
wohlzufühlen. Er meint:
„…manchmal [habe ich] das Bedürfnis, mich wie eine Sau im
Schlamm zu wälzen. Mich provoziert jede glatte Fläche, sie mit
intensivem Leben zu beschmutzen. Ich krieche auf allen Vieren
darauf herum und schleudere den Dreck nach allen Richtungen.“84
Piero MANZONI treibt das „Privileg“, dass alles was vom Künstler abfällt, Kunst ist, auf die
Spitze. So vermarktet er 1961 neunzig kleine signierte und durchnummerierte Konserven mit
jeweils dreißig Gramm seiner Exkremente85. Er brachte damals alle Dosen „Merda d'artista“ an
den Mann, obwohl oder gerade, weil er seinen Stuhlgang mit dem damals aktuellen Goldpreis
aufwog. Die Wertsteigerung ist enorm und auch heute erfreuen sich die Dosen noch immer reger
Beliebtheit. Eine dieser Dosen erzielte 2008 im Auktionshaus Sotheby's einen Preis von
umgerechnet 132.000 Euro. Durch die Parameter der Kunst wird sogar menschliche
Ausscheidungen zu Gold.
Piero MANZONI, „Merda d’artista“, 1961
In den frühen 60er Jahren hatte Müll noch das Potenzial, das verwöhnte Kunstpublikum zu
brüskieren. Mittlerweile hat sich das internationale Kunstpublikum an organische Abfälle bis hin
zu körperlichen Ausscheidungen gewöhnt. Müllkunst in ihrer schäbigsten Form vermag
bestenfalls noch zu irritieren, doch ihre schockierende Wirkung ist heute verblasst. Trotzdem
bleibt Müll Provokation! Er provoziert sein Publikum durch seine Unwertigkeit, durch seine
Ekelhaftigkeit, seinen Geruch, seine Unreinheit, seine ungewisse Herkunft und stößt oft auf
Ablehnung und Entrüstung, bleibt vor Kraftausdrücken nicht verschont!
Auch die SPRINKLE BRIGADE setzt Körperausscheidungen neu in Szene. Die drei
amerikanischen Street Art Künstler Jeremy DAVIS, Jeff CHURCH und Matt MURPHY nutzen
vorhandene tierische Exkremente für ihre rudimentäre Straßenkunst. Sie dekorierten Hundekot
aus ihrer Heimatstadt New York in humorvolle „Poop Art-Pieces“ um. Unter dem Slogan: „just
leave it. we got it.“ erlauben sie sich allen Spaß mit dem Hundedreck und inszenieren die Knödel
in situ, stecken sie in nette Kleidchen, schmücken sie wie einen Weihnachtsbaum, nutzen sie als
Kriegskulisse für Spielfiguren. Die Idee für ihre mittlerweile lukrative „Kunst“ entstand aus dem
84
Otto MÜHL, Aufsatz zum „psycho-physischen Naturalismus“, 1963.
Ausscheidungen sind auch Müll. Hierbei erinnern wir uns an das Zitat von PAZZINI: „Müll ist das, was
abfällt, beim gesamtgesellschaftlichen Verdauungsprozess“, warum dann nicht auch vom
Verdauungsprozess eines Künstlers?
85
50
Zufall heraus, als ein Mitglied aus Verachtung und Langeweile Popcorn auf einen Hundehaufen
schmiss. Der Betrachter hat die Möglichkeit diese Aktionen als kritische Gesellschaftskunst
einzustufen, er kann sie aber auch nehmen wie sie sind: als neckische Spielereien, die
fotografiert oder gefilmt im world wide web kursieren und mittlerweile sogar in Galerien zu
beschnuppern sind.
SPRINKLE BRIGADE, „Treasure hunt“, „Double header“, „Law and Order“, 2006, New York
Um diesem Klischee noch eins draufzusetzen, scheint Wim DELVOYE bewusst Kot-Mosaike zu
arrangieren und eine Kot-produzierende Riesenmaschine zu entwickeln. Die besagte „Cloaca“
wandelt in einem komplizierten künstlichen Verdauungsprozess wertvolle Nahrungsmittel und
Sternemenüs in mechanisch erzeugte Ausscheidungen um. Der belgische Künstler demonstriert
hierbei aufwändig, wie aus wertvollem Rohstoff Dreck wird. Kunst mal umgekehrt: Er produziert
vorsätzlich Abfall und verpackt diesen in Tütchen. Der Prozess selbst, bei dem ein Objekt „abfällt“
und zu Müll wird, wird hier in einer gigantischen, mit großem Aufwand betriebenen Maschine dem
Publikum vorgeführt. Der „Werteverlust“ der Nahrungsmittel wird transparent. Diese
Transformation, dieser paradoxe, fast schon perverse Schritt Fäkalien absichtlich herzustellen,
mit allen dazu gehörigen Produktionsgerüchen, wirft Fragen auf über Wert und Unwert, über
Materialität und Form der Kunst, sowie den Prozess des Zur-Kunst-Werdens.
Wim DELVOYE, „Cloaca 2000-2007“, Installationsansicht, Casino Luxemburg, 2007-08
51
Wim DELVOYE, „Cloaca“, 2007, „Mosaik“, 1990, Dokumenta IX, Kassel
Müll ist nicht nur eklig und stinkend, sondern kann in seiner Substanz ebenso gut sauberes und
intaktes Material sein, synthetischen Ursprungs, rein und reich an Farben, Symbolen,
Funktionen und anderen qualitativen Merkmalen, eben reiches Material.
Der französische Neue Realist César Baldaccini, genannt CÉSAR und der vom abstrakten
Expressionismus inspirierte US-Amerikaner John CHAMBERLAIN, finden ihren Schrottschatz auf
dem Schrottplatz. Zerdrückter und verformter Metallschrott wird bei beiden zu einer Art
Handschrift. Zu massiven, minimalistischen Bauklötzen und eleganten, fast barocken
Altblechskulpturen gepresst, leben Autowracks ein neues Leben als Kunstobjekt. Die beiden
Künstler basieren ihre Schaffensidee auf die Ästhetik des Mülls und lassen stoffliche Spuren des
vergangenen Objekts sichtbar. Sie lassen Material (Blech, Glas, Plastik, Gummi), Form
(Scheinwerfer, Türgriffe, Lenkräder) und Symbolik (Mercedesstern, markentypisches Design)
ineinander- und aufeinander wirken. So sieht man zugleich den knallbunten, strahlenden Lack,
der an den Zustand des neuen Autos erinnert und, ihm gegenüber, Schrammen, Dellen und
Rost. Die Autoschrottskulpturen erinnern sowohl an den Wagen als Statussymbol als auch an
dessen Vernichtung. Der Kunstmarkt schleudert den Schrott wieder zurück in das Stadium
„Statussymbol“.
CÉSAR, „Honda Monkey“, 1976
John CHAMBERLAIN, „Hatband“, 1960 und „Incidentallyneutered“, 2008
Abfälle wie Haushalts-, Elektro- und Autoschrott haben zudem eine sehr technische,
mechanische Seite. Auch wenn ein weggeworfenes Gerät nicht mehr voll funktionstüchtig ist, so
52
kann es durchaus noch bewegliches, leuchtendes, steuerbares, Lärm erzeugendes, aktives
Restpotential enthalten. Es erfüllt nicht mehr seinen eigentlichen Zweck und kann zu
Schrottinstallationen oder kinetischen Kunstwerken verarbeitet werden. Müll ist daher nicht
gezwungenermaßen unbeweglich, stoisch oder starr. Neu zusammengefügt, geraten schwere
Metallgerüste wieder in Wallung, quietschen, keuchen, winden sich, mal schwer und quälend,
mal leicht wie eine Feder.
Jean TINGUELY erschafft bewegte Skulpturen aus Schrott, moderne Monster in einer Welt der
Mechanisierung und Technologisierung. Mit Motoren und beweglichen Teilen ausgestattet,
reanimiert der Schweizer den Zyklus des Materials durch Bewegung und Zufall. Einige seiner
kinetischen Kunstwerke sind unnütz (wie auch traditionelle Kunstwerke frei von unmittelbarem
Nutzen sind), andere entfalten eine Art Teil-Nutzen. Zusammengesetzte Schrottberge werden zu
Wasserspeiern,
Beleuchtungen,
Ventilatoren
und
sogar
zu
teils
selbständigen
Zeichenautomaten. Ob nun mehr oder weniger nützlich, seine Schrottskulpturen scheinen
sinnlos, sich ziellos bewegend und drehend.
Für seine Balubas, trostlose und zugleich amüsante, vertikal ausgerichtete Müllassemblagen, die
sich gelegentlich laut und frenetisch rütteln, verwertet TINGUELY Fundgegenstände. Bei diesem
Beispiel von 1961-62 stellt ein von der Deponie geretteter, dreckiger Blechkanister sowohl den
Sockel des Kunstwerkes, als auch einen Bestandsteil des Ganzen dar. Er lässt die Skulptur und
damit auch seine Arbeitstechnik gewollt arm und nach Bastelei aussehen. Er parodiert hiermit
sowohl die Konsum- als auch die Kunstindustrie. Seine Maschinenplastiken, wie auch die MétaMatics oder seine autodestruktiven Werke aus Schrottteilen sollen nicht auf Unsinn abzielen,
sondern laut Künstler „Kritik an der Gleichförmigkeit industrieller Vorgänge und der Produktion
von unnützen Dingen“86 vermitteln.
Jean TINGUELY, „Baluba“, 1961-1962, Centre Georges Pompidou, Paris
und „Cyclograveur“, 1960, Kunsthaus Zürich
86
Rudolf SUTER, „Stillstand gibt es nicht“, Neue Zürcher Zeitung, 16.
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/stillstand-gibt-es-nicht-1.18004162.
53
Februar
2013
Das Schweizer Künstlerduo Peter FISCHLI und David WEISS bauen aus Abfällen,
Liegengelassenem und Ungebrauchtem humorvolle Gleichgewichtsinstallationen oder perpetuum
mobiles. In „Der Lauf der Dinge“ von 1987 nimmt ein Müllobjekt Einfluss auf das Nächste und löst
eine Kette der Reaktionen aus.
Peter FISCHLI und David WEISS, „Der Lauf der Dinge“, Fotoserie der Aktion, 1987
Letztere Künstler entnehmen der Umwelt den Müll um ihn in ihren Werken wiederzubeleben. Sie
geben Abfällen ein eigenes bewegtes, vom Zufall gelenktes Leben zurück. Andere Künstler sind
darauf bedacht, keinen künstlerischen Moment dem Zufall zu überlassen und produzieren sogar
ihre Rohstoffe selbst. DELVOYE stellt Ausscheidungen künstlich her und packt sie in kleine
Tütchen. ARMAN zertrümmert in seinen experimentellen Spätwerken mutwillig Geigen oder
verbrennt Klaviere87 um daraus Assemblagen herzustellen. Um einen weiteren Selbstversorger
dieser Art, handelt es sich beim niederländischen Künstler Jan HENDERIKSE. Um den
symbolischen Wert von Geld zu thematisieren, zerkleinert er im Reißwolf vorsätzlich Geldscheine
und verpackt sie hübsch in einer schwarzen Kiste. Diese Künstler beschleunigen den
Zerfallprozess von Dingen und beziehen die vorsätzliche Destruktion von intakten Gegenständen
in ihren kreativen Arbeitsvorgang mit ein. Der Zerstörungsakt, also der kurze Prozess des „ZuMüll-Werdens“, gehört zum Werk dazu. In diesem Sinn wird der Künstler zum „Müll-Er“, dem
Müller, der das Mehl seines täglichen Brotes selbst ma(h)lt.
Jan HENDERIKSE, „Shreddered Value (a321a)“, 1989
87
„Colère de violon“, 1962 oder „Chopin’s Waterloo“, 1962.
54
An diesem Punkt gehe ich noch einmal gezielt auf den synthetischen Müll in seiner häufigsten
Form ein: die Ansammlung. Sie definiert Müll nicht in seiner Qualität sondern in seiner Quantität.
Müll ist meist ein gesamtes Phänomen, seltener ein isolierter Einzelgegenstand.
Der griechische Philosoph HERAKLIT bemerkte bereits um 500 v.Chr., dass ihm „Die schönste
Welt“, “wie ein planlos aufgeschütteter Kehrichthaufen“ erschien und bezeugte somit eine
Ästhetik des Chaos.
Auch Leonardo DA VINCI kommt in seinem Werk „Traktat der Malerei“88 zu dem Schluss:
"Durch verworrene und unbestimmte Dinge wird nämlich der Geist zu
neuen Empfindungen wach.“
Die Vielfalt, die Unordnung, der Überfluss an scheinbar unnützen Dingen erzeugen einen
gewissen Anreiz. Eine Anhäufung von abgeschobenem Lebensballast ist zeitgleich abstoßend
und spannend, symbolkräftig und mystisch, skandalös, interessant im Detail und doch irgendwie
widerlich, treibt einem Schauder über den Rücken, ist unperfekt wie das Leben selbst.
ARMAN scheint von dieser Unperfektion angezogen. Er hat die Kunst des Sammelns,
Aufbahrens und Aufbewahrens für sich entdeckt. Als „Zeuge seiner Gesellschaft“ meint er:
„…lange Zeit hat mich die Tatsache, dass eines seiner sichtbarsten
materiellen Resultate die Überflutung unserer Welt mit Abfall und
ausgemusterten, übriggebliebenen Objekten ist, in Angst versetzt.“89
Dies kann erklären, weshalb der Künstler begonnen hat sich eine gewisse Sicherheit durch das
Ansammeln und Präsentieren von ausgedienten Objekten zu schaffen. In seinen „Accumulations“
oder „Poubelles“ arrangiert ARMAN Gasmasken, kaputte Instrumente, Spielzeug, Tischlampen,
Essbesteck, alte Schreibmaschinen, benutzte Farbtuben, Zahnprothesen oder auch organische
Materialien in rhythmisch komponierten Assemblagen. Er ästhetisiert das triviale Objekt, das
nicht als Einzelstück sondern in der Gruppe wahrgenommen wird. Diese Sammelaltäre aus
„Unnützem und verschiedenartigen Objekten“90, setzt er, wie in einer Schaufenstervitrine, hinter
Glas. Seine Gasmasken wirken so aufgebahrt, zugleich mahnend wie auch unantastbar, wie eine
Soldatenfront. Mit seinen Sammelbildern aus Allerlei stellt ARMAN auf ironische und provokative,
aber zugleich auch poetische Weise die Vergänglichkeit von Massenprodukten in Frage.
1960 antwortet ARMAN auf eine von Yves KLEIN konzipierte Ausstellung „Le Vide“ 91 mit „Le
Plein“92. Hierbei stopfte er die Galerie Iris Clert in Paris randvoll mit Abfall. Diese
allesüberflutende, zufällige, schnelle Kunstform der nahezu wahllosen Ansammlung, kommt
immer wieder neu auf. Zehn Jahre danach verschüttet George BRECHT93 haufenweise Abfälle
auf einen Galerieboden. Nur eine rudimentäre Kordel trennte den Müll vom Betrachter, ein
schmaler Grat, der den Unterschied zwischen Müll und Kunst, wertlos und wertvoll demonstriert
88
„Trattato della pittura“, um 1500.
RUHRBERG Karl, SCHNECKENBURGER Manfred, HONNEF Klaus, Hrsg. WALTHER Ingo F., Kunst
des 20.Jahrhunderts, Benedikt Taschen Verlag GmbH, Köln, 2000, Seite 518.
90
„inutilités et objets hétéroclites“, wie ARMAN sie selbst bezeichnet.
91
Die 1958, von Yves KLEIN in der Galerie Iris Clert arrangierte Exposition „le Vide“, enthielt tatsächlich
nichts als weiße Wände und blaue Fenster.
92
Dies war der Auslöser zur Formierung der Künstlerbewegung des Neuen Realismus an der beide
Künstler, wie auch namhafte Größen wie Daniel SPOERRI, Jean TINGUELY, Jacques VILLEGLÉ oder
aber Pierre RESTANY Teil hatten.
93
Eigentlich George MacDiarmid, ist ein US-amerikanische Fluxus-Künstler. Fluxus ist eine Form der
Aktionskunst, deren Ziel es ist, alle Grenzen zwischen Kunst und realem Leben, sowie dem Künstler und
seinem Publikum aufzuheben und somit eine neue kollektive Lebensform entgegen der traditionell elitären
Kunst zu erschaffen.
89
55
und gleichzeitig seine Grenzen zwischen Todernst und Publikumsbelustigung zieht! Thomas
HIRSCHHORN präsentiert Ende 2010 im Museum Dhondt-Dhaenens im belgischen Deurle sein
Projekt Too Too - Much Much. Er befördert Berge an zerdrückten alten Getränkedosen auf den
Museumsboden. An einigen Stellen stapeln sich leere Dosen, Schaufenstermannequins tragen
Müllbikinis und Dosenmode, auch eine Dosenkamera findet dort ihren Platz und einige dicke
graue Plastikrohre scheinen die Müllberge optisch zu rhythmisieren aufzulockern. Müll scheint in
seiner Masse zu faszinieren.
Thomas HIRSCHHORN, „Too Too - Much Much“, 2010, Deurle
Im n.b.k., dem Neuen Berliner Kunstverein war 201194 eine originelle Installation von Karin
SANDER zu sehen. Die deutsche Künstlerin ließ zwischen dem Ausstellungsraum im
Erdgeschoss und den administrativen Büroräumen in der ersten Etage fünf Fußball-große
Kernbohrungen vornehmen. Die im oberen Stockwerk arbeitenden Museumsangestellten fanden
an den Stellen, wo sonst Papierkörbe standen, genau diese Löcher wieder. Nutzten sie diese,
wurde ihr Abfall direkt auf den Ausstellungsboden befördert.
Der Besucher fühlt sich, als hätte er eine Reise in einen Papierkorb vorgenommen. Die
passenden Sehenswürdigkeiten plumpsen ihm hierbei häppchenweise in Form von Briefverkehr,
Zugtickets, Einladungen, Künstlerbiografien, Taschentüchern oder Locherkonfetti95 direkt vor die
Füße. Achtung, Kunst von oben! So macht die Kulturmaschine in beiden Wortsinnen „ihr
Geschäft“. Und der Ausstellungsbesucher kann offen seinem Voyeurismus frönen: Wer ist letzten
Samstag mit dem Zug nach Straßburg gereist? Welche Zigarettenmarke raucht der Direktor?
Welche Randnotizen wurden über die Ausstellung nebenan gemacht? Der anfallende Abfall der
Angestellten wird einfach ausgestellt. Der Besucher hat zudem Zugang zur oberen Etage, kann
94
Vom 5. März bis 1. Mai (Tag der Arbeit) 2011.
Aus hygienischen Gründen, waren die Angestellten darum gebeten, keine organischen Abfälle darin zu
entsorgen. Man wollte auf hungrige Mäuse verzichten.
95
56
also schnell auch mal selbst Hand an diese temporäre Kunstinstallation legen. Schneller kann
man wohl kaum aus Abfall Kunst machen!
Mit dieser Intervention karikiert die Künstlerin unsere kunst- und konsumhungrige Kultur,
hinterfragt den allgemeinen Umgang mit Müll sowie die Perzeption von Kunst. Sie scheint dem
Publikum an die Nase binden zu wollen, dass es vorbehaltlos jeden Müll als Kunst akzeptiert.
Karin SANDER, Installationsansicht ohne Titel, n.b.k. Neuer Berliner Kunstverein, 2011
Das Thema der Ansammlung des so chaotischen Abfalls beschäftigt auch den zeitgenössischen
britischen Künstler Tony CRAGG, mit dem Unterschied, dass er ihm wieder eine Ordnung
zurückgibt. Seit Anfang der Siebziger macht er es sich zur Lebensaufgabe, alle möglichen Dinge
organischer sowie synthetischer Natur zu sammeln, zu sortieren und zu präsentieren: Holz,
Steine, Metall, Blech, Bauschutt, aber vorzugsweise Kunststoffteilchen. Hierbei interessiert er
sich weniger für das Weggeworfene an sich, sondern vielmehr für die Qualität des zugleich
geringwertigen, aber weit verbreiteten und anonymen Materials. Seine Plastikassemblagen
bestehen aus ausgewählten, oft heterogenen Objekten wie PET-Flaschen, Behältern, jeglichen
Verpackungsmaterialien, Spielzeug oder sonstigem Nippes in unterschiedlichen Farben. Diese
werden an einer Wand oder am Boden angeordnet und aus der Distanz betrachtet entstehen
Formen, Umrisse, Flächen und Figuren. Die beiden abgebildeten Cowboys wurden noch von
Großherzogin Joséphine-Charlotte erworben. CRAGG verschickte sein Werk „All the Streets are
full of Cowboys and Indians“ von 1980, in all seinen Einzelteilen: In einer großen Kiste lagen viele
kleine gelbe durchnummerierte Plastikkramobjekte mit Bedienungsanleitung. Den Angestellten
des Nationalmuseums96 blieb dann die Arbeit, die kleinen Teile zu einem Puzzle
zusammenzusetzen. So entstand aus einer unförmlichen Müllansammlung ein Kunstwerk in
seiner „fertigen“ Form. CRAGG erstellte somit ein „Müllanordnungskonzept“, das die Käufer
selbst zusammenbasteln müssen.
96
MNHA, Musée National d’Histoire et d’Art in Luxemburg.
57
Tony CRAGG geht sogar so weit, dass er die Öffentlichkeit bittet, zu seinen Vernissagen Objekte
in einer bestimmten Farbe mitzubringen, die dann irgendwann in einem anderen Werk auf der
Welt wieder auftauchen! Seine Recyclingkunst wird so zur interaktiven Aktionskunst.
CRAGG bietet dem Betrachter eine leichte, konsumfreundliche Form von Müllkunst, nicht
bedrückend als wäre man auf einer Totenwache.
Tony CRAGG, „All the Streets are full of Cowboys and Indians“, 1980
Die Idee der Ansammlung, der Häufung von Abfall bietet viele Interpretationsmöglichkeiten. Bei
BOLTANSKI erinnern Kleidermassen an schreckliche menschliche Schicksale97, PISTOLETTO
benutzt hingegen Kleidunsstücke um eine ironische Verbindung zwischen künstlicher Reinheit
und schmutzigem Konsum herzustellen98.
Das britische Künstlerduo Sue WEBSTER und Tom NOBEL arbeitet auch mit Müll in seiner
Masse. Kunstvoll verschmelzen die beiden Einzelteile wie Hausabfall, Schrott oder auch mal
Tierkadaver zu beeindruckenden Schattenskulpturen. Wie der bereits erwähnte Schattenkünstler
Diet WIEGMANN rücken auch sie ihren Müll ins rechte Licht. Dichte Materialität durchdringt eine
Flut an Immaterialität und wirft ihren Schatten an die Wand.
„Dirty White Trash (with Gulls) ist ein Zusammenfluss von Schönheit
und Schmutz, Form und Anti-Form. Es ist ein Kunstwerk, gemacht
aus dem Prozess seiner Entstehung, eine Verkörperung
formalistischer Logik. Gleichzeitig eine Negation von allem, wofür
Formalismus steht.“99
Ihre Installationen bestehen aus zwei komplementären Teilen: scheinendes Licht, die heitere,
helle Seite der beiden, sowie der zusammengeklebte Müll, den die Künstlerin als dunkel
97
Siehe hierzu sein Werk „La Réserve du Musée des Enfants I und II“, auf Seite 68.
Siehe hierzu sein Werk „Venus der Lumpen“ auf Seite 45.
99
Jeffrey DEITCH, Direktor des Los Angeles Museum of Contemporary Art, in „Black Magic“ aus der
Ausgabe Wasted Youth, Rizzoli International Publications, New York, 2009. Siehe Bild auf Seite 70.
98
58
beschreibt. Tatsächlich bremsen kunstvoll zusammengefügte Müllhaufen das Licht und
hinterlassen einen Schatten, ein scharf konturiertes schwarzes Loch an der Leinwand. Die so
entstandenen formal-ästhetischen Silhouetten wirken traumhaft und öffnen dem Betrachter neue
fantastische Welten. Wer erinnert sich nicht an die Wölfe und Drachen, die Mutti früher in
Schattenspielen an die Schlafzimmerwand projizierte? Man scheint zu vergessen, dass diese
Welten aus Müll erbaut wurden.
Scheinen die Einzelteile doch zufällig zusammengebracht, so erkennt man erst durch die
Erleuchtung, welch akribische Liebe zum Detail, welch leidenschaftlicher, fast zwanghafter
Perfektionismus in den Müllklumpen steckt. Die Künstler entlocken dem Müll, den sie sich selbst
angesammelt haben, eine Art filigrane zeichnerische Qualität. Ist es doch diese Ausdauer und
das Feingefühl der beiden, die aus ekligem Trash wundervoll inszenierte Lichtspiele entstehen
lassen. In diesen Inszenierungen begegnen sich Produkt und Projektion, Licht und Schatten,
Wahrheit und Lüge, Gut und Böse. Formell betrachtet begegnen sich Abstraktion und
Gegenständlichkeit, Chaos und Ordnung, Form und Anti-Form.
Sue WEBSTER und Tom NOBLE, „Metal fucking rats’“, 2006
Wilhelm MUNDT ästhetisiert auch seine eigenen Müllansammlungen und bringt sie in Form. Der
deutsche Bildhauer sammelt den „künstlerischen Sondermüll“ aus seinem eigenen Atelier:
Abgussreste, Materialverschnitte und andere Produktionsrückstände, eben alles, was bei seiner
künstlerischen Kreation an- und abfällt. Er bindet diesen Abfall dann mit Klebeband zu einem
dichten Knäuel, den er mit Klebeband, dann mit Glasfaser, Polyester und Spachtelmasse
umfasst. Anschließend schleift und bemalt er ihn. So in Form gebracht wirken seine Abfallbälle
wie befremdliche Kometen oder aber wie große Krankheitserreger. Einige dieser Müllknäuel
schließt MUNDT sogar in maßgefertigte Aluminiumkarkassen ein. Diese wirken besonders edel
und wertvoll, wie gigantische Goldnuggets von einem anderen Planeten. Diese nummerierten
„Trashstones“ sind Müllleiber, die ihren Mageninhalt nur mehr vage erahnen lassen. Er legt
seinen Müll nicht frei, sondern konserviert seine Schaffensreste in Kapseln. Deren Ausbeulungen
weisen nur mehr im Ansatz darauf hin, dass hier Müll in hübscher Verpackung liegt. Durch diese
Verhüllungsstrategie spielt MUNDT mit dem Überraschungseffekt des Ungeahnten, denn
stellenweise gewährt er dem neugierigen Betrachter durch kleine Öffnungen Einblicke in ihr
Innenleben.
59
Wilhelm MUNDT, „Trashstone 438“, 2008, „Trashstones“, Ausstellungsansicht From Trash to Treasure
2011, Kiel und „Trashstone 394“, 2008, Wuppertal
Auf der einen Seite setzt MUNDT seinen selbst verursachten Müll in Form von dicken Klumpen in
Wälder und in Galerien aus, auf der anderen Seite sammelt Karsten BOTT kleine unbedeutende
Klumpen von den Straßen wieder auf. In seiner „Kaugummivitrine“ (1991/2011) zeigt der
deutsche Künstler rund zweihundert Kaugummis, die er auf den Straßen Kiels
zusammengekratzt hat. Er zeigt, dass auch von synthetischem Material ein gewisser Ekelfaktor
ausgehen kann. Er präsentiert, was auch DALI so faszinierte, das Weiche, Schmelzende,
Unförmige. Wessen stinkende Mundflora keimt wohl noch in diesen Gummiagglomeraten? Schon
unappetitlich genug, wenn sie an den Schuhen kleben, hier werden sie dem Publikum als wahre
Kunstplastiken vorgeführt. Sauber, nett und geordnet hinter Glas ausgestellt, sorgen sie beim
Betrachter für emotionale Verwirrung: attraktiv präsentiert, zieht die Sammlung den Betrachter
zuerst an, schreckt ihn nach genauerer Betrachtung aber sogleich wieder ab. Nur der sehr
hungrige Kunstinteressent verweilt eine Zeit mit der intensiveren Form,- Farb- und
Zahnspurenanalyse.
Karsten BOTT, „Kaugummivitrine“, 1991-2011
60
Auch die luxemburgische Künstlerin Simone DECKER interpretiert dieses Eklige, Klebrige und
Weiche. Sie wirft ihre abgelutschten Kaugummis nicht weg, sondern gibt ihnen einen neuen
Wert. Im Rahmen der 48. Biennale in Venedig von 1999 präsentiert die Künstlerin subtile
Fotografien, in denen sie Kaugummiskulpturen inszeniert: Kleiner Kaugummi, große Wirkung.
„Chewing in Venice“ ist eine nicht retuschierte Fotoserie, welche durch Perspektivverschiebung
und ein befremdliches Spiel mit den Größenverhältnissen den Betrachter in Staunen versetzt.
Gigantische, zähe, quietschrosa Massen scheinen öffentliche Passagen zu verkleben, so als
hätte Barbie ihre Schleimspuren in den Straßen von Venedig hinterlassen. Simone DECKER
entwickelte diese Arbeit in Reaktion auf die dort durch Touristen verschmutzten Gehwege. In
ihrer Arbeit stellt die Künstlerin die Materialität sowie auch die Grenzen der zeitgenössischen
Skulptur in Frage. Im alternativen Pavillon der Ca' del Duca entwickelte sich ihre optisch reizvolle
Fotoserie zum Publikumsmagneten.
Simone DECKER „Chewing in Venice“, 1999
Müll hat seinen künstlerischen Wert in seiner Stofflichkeit, seiner Materialität, seiner
Beschaffenheit und chromatischen Relevanz, in seiner Qualität und seiner Quantität. Müll ist
sowohl rein und reich als auch arm und desolat, ist lebender Organismus und Quell des Ekels.
Müll hat allerdings auch einen unumgänglichen Wert als aussagekräftiger Ideenträger. Müll trägt
die Spuren seines eigenen Seins sowie des Unseren. Im folgenden Kapitel vertieft sich die Idee
des Mülls als Transporteur von Ideen, Erinnerungen und Historie.
61
62
2.c Dokumentarische und poetische Lektüre:
Die Geschichte des Weggeworfenen
„Beide, Müll und Abfall können als Matrix für neue
Wahrnehmungen und Bewusstseinswelten und als Archiv
der Vergangenheit betrachtet werden. Archive wie
Müllhalden sind Arsenale der Erinnerung und zugleich
Kläranlagen der Gegenwartskunst.“100 Paolo BIANCHI.
Müll birgt in vielerlei Hinsicht Geschichte wie auch Geschichten in sich. Auch mein persönliches
Projekt „Recycling Bonsai“ hat Geschichte(n):
In historischer Sicht erinnern uns klein gezüchtete Bäume, also Bonsais an fernöstliche Kulturen
und Traditionen101. Mit Gewalt wird die Natur gebändigt und daran gehindert sich natürlich zu
entfalten. Zehn Meter heruntergezähmt auf siebzig Zentimeter! Unter repressiven
Machtverhältnissen wurde ein prächtiges Lebewesen gegeißelt und gegen seinen Willen klein
gehalten. Dieses Bäumchen vermittelt durchaus Parallelen zu gesellschaftlichen und politischen
Repressionen, welche in der chinesischen Kultur bis heute verankert bleiben.
Der kleine Baum erzählt uns auch von seiner eigenen Geschichte, einer Leidensgeschichte:
Die Schnittform als Bonsai zeugt von einer für den Baum brutalen, eventuell sogar fatalen
Zuchtmaßnahme. Durch regelmäßigen Ast- und Wurzelschnitt, Entrinden zur künstlichen
Alterung, Formbändigung durch die Umschnürung mit Spanndrähten und Befestigung durch
Schrauben, erhalten solche kleinformatigen Bäume ihre charakteristische Wuchsform. Doch
diese Spanndrähte aus Aluminium oder Kupfer scheinen den Baum zu quälen, zu geißeln, zu
strangulieren. Waren sie etwa der Grund für das verfrühte Ableben meines Bäumchens?
Die Form, in welcher ich den Baum präsentiere, erzählt wieder andere Geschichten: Die
Einzwängung durch die Plastikstreifen erinnert an die Praktiken des Bondage102 und lockt den
Betrachter mit einem Augenzwinkern in die Welt der Erotik und der fernöstlichen
Fesselungskünste.
Die ummantelnden Plastikeinkaufstüten berichten durch ihre Schriftzüge, Logos und
Gebrauchsspuren von ihrem Leben davor, vom Weg der Produktion über ihre Funktion als
schützende Verpackungshülle, handliche Tragetasche und auffälliger Werbeträger, hin zur
Aussortierung aus dem Nutzungsfeld. Tüten erzählen von Reisen und Shoppingtouren, von
modernen Kaufgewohnheiten und Konsumwahn.
Betrachtet man den Boden verschiedener solcher Plastik-Shoppingtüten etwas genauer, kann
man einige ausführlich argumentierte Vorzüge von Plastiktüten ablesen. H&M geht soweit und
personifiziert seine Tüten. Der Konzern überlässt der Tüte das Wort mit Formulierungen wie: I am
a plastic bag, please recycle me!
100
Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 38.
Der Bonsai ist heute vorrangig im japanischen Stil bekannt, ist jedoch auf die chinesische Fenjing
Gartenkunst aus der Han-Dynastie (um 200 n.Chr.) zurückzuführen.
102
Bondage ist eine Fesselkunst mit japanischen Wurzeln. Das Einschnüren eines Menschen hat die
sexuelle Stimulation durch Einengung und Unterwerfung zum Ziel. Bondage wird auch aus ästhetischen
Gründen praktiziert.
101
63
Gehen wir die Arbeit nun unter ikonologischem Aspekt an:
Der Baum gilt generell als Sinnbild für das Leben. Obwohl dieses Exemplar tot ist, erzählt es uns
immer noch, mit seinen nachgeahmten Blätterbüscheln vom natürlichen Zyklus und der Hoffnung
auf alljährliche Wiedergeburt. Wie Ruinen scheinen die kahlen Teile des Baumes wehmütig von
vergangenen Tagen zu berichten, von der Blüte seiner Existenz zu zeugen.
Zusammengesetzt aus den chinesischen Wörtern bon für Schale und sai für Pflanze, stehen die
traditionsreichen Topfkulturen für Energie sowie die Harmonie der drei Naturelemente: Die Natur
wird durch den miniaturisierten Baum verkörpert. Die Naturkräfte von Bergen und Wasser findet
man in Form von Steinen oder Kies wieder. Der Mensch wird durch die manufakturierte
Keramikschale repräsentiert. Der Bonsaibaum verkörpert sogleich ein harmonisierendes Weltbild,
als auch ein kulturelles Erbe, so wird er gerne vor Rollenbildern mit Berg-, Wald- oder
Tierkulissen ausgestellt. Nicht umsonst bezeichneten Schreiber der Ming-Dynastie den Bonsai
als „stumme Gedichte“103, sahen in dem ganz Kleinen das ganz Große. Die Geschichte(n), die
ein Bonsai erzählt, können sehr ausführlich sein, denn diese werden, bei richtiger Pflege, über
hundert Jahre alt. Auch mein abgelebter Bonsai vermag es noch eine ganze Weltanschauung,
einen ausgewogenen Mikrokosmos widerzuspiegeln.
Interessanterweise liegt die Herkunft beider Komponenten, sowohl die des Bonsai, als auch die
der Plastiktüten, sehr nah beieinander: Die asiatischen Kulturen, welche traditionellerweise
Bonsais kultivieren, sind gleichzeitig Quelle der weltweiten Massenproduktion. Wegen der
aufopferungsvollen Arbeitsmoral der Bürger, der in vielen Staaten praktizierten kommunistischen
Lohnphilosophie und den damit einhergehenden konkurrenzlosen Dumpingpreisen, beherrschen
die asiatischen Länder den Weltmarkt im Export von Billigmassenwaren. Demzufolge
produzieren sie auch den Hauptanteil von dem, was früher oder später unsere Müllhalden füllt.
Hier schließt sich der Kreis von Natur und Menschengemachtem, von Tradition und Modernität,
von Elite und Masse, von Wert und Discountprodukt. Hier erzählt arrangierter Müll seine
Geschichte(n)!
Müll ist in erster Instanz Zeuge seiner primären Funktion, dem eigentlichen Sinn und somit seiner
Daseinsberechtigung: Verpacken, schützen, wärmen, nähren, befördern, bedienen, alltägliche
Handgriffe unterstützen. Müll hatte im Benutzungszustand einen Sinn und gehörte zu jemandem.
103
de.wikipedia.org, Suchbegriff „Bonsai“, eingesehen am 20. Dezember 2012.
64
Oft sind an ihm noch Charaktereigenschaften abzulesen. Verschleißspuren, Schriftzeichen,
Bedienungsanleitungen, Nutzungshinweise, Verfallsdaten, Beschreibungen der Herkunftsorte
und der Zustand der Objekte zeugen von seinem prätraumatischen „Leben davor“. So ist Müll ein
unreiner und stinkender Beweis der modernen Konsumgesellschaft, bezeugt unseren Überfluss
und erzählt von seinen Erlebnissen.
Abfall dokumentiert den Alltag, das wahre Waren-Leben. Unser Müll ist ein wa(h)rer Zeitzeuge.
Er berichtet von vergangenen und gegenwärtigen Kulturen, von Vergangenheit und
Vergänglichkeit. Müll schreibt Memorialkunst und zeichnet Zivilisationsporträts.
„Von Abfallobjekten könnte man stundenlang reden, und jede
Müllhalde auf der ganzen Welt hat eine andere Atmosphäre, einen
speziellen Geruch, eine spezielle Konsistenz, Materialität. Da
könnte ich nun sagen, dass mich der Abfall als „Kulturbrei“
interessiert. Man könnte sagen, dass man fast alles, was wir über
Römer und Griechen oder die Latrinen des Mittelalters wissen, aus
den Abfallhaufen stammt, …“104
Abfall spiegelt, als ausgesondertes Restmaterial, die Lebensweise ganzer Gesellschaften wider.
Wissenschaftler, insbesondere die Archäologen, haben sich den Müll zunutze gemacht. Sie
entlarven die Geschichte der Menschheit durch deren Abfälle. Was haben die Menschen im
Mittelalter konsumiert? Wie war der Lebensstil der Römer? Die uralten Müllhalden geben einen
wichtigen Aufschluss über die Konsumgewohnheiten und Handelsverhalten alter Völker. Der
römische Berg Monte Testaccio105 ist beispielsweise auch heute noch historisches Museum zum
Anfassen, ein Mekka für Archäologen. Unter einer dünnen Schicht aus Sedimenten, mit Gras und
Bäumen überwachsen, findet man hier auf Schritt und Tritt antike Amphoren und anderen
Tongefäße aus der römischen Kaiserzeit. Zu der besagten Zeit war es sogar streng verboten sich
von diesem Hügel zu bedienen, denn die Römer, die als reinlichste Nation der Welt galten, waren
stolz auf ihre Kippen. Dieser himmelhoch aufgeschüttete Scherbenhaufen demonstrierte jedem
Fremden eindrucksvoll den Wohlstand ihrer Zivilisation, denn sie waren nicht darauf angewiesen
ihren Abfall wiederzuverwerten.
Eine organisierte Entsorgung gehört somit zu einem intelligenten Gesellschaftsmodell dazu.
Der französische Psychiater und Psychoanalytiker Jacques LACAN bemerkte zu diesem Thema:
„Eine Hochkultur ist zunächst einmal eine Kultur, die eine Müllkippe
hat.“106
Wie eignen sich nun die verschiedenen Künstler dieses desolate aber informationsreiche Material
an? Wie lassen sie in ihren Werken den Müll von seinen Erlebnissen und von unserer Kultur
erzählen?
Der amerikanische Archäologie-, Ökologie- und Biologiebegeisterte Künstler Mark DION widmet
sich der Geschichte von Abfall und der Aufbewahrung von gesellschaftlichen Reliquien. 1999
stellt der Künstler in der Tate Modern die „erbeuteten Schätze“ aus einer großangelegten
104
Daniel SPOERRI, 1970, zitiert in Hier kommt die Kunst, Kommentarband 2/3, Ernst Klett
Schulbuchverlag, Leipzig, 2005, Seite 13.
105
Er ist der bekannteste römische Hügel, der im Römischen Reich bis etwa Ende des vierten
Jahrhunderts nach Christus als Halde benutzt wurde. Er besteht integral aus antiken Scherben. Man
schätzt etwa dreiundfünfzig Millionen Amphoren, die vor allem Getreide und Öle enthielten. Der Müll hat
eine Gesamthöhe von fünfundvierzig Metern und einen Umfang von einem Kilometer. de.wikipedia.org,
Suchbegriff „Hygiene im römischen Reich“, eingesehen am 17. Februar 2013.
106
Jacques LACAN, Meine Lehre, ihre Beschaffenheit und ich, 2008, Wien, Seite 73, zitiert von Anette
HÜSCH in From Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kerber Verlag, Seite 9.
65
Aufräumaktion an beiden Uferseiten der Themse in einem mächtigen alten Apothekerschrank
aus, „Tate Thames Dig“. Wie ein Arzt, der die Knochen seines Patienten wieder zusammensetzt,
repariert und reanimiert er Geschichte, fügt sie wieder akribisch zusammen. Er trägt hierbei auf
fast archäologische Manier bis dato unbeachtete Fundstücke, bestehend aus kaputten Brillen,
Schuhwaisen, Fragmenten von Tabakpfeifen oder alten Münzen zu einem Andenken, einem Altar
zusammen. Er erkennt das, was die Themse im Lauf der Geschichte gesammelt und wieder
ausgespuckt hat in seiner Vielfalt, trennt, ordnet, strukturiert es und präsentiert seine Ausbeute
dem Publikum, bahrt sie auf für die Ewigkeit.
Der Künstler verfolgt eine Art dokumentarische Erinnerungsarbeit, konserviert Geschichte,
schreibt sie durch ihre Zusammenfügung neu. Er sichert veraltete Spuren und lässt Vergessenes
neu (er)leben.
Mark DION, „Tate Thames Dig“, 1999, London
Jedem objet trouvé haftet Geschichte an, ob nun die seiner Herkunft, die seiner Beschaffenheit,
die seiner Form oder die, welche der Finder selbst in das Objekt hineininterpretiert.
Der im vorigen Kapitel bereits erwähnte deutsche Künstler und Dingsammler Karsten BOTT
widmet sein Lebenswerk gänzlich dem Liegengelassenen. Er führt bereits seit 1988 ein
sogenanntes „Archiv für Gegenwartsgeschichte“. Dies ist eine persönlich angelegte Sammlung
kurzlebiger vertrauter Einzeldinge. Er trennt, katalogisiert und ordnet akkurat Frauenzeitschriften,
Kleiderbügel, Zahnpastatuben, Käsereiben, Küchenlappen, Saftpressen oder Teppichklopfer. Der
Künstler selbst hat das Sammeln und Auslegen in seinem Alltag so sehr verinnerlicht, dass er auf
der Straße gefundene kleinere Gegenstände oder Fragmente gleich in seiner Hosentasche
verschwinden lässt. In dem daraus resultierenden Sammelwerk „Hosentaschensammlung“107,
breitet er diese „Schätze“ in chronologischer Anordnung auf einem Tisch aus. Mittlerweile zählt
BOTTs Archiv etwa 300.000 Objekte, aufbewahrt in 2500 Bananenkartons. Sein Ziel ist es, diese
Unordnung zuzuordnen, digital zu erfassen und in einem „alphabetischen Bestandskatalog“ zu
vereinen. 2008 publizierte Karsten BOTT eine „Enzyklopädie vom menschlichen Abfall“ mit dem
Titel „One of Each“ und hinterfragt die Relation zwischen Mensch und Objekt:
Was behalten wir? Was schmeißen wir weg? Wie viel konsumieren wir?108
Diese Dinge kommen anschließend alle in Form einer Installation wieder zum Vorschein. Er legt
sie den Leuten in sich stets verändernder Form vor. Er klassiert und reiht zum Teil veraltete
Haus(gegen)stände in subjektiver Ordnung, aber mit verwandten Benutzungszusammenhängen
in regelmäßigen Abständen nebeneinander, um sie so zum Zeitdokument werden zu lassen.
Diese Dinge beschreibt er selbst als bereits ausrangiert, überholt, zwischen Gestern und
Morgen.109
107
Karsten BOTT, „Hosentaschensammlung“, 2006, Kunstverein Gießen und Gruppenausstellung From
Trash to Treasure – Vom Wert des Wertlosen in der Kunst, Kunsthalle Kiel, 2011.
108
www.karstenbott.de, eingesehen am 15. Juli 2013.
109
Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 50.
66
„Ich möchte eine Kopie, ein netzartiges Abbild unserer
Umwelt schaffen“110.
Hierbei funktioniert jedes gesammelte Objekt als eine Art Bindeglied zum Nächsten. Egal ob Müll,
funktionsuntüchtiges Fragment oder Nutzungsobjekt, jedes Teil belegt seinen Platz in einem
Gesamtwerk und gehört wie ein Mosaikstein zu einem Ganzen. Jedes Objekt hat seinen Wert,
seine Ordnung, seine Zusammenhänge. In Sammlungen wie „Von Jedem Eins, 600
Quadratmeter“ von 2011 präsentiert er sie als eine Art Müllteppich, ein alles überflutendes
Trödelmeer mit Holzsteg, von wo aus man mit angemessenem Abstand seine eigene
Gegenwartsgeschichte betrachten kann. BOTT bietet dem Betrachter einen fast schon
romantischen Ausblick ins ferne Gestern, Jetzt und Morgen.
Karsten BOTT, „Von Jedem Eins, 600 Quadratmeter“, 2011, Installationsansicht, Kunsthalle Mainz
Müll ist Zeuge. Er bezeugt nicht nur seine eigene vorangegangene Form und Funktion, er ist
Zeitzeuge, Zeuge des Lebens, einer ganzen Kultur. Müll ist Zeuge unserer Geschichte.
Als einer der bedeutendsten europäischen Installationskünstler entlockt Christian BOLTANSKI
dem Müll und anderen Objekten ihre Vergangenheit, die er in seinen Werken ausgräbt und ans
Licht befördert. Der Franzose arbeitet mit gegenständlichen Zeitzeugen und Objekten mit
semantischem Gedächtnis. Er konserviert in seinen Werken Erinnerungen, schafft Archive der
Vergangenheit. Allgegenwärtiges Thema in BOLTANSKIs Werken ist die Zerbrechlichkeit der
Erinnerungen und des menschlichen Lebens. Hierfür lässt er ausrangierte Gegenstände
sprechen.
110
www.karstenbott.de, eingesehen am 15. Juli 2013.
67
In seinen gedenkstättenartigen Rauminstallationen stapelt und präsentiert er nicht nur alte Fotos
oder Liebesbriefe von verstorbenen Menschen, er lässt auch Gegenstände, die generell als
Abfall gelten, zu Wort kommen. So stapelt er an den Decken, Wänden, in Regalen und auf den
Fußböden seiner Ausstellungsräume massenweise ausrangierte Telefonbücher oder gebrauchte
Kleider. Eine einzelne löchrige Socke in seinem Sammelwerk „La Réserve du Musée des
Enfants“ vermag es, den Besuchern die größten historischen Tragödien vor Augen zu führen und
sie zu Tränen zu rühren. Wie Relikte, reflektieren diese Objekte die Abwesenheit, den sinnlosen
Tod eines Kindes oder die Ausrottung eines ganzen Volkes.
Christian BOLTANSKI, „La Réserve du Musée des Enfants I und II“, 1989, Installationsansicht, Musée d’Art
Moderne de la Ville de Paris
Müll erzählt uns nicht nur etwas über unsere Kultur, sondern auch über uns als Privatperson.
Unser eigener Müll kann anderen sogar mehr vermitteln als uns vielleicht lieb ist. Von
Essgewohnheiten und Kinderanzahl, über Gasverbrauch bis hin zu Menstruationszyklen. Kennst
du den Müll, kennst du den Menschen! Einige Künstler nutzen diese „verräterische“ Qualität von
Müll und entwerfen damit wahre Gesellschaftsporträts.
So lässt das Künstlerduo Bruno MOURON und Pascal ROSTAIN111 in den Fotografien von
arrangierten Akkumulationen den Vorbesitzer, den Entsorger des Mülls sprechen. Sie
durchwühlen den Müll von Ikonen unserer Medienkultur und präsentieren den Inhalt von Jack
NICHOLSONs oder MADONNAs Abfallcontainer nett aufgereiht auf schwarzem Hintergrund. Die
Künstler verzichten bei ihren Müll-Starporträts auf unappetitliche oder zu intime Dinge und
trotzdem fühlt sich der Betrachter bei seiner eigenen Lust am Voyeurismus ertappt. Ist alles bloß
inszenierte Show, kreative Lüge oder die reine Wahrheit? Darf man das?
Der Paparazzo lässt grüßen: Nicht Bild, sondern Müll dir deine Meinung! So fühlt man sich als
schnüffelte man wie ein gieriger Hund im Privatleben der Stars, als sähe man hinter die Kulissen
der Schein- und Sein-Welt.112
111
Der französische Pressefotograf arbeitete in seiner Karriere für große Magazine wie Paris Match, Stern
oder Le Figaro Magazine.
112
Müll kann auch bittere Gesellschaftsporträts erstellen und traurige Geschichten erzählen. Referenzen
zum Thema Messie-Syndrom ab Seite 91.
68
Bruno MOURON und Pascal ROSTAIN, „Madonna“, 1996, Fotografie
Um eine Müllansammlung mit dokumentarisch-biografischem Hintergrund handelt es sich auch
bei dem work in progress mit dem Titel „Continuous Garbage Projekt“ der Kanadierin Kelly
WOOD. Auf rund 167 durchnummerierten Fotos ihres eigenen Hausmülls, hält sie ihr Leben als
eine Art Tagebuch fest. In diesen Plastiktüten hebt sie einen Teil ihrer Persönlichkeit auf. Für sie
bleibt ihr Müll jedoch Privatsache, die sie dem Publikum nur in nüchtern verpackten Tüten
preisgibt.
Kelly WOOD, „Continuous Garbage Project 1998-2003“, 2003, Installationsansicht,
Morris and Helen Belkin Art Gallery, Vancouver
Das bereits zitierte Künstlerpaar Sue WEBSTER und Tom NOBLE bewahren auch ihre eigenen
gelebten Spuren in ihren Kunstwerken auf. Sie setzen Müll nicht nur des Materials und seiner
Form wegen in ihren fantasievollen, traumhaften und zugleich abstoßenden Schattenfiguren ein.
In der Werkinstallation „Dirty White Trash (with Gulls)“ von 1998, arrangieren sie ihren eigenen,
über eine Zeitspanne von sechs Monaten angesammelten Hausmüll zu einem sehr persönlichen,
kritisch-autobiografischen Doppelselbstporträt113.
113
Passenderweise nannte das Künstlerduo ihre erste gemeinsame Einzelausstellung 1996 im
Independent Art Space in London „British Rubbish“.
69
„Es gibt zwei Seiten dieser Werke; die scheinende und die dunkle. Auf eine
Art spiegelt das die beiden Persönlichkeiten in uns wieder (sic).“114
Diesen Müll sammelten die Künstler zeitgleich mit dem Entstehungsprozess ihres Werkes. Sie
verwendeten ausschließlich Abfall, den sie selbst produzierten um in dieser Zeitspanne zu
(über)leben. So lässt das Künstlerpaar den eigenen Müll fast auf poetische Weise von sich und
seiner Person erzählen.
Sue WEBSTER und Tom NOBLE, „Dirty White Trash (with Gulls)“, 1998
Die argentinische Künstlerin Tamara KOSTIANOVSKY verwertet ihre Textilabfälle auch auf
autobiografische Manier. Sie gestaltete eine Art Selbstporträt und hängte ihren Müll dafür auf:
Nicht an einen Nagel, sondern, wie in einer Metzgerei, zum Ausbluten an einen Haken.
Erstaunlich, dass sie nicht mit Tierkadavern arbeitet, sondern mit Textilien. Aus überwiegend
eigenen Kleidern115 näht, faltet und arrangiert sie habeas-corpus-Objekte: Fleischklumpen,
Rinderfilets, Koteletts und Rippchen mit Muskelgewebe, Knochen, Fettlappen und Fasern. In
exhibitionistischer Manier legt sie ihre äußere Haut, somit ihre Kleidung ab und zeigt uns ihr
gehäutetes Inneres: ein saftiges Stück argentinisches Black Angus-Steak. Ihre Aussage ist indes
weniger gesellschaftskritisch oder tierfreundlich als autobiografisch. Das rohe Fleisch steht für
ihre Heimat - verzehrt doch ein Argentinier im Jahr durchschnittlich sechsundfünfzig Kilogramm
Rinderfleisch! Ihre Altkleidersammlung dokumentiert hierbei ihre persönliche Geschichte, ihre
vielen Umzüge und Reisen, ihre ups and downs. Diese ständigen Begleiter waren mit Emotionen
und Erinnerungen behaftet. Unfähig sie wegzuwerfen verarbeitete sie ihre zweite Schicht
kurzerhand zu Fleisch.
114
Sue WEBSTER im Interview mit Torben ZENTH, „Interview: Tom Noble and Sue Webster“, 21. März
2007, Kopenhagen, de.wikipedia.org/wiki/Tim_Noble_und_Sue_Webster.
115
Die Künstlerin akzeptiert auch Kleiderspenden von Freunden, sowie Küchen-, Bade- und Betttücher.
70
Tamara KOSTIANOVSKY, „Abacus“, 2008 und „Venus“, 2010
In meiner Fotoreihe „Re-Nest-cance“ erarbeitete ich auch auf eine gewisse Art persönliche,
intime Welten aus Abfällen. Diese Müllnester bestehen aus den Resten zurechtgeschnittener
Familienfotos. Zusammengefaltet, gebündelt, geflochten, gedreht und geknotet, habe ich die
entstandenen „Reste-Nester“ an unterschiedlichen Stellen abgelichtet. Ich bediene mich der
Symbolik des Nestes als schützendes Zuhause, als intimer Familienkokon mit
Geborgenheitsfaktor, Komfortzone und Rückzugsmöglichkeit, eine Art Zuhause aus Hausmüll.
Diese persönliche Neuinterpretierung von „home sweet home“ habe ich an gewöhnlichen und
ungewöhnlicheren Standorten festgehalten, wie in einer unterirdischen Parkanlage, einem
öffentlichen Mülleimer, unserem Kühlschrank oder meiner Handtasche. Ich stellte mir die Frage,
wo man sich zuhause fühlt, wo nicht. Denn die Reste unseres Lebens begeleiten uns überall hin.
Sie sind unsere Konstante, ob nun langfristig als Erinnerungen oder kurzfristig als Müll.
71
Mit einem Augenzwinkern arrangiert der spanische Allroundkünstler Jaime PITARCH alltägliche
Dinge neu. Er entnimmt unsere ausgedienten Konsumreste aus ihrem routinierten Umfeld und
schafft durch simple Manipulationen eine neue Sicht auf banalste Gegenstände. Er setzt sie, wie
er selbst sagt „in neuartiger Resonanz“116 wieder zusammen. So sind die Hausputzmittelchen
und Seifenverpackungen in seiner Arbeit „Theory of Evolution“ auch nicht zufällig zu einer Spirale
arrangiert. Dem interessierten Betrachter fällt beim Durchlesen der Labels und Logos eine
logische Reihenfolge auf. PITARCH hat die Entstehungsgeschichte vom Urknall „Big Bang“, über
die Geburt von „Sun and Earth“ und den „Planet“-en, sowie die Wirkung von „Oxy Action“, hin zu
der Erscheinung der Dinosaurier und deren Aussterben durch den „Impacto“ eines „Comet“-en,
rekonstruiert. Die Spirale endet mit der Entstehung des Menschen „Don Limpio“, der spanischen
Version von „Mr. Proper“. Seine Installation liest sich fast wie ein cleanes Geschichtsbuch. In
seinen Werken thematisiert der Künstler die Absurdität der Symbole unserer modernen Welt. Sie
spiegeln für ihn den paradoxen Wunsch, uns den gesellschaftlichen Normen anzupassen und
ihnen zugleich zu misstrauen.
Jaime PITARCH, „Theory of Evolution“, 2009, Ausstellungsansicht, Saint Louis, Missouri, 2011
Ein weiterer Künstler, der sein Augenmerk auf den Müll als Informationsträger und Dokument
legt, ist Georges ADÉAGBO aus dem Benin. In seinen sehr aufgeräumt wirkenden
Flohmarktpräsentationen lässt er den Müll sowohl von seiner eigenen persönlichen Geschichte
erzählen, als auch Zeuge der allgemeinen Historie werden. Er ordnet alte Magazine, gebrauchte
Kleidung, Zugtickets, bedruckte Fragmente, Kehricht und ähnlich wertlose, ausrangierte Dinge
jeweils zu einem altarähnlichen Boden- oder Wandteppich. In diesem Patchworks sieht er die
einzelnen Objekte als Zeugen, die in den Köpfen der Menschen geschichtliche Spuren
hinterlassen. Chaotisch und geordnet zugleich, dahingelegt nach seiner ganz eigenen Logik. Er
dokumentiert in seinen Werken sowohl den gefährlichen und korrupten Erzabbau als auch die
Geschichte der Missionare in Afrika. Einige Installationen nennt er „L'Archéologie“ (1994), andere
„Histoire de France“ (1992) oder „Paris XIe et l'histoire de la vie de Voltaire: l'héritage“ (1996).
Seine Installationen wie die 1999 auf der 4. Biennale in Venedig präsentierte „The Story of the
Lion“ laden die Menschen ein, seine Art der Weltanschauung anhand von Fragmenten zu
entdecken und zu lesen. ADÉAGBO sagte:
„Ich habe nicht an einer Kunstschule gelernt, ich bin nur ein Zeuge
der Geschichte… Ich komme daher wie ein Philosoph um zu sehen
und zu zeigen was in der Natur und in der Welt passiert. Jeden
Tag!“117
116
www.manifesta7.it/artists/391?language=0, eingesehen am 31. Oktober 2013.
Frei übersetzt aus dem Französischen: „Je n'ai pas appris dans une école d'art, je suis seulement un
témoin de l'histoire… Je me promène comme un philosophe doit se promener pour voir et faire
117
72
Fast täglich breitet der Künstler eine Vielzahl an Objekten zu einem Thema in seinem Hof in
Cotonou aus, den er mit Nachbarn und Familie teilt.118 Jede alte Installation macht wieder Platz
für eine neue, wobei er stets Elemente der vorangegangenen Auflage wiederverwertet, ihnen
eine neue Bedeutung zuordnet und sie somit Inhaltlich recycelt.
Georges ADÉAGBO, „Paris XIe et l'histoire de la vie de Voltaire: l'héritage“, 1996,
„The Story of the Lion“, 1999
Der deutsche Künstler Anselm KIEFER verarbeitet mit seinen ausdrucksstarken und
symbolkräftigen Arbeiten auch Geschichte. In seinen mythologischen, monumentalen Werken,
integriert er arme und symbolträchtige Materialien und thematisiert hiermit die neuere deutsche
Vergangenheit und den Holocaust, der eine entsetzlich bleierne Schwere hinterlassen hat. Für
das Projekt „A.E.I.O.U.“119 von 2002 verwertet KIEFER die Bleiplatten vom Langhausdach des
Kölner Doms, die nach der Renovierung entsorgt werden sollten. Die Kirche sparte
Entsorgungskosten und erhielt eine kleine Finanzspritze für die Renovierungsarbeiten. KIEFER
bekam im Gegenzug historienbehaftetes Altmaterial. KIEFER stellt hier eine Blei-Bibliothek, eine
wahrhaft „schwere“ Literatur zum Thema Flüchtigkeit der Zeit aus. Sie besteht aus sechzig
Büchern gebündelter Bleiplatten. Das Material Blei symbolisiert in KIEFERs Werken die Schwere
der deutschen nationalsozialistischen Historie, die noch immer auf dem Volk lastet. Seine graue
Farbe bewirkt eine gewisse Melancholie und Traurigkeit, zeigt die Dunkelheit des Geschehenen
und präsentiert das Unnennbare. KIEFER benutzt zudem häufig das Buch als Zeichen des
Archivierens und des geschichtlichen Gedächtnisses. Er interessiert sich für deutsche, aber auch
jüdische Mythen und Literatur und ist eng mit der Poesie des Lyrikers Paul CELAN verbunden.
Der Künstler arbeitet bewusst mit den Spuren alter Geschichte, in diesem Fall mit
wiederverwerteten Bleiplatten, um so seinen Werken eine weitreichende Bedeutung zu geben.
comprendre ce qui se passe dans la nature et dans le monde. Toujours!“ aus L'art africain contemporain,
Christophe DOMINO und André MAGNIN, Editions Scala, Paris, 2005, Seite 77.
118
Seine Mitmenschen haben seine chaotischen, aber logisch geordneten Akkumulationen wohl nicht
immer verstanden und räumten ihm hinterher. So zerstörten sie regelmäßig seine ohnehin kurzlebigen
Installationen. Erst durch die Brille von westlichen Kunstinteressierten gesehen, wurde sein Werk auch von
seinem direkten Umfeld wertgeschätzt.
119
„A.E.I.O.U.“ steht für „Alles Erdreich ist Österreich untertan“ (nach einem Zitat Kaiser Friedrichs III),
Kiefer-Pavillon, Furtwängler Park, Salzburg.
73
Anselm KIEFER, „A.E.I.O.U.“, 2002, Sicht auf das Bleiregal, Salzburg
Der zypriotische Künstler Christodoulos PANAYIOTOU widmet sich in seinen Werken auch der
Findung und Erhaltung von Identität und Geschichte. Als ich im Oktober 2013 das erste
Stockwerk des Casino Luxembourg - Forum d’art contemporain120 betrat, wehte mir bereits der
unangenehme Geruch des Geldes entgegen. Der Künstler hatte hier einen Berg geschredderter
Zypern-Pfund-Geldnoten ausschütten lassen. Nachdem diese Währung 2007 dem Euro weichen
musste, besorgte sich PANAYIOTOU einen Teil des zerkleinerten Altpapier-Abfalls und stellte ihn
aufgehäuft unter dem Titel „2008“ aus. Auch wenn dieses Werk heute durch die weltweite
ökonomische Krise einen zusätzlichen Aktualitätsgehalt vorweist, so widmet sich der Künstler
ursprünglich der Idee, eine Art Denk- oder Mahnmal mit und für Geld zu errichten. Er möchte
seinem Publikum die Nichtigkeit des Geldwertes aber auch den Unwert des Papiers an sich
vorführen. Dieses Geld ist zugleich eng mit dem geschichtlichen Kolonialisierungsshintergrund
Zyperns verstrickt. Money talks!
120
10.10.2013 — 5.1.2014 CHRISTODOULOS PANAYIOTOU - AND
74
Christodoulos PANAYIOTOU, 2008, 2008, Casino Luxembourg - Forum d’art contemporain
Müll erzählt nicht nur in Fetzen, sondern auch in seiner kleinsten Form, seine Geschichte.
Kunsthistorisch gesehen nicht neu, nutzte Marcel DUCHAMP die geplante Verstaubung bereits
1920 um einem surrealistischen Werken vergängliche, fragile Substanz und Form zu verleihen121.
Erwin WURM widmet auch eine Reihe seiner Arbeiten dem Staub. Alles hinterlässt seine
Spuren, auch wenn sie noch so fein sind. Und gerade Geschichte hinterlässt besonders viel
Staub. Der Österreicher widmet sein Werk „Montaigne, Descartes, Kant“122 der Erinnerung an
vergangene Philosophien. Auf drei weißen Sockeln scheint jeweils ein rechteckiger Staubrahmen
übriggeblieben zu sein. Durch die Abwesenheit von Dingen, alleine durch deren scheinbar
zurückgelassene Staubspur startet das Kopfkino. WURM spielt mit der Spur, die im Staub
hinterlassen wird, wenn etwas seinen Platz verändert. Er thematisiert den Abdruck und die Leere,
die ein Objekt und folglich der Mensch hinterlässt. Die Spur stellt den Betrachter vor vollendete
Tatsachen, hier ist bereits etwas passiert! WURM zeigt nur mehr einen delikaten Rest von
Vorangegangenem und schickt den Betrachter auf fiktive Spurensuche: Standen dort etwa
Büsten der drei Denker oder lagen an dieser Stelle ihre wertvollen Manuskripte? Wurden sie
entwendet, gestohlen, stand da je etwas oder ist alles nur Illusion? Was hat sich dort „aus dem
Staub“ gemacht? Was (ver)ging hier, „von Staub zu Staub“?
Erwin WURM, „Montaigne, Descartes, Kant“, 1998, Ausstellungsansicht, Matera und Dijon
121
„Elevage de Poussière“ (Staubzucht), 1920, Staubablagerung auf dem Großen Glas von DUCHAMP,
fotografiert von Man RAY, New York.
122
„Montaigne, Descartes, Kant“, 1998, erstellt für die Ausstellung Poussière (dust memories) von 1998,
Dijon, Fond régional d’art contemporain, Bourgogne.
75
Für unser Auge ist gewöhnlicher Hausstaub meist erst in der Masse sichtbar. Zuerst fein, leicht,
gleichmäßig verteilt und somit fast unsichtbar, schließt er sich im Laufe der Zeit zu unschönen
Staubfusseln zusammen.
Die englische Künstlerin Catherine BERTOLA beschäftigt sich auch hingebungsvoll mit diesem
Fast-Nichts, dem immer Präsenten aber nahezu Immateriellen, dem Staub. Flauschig und haarig,
leicht aber lästig, ephemer und zerbrechlich, überall und dennoch transparent, vergänglich und
doch immer da. Mit der Zeit legt sich heimlich eine feine Staubschicht über alles. Staub und Zeit
sind somit Verbündete. BERTOLA macht dem Betrachter das Unsichtbare und seine Geschichte
sichtbar. Jedes einzelne Staubkorn hat bei ihr seine eigene Herkunft und seine eigene
Geschichte. Jedes von BERTOLAs filigranen Staubkunstwerken, beginnt mit dem Staubsauger in
der Hand. Der Akt der Säuberung und Reinigung ihrer Umgebung gehört mit zum Werk, genau
wie Schablonen und Kleber. So stellte ein Kieler Hotel der Künstlerin die nötige Menge an Staub
für ihren Beitrag zur Ausstellung „From Trash to Treasure“123 zu Verfügung. Mit dem erbeuteten
Beutelinhalt, bestehend aus filzigem Bodensatz, Schmutz und Milben, gestaltet sie delikate,
barocke Arabesken, die an edle Velourstapeten vergangener Tage erinnern. Sie fängt kleinste
Müllpartikel ein und lässt sie zu wertvoll anmutenden ornamentalen Wandteppichen
heranwachsen. Feinste Unsauberkeiten in ihrer edelsten Form. Materiell und formell sind ihre
Werke mit der historischen Vergangenheit sowie der britischen Tradition verknüpft. Stellte doch
der Papierhersteller Jerome LANYER, im Auftrag des englischen Königs Karls des Ersten 1634,
die erste Tapete dieser Art, aus aufgeklebtem Staub gefärbter Wolle, her. Die Künstlerin stellt
sich nicht nur die Frage nach dem Wert des Materials, nach einer Ästhetisierung von Müll,
sondern vereint Tradition und Geschichte.
Catherine BERTOLA, „After the Fact“, 2006, Detailansicht, Lincolnshire
Staub ist einerseits so weich, warm und flauschig, andererseits so immateriell, flüchtig und
ungreifbar. Ich habe mich auch in meiner persönlichen plastischen Recherche mit diesem Thema
beschäftigt. Mein vielgenutzter Trockner spuckt regelmäßig ganze Büschel aus Kleidungsfasern,
123
5. November 2011 bis 26. Februar 2012, Kunsthalle zu Kiel.
76
Haaren, Taschentuchflusen und vereinzelten Knöpfen aus. Auch eine staubige Geschichte!
Diese Textilfussel sind feinste Reste meines Alltags in gebündelter Form. Beim Entsorgen fiel mir
eines Tages die interessante Materialität dieser Trockner-Reste auf. Leicht zusammengedrückt,
formte sich in meinen Händen ein kleines Püppchen. Die Idee, pelzigen, plüschigen Staub
vergangener Tage umzumodellieren, führte mich gedanklich und formell bis in meine Kindheit
zurück. So begann die Sammelei und ich verarbeitete einen ganzen Jahresertrag an
Trocknerabfällen zu einer Nachahmung meines Lieblingsteddys, einem Schaf. In ihm schlummert
nun „buntgrauer“ Textilstaub, Haare, undefinierbare Krümel und Sand vom letzten Urlaub,
übertüncht von etwas Lenor-Duft. Seine Augen bestehen aus alten Knöpfen aus Omis
Sammelkästchen. Sie scheinen dem filzigen Tierchen mit dem Titel „Re-play“ neues Leben
einzuhauchen und somit den Müll zu personifizieren. Müll kann somit in unseren Augen durch
Assimilationen und durch projizierte Kindheitserinnerungen lebendig werden.
„Objets inanimés, avez-vous donc une âme? »124, Alphonse DE
LAMARTINE.
In leblosen Gegenständen kann wohl eine „Seele“ leben. In ihnen verbirgt sich ein sentimentaler
Schatz, den man als aufmerksamer Betrachter in jedem Material findet und dort
hineininterpretieren kann. Der Betrachter projiziert eigene Ideen oder Erinnerungen in
Gegenstände, verbindet Objekte mit Sehnsüchten, Dinge mit Gefühlen. So „lebt“ ein alter Teddy
in unseren Augen wohl mehr als ein Tetrapak Orangensaft.
Bereits ab den 50er Jahren bediente sich auch die französische Künstlerin Niki DE SAINT
PHALLE beseelter Gegenstände. Um ein Stück ihrer eigenen Geschichte zu verbildlichen, schafft
die Neue Realistin eine Reihe Assemblagen und aggressive Schießbilder, welche die Idee der
emotionalen Reichweite von Objekten thematisieren. Hierzu präpariert die Künstlerin Leinwände
mit alten, zerstückelten Puppen, Spielfiguren, Plastikautos, Kunstblümchen und sonstigem Kram,
der sie an ihre Kindheit erinnert. Nachdem sie auch, einige mit Farbe gefüllte Ballons darauf
befestigte, übermalte sie die Bilder weiß125, wie mit einem Schleier des Vergessens und der
Unschuld überdeckt. Anschließend schoss sie in „auto-therapeutischen“ Aktionen mit einem
Gewehr auf diese Wände, zielte sie doch hiermit, im übertragenen Sinn, auf ihren Vater und
machte sich aktiv aggressiv daran, ein Kindheitstrauma zu bewältigen. Das mit negativen
Erinnerungen behaftete Altmaterial wurde somit ein zweites Mal „verwundet“, „hingerichtet“,
124
De LAMARTINE fragt 1826 in Milly ou la terre natale:„Unbelebte Objekte, habt ihr nun eine Seele?“,
zitiert in Chen ZHEN- les entretiens, Jérôme SANS, Vincent HONORÉ, Palais de Tokyo, Presses du Réel,
Paris, 2003, Seite 67.
125
Wie Tipp-Ex, der unsere Fehler überdeckt, symbolisiert die Farbe Weiß in der westlichen Kultur nicht
nur Unschuld sondern auch Verdrängen und Vergessen, eine Art Korrektur, „Schwamm drüber“!
77
„getötet“. Müll kann auf diese ganz individuelle Weise auch einen therapeutisch relevanten Wert
entwickeln.
Niki DE SAINT PHALLE, „Tire“, 1962
Vorbereitung sowie Aktion der Schießbilder , 1962, Malibu
Viele Künstler lassen die Qualität des Mülls für sich sprechen, bauen nicht nur auf optisch
darstellende Reize des trostlosen Materials, sondern auf seine inhärenten philosophischen,
symbolischen, geschichtlichen, kulturellen oder (auto-)biografischen Eigenschaften und all ihre
Zusammenhänge. Müll beinhaltet darüber hinaus auch sozialkritische Argumente, die seinem
Verursacher und Betrachter ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Unumsichtigkeit
vermitteln.
78
2.d Kritische Lektüre: über Mangel, Last und Nachhaltigkeit
Müll ermöglicht es der Kunst, etwas näher an unser alltägliches Leben zu rücken, denn Müll war
„live“ dabei. Er spiegelt unsere Gesellschaft mit dem globalen, unumsichtigen Rohstoffkonsum
und dem materiell verschwenderischen Lifestile.
Um den kritischen Aspekt von Müllkunst hervorzuheben, greife ich ein weiteres Mal auf mein
persönliches Bonsaibaum-Beispiel zurück.
Der Kontrast zwischen natürlichem und synthetischem Müll spricht hierbei Bände:
Die Plastikbänder scheinen den Baum zu verschlingen. Synthetik verpackt, bindet, überschattet
und ersetzt schließlich unsere Natur. Ein solch feines Bäumchen zersetzt sich innerhalb von zwei
Jahren. Eine Plastiktüte braucht, je nach Kunststoff, zwischen hundert und fünfhundert Jahren126,
um kompostiert zu werden. Im Meer geht es etwas schneller.127
Im Kontext meines Projekts machen die Plastikhüllen das Bäumchen stabiler, doch sie
überdecken seine Rindenstruktur, den Fingerabdruck des Baumes. Unsere Natur wird unter dem
Schutzmäntelchen der Synthetik eingemottet und schlussendlich ersetzt. Was bleibt, ist Plastik!
Einige Erklärungen zur Herkunft der verwerteten Plastiktüten: Während meiner Sammelphase
erbte ich eine private Einkaufstütensammlung von einer Weltenbummlerin. Sie enthielt Tüten aus
mehreren Kontinenten und ich freute mich bereits auf kyrillische und chinesische Schriften, auf
befremdliche Prints und auf eine multikulturelle Reisedokumentation. Zu meiner Enttäuschung
stellte ich keinen wirklichen Unterschied zwischen Tüten aus Luxemburg oder aus China fest:
gleiche Schriftzüge, gleiche Marken, gleiche Symbole. Der Massenkonsum ist standardisiert,
nichts mit „mülltikulti“. Der daraus resultierende Müll ist Einheitsbrei. Selbst die Identität von Müll
geht in der globalisierten Welt verloren und sieht überall gleich aus!
Somit symbolisieren die Plastiktüten, die um meinen Baum geschlungen sind, einen weiteren
Kontrast: Asiatische Traditionen gegenüber moderner Produktion und Massenkonsum. „Made in
Japan“, „Made in China“128, „Made in Taiwan“,… Asien ist industrieller Marktführer und hat
Europa und die USA längst überholt. In meinem Projekt kollidieren und vereinen sich nicht nur
Synthetik und Natur, sondern alte Tradition und „Schöne neue Welt“129.
Man kann es heute kaum glauben, doch vor nur etwa 40 Jahren wurde Müll noch nicht als
Umweltproblem angesehen. Müll sollte nur so schnell und günstig wie möglich aus dem Sichtfeld
der aufblühenden Konsumzivilisation verbannt werden. Erst mit dem Giftmüll der neuen
Technologien, mit dem Weltraumschrott der uns umkreist (und manchmal wieder auf seinen
Urheber „zurückschießt“), aber insbesondere mit dem radioaktiv strahlenden Müll hat sich diese
Überlegung gewandelt.
Der Wuppertaler Ästhetikprofessor Bazon BROCK spricht sogar vom:
„[…] Verlust der Zukunft angesichts der Tatsache, dass wir
kommenden Generationen nicht bloß Autofriedhöfe
hinterlassen, sondern auch atomar strahlenden Abfall, der
126
de.wikipedia.org, Suchbegriff „Plastiktüte“, eingesehen am 08. Januar 2013.
Mittlerweile ersetzen bereits (mehr oder weniger umstrittene) kompostierbare Biotüten aus Maisstärke
einen großen Teil der konventionellen PE-Tüten.
128
Allein 2012 wurden laut Internetportal www.de.statista.com, Waren im Wert von 2,05 Billionen US-Dollar
aus China exportiert, eingesehen am 2. September 2013.
129
Nach Aldous HUXLEYs Roman „Brave New World“ von 1932.
127
79
zum ersten Mal den Ewigkeitsanspruch von Göttern erreicht:
Halbwertszeit mindestens 15.000 Jahre.“130
Es ist nicht mehr wegzudenken:
Müll ist eine Gefahr! Nicht nur für seine Entsorger, nein für alles Leben. So treiben auf unseren
Ozeanen unzählige, sich immer verändernde Müllteppiche, sognannte Müllstrudel. Geschätzte
30% des im Meer entsorgten Plastikmülls bilden an der Oberfläche regelrechte Müllinseln. Im
Nordpazifik hat dieses Phänomen sogar einen Beinamen: Great Pacific Garbage Patch131.
Reisekataloge sind im Druck! Und der Rest liegt auf dem Meeresgrund. Zerfetzt und pulverisiert
gelangt der giftige Mist natürlich auch in die menschliche Nahrungskette! Guten Appetit!
Der Mensch ist sich seines umweltfeindlichen Verhaltens bewusst und versucht ab und zu sein
Gewissen reinzuwaschen indem er auf umweltfreundlichere Recycling-Produkte zurückgreift. Das
Angebot hierfür boomt!
Recyclingprodukte scheinen der Überbelastung unseres Ökosystems und der Verschwendung
wertvoller Rohstoffe entgegen wirken zu wollen. Aus Müll hergestellte Objekte unterstreichen die
Ideologie des umweltbewussten Konsumenten und demonstrieren den Willen, für unsere
Konsumgewohnheiten Buße zu tun. Zahlungskräftige Verbraucher werden durch
Recyclingprodukte angehalten „die Welt zu retten“. Jedes Wiederverwertungsprodukt, vermittelt
seinem Nutzer nicht nur einen gewissen Grad an Absolution, sondern birgt, offensichtlich oder
unterschwellig, auch einen kritischen Beigeschmack. Diese Produkte stellen unser Nutzverhalten
in Frage: Ist Konsumgut eigentlich schlecht?
Müll vermittelt einen kritischen Gedanken und zeigt mit dem Finger auf gesellschaftliche,
ökologische und ökonomische Problemverhalten. Eine Reihe von Künstlern nutzt dieses
Potenzial in ihren Werken um sie über Form, Inhalt und Funktion hinaus an nachhaltiger
Bedeutung gewinnen zu lassen und sehen Müllkunst als Möglichkeit der Resozialisierung von
abtrünnigem, verwahrlostem Material.
Die Welt produziert Müll und einige Künstler wie Isa GENZKEN, produzieren aus dem Müll neue
Welten. Die deutsche Künstlerin schafft in ihrer Installation „Empire, Vampire, Who kills Death“132
zweiundzwanzig bedrohlich wirkende Miniatur-Müllwelten. In der Rolle der Schöpferin kreiert sie
fiktive Lebensräume aus banalem Zivilisationsmüll. Dadurch, dass sie ihre Müllinstallationen nicht
nur stadtähnlich arrangiert, sondern ihre Exponate auf zweiundzwanzig weißen Sockeln
präsentiert, lässt sie desolates Material und wertvolle Kunstvorstellung aufeinander wirken. Es
sind Landschaftseinblicke aus Gläsern, Brot, Spielzeug, Plastikblumen oder Metallkram,
organisiert wie Theaterszenen. Kriegsähnliche apokalyptische Assemblagen scheinen die
Trostlosigkeit des Materials in ihrer neuen szenografischen Formgestaltung zu unterstreichen.
Kleine Spielfiguren „leben“ in diesen abgeschotteten Schrottkosmen, isoliert voneinander,
erhoben auf ein künstliches Tablett. GENZKEN scheint uns einen Einblick in unsere, mit Schrott
übersäte Zukunft zu gewähren, eine Zukunft, in der unsere Abfälle die Natur beschlagnahmen
und ersetzen.
130
Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 39, Paolo BIANCHI kommentiert Bazon
BROCKs Essay „Gott und Müll“ aus dem gleichen Band Seite 42.
131
Der Great Pacific Garbage Patch (Großer Pazifikmüllfleck) wurde erstmals beschrieben von Peter
HAFFNER in „Eine Ahnung von Apokalypse“ NZZ Folio 07/09/, de.wikipedia.org, Suchbegriff „Müllstrudel“,
eingesehen am 08. Januar 2013.
132
2002/03, 22 Teile, gemischte Materialien, Courtesy Galerie Daniel Buchholz, Köln.
80
„Es ist der Tag nach der Apokalypse oder vielleicht auch der Tag, an dem
der Schöpfer durchgedreht ist.“133
Isa GENZKEN, „Empire, Vampire, Who kills Death“, 2002-03, Detail
und „Empire, Vampire III“, 2004, Detail
Steinzeit, Eisenzeit, Industriezeitalter,… vielleicht wird unsere Epoche in Zukunft als die Müll-Ära
in die Geschichtsbücher eingehen (insofern es noch Bücher gibt)!
Müll ist ein Problem, dem auf unterschiedliche Weise entgegengewirkt werden kann:
Um Pendler und Reisende auf das Vermüllungsproblem in
Zügen und an Bahnhöfen hinzuweisen, hat das
Verkehrunternehmen Eurostar im Brüsseler Bahnhof einen
Trash-Union Jack aufgehängt. Er besteht aus zerdrückten
Getränkedosen und anderem Müll, der an Ort und Stelle
aufgesammelt wurde. Mit der Aufschrift „Welcome to green
Britain“, scheint die Message auf dem unübersehbaren
Willkommensbanner eindeutig: Touristen achtet auf euren
Dreck!
Eine sehr beeindruckende Umweltbotschaft bietet uns der deutsche Objekt- und Aktionskünstler
HA SCHULT134. Als einer der ersten Künstler der die Kunst mit einer ökologischen Idee verband,
entwickelte er 1996 eintausend „Trash People“135, die sogenannte „Schrottarmee“ und schickte
sie in einer Art friedlichem Kreuzzug, um die ganze Welt: 1999 nach Paris und Moskau, 2001
nach Gizeh, 2002 auf die Chinesische Mauer, 2007 nach Rom auf die Piazza del Popolo und
nach Barcelona an die Ramblas, 2008 nach New York. Seine „Globetrotter“ standen sogar in der
Arktis. 220 seiner Figuren machten in diesem Jahr auf der Place Clairefontaine in Luxemburg
halt136. Die lebensgroßen Figuren aus Montageschaum und gepresstem Müll, die wie Tonkrieger
133
Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Isa Genzken: Szenographien aus
Zivilisationsmüll, Seite 48.
134
Geborener Hans-Jürgen Schult.
135
Der Materialwert einer Müllfigur liegt laut Energieversorger RheinEnergie AG bei zwei Euro Brennwert.
Nicht nur der ideelle Wert der Figuren ist weitaus höher, eine der eintausend Figuren kostet aktuell 8.000
Euro.
136
Zu sehen vom 6. bis 14. September 2014, organisiert von der Galerie Clairefontaine im Rahmen des
diesjährigen Photomeetings in Luxemburg.
81
aus dem Grab des Ersten Qin-Kaisers137 starr aneinandergereiht dastehen, stellen eine Art
Mahnmal für unsere „Dreckswelt“ dar. Der Künstler lenkt mit seiner „Terrakotta-Armee“ aus Abfall
die Aufmerksamkeit der Betrachter auf ein globales Problem und übt kritischen Widerstand, eine
stille aber ausdrucksstarke Revolution gegen die Vermüllung unseres Planeten. Wie die
Schweizergarde demonstrieren die Figuren willensstarken Zusammenhalt für die gute Sache. Mit
Müll bewaffnet sorgt das tausend-Mann-Heer treu und tapfer für die Sicherheit der Erde. Die
Müllsoldaten leisten sozusagen ihren Ordnungsdienst und ermahnen die Bevölkerung in
friedlicher aber eindeutiger Mission zu umsichtigem Umgang mit ihrem Müll. SCHULT gibt dem
Müll in seiner überwältigenden Masse Macht. Müll ist hier ein Statement. Er scheint uns einen
Ausblick in unsere Zukunft zu geben und uns mitzuteilen: „Sieh her, wir sind die Opfer deiner
Sorglosigkeit!“
HA SCHULT, „Pyramids People“, 2002, Gizeh, „Great Wall People“, 2001, Peking
und „Trash People“, 2014, Luxemburg
137
Um 210 v.Chr. wurde das Mausoleum des Kaisers Qín Shihuángdì in Xi’an, China, errichtet. Auf einer
Fläche von 56 Quadratkilometern befinden sich zirka 7300 lebensgroße Terrakottafiguren sowie zahlreiche
Pferdegespanne.
82
Auch der österreichische Fotograf Klaus PICHLER sorgt sich um Entsorgtes und thematisiert in
seinen Ablichtungen die dramatische Nahrungsmittelverschwendung. Für seine Fotoserie „One
Third“, geht er von einer Studie der FAO138 aus, die belegt, dass rund ein Drittel der weltweit
produzierten Lebensmittel im Mülleimer landet. Die andere Seite der Medaille zeigt weltweit 925
Millionen Menschen, die an Hungersnot leiden. Diese Verschwendung und die ungerechte
Verteilung von Lebensgrundlagen bewegten PICHLER dazu, eine zugleich kritische aber auch
wunderschöne Hommage an unser Essen festzuhalten. In seinen Fotografien präsentiert er uns
faulige, mit Pilzen und streuenden Sporen überwucherte Lebensmittel in ihrer makellosen
Schönheit, dramatisch inszeniert, in perfekter Symmetrie ausgelichtet. Hier wirkt Abfall in seiner
klassischen Eleganz. Mahnend und zurückhaltend zugleich, lenken die Werke durch ihre
Qualität, ihre ausgewogenen Kompositionen, den dunklen Hintergrund und die Ästhetik der
flauschigen Fäulnis, das Augenmerk auf das Ungleichgewicht unserer Konsumwelt.
Klaus PICHLER, „One Third“, 2012
Auch die Schaffensmotivation des bereits erwähnten kubanischen Künstlerduos GUERRA DE LA
PAZ liegt in der Kritik am Konsumwahn. Alain GUERRA und Neraldo DE LA PAZ recyceln in der
Hauptsache ausrangierte Kleidungsstücke und türmen sie nach Regenbogenfarben sortiert zu
meterhohen Müllskulpturen auf. In ihren Augen definieren Kleider nicht nur die Individualität jedes
einzelnen Menschen, sie repräsentieren die gesamte Menschheit und ihr Tun. Den Künstlern ist
mit der Aussage ihrer Werke daran gelegen, ihr vorwiegend amerikanisches Publikum auf seine
verschwenderischen Kaufgewohnheiten aufmerksam zu machen und es dazu zu animieren,
weniger aggressiv zu konsumieren, Rohstoffe einzusparen und Recycling zu betreiben. Hierfür
bedienen sich Guerra de la Paz - was übersetzt Krieg des Friedens heißt – populärer und
einschlägiger Motive. Dazu zählen klassische Ikonen und Umweltmotive wie Bäume, Berge oder
Regenbögen. Sie bilden auch menschliche Körper (Sunt, 2008 oder Family, 2007), ganze
138
2011 veröffentlichte die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, auch
FAO, eine internationale Studie, die besagt, dass weltweit jährlich etwa 1,3 Milliarden Tonnen
Lebensmitteln verloren gehen oder entsorgt werden.
83
Landschaften (Oasis, 2006), Kriegsszenen oder Atompilze aus sauberen, meist knallbunten
Altkleidern nach.
GUERRA DE LA PAZ, „Indradhanush“, 2008, „Atomic“, 2009 und „Unidentified“, 2011
Meine bereits kurz erwähnte Fotoserie „Cad-re-made in Luxembourg“ behandelt auch den Müll
mit seiner kritischen Aussagekraft. Ich habe mir zum Ziel gesetzt, Recycling in meinem
Heimatland unter einem neuen Blickwinkel zu betrachten, ausgehend von einheimischen
Produkten und deren Abfall. Diese neue Ansicht sollte durch einen Rahmen führen, somit seinem
Betrachter eine „Durch-Sicht“ erlauben. Ich fertigte barocke aber auch schlichte, geometrisch und
organisch geformte Rahmen aus Verpackungen lokaler Produkte wie Rose Butter, Maryland
Zigaretten, Milch von Luxlait, Cactus oder D‘fair Mëllech und Bofferding Bier. Ich verwerte sogar
eine künstlerisch-kulturelle „Verpackung“, die Fassade einer dem Abriss geweihten
Ausstellungshalle. Die daraus entstandenen Rahmen lassen auf unterschiedliche Plätze in
Luxemburg durchblicken. Hierbei wirken gerahmtes Motiv und recycelter Rahmen in ihrer
Bedeutung aufeinander.
Abgelichtet in Frisange, säumt der verschlungene Maryland-Rahmen die vier Kühltürme der
Atomzentrale Cattenoms. Die auf der Zigarettenschachtel deutlich lesbare, gesetzlich
angeordnete Beschriftung „Rauchen kann tödlich sein“, gewinnt unter dieser Sicht an Mehrwert.
84
Zudem stelle ich den Rahmen mit dem Titel „Merry Maryland“ dem interkommunalen Syndikat
der Müllverbrennungsanlage SIDOR in Leudelange entgegen.
Der zum Thema „fair/unfair“ angefertigte Rahmen in Einkaufstütenform behandelt das Thema der
Nahrungsmittelindustrie in Verbindung mit einem gerechten Umgang mit Nutzvieh. In den
Nationalfarben gehalten, habe ich hier einen Rahmen aus Milchtüten der drei größten
inländischen Milchlabel zusammengesetzt und auf ein Wahlgeschenk einer konservativen
politischen Partei (ADR139) aufgeklebt. Hier bietet sich eine Sicht auf ein Feld in Schouweiler, auf
dem ein Anhänger mit Reklametafel der Milchbauernkooperative D’fair Mëllech, also die faire
Milch abgestellt ist. Im Hintergrund befindet sich das Lager des Nationalen Kunsthistorischen
Museums, dem MNHA, ein Detail, welches die Arbeit in einen national-kulturellen Kontext setzt.
Auf dem Foto, das auf die Fleischtheke der Supermarktkette Cactus durchblicken lässt, fragt man
sich, was im Endeffekt „fair“ für das Tier ist.
Beim nächsten Rahmen habe ich ein Fassadenstück recycelt. Nach einem Besuch der
Ausstellung Monopol 2 in den früheren Lagerhallen eines luxemburgischen Kaufhauses erkannte
ich, dass hier viel sehenswerte Street-Art Kunst sehr bald zu Bauschutt werden würde. Nach
Absprache mit dem Kurator Will KREUZ erhielt ich die Erlaubnis einen Teil dieses
Gesamtkunstwerkes vor seinen endgültigen Zerfall zu „retten“. Ich entfernte einen quadratischen
Rahmen aus dem Fassadenwerk des luxemburgischen Street-Art Künstlers Michael
SANCTOBIN. Diese Graffiti-Arbeit war dem Veranstaltern wohl ein Dorn im Auge, denn zu einem
kurzfristig geplanten Event sollte sie ohnehin überstrichen werden. So oder so, das Graffiti war
für den Kurator bereits Müll, den ich entnehmen und wiederverwerten konnte. Ich brach einen
Teil des Graffitis aus dem Außenputz heraus und fügte die Teilchen wie ein Mosaik wieder neu
zu einem Rahmen zusammen. Durch diesen Rahmen ermögliche ich nun neue Blicke auf die
institutionalisierte Kunst- und Müllwelt.
139
ADR - Alternativ Demokratesch Reformpartei.
85
Der Werbeslogan des größten luxemburgischen Bierbrauers Bofferding lautet: De sëffege Secret
vu Lëtzebuerg140! Als Ende 2013 das alte Verwaltungsgebäude des Werkes in Bascharage
abgerissen wurde, um einem neuen Beton-Glasbau zu weichen, bat ich die Arbeiter darum, mir
einen Teil des Bauschutts aufzubewahren. Zusammen mit gepressten Dosen, Plastikhüllen und
Kartons bildet das florale Fenstersimsrelief das ich erhielt, den Rahmen, mit dem ich einige
Standorte luxemburgischer Geheimnisse ablichtete. Ich konfrontierte meine Arbeit mit dem
früheren Sitz des Luxemburger Geheimdienstes und dem Justizquartier auf dem Plateau du St.
Esprit. Der Rahmen bietet zudem eine Sicht auf den Finanzplatz Luxemburg, der gebannt auf
europäische Entscheidungen zum Thema Bankgeheimnis wartet.
Müll kann auch aus Mangel heraus zum Kunstwerk werden. Wenn man nichts besitzt, so hat
man keine Wahl und nimmt das, was man findet, um irgendwie aus der alltäglichen Trostlosigkeit
zu flüchten. Oft sind es ungerechte Missstände, die einzelne Menschen und sogar ganze Dörfer
dazu bringen, aus nichts etwas zu machen. Der Not entspringt eben eine Tugend und Not macht
erfinderisch. Unter diesem Motto entstehen überwiegend in Entwicklungs- oder sogenannten
Schwellenländern141 die unterschiedlichsten Projekte und Werke, hier ein Beispiel:
Um den Kindern aus defavorisierten Gegenden eine Entfaltungsmöglichkeit zu bieten wurde in
einem Slum in Paraguay das Projekt Landfill Harmonic - The recycled orchestra ins Leben
gerufen. Es handelt sich um ein musikalisches Projekt aus Cateura, einem Dorf, welches auf
einer Müllhalde (engl.: landfill) errichtet wurde. Mit einer täglichen Anfuhr von rund 1500 Tonnen
140
141
Übersetzt: „Luxemburgs süffiges Geheimnis“.
Sogenannte LDC- oder LLDC-Länder (Less oder Least Developed Countries).
86
Abfall, leben die Familien dort ausschließlich vom Recycling und dem Wiederverkauf vom Müll
anderer Leute. Es liegt auf der Hand, dass hier die Menschen nicht das Geld haben sich
Instrumente zu mieten, geschweige denn, sie zu kaufen. Favio CHÁVEZ, Deponiearbeiter und
Musiker, hatte die Idee zu diesem Projekt. Als Direktor des Orchesters unterstützt er Kinder und
Jugendliche dabei, selbst Instrumente aus Recyclingmaterialien herzustellen. So entstehen
Violinen, Cellos, Querflöten und Trompeten aus Holzabfällen, Benzinkanistern, Blechdosen und
Heizungsrohren. Die Schüler treffen sich regelmäßig mit einem Lehrer um ihr Instrument im
Orchester spielen zu lernen und Konzerte zu geben. Eine Schülerin meint, ihr Leben wäre
wertlos ohne die Musik. CHÁVEZ selbst erklärt:
„Menschen realisieren, dass man Müll nicht sorglos wegwerfen soll,
man soll schließlich auch keine Menschen wegwerfen142“.
Hier wird die Kritik auf den Punkt gebracht. Die Gesellschaft schmeißt nicht nur Müll weg, nein,
sie sondert im gleichen Sinn auch die als minderwertig erachteten Bevölkerungsschichten ab.
Dieser „Abfall der Gesellschaft“ lebt auf den Mülldeponien und genau diese Familien überleben
wiederum durch den Verkauf von Müll, ein Teufelskreis. Der kreative Umgang mit Müll bietet
jungen Leuten einen Ausweg aus diesem Kreislauf. So leistet ein geschickter Umgang mit
Abfällen einen Beitrag zur sozialen Integration, zur Weiterbildung und zur Vorbeugung von
Jugendkriminalität.
Beispiel eines Recycling-Sopransaxophons aus dem Projekt Landfill Harmonic,
Favio CHÁVEZ und sein Instrumentenbauer Nicolas GOMEZ, alias COLA
Auch der Schwarze Kontinent hat eine ganze Reihe von zeitgenössischen Künstlern
hervorgebracht die Müll, Abfall und ähnlich minderwertige Stoffe weiterverarbeiten. Afrikanische
Künstler verwerten Müll nicht nur, weil er nichts kostet oder um auf den sozialen Notstand von
Afrika aufmerksam zu machen, sondern um zu demonstrieren, wie Müll ihre Traditionen mit der
modernen Welt verknüpft. Die afrikanische Handwerks- und Kunstszene hat den Müll bereits
längst mit in ihre Ausdrucksform aufgenommen. Müll und Schrott sind zum Kulturattribut
geworden.
Vor allem im Benin scheint das Müllkunstpflaster heiß. Neben Künstlern wie Calixte DAKPOGA
gibt es engagierte Größen wie den Bildhauer, Fotografen und Installationskünstler Romuald
HAZOUMÉ. Sein Steckenpferd sind Benzinkanister. Für den Künstler sind sie Ausdruck für das
Leid in Afrika. In seinen Fotographien verbindet er die Kanister mit der illegalen,
lebensgefährlichen Benzinbeschaffung: ein schäbiges Moped, darauf zwanzig prallgefüllte
Plastikkanister, wie gigantische Bienenstöcke überwuchern sie den Menschen! Jeden Tag fahren
solche rollenden Bomben über die Grenzen. Neben Fotografien ist HAZOUMÉ vor allem berühmt
für seine Müllmasken. Der Künstler verwendet nicht nur bunte Plastiktanks, sondern auch
142
„People realize that we shouldn't throw away trah carelessly, well, we shouldn't thow away people
either“, www.vimeo.com/52711779, eingesehen am 09. Januar 2013.
87
sonstigen Metallschrott, Holz- und Blechreste, Federn, Steine, Schraubverschlüsse, ausgediente
Gummireifen, eben jene mit Dreck behafteten Objekte, die er im Alltag findet. Er „beseelt“ den
Müll mit einem sowohl zeitgenössischen als auch traditionellen Geist. In seinen „masquesbidons“ begegnen sich zwei Kulturen: der rituelle afrikanische Totemismus und die Müllkultur.
Form und Materie, Tradition und Konsum, sowie Wert und Unwert stehen sich direkt gegenüber
und vereinen sich in den Kanistermasken, die denjenigen verstecken, der sie trägt. Entgegen der
allgemeinen Annahme gibt es zudem in Afrika fast keine traditionellen Masken mehr. Das Volk
hat seine eigene Kultur verschachert. Die meisten Masken befinden sich in den Händen von
westlichen Sammlern und Museen, doch die Nachfrage bleibt groß. HAZOUMÉ antwortet darauf
folgenderweise:
„[…] ihr wollt Masken, ihr bekommt Masken. Ich schicke der
westlichen Bevölkerung zurück was ihr gehört, den Müll der
Konsumgesellschaft.“143
Calixte DAKPOGA, „Papa Sodabi“, 2002
Romuald HAZOUMÉ, „Internet“, 1997, „Ibedjl Twins (No2)“, 1992, „Twin airbags“, 2004
143
Frei übersetzt aus dem Französischen: „[…] vous voulez des masques, en voilà. Je renvoie aux
Occidentaux ce qui leur appartient, c'est-à-dire les rebuts de la société de consommation“, aus L'art
africain contemporain, Christophe DOMINO und André MAGNIN, Editions Scala, Paris, 2005, Seite 106.
88
Müll ist somit fester Bestandteil einer Kultur geworden, die sich in einer andauernden
Notsituation, in Armut, unhygienischen Zuständen, Krankheit und Hungersnot wiederfindet. Durch
die Wiederverwertung von Müll scheint der Alltag etwas erträglicher.
Einige Künstler nutzen das Material Müll um auf ein Verschmutzungs- und
Verschwendungsproblem aufmerksam zu machen oder einen sozialen Missstand anzuprangern.
Andere Künstler nehmen sich zur Aufgabe, selbst anzupacken und die Welt zu säubern,
aufzuräumen, zu putzen, der Gesellschaft hinterher zu fegen.
Die luxemburgische Künstlerin Su-Mei TSE lässt in ihrer Video- und Toninstallation „Les
Balayeurs du Désert“144 fünfundzwanzig computergesteuerte Straßenkehrer in neongelben
Warnwesten die unendliche weite Wüste kehren. Unterstrichen wird diese computerinszenierte
digitale Endlosschleife durch echte Fegegeräusche Pariser Müllmänner. Melodisch, rhythmisch
und fast hypnotisierend ruhig streifen sie ihre grünen Plastikbesen über den Sand und halten
immer wieder inne, bevor sie sich erneut ruhig und gelassen an die Fortführung dieser absurden
Tätigkeit setzen. Diese Kehrerei, dieses Hinter-der-Gesellschaft-Herputzen ist gleichzeitig
Herkules- als auch Sisyphusarbeit. Die Sinnlosigkeit der Aktion hält die Männer nicht davon ab
den Sand einfach weiter zu kleinen Häufchen zusammenzukehren.
Su-Mei TSE, „Les Balayeurs du Désert“, 2003
„Jeder Hanswurst könne mit etwas Kapital die Welt mit Produkten
vollstellen, wahres Genie sei aber gefordert, wenn es darum geht, dieses
Zeug wieder aus der Welt zu schaffen.“145
144
Ihr Gesamtprojekt Air Conditioned, der luxemburgische Beitrag zur Biennale in Venedig von 2003,
wurde mit dem Goldenen Löwen für die beste nationale Teilnahme prämiert.
145
Kunstforum, Band 167, Seite 39, Paolo BIANCHI kommentiert den Essay „Gott und Müll“, von Bazon
BROCK, 2003.
89
Thomas HIRSCHHORN macht die Reinigung, die Entsorgung von desolatem Wohlstandsmüll
aus den Augen der Gesellschaft zu seinem Werkthema. So schafft der Schweizer beispielsweise
skulpturale, ungerahmte Assemblagen aus armen Materialien und sucht deren direkte
Konfrontation mit dem Alltag. Hierfür setzt er seine informellen Müllkollagen auf dem Gehweg
aus. Die Bilderreihe „Jemand kümmert sich um meine Arbeit“, dokumentiert, wie die Pariser
Müllabfuhr seine Pappcollagen auseinandernimmt und in den Müllwagen stopft. Er gibt seine
Werke frei, macht sie zu autonomen Objekten, zu Müll, der seinem Schicksal überlassen wird.
Durch die „prekären“ Situationen, in die er sie bringt, antizipiert er ihre Zerstörung und erklärt die
Demontage und die Entsorgung seiner Arbeiten zum Teil des Werkes.
Thomas HIRSCHHORN, Auszug aus der Bilderreihe
„Jemand kümmert sich um meine Arbeit“, 1992, Paris
Was aber ist mit den Menschen, die nicht in der Lage sind, ihren Müll selbst aus ihrem Alltag
wegzuwerfen, Menschen, die in der Konsumgesellschaft leben und eine falsche Wahrnehmung
ihres Mülls haben, ihn weder entsorgen, noch verwerten oder wiederbenutzen, ihn einfach nur
horten?
90
Einige Menschen können sich nicht von Objekten trennen, egal ob Familienschmuck oder
Klopapierrolle, alles wird behalten. Unfähig Sachen wegzuwerfen, können sie meist keinen
objektiven Unterschied zwischen wichtig und unwichtig, notwendig und überflüssig, wertvoll und
wertlos machen. Diese Menschen nennt man im Volksmund Messies. Wegen des Verlustes ihrer
sogenannten Differenzierungskompetenz häufen sie alles, was sie im Alltag benötigt haben, an.
Ursprung und Auslöser dieser Wahrnehmung- und Persönlichkeitsstörung sind noch unklar.
Psychologen bemerken jedoch häufig, dass der maßlose Sammelzwang der Patienten eine
reflexartige Reaktion auf die belastende, unverdaulich schnelllebige und konsumberauschte
moderne Zivilisation ist, in der sie sich als Individuen nicht mehr „normal“ zurecht finden können.
Diese krankhafte Neigung zum Chaos manifestiert sich in vollgestopften, übelriechenden und oft
unpassierbaren Wohnungen. Der Müllberg selbst scheint besser zu leben, als der Mensch, der
darin wohnt, Kleinnager voran!
Stapelweise Pappkartons, Plastikverpackungen, Kleiderbügel, kaputte Haushaltsgeräte
bezeugen diesen Menschen tagtäglich, dass sie existieren. Ihr Müll gedeiht zu einer Art externer
Festplatte. Sie scheinen sich in ihren Müll zu projizieren, sie identifizieren sich durch das, was sie
besitzen, ihr Abfall macht sie aus! Oft hat jemand den Betroffenen in ihrer Vergangenheit alles
genommen oder sie ihrer Identität beraubt. So speichern sie sich eine neue Identität. Das
lückenlose Ansammeln scheint wie eine Entlastung für ihren von Sorgen vollgemüllten Kopf zu
sein. Die Betroffenen bewahren materielle Dinge auf, um sich selbst spüren und (er-)leben zu
können. Wie bei Hänsel und Gretel scheinen sie sich Brotkrumen zu legen um ihr „inneres
Zuhause“ immer wiederfinden zu können, mit dem Problem, dass diese kleinen Krumen mit der
Zeit zu unüberwindbaren Barrieren werden und ihr Zuhause undurchdringlicher und verworrener
wird. Indem sie sich ihren Lebensraum Schritt für Schritt anschaffen, nehmen sie ihn sich
gleichzeitig weg. Diese Menschen bauen Bunker um sich, Schutzmauern aus ihrem eigenen
Dreck, aus süffelnden Pizzaschachteln und modriger Wäsche. Eingemottet wie in einem Kokon
sind sie unfähig dieses Zuhause zu verlassen. Dass sie sich selbst in dem verwahrlosten
Zustand vergiften oder die Mülllast sie unter sich begraben könnte, scheinen die Betroffenen
hilflos in Kauf zu nehmen.
Die Kunstszene ist interessiert am Phänomen Messie. Einige Künstler wie Jonathan MEESE
dokumentieren oder reproduzieren Messiewohnungen mit dem bestimmten Ziel, ihrem Publikum
den Wert der im Überfluss vorhandenen Konsumgüter vor Augen zu führen. Sie schaffen oft
traurige, dunkle, beengende und deprimierende Einblicke in den Alltag eine Bevölkerungsgruppe,
die der modernen Welt nicht gewachsen scheint. Jonathan MEESEs Name scheint hier
Programm. Der deutsche Allround-Künstler greift Ende der 1990er Jahre das Thema in
Installationen wie „Müllräume“ auf. Die auf der Berliner Biennale 2004 präsentierte Foto- und
Collageinstallation „Ahoi der Angst“, bezeichneten die Medien146 als „zugemülltes Jungs-Zimmer“.
Der Müllraum wird hier zum Müll-Albtraum jeder Mutter. In seinen vollgestopften Räumen
präsentiert der Künstler, vom Boden bis zur Decke, minderwertige aber für den einzelnen
bedeutsame Materialien wie Zeitungsseiten, Notizzettel, Fanartikel von Musikgruppen,
Schrottgegenstände, wertlosen Kram und sonstigen Fummel aus zweiter Hand. Er spielt mit
unzähligen optischen Akzenten und tapeziert Fotos und alte Poster von Claudia Schiffer über
Napoleon bis Pippi Langstrumpf an die Wände. Er gestaltet seine Raumvolumen beliebig und
dermaßen maßlos, dass man in diesem ganzen Überfluss keine Bedeutungen mehr herausfiltern
kann. MEESE sagt selbst: „Alles muss mit allem vergleichbar sein“147 und hebt damit die
geltenden Standards für jede Wertungshierarchie auf. Er macht keine Differenzierung mehr
146
Petra AHNE in der Berliner Zeitung vom 29. Januar 2004 im Artikel: „Der Verstörer“.
Kathrin LUZ zitiert den Künstler im Artikel „Jonathan Meese: Ein Messie als Messias“, Theorien des
Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 128.
147
91
zwischen wertvoll und wertlos und errichtet somit ein Denkmal der Hilflosigkeit des Einzelnen im
Konsumdschungel.
Jonathan MEESE, „Ahoi der Angst“, 2004
Cat TUONG NGUYEN ist ein weiterer Künstler, der sich mit diesem Sujet auseinandersetzt. In
Vietnam geboren und in Zürich wohnhaft, dokumentiert der Kunstfotograf 2001 für die Zeitung
„Tages-Anzeiger“ eine Reihe Messiewohnungen148. Das Fotografenauge zeigt die
ungeschminkte, traurige und emotionale Wirklichkeit hinter verschlossenen Türen. In
Fotoarbeiten wie „Messie“ von 2004 thematisiert er das Gegenwartsphänomen, übt Kritik an Zeit
und Konsumgeschehen. Zu Türmen gestapelte Akten wirken wie Zeugen eines ganz
schmerzlichen, persönlichen Zerfallprozesses. In seinen brisanten Fotografien greift er politische
und soziale Ereignisse auf, Ground Zero calling!
Cat TUONG NGUYEN, „Mehr Ordnung, Bitte!“, 2001, Auszug aus der Fotoreihe
148
Theorien des Abfalls, Kunstforum international, Band 167, Seite 58.
92
Nicht nur die Kunstszene ist am Messie-Syndrom interessiert, auch die Unterhaltungsindustrie
erkennt die Brisanz des Themas, denn das Phänomen ist sehr verbreitet. Alleine in Deutschland
leiden geschätzte zwei Millionen Menschen unter dieser Zwangsneurose149. Und das Leid
anderer verkauft sich gut: Ab August 2011 läuft bereits im allwöchentlichen Fernsehprogramm
von RTL2 die Aufräum-Doku-Soap „Das Messie-Team“. Jeden Dienstag um 20.15 Uhr kann man
sich bequem hinsetzten und zusehen, wie Therapeuten und Schädlingsbekämpfer Messies
medienwirksam von ihrem Müll befreien. „it’s fun.“! Für den, der es noch hautnäher braucht, jetzt
auch in HD!
Schlussendlich macht sich auch die Animationsbranche die Problematik von Müll in Massen zu
Nutze. Disney-Pixar thematisiert im kritischen Animationsfilm „WALL·E“ von 2008 das
unnachsichtige Konsumverhalten der Menschen. Dieser Film erzählt von einem kleinen Roboter,
der, siebenhundert Jahren lang alleine auf der Erde, die von Menschen angestauten Müllhaufen
in kleine Blöcke presst und sie zu Mülltürmen aufstapelt. Die Hauptfigur verkörpert eine Art
Helden der Wiedergutmachung. Haben doch die Menschen Roboter gebaut um den Überfluss
an Material zu produzieren, so brauchen sie auch Roboter um den daraus entstandenen Müll
wieder aufzuräumen. Spielerisch bekommen so die Kleinsten ein Gefühl für den weltweiten
Überschuss an Müllballast vermittelt, den eine Gesellschaft unbekümmert von sich abwirft und
die natürliche Landschaft verdrängt.
„WALL·E“, 2008, Andrew STANTON, Pixar Animation Studios & Walt Disney Company, Film stills
149
Genaue Zahlen gibt es keine. Unter Medizinern schätzt man 300.000 Betroffene, es kursieren allerdings
auch Zahlen von bis zu 2 Millionen. In der Septemberausgabe 2002 des Ärzteblattes sprach Werner
GROSS von 1,8 Millionen Menschen die unter dem Syndrom des zwanghaften Hortens leiden, „MessieSyndrom: Löcher in der Seele stopfen“, Seite 419.
93
Wir müssen alle lernen nachhaltiger zu agieren um den kommenden Generationen die nötigen
unbehandelten Rohstoffe zum Wohle der Gesellschaft zu garantieren.
In meinem Schulalltag ist es mir deshalb wichtig, dass meine Schüler in ihrem formbaren Alter
einen bewussten, verantwortungsvollen und gesunden Umgang mit den Resten ihres Alltages
kennenlernen. Dadurch, dass die Schüler ihren eigenen mitgebrachten Abfall in der schulischen
Institution wieder neu erfahren und umgestalten, lernen sie positive und schöpferische
Eigenschaften des Materials kennen. Längerfristig lernen die Schüler durch die handwerkliche
und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Müll, diesen nicht mehr sorglos auf dem
Gehsteig zu entsorgen. Sie sollen erkennen, dass man nicht immer alles unbedacht wegwerfen
muss. Kraft ihrer eigenen Hände lernen sie, aus wenig viel zu machen.
Die Arbeit mit Müll hat somit eine soziale Seite. Die genannten Müll-verwertenden oder thematisierenden Künstler sehen in dem Weggeworfenen die Kraft, den Betrachter für sein
unumsichtiges Konsum- und Wegwerfverhalten zu sensibilisieren. Mit der Wertschätzung für das
Potenzial, das in unserem Abfall steckt, steigt auch der respektvolle Umgang mit demselbigen.
Im Bereich des Designs setzen sich innovative Köpfe daran, der Gesellschaft den Müll erneut
vorzusetzen und ihn wieder aktiv und funktional in unseren Alltag zu integrieren.
94
2.e Praktische Lektüre: Re-Design und Um-Funktion von Müll
Müll hat nicht nur eine Geschichte, einen sentimentalen Wert, eine poetische Note, sondern ganz
neutral: Länge, Breite und Tiefe. Die äußeren Merkmale bieten innovativen Produktdesignern
eine kreative Arbeitsvorlage: Entwerfen versus Wegwerfen. Form, Materialität oder Funktion von
ausgedienten Waren werden genutzt und weitergegeben, transformiert und zu einem neuen
Zweck zurückgeführt.
Peter SLOTERDIJKT interpretiert den Beruf des Designers als den eines:
„Entwicklungshelfers für Güter auf dem Weg zur Besserung“150.
Recycling im Design wertet nicht nur unseren Müll wieder neu auf, sondern schenkt den daraus
entstandenen Gegenständen einen Mehrwert, macht aus ausgedienten Materialien das
Bestmögliche.
Hierbei arbeiten Designer151 gezielt mit Recyclingmaterial um auf eine ökologisch bewusster
werdende Gesellschaft zu reagieren. Sie gestalten nachhaltige Produkte mit dem Gedanken an
kommende Generationen und nutzen bewusst Sekundarrohstoffe, Recyclingmaterialien,
Produktionsabfälle und Überschüsse, ausrangierten Kram oder Müll für ihre Kreationen.
Recycling wird in unserer Gegenwart zu einem allgemeinen kulturellen Phänomen, denn Grün,
Bio, Organic oder Recycling ist „in“. In der Designbranche auf Müll zurückzugreifen hat viele
Beweggründe.
Design verbindet im Wesentlichen Aussehen, Funktion und Konsum. Produktdesigner erschaffen
Gegenstände, die bequem, praktisch, ästhetisch und zeitgemäß sind sowie in die Umwelt ihrer
Abnehmer passen. Im Produktdesign beruht bekanntlich Schönheit auf Zweckmäßigkeit152, was
immer wieder die Frage nach der Vereinbarkeit von Kunst und Nutzen aufwirft. Philosophen wie
Immanuel KANT entzogen dem funktionalen Gegenstand die Bezeichnungen ästhetisch oder
schön153. Erst zwei Jahrhunderte danach, als im Jugendstil und später in Theorien des Bauhaus
Wohnen und Kunst direkt miteinander verknüpft wurden, gewann das Nutzobjekt an ästhetischer
Bedeutung. Funktionale Produktionen können seither nicht nur als wirtschaftlich wertvoll
bezeichnet werden, sondern auch einen künstlerischen Wert erhalten.
Abfall hat den „Weg-zurück“ in sämtliche Designsparten gefunden. Kannte man Müllobjekte sonst
aus Drittwelt-Bazars oder von Flohmärkten, so ist Müll heute in den Designerbutiken angelangt.
Shabby ist chick! Müll ist Trend. Die Kombination Design-Müll ist Alltag. Neben
Konsumgegenständen wie Joghurtbecher und Getränkeflaschen aus recyceltem Plastik oder
Verpackungen aus Altkarton, wird Müll nicht mehr versteckt, sondern absichtlich sichtbar
150
Der deutsche Philosoph, Kulturwissenschaftler und Autor zum Thema Social Design, Kunstforum
international, Band 207.
151
Mitte der 1980er kamen Begriffe wie Ecodesign, Sustainable Design, Green Design oder Green
Architecture auf. Sie bezeichnen Gebäude und Produkte, die in all ihren Phasen, von der Planung bis zur
Entsorgungen, einer umweltfreundlichen Philosophie folgen. Der nachhaltige Leitgedanke von Designer
und Architekten, wie den amerikanischen Architekten William MCDONOUGH und Michael REYNOLDS, ist
die Reduktion der negativen Auswirkungen auf Umwelt und Gesundheit. Die Wiederverwertung von
Materialien ist hierbei ein wichtiger Grundgedanke.
152
Bereits Ende des achtzehnten Jahrhunderts lautete die Maxime der Glaubensgemeinschaft der Shaker:
„Schönheit beruht auf Zweckmäßigkeit“.
153
Immanuel KANT meint hierzu: „Schönheit ist die Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern
sie ohne Vorstellung eines Zwecks an ihm wahrgenommen wird.“, aus Kritik der Urteilskraft, 1790, erster
Teil Ästhetik, dritter Moment der Geschmacksurteils nach der Relation der Zwecke, die in ihnen in Betracht
gezogen sind, §10-§17, Seite 70-93.
95
gemacht. So erhalten Recycling-Produkte nicht nur einen ökologischen Aspekt, sondern werden
zudem zum Unikat. Man kennt Möbel aus ausgedienten Telefonbüchern oder Pappkisten154,
Körbe und Rangierkästen aus gewobenem Tetrapak (Kitsch Kitchen©155), Taschen und
Geldbörsen aus Lastwagenplanen (Freitag©156) usw. Auch große Firmen springen gerne
werbewirksam und image-pushend auf diesen Hype auf. Nike entwickelte beispielsweise 2008, in
Zusammenarbeit mit dem umweltengagierten Basketballteam The Phoenix Suns den aus
Recyclingmaterial bestehenden Schuh „Trash Talk“: ausgewählte Abfallmaterialien in
klassischem Nike-Design.
Die Schreibwarenmarke Pilot stellt in ihrer umweltfreundlichen Produktreihe BeGreen
Kugelschreiber aus Plastikflaschen her. Eigentlich nichts Neues, doch der Hersteller ist zudem
gezielt darauf bedacht, sein Vorzeigeprodukt B2P Bottle-to-Pen157 optisch an eine
Plastikwasserflasche erinnern zu lassen. Die Marke demonstriert bewusst, dass ihr Produkt
recycelt wurde, denn ihr Entstehungsprozess wird dem Käufer formell vor Augen geführt.
FREITAG, Modell „Nightclub“, seit 1993
NIKE, „Trash Talk“, 2008 und PILOT, „B2P“, 2008
Es gibt hunderttausende Beispiele von Recycling im Design. Hier nur einige Designer, die auf die
stofflichen Qualitäten von manufakturiertem Müll eingehen um daraus Lampen und Schirme zu
gestalten:
Die portugiesischen Designer Cláudio CARDOSO und Telma VERĺSSIMO (Studio Veríssimo),
sowie der britische Designer Stuart HAYGARTH produzieren elegante Lüster aus PlastikKaffeerührern, Brillengestellen oder anderen Plastikabfällen. Mit einem Augenzwinkern verwertet
der Ire Ryan McELHINNEY Billigspielzeug und spielt mit dem Kontrast zwischen Ramsch und
barocker Eleganz, Toystory ahoi! Müll kann unter bestimmten Voraussetzungen ästhetisch und
154
Der französische Dekorateur Philippe BLOTAS fragt sich „Was machen mit Verpackungspappe, wenn
nichts mehr zum Verpacken da ist?“ und stellt seit 1988 Möbel, aber auch Schuhe, Taschen, Spielzeug
oder Dekoelemente aus Karton her. „Du côté de chez vous“, Editions Hoëbeke, 2003, Paris, Seite 84.
155
www.kitschkitchen.nl, Rozengracht 8-12 1016 NB Amsterdam.
156
Seit 1993 entwickeln Daniel und Markus FREITAG unter dem Label FREITAG in Zürich Taschen und
Börsen aus Lkw-Planen, Sicherheitsgurten und Fahrrad-Gummischläuchen.
157
Pilot engagiert sich in ihrer Produktreihe BeGreen – positive with the Planet die ISO 140001 und 14021
Standards für umweltfreundliche Produkte einzuhalten. Der B2P Bottle-to-Pen ist ein nachfüllbarer
Geltintenstift aus 89% nach Gebrauch recycelten Plastikflaschen. Auch die Verpackung ist aus
Recyclingmaterial. www.pilotbegreen.us, 11. Februar 2013.
96
dekorativ sein und braucht sich als wertvoller Rohstoff nicht mehr hinter Chrom, Velours oder
Edelhölzern zu verstecken.
STUDIO VERISSIMO, „Spoon“, 2004
Stuart HAYGARTH, „Tide“, 2004
Ryan McELHINNEY, „Gold Toy Lamp“, 2008 und Detail
97
Man spricht im Kontext des Designs nicht nur von Recycling-Design, sondern auch von ReDesign, bei dem ein unbenutztes Objekt durch Transformation eine neue Identität erhält.
Wohlstandsmüll und Produktionsüberreste werden wieder zu brauchbaren Alltagsgegenständen
und Recycling braucht sich nicht mehr zu verstecken. Es wird dem Konsumenten sichtbar vor
Augen geführt.
In einer globalisierten Konsumwelt bietet das Recycling-Design dem selbstbewussten Käufer die
Genugtuung ein Einzelstück, ein Unikat zu besitzen und sich von der Masse abzuheben.
Dadurch, dass man auf solchen re-designten Produkten oft Details der früheren Funktion und
Beschaffenheit wie Materialzusammensetzung, Konsistenz, Farbe, Beschriftung und Datierung
oder Produktfotos erkennen kann, bekommen sie eine einzigartige Note. Der Verbraucher
erkennt gleich, hier handelt es sich um ein Recyclingprodukt, eine Erkenntnis mit Auswirkung auf
sein Kaufverhalten.
Natürlich profitiert die Marktwirtschaft vom schlechten Gewissen der Käufer und wirbt mit
Botschaften wie: Benutzt Recyclingpapier, meidet Silikone in Shampoos, kauft keine tropischen
Hölzer,… Anstatt den tropischen Baumbestand zu lichten, recyceln Möbelhersteller Teak aus
alten Brücken, abgewrackten Schiffen oder Häusern. Optisch sind diese Möbelstücke einzigartig,
zudem „umweltfreundlich“, rodet man hierfür ja nicht extra jahrhundertealte Teakbäume! Die
Rückseite der Medaille zeigt aber, dass die hochwertigen Hölzer an Ort und Stelle durch
minderwertigeres Material ersetzt werden. Recycling steht nicht immer auf der guten Seite, das
Siegel verkauft sich allerdings blendend.
Müll hat für Künstler, Designer, aber auch für uns alle einen sehr wertvollen Vorteil: Er ist günstig.
Kein finanzieller Engpass macht einem einen Strich durch die Rechnung. Neuer Wert aus altem
Unwert lohnt sich aus ökonomischer Sicht. Dies gilt sowohl für große Designer als auch für
Heimtüftler, die für lau eine neue Einrichtung benötigen.
Ein Beispiel aus der Rubrik Not macht erfinderisch bietet uns der Russe Vladimir ARKHIPOV.
Selbst kein Designer, sammelt der zeitgenössische Künstler in dem Buch „Home-Made“158 über
hundert Kreationen, die zu Zeiten der schlechten Konjunktur, während des Zusammenbruchs des
Sowjetregimes, von Hausfrauen und gewöhnlichen Heimtüftlern improvisiert wurden. So
dokumentiert er, wie er sie nennt: „zeitgenössische russische Volksartefakte“ wie
Schneeschaufeln aus Straßenschildern oder Radioantennen aus Gabeln.
Vladimir ARKHIPOV, Beispiele aus dem Buch „Home-Made“, 2006,
eine Schneeschaufel von Vladimir ANTIPOV, 1998, und eine Fernsehantenne, unbekannt
158
Home-Made Contemporary Russian „Folk Artifacts“, Fuel, London, 2006.
98
Do-it-yourself Trash-Design, auch IKEA zeigt uns wie das geht!
Hier findet man Handbücher159 zur Individualisierung der genormten Innenausstattung durch
Recycling und Umgestaltung. Die Pariserin Sophie MUTTERER demonstriert, wie man zu Hause
aus alten Lenor-Plastikbehältern einzigartige Lampen, aus Weinkisten und Zeitungen bunte
Regale oder aus Flaschenstöpseln Uhren herstellen kann. Alles nach Anleitung! Das Recyceln
preiswerter Massenmöbel ist bereits Kult und hat einen Namen: IKEA-Hacking.
Sophie MUTTERER, „Lumière Tamisée“, 2007
Ein Aspekt, der mich bei der Arbeit mit Müll im Bereich des Design besonders interessiert, ist die
a priori Einplanung einer Wiederverwertungsmöglichkeit. Einige Designer denken nicht nur
darüber nach, wie sie bereits entstandenen Müll wiederverwerten können, sondern überlegen,
wie sie ihre Produkte so gestalten, dass sie nach ihrer Benutzung so unkompliziert wie möglich
vom Endverbraucher zu einem anderen Zweck zurückgeführt werden können.
Bei meiner Recherche bin ich auf eine in meinen Augen geniale Idee gestoßen. 1963, als noch
kein Mensch von der Notwendigkeit von Recycling gesprochen hat, fiel Alfred HEINEKEN
während einer Antillen-Reise auf, dass hunderte seiner grünen Heineken Bierflaschen die
Strände verschmutzten. Kein gutes Image für seine Marke! Es war jedoch viel zu aufwändig und
teuer die Glasflaschen einzusammeln, nach Amsterdam zurückzuschiffen und dort wieder neu zu
befüllen. HEINEKEN bemerkte außerdem, dass auf der Insel Baumaterial knapp war. So zählte
er zwei und zwei zusammen und entwickelte gemeinsam mit dem niederländischen Architekten
John HABRAKEN die Heineken WOBO (world bottle) Glasflaschen. Der große Bierproduzent
wurde sich der Bauqualität seiner Verpackungen bewusst und richtete sie gezielt dafür aus. Nach
ihrer primären Nutzung konnte man die blockförmigen Bierflaschen als Glasbausteine
weiterbenutzen. Lego lässt grüßen! Leider ist das Projekt nie in bedeutender Auflage produziert
worden, der Markt war wohl derzeit nicht reif für diese Art von „Instant-Recycling“!
John HABRAKEN, „WOBO“ für HEINEKEN , 1963
159
Wie beispielsweise: Sophie MUTTERER, Idées de récup’, Fleurus, Paris, 2007.
99
Ich stelle mir allerdings die Frage, weshalb heutzutage nicht mehr Firmen ihre Verpackungen
cleverer nutzen und sie beispielsweise mit userfreundlichen Recycling- oder simplen Basteltipps
versehen. Diese Art, den Käufern eine kreative Recyclingmöglichkeit anzubieten, würde nicht nur
einen Teil unseres Mülls einsparen, sondern zudem ein Firmenimage verbessern, die autonome
Werbekraft des Produkts steigern und könnte sozialpädagogisch relevant eingesetzt werden.
Ein Beispiel zur gescheiten Wiederbenutzung von Verpackungen ist mein persönliches Projekt
„Re-Packaging“. Hierbei habe ich ganz einfach florale Bildelemente auf eine Amazon-Pappkiste
gezeichnet und sie mit einer Scherenlinie umrahmt. Mit einer dazu gelieferten Bastelanleitung
und (bei Bedarf und Bestellung) einem Satz Perlen, Nähzeug und Verschlüssen könnte so
der/die Nutzer/in seinen/ihren modischen Schmuck selbst herstellen. Für Kinder könnte man die
Gestaltung von Spielzeugautos oder Püppchen vorsehen, für Männer Flugzeugmodelle mit
solarbetriebenen Miniantriebsmotoren oder unterhaltsame Funkuhren, für Weihnachten etwas
Christbaumschmuck, für Valentinstag romantische Bilderrahmen, pop-up Grußkarten für
Geburtstage,... Auch wenn der Verbraucher nicht selbst von diesem Angebot profitiert, so
bekommt er zumindest den Eindruck vermittelt, die Firma kümmere sich kreativ um ihren Müll.
Selbst Hand an seinen Müll legen, also Do-it-yourself-Recycling, ist im Möbeldesign bereits
angesagt. Der britische Produktdesigner Jasper MORRISON wurde von der Möbelmanufaktur
Established & Sons beauftragt einen Nachttisch zu entwerfen. Nach einer Zeit des Hin und Her
stellte er fest, dass eine einfache Weinkiste im Grunde perfekt für diesen Zweck geeignet ist.
Daraufhin baute er für die Firma eine verbesserte, stabilere und edlere Version einer Weinkiste.
Die Idee hatte zur Folge, dass die Nachfrage und folglich auch die Preise für Rotwein in
Holzkisten anstiegen, vor allem jene mit Brandbeschriftungen renommierter Weinhäuser und
guter Jahrgänge. So bekam der Weinkasten an sich einen neuen materiellen Wert. Recycling
kann somit in vielerlei Hinsicht Impact auf unser Kaufverhalten haben.
Jasper MORRISON, „The Crate Series“, 2007
100
Einige Designer nutzen den Müll aus ökonomischem Interesse, andere aus einer ökologischen
Ideologie heraus.
Sozialdemokratisch motiviert hinterfragt Tord BOONTJE das Edeldesign und macht Design
öffentlich zugänglich. Entgegen der elitären Kundschaft der Designbutiken schafft der
Niederländer neues Design für die weniger Betuchten, für solche Menschen, die sich eben nur
improvisierte Möbel leisten können. Wer erinnert sich nicht an die Bananenkiste aus der
Studentenbude? So erarbeitet BOONTJE kostenfreie Herstellungsanleitungen und macht sie
über das Internet jedem zugänglich. Der Designer demonstriert mit der Möbelserie „Rough and
Ready“160, wie man Restmaterialien in funktionale Möbelstücke umgestaltet. Die Resultate wirken
durch ihre bewusst schlechte Qualität improvisiert, einzigartig und selbstgemacht, eben
Recyclingmöbel mit Baustellenflair.
STUDIO TORD BOONTJE, „Rough and Ready Collection“, „Rough and Ready Chair“, 1998
Von Recycling im Design oder Re-Design sprechen wir nicht nur, wenn Abfälle wiederverwertet
werden, sondern auch wenn die Ästhetik, die Formen- und Farbensprache einer bestimmten
Epoche recycelt wird. Ganz bewusst arbeiten einige Designer mit der Wirkung von second hand,
used look oder vintage style, dem bereits (Ab-) Getragenen und Benutzten. Der Charme von
alten Dingen geht nie verloren, denn der Flair vergangener Popkulturen findet immer seine
Liebhaber.
Rebellisch und nostalgisch geht der niederländische Designer Jürgen BEY an die
Möbelproblematik im Alltag heran. Er verbindet in seinen Arbeiten alte Gegenstände mit neuer
Technologie. 1999 erarbeitete er für die Firma Doog die Serie Kokon. Sie besteht aus alten,
bereits ausrangierten Tischen und Stühlen. Er setzt existierende Möbel neu zusammen und
umschließt diese Re-Konstruktion mit einer Plastikhülle. Luft raus, so vakuumisiert er alte Möbel
in einer Art Zeitkapsel. Er schützt sie und bewahrt vom Grundmaterial lediglich die Form. Es
entstehen formal nostalgische und zugleich materiell recycelte „sous-vide“ Möbelstücke.
Jürgen BEY, „Kokon Family Chair“, für DOOG, 1997
160
Studio Tord Boontje, 1998, weitere Beispiele auf www.tordboontje.com.
101
Andere Produktgestalter nutzen das Re-Design für ihre experimentellen Projekte. Auf der Suche
nach dem perfekten Stuhl und somit der idealsten Fusion von Funktion, Ästhetik und Konzept
schafft Martino GAMPER „Hundert Stühle in hundert Tagen“161. Der Südtiroler Designer fügt in
einem sehr spontanen Prozess alte Holz-, Metall-, Textil- und Plastikmöbel, sogar eine Gitarre,
zu neuen Einsitzern zusammen.
Martino GAMPER, „Hundert Stühle in hundert Tagen“, 2006-07, „Two-some“, 14.Juli 2006
Müll bietet kreativen Köpfen einfach unbeschwerte Narrenfreiheit und einen unerschöpflichen
Materialpool. Motivierte Müllbastler sprießen wie Pilze aus dem Boden.162
Auch das alljährliche Recycling-Kunst Treffen „Festival Internacional de Reciclatge Artístic“ in
Barcelona zieht immer mehr Müllbegeisterte an. Während diesem so genannten Drap Art
Festival163 zeigen bekannte und unbekannte Künstler was sie unter Müll- oder Trash-Kunst
verstehen. In Aktionen, Präsentationen, Recyclingwerkstätten und Marktverkäufen bieten sowohl
Arbeitslose als auch Designer Nützliches und Unnützes aus Abfallmaterialien an: Totenköpfe
aus Trinkwasserflaschen, Kleider aus Kronkorken oder Schmuck aus Computertastaturen.
Atelier auf der Drap Art 13, Beitrag von Franco de Leon REYES, ohne Titel, 2013
161
„100 Chairs in 100 Days“, vom 2. Dezember 2006 bis zum 25. Februar 2007.
Auf unzähligen Blogs oder auf Internethomepages wie de.dawanda.com, idee-creative.fr,
162
bastelideen.info/html/recyclingbasteln_b.html, www.recyclingbasteln.de oder DIY clothing, stuff, jewelery
etc. auf pinerest.com begegnet man Beispielen, wie Müll kreativ, dekorativ und funktional in der Mode und
im Haus wiederverwertet werden kann, oft sogar mit Anleitung zum Selbermachen.
163
Drap Art ist eine „nonprofit“ Organisation, welche seit 1995 regelmäßig Festivals, Ausstellungen und
Workshops um das Thema Recycling veranstaltet. „Drap“ stammt vom katalanischen Wort für
Lumpensammler „drapaire“ ab. Vorreiter dieses Festivals war das seit 1996 organisierte Recycling
Marathon of Barcelona. In Barcelona wird das Müllproblem kreativ in die Hand genommen. Öffentliche
Institutionen wie das regionale Umweltministerium, das örtliche Kulturinstitut oder aber die katalanische
Abfall-Agentur unterstützen diese ausgefallene Müllverwertungsmaßnahme.
162
102
Müll kann auch als Schmuckstück eingesetzt werden. Bernhard SCHOBINGER entwickelt
Schmuckkollektionen aus Fundstücken wie Konservendosen, Glasscherben, Eisensägen oder
veraltetem Kinderspielzeug und kombiniert sie mit Edelmetallen und Halbedelsteinen. In
Einzelstücken wie einer Brosche aus einer alten Lampenfassung, einem schäbigen Textilkissen,
einer Tahitiperle und Goldringen werden wertvolle und wertlose Materialien spannend
kombiniert. Der Schweizer Goldschmied weist humorvoll und gekonnt auf die eigentliche
Schönheit, Eleganz, ja auf den dekorativen Wert des Materials Müll hin.
Bernhard SCHOBINGER, „Lämpchen auf Kissen“, 2009 und ohne Titel, 2008
Recycling hat mittlerweile auch seinen Weg auf die Catwalks der Welt gefunden. Im Volksmund
heißt es: Kleider machen Leute! Nun heißt es: Leute machen Müll und aus Müll machen Leute
wieder Kleider! So schließt sich der Kreis, der Zyklus der Wiederverwendung. Nicht nur organic
cotton ist weltweit bereits auf dem Siegesmarsch, Mode wird bewusster und Recycling gehört
dazu.
Recycling im Design beruht auf unterschiedlichen Schaffensmotivationen. Zum einen recyceln
Designer gezielt aus ökologischer Überzeugung. Sie suchen Formen und Wege, ausgedientes
Material wieder ansehenswert und funktional in den Nutzungskreislauf zurückzuführen und
bestenfalls Produkte zu erzeugen, die selbst wiederum leicht recyclebar sind.
Andere sehen im Müll die Möglichkeit, die elitäre Modewelt zu schockieren, zu provozieren,
Kontraste und Gegensätze gegeneinander auszuspielen um so interessante (Einzel-)Stücke zu
kreieren. Müll versieht Luxusdesign mit einem Hauch Dekadenz und Perversion, radikalisiert
absichtlich die Kluft zwischen wertlos und wertvoll.
Die Damenhandtaschen von Sara VIDAS164 oder Marc JACOBS bieten uns hier passende
Beispiele. Stilvoll, klar, chic und wiederverwertet, überzeugt VIDAS‘ schlichtweiße Tasche im
Plastikeinkaufstüten-Look. Die Tasche ist hochwertig verarbeitet und mit Futterstoff aus
Lammnappa sowie einem goldenen Trageriemen ausgerüstet.
JACOBS geht mit seiner Idee der Edel-Plastiktüte noch einen Schritt weiter und kreierte für Louis
Vuitton eine 1500 Euro teure Tasche aus Mülltüten, auf die das Logo der Luxusmarke
angebracht wurde. Er preist zudem die funktionalen Vorteile der wasserdichten Regentasche mit
Zugbandverschluss, erhältlich in Braun und modischem Grün. Mit einem clin d’oeil macht er
zugleich die Modewelt lächerlich. Er spielt geschickt mit den konventionellen Vorurteilen und
Wertvorstellungen der Kultmarke, die eine Vielzahl an Kunden anzieht, die alles kaufen würden,
worauf das Vuitton-Logo angebracht ist. Luxus versus Müll, Glamour versus Abfall,
Konsumgesellschaft versus Wegwerfgesellschaft, die Perversion des Schick. JACOBS treibt den
Used-Look auf die Spitze, will gezielt provozieren und polarisieren.
164
Sara VIDAS gewann für ihre Kreation „Plastik Bag“ die Silbermedaille des Designpreises der Züricher
Designmesse Blickfang 2012.
103
Sara VIDAS, „Plastik Bag“, 2010
Marc JACOBS, „Raindrop Besace“, für Louis Vuitton, Frühjahr/Sommer, 2010
Müll meets haute-couture!
Auch der avantgardistische Modedesigner Martin MARGIELA165 dekonstruiert und rekonstruiert,
spielt mit unterschiedlichen Materialzusammensetzungen. So verwertet der Belgier
Damenhandschuhe zu Blusen, VHS Magnetbänder werden zu Umhängen gestrickt,
Papierverpackungen zu Westen, Jeansfetzen zu Ballkleidern, Socken zu Pullovern.
MAISON MARGIELA, „Shades Of Denim“, 2009
Auf den Internetseiten der Welt könnte man sich tagelang satt an Trashmode166 und Abfalldesign
sehen. Je mehr Müll produziert wird, desto mehr läuft kreatives Recycling auf Hochtouren. Auch
wenn man meint, man hätte schon alles gesehen, so kommen die Leute doch immer auf die
verrücktesten und wildesten, oft aber auch einfachsten und genialsten Wiederverwertungs165
1988 gründet der Designer die Modemarke Maison Martin Margiela. Mit seinen intellektuellen,
avantgardistischen Modekreationen, mal schlicht und minimalistisch, mal überladen und wild kombiniert,
wird er für seine Designs wie einem Haarperückenkleid international gefeiert.
166
Der finnische Blog outsapop.blogspot.com gibt Mülldesign einen Namen und spricht von Müll in
Verbindung mit Mode von Trashion.
104
Ideen. In den Seiten des www findet man immer wieder neue Hingucker. Ein paar besonders
interessante Beispiele seien hier aufgelistet:
• Auf www.platinumdirt.com zeigt Dustin PAGE seine VIN Jackets, Lederjacken aus den
Lederinnenausstattungen alter Luxuslimousinen.
• Trashy Mülltütenmode gibt es vom amerikanischen Fashion-Designer Jeremy SCOTT
auf www.jeremyscott.com.
• Traumhafte Plastic Bag
www.garbagegoneglam.com.
Dresses
von
Kristen
ALYCE
sieht
man
auf
Dustin PAGE, „VIN Jacket Cadillac“, 2007-2013
Jeremy SCOTT, „Plastic Trash Bag“, Frühjahr/Sommer, 2011
Kristen ALYCE, „Plastic Bag Dress“, 2008
• Für eine Werbekampagne entwarfen Michael MICHALSKY und Peggy SCHULLER die
Kollektion DHL Haute Couture, bestehend aus Verpackungsmaterialien dieses
Logistikunternehmens, gesehen auf www.artdecodesign,typepad.com.
Michael MICHALSKY und Peggy SCHULLER, „DHL Haute Couture“, DHL Kalender, Juli 2010
105
• Gary HARVEY schneidert in hochwertiger Feinarbeit weit ausgestellte, barock
anmutende Damenroben aus alten Jeans, Zeitungen, Dosen, Flaschenverschlüssen,
Plastiktüten oder Tetrapak, zu sehen auf www.garyharveycreative.com.
Gary HARVEY, „Denim Dress“, 2007 und „Technicolor Dream Dress“, 2004
• Und immer am Ende der Show: Sogar Hochzeitskleider können aus minderwertigem
und schäbigem Material so drapiert werden, dass sie „trautauglich“ sind. Jedes Jahr kürt
die Internetplattform www.cheap-chic-weddings.com das schönste Hochzeitskleid aus
Toilettenpapier. Die Gewinnerin 2013 ist Mimoza HASKA mit ihrem Kleid „Secret
Garden“.
Mimoza HASKA, „Secret Garden“, 2013
Micaela Schaefer bei der Filmpremiere von Men in Black III, Kleid aus VHS-Tapes, Berlin, 2012
167
Müll kann sehr verschieden interpretiert werden und unendlich facettenreich sein, manchmal
edel und verspielt, manchmal sooo trashy und sexy!
167
Als die deutsche C-Prominente Micaela Schaefer 2012 in einem Hauch von Nichts und ein paar
sorgsam angeordneten VHS-Bändern auf dem roten Teppich auftrat, sorgte sie international für Furore und
fand prompt berühmtere Nachahmer. Wenn weniger, mehr ist, dann vermag auch unser Müll das breite
Publikum zu überzeugen!
106
Auch ich habe mich an „Müllmode“ herangewagt:
Für dieses Projekt habe ich zahlreiche Stoffetiketten aus Kleidern abgeschnitten und
zusammengenäht. Wen kratzen solche Etiketten nicht manchmal an Nacken oder am Gesäß? Ab
damit! Sieht man sich diese kleinen Textilzettelchen allerdings etwas genauer an, so erkennt man
die Qualität der feinen Webtechnik, die kunstvolle Erarbeitung der winzigen Buchstaben und
Motive. So füllte sich meine Etikettendose mit der Zeit und ich nähte mir ein multifunktionales
Patchwork daraus. Vielseitig anwendbar, kann man es beispielsweise zu einem Korsett
zusammenschnüren, es lässt sich außerdem zu einer Handtasche falten oder zum Buchdeckel
binden. Mein Interesse galt bei diesem Projekt nicht nur der Aufbewahrung von reizvollen
Textilabfallelementen, sondern auch ihrer Umfunktionierung in polyvalent nutzbare Objekte. Recycling interpretierte ich somit in seiner Vielzahl an möglichen Anwendungszyklen.
Eine Ikone des Modedesigns ist sicherlich die Pariserin Sonia RYKIEL, die „Königin des Stricks“.
In ihrem unverwechselbaren tricot à mailles-Design wechseln sich Farbreihen mit schwarzen
Ringelstreifen ab. Dieses für ihr Label so charakteristische Streifenmuster habe ich in meinem
Projekt „Sonia Recykiel“ aufgegriffen. Inspiriert vom Design der 2010er Strickkollektion in
Kooperation mit der Billigmodenkette H&M, habe ich sowohl Schnitte wie Muster und Farben
recycelt, also re-interpretiert. Ich habe die Markenidentität zitiert und bewusst Plastiktüten
günstiger Bekleidungsmarken wie H&M, aber auch S.Oliver, Mexx, C&A, Eros usw. verwendet.
Nicht nur Tüten von Bekleidungsgeschäften, auch banale Mülltüten wurden eingearbeitet. Sogar
die Aldi-Metzgerei Renmans findet hier ihren Platz als neugestaltete „Frischfleischverpackung“.
Die Arbeit wirkt durch den Kontrast zwischen angedeuteter elitärer Luxusmarke und reeller
mainstream Massenware.
107
Durch die Vorreiterschaft der Kunst ist der Müll im Design und somit auch in unserem Alltag
angelangt. Müll in der Kunst scheint trotz allem reserviert für einige wenige Kunstliebhaber, die
sich gezielt in eine Galerie oder ein Museum begeben. Durch den Design erreicht Müll in neuer
Form und Funktion auch die breite Konsumgesellschaft und macht ihn für sie zugänglicher.
Recycling im Design öffnet dem Müll neue aktive Lebenszyklen. Design betreibt eine Form des
up-cycling168, eine aktive Wiederverwertung von minderwertigem Material. Reste werden genutzt
und zu neuen Funktionsgegenständen umgestaltet. Design transformiert den Müll aus einem
wertlosen in einen wertvoll(er)en Zustand und gibt uns vom Müll das Beste wieder zurück.
168
Up-cycling nennt man die Form von Recycling, die schäbiges Material in seiner Produktions- und
Verwertungskette aufwertet. Ihm entgegen steht das sogenannte down-cycling, wobei hochwertige
Rohstoffe nach ihrer Wiederverwertung zu minderwertigeren Stoffen verarbeitet werden, wie
beispielsweise weißes Papier zu Pappkarton wird.
108
Schlusswort:
Im Alltag irrt unser Müll zwischen wertlos und wertvoll und wirkt durch sein fehlerhaftes Dasein
irgendwie menschlich. Alles, was von der Konsumgesellschaft abfällt, erzählt von ihren
kulturellen Errungenschaften. Unser Weggeworfenes verbindet die Vergangenheit, die
Gegenwart und die Zukunft: Müll war funktionales Objekt, ist nutzloses Etwas, wird
Umweltsünde, Energie, Recyclingmaterial oder Kunstgegenstand. Müll ist facettenreich und
unausschöpfbar, simpel und komplex, unendlich interpretierbar, so wertlos und zugleich so
wertvoll, reich an Informationen, tolerant, lässt sich alles gefallen und scheint alles zu können, zu
sein und zu werden. Müll ist ein Universalgenie.
Warum hat Müll bloß noch immer diesen schlechten Ruf?
Die Kunstszene macht sich dieses vielseitige Potenzial zunutze. Sie lässt uns diese Genialität
des Mülls erst richtig bewusst werden und wird somit zu dessen Sprachrohr. Die Kunst bietet
dem Müll einen nahrhaften Boden und schenkt diesem verlorenen Material ein neues Leben. Sie
gibt dem Material eine gewisse Ordnung und gesteht ihm einen ehrenwerten Platz in unserer
Gesellschaft zu.
Bei der künstlerischen Wiederverwertung wertet die Kunst nicht nur den Müll der Welt auf. Nein,
der Müll wertet auch die Kunst der Welt auf! Er vermenschlicht die Kunst und rückt sie näher an
das reale, alltägliche Leben. Sowie Recycling einen Rohstoff in einem aktiven Zyklus der
Wiederverwertung behält, so scheint die künstlerische Aneignung von Müll dem kreativen
Stillstand eines Kunstwerkes entgegen zu wirken.
Künstler lassen sich auf das Material Müll in diesen diversen Eigenschaften, den
unterschiedlichen Formen und Zuständen ein. Ob nun „arme“ oder „reiche“ Abfallmaterialien, ob
Staubfussel oder Schrottauto, alle diese Materialien werden in der Kunstwelt wiederverwertet.
Müll wird in Kunstwerken inszeniert, damit er von sich erzählt. Selbstredend werden Abfälle neu
arrangiert oder in unterschiedliche Formen gebracht und sie tragen einen großen Teil der
künstlerischen Qualität von Beginn an in sich.
Künstler wie Tony CRAGG oder Karsten BOTT bedienen sich weggeworfener Objekte als
Ganzes sowie in ihrer unendlichen Vielzahl und präsentieren sie uns in aufgeräumter Form neu.
Kurt SCHWITTERS entwirft Müllcollagen und verwertet Müll in Fragmenten. Wilhelm MUNDT
versteckt den minderwertigen Stoff und gibt ihn erst auf den zweiten Blick preis. Gerd ROHLING,
Catherine BERTOLA oder Diet WIEGMAN ästhetisieren das Schäbige und rücken es ins richtige
Licht. Christian BOLTANSKI und Georges ADÉAGBO dokumentieren mit Müll einen Teil unserer
Geschichte. Eine wachsende Anzahl von Re-Designern nutzt den Müll in seiner Form und
Materialität und führt ihn uns in neuer Funktion vor. Andere, wie Daniel SPOERRI oder Dieter
ROTH schrecken nicht einmal vor gammeligen Essensresten zurück.
Die scheinbar perfekte Kunstwelt hat sich mit schäbigen Materialien verbündet. Nun finden wir
die künstlerische Vollendung in der Un-Perfektion. Im Makel, im Mangel, in der Sünde, ja im Ekel,
da liegt der Reiz, der die Kunst erst richtig spannend zu machen scheint. Die provokative
Unperfektion von Müll wirkt wie ein Anziehungspunkt für die sonst so perfekte, saubere
Kunstwelt. Paradoxe werden gezielt gegeneinander ausgespielt und verschmelzen zu einer
Einheit.
109
Egal wie man die Müll-Kunst Problematik angeht, eines steht fest: Weggeworfenes wird durch die
Brille der Kunst nicht nur ver- sondern aufgewertet. Bedeutungslosem wird Bedeutung
zugestanden, Unsichtbares wird wahrgenommen, Hässliches wird schön, Beliebiges wird
interessant, Wertloses wird wertvoll. Wie bei einem Magneten ziehen sich gegensätzliche Pole
an. Trotz ihrer Differenzen sind Müll und Kunst vereinbar. Beide lehren uns etwas über uns
selbst, verraten, wer wir sind, halten uns einen Spiegel vor.
Mit meinen persönlichen Projekten habe ich versucht unter verschiedenen Aspekten an die MüllThematik heranzugehen und theoretisierte Ideen praktisch zu erfassen, denn in der bildenden
Kunst steht das Wort in Verbindung mit der Tat. Auch in Zukunft werde ich desolate Dinge und
Materialien in meinen Arbeitsprozess mit aufnehmen und alten Gegenständen eine neue Form
geben. Die Wiederverwertung von Müll wird somit immer ein Thema in meinem Leben bleiben.
Auch in meiner schulischen Praxis wird mir der Müll stets ein treuer und dankbarer Begleiter sein
und immer wieder die Arbeiten meiner Schüler bereichern.
Nun tritt allerdings zuerst eine großangelegte Müllentsorgungsphase ein. Vieles Gesammelte und
Aufbewahrte, tütenweise Fundstücke, Verpackungsmaterialien und sonstiger Kleinkram, den ich
in den letzten Jahren angesammelt habe, kann nun weg und seinen eigenen Weg im
Recyclingstrudel finden! Wenn sich ein Zyklus schließt, dann öffnet sich wieder ein neuer.
Ich freue mich jedenfalls auf eine materielle Erleichterung, auf mehr Platz... Wem mache ich hier
etwas vor, ich trenne mich nicht gerne. Less is more, but mess is better! Mein Speicher wird sich
schnell wieder mit neuen alten Dingen füllen - ob nun für mich, für meine Kunst oder für meinen
Unterricht!
Ich verabschiede Sie, liebe/r Leser/in, nun gerne mit ein wenig Kopfkino:
Lehnen Sie sich zurück, schließen Sie ihre Augen, denken Sie an ihr Lieblingslied, an eine
Symphonie, die Ihnen die Tränen in die Augen treibt. Nun stellen Sie sich eine einzelne,
raschelnde, weiße Plastiktüte vor, wie sie frei in der Luft herumwirbelt, vom Wind getragen, ihren
Hochzeitswalzer tanzend, ihre Kreise ziehend, wie sie wunderbare Bewegungen am Himmel
zeichnet, wie sie über leere Gassen zieht, über feuchtes Gras gleitet, über Dächer
hinweggerissen wird, planlos herumirrt, sich in einem Rosenstrauch verfängt, von einem
Windstoß befreit wird und aufgebauscht erneut in den Himmel hinaustreibt. Wie sie sich aufbläht
und wieder in sich zusammensackt, wie sie aufsteht, wächst und wieder auf den Boden
zurückfällt, wie sie einatmet und wieder ausatmet, wie sie auflebt und langsam wieder aus
unserem Gesichtsfeld entschwindet.169
Wenn man den scheinbar unbedeutendsten, belanglosesten Dingen Aufmerksamkeit schenkt, so
geben sie uns so vieles mehr zurück.
169
Angelehnt habe ich diese Situation an eine Sequenz aus dem fünffach Oskar-prämierten Film
„American Beauty“, Original Motion Picture Score, 1999, unter der Regie von Sam MENDES, produziert
von Bruce COHEN und Dan JINKS. Mit Musik von Thomas NEWMAN untermauert, tanzt in der
Schlussszene eine leere Plastiktüte auf einer Straße. Unfähig selbst irgendwo Fuß zu fassen, lässt sie ihr
Leben über sich ergehen, einsam im Winde treibend.
110
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vom 27. August 2008
SPRINGER Axel (Hrsg.), „Bauern wollen pro Nacht 100.000 Eier zerstören“,
www.welt.de/wirtschaft/article118795949/Bauern-wollen-pro-Nacht-100-000-Eierzerstoeren.html, 7. August 2013
SUTER
Rudolf,
„Stillstand
gibt
es
nicht“,
Neue
Zürcher
Zeitung
http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/stillstand-gibt-es-nicht-1.18004162,
16. Februar 2013
o.V.: „Pistolettos “arme Kunst“ in Graz“, www.steiermark.orf.at/tv/stories/2535301, 31. Mai
2013
Internetseiten:
-
www.art-magazin.de
www.bertrange.lu
www.cashmere.com
www.china-a.de/de/china/doc/shanghai in zahlen.html
www.de.dawanda.com
www.de.statista.com
www.de.wikipedia.org, Suchbegriffe: Müll, Müllstrudel, Abfall, Recycling, Altpapier, Tim
Noble und Sue Webster, Hygiene im römischen Reich, Kitsch, Plastiktüte, Bonsai
www.diynetwork.com
www.drapart.net
www.earthship.com
www.euwid-recycling.de
www.feelgreen.de
www.garbagewarrior.com
www.gerd-rohling.de
www.guerradelapaz.com
www.handysfuerdieumwelt.de
www.haschult.de
www.jeremyscott.com
www.karstenbott.de
www.kitschkitchen.nl
www.manifesta7.it
www.pilotbegreen.us
www.recyclart.org
www.superdreckskescht.lu
www.superuse.org
www.timnobleandsuewebste.com
www.tordboontje.com
www.umsonstladen-trier.de
www.vestiairecollective.com
www.vimeo.com/52711779
www.vogue.co.uk/news/favorites-of-vogue/2010/02/sonia-rykiel-for-handm
www.wert.de
www.wirkaufens.de
www.you.tube.com/watch?v=gHxi-HSgNPc, „American Beauty“ (from the plastic bag
scene), Thomas NEWMAN
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Ein Dankeschön an Herrn SLAVAZZA, Kommunikationsbeauftragter des
SIDEC Um Fridhaff Erpeldange/Ettelbrück, an Will KREUZ, Kurator der
Ausstellung Monopol 2, sowie an Herrn Roger KLEIN und dessen
Deutschkenntnisse.
Ein besonderes Dankeschön an meine Begleiterin Daphné DEMUTH sowie
an meinen Ehemann, meine Eltern und meine Schwiegereltern.
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