Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen
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Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen
Universiteit Gent Academiejaar 2011-2012 Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts Eine Analyse Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Die Soldaten aus egoistischer Sicht. Promotor: Prof. Dr. C. Kanz Verhandeling voorgelegd aan de Faculteit Letteren en Wijsbegeerte voor het behalen van de graad van Master in de Taal- en Letterkunde: Duits-Engels door Jules De Doncker 2 3 Dankeswort In erster Linie möchte ich meinen Eltern danken, nicht nur für die jahrelange moralische, sondern auch für die finanzielle Unterstützung, ohne die ich nie einem akademischen Diplom so nahe gekommen wäre. Daneben verdient auch meine Deutschlehrerin im Gymnasium, Frau Ann Vanallemeersch, eine ehrenvolle Erwähnung, da sie mir eine besonders angenehme erste Bekanntschaft mit der deutsche Sprache besorgt hat, die zweifellos die Grundlage meiner heutigen Liebe für dieses Land, seine Sprache und seine Kultur bildet. Drittens möchte ich auch der vollständigen Fachschaft ‚deutsche Literaturwissenschaft’, zusammen mit allen Professoren, von denen ich in den letzten vier Jahren Unterricht bekommen habe, danken für die akademischen Kompetenzen, und insbesondere das kritische Denken, die sie mir beigebracht haben. Eine besondere Erwähnung verdient auch mein Promotor, Prof. Dr. Christine Kanz, nicht nur für Ihre Hilfe und professionelle Meinung während des Schreibprozesses dieser Arbeit, sondern auch für Ihre besonders interessanten Vorlesungen über das 18. Jahrhundert, die mich auf die Idee bzw. das Thema der Arbeit gebracht haben. Schließlich möchte ich auch noch meiner Freundin, Charlot Tanghe, und meinen Zimmergenossen, Gilles Suply, Pieterjan Dehaene, Jelle Dierckens und Matthias Goeminne, danken für ihr konstruktives Feed-back, das mir bei dem Denkprozess hinter dieser Arbeit zweifellos weitergeholfen hat. 4 5 Inhalt Inhalt..................................................................................................................................5 0. Einführung.....................................................................................................................7 1. Egoismus in den Lexika des 18. Jahrhunderts: eine Begriffsbestimmung..................10 2. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel........................................................................14 2.1. Der Egoismus des ‚intriganten’ Hofes..........................................................15 Emilia Galotti..........................................................................................15 Die Soldaten............................................................................................27 2.2. Der Egoismus der ‚bürgerlichen’ Kleinfamilie............................................35 Emilia Galotti..........................................................................................36 Die Soldaten............................................................................................51 3. Schlussfolgerung.........................................................................................................74 3.1 Folgen für die Gattungsbestimmung des bürgerlichen Trauerspiels: eine Neudefinierung?..................................................................................................74 3.2 Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspieles: exemplum ex negativo?.......................................................................................77 3.3 Ausblick.........................................................................................................80 4. Bibliographie...............................................................................................................82 6 7 0. Einführung Traditionell wird dem bürgerlichen Trauerspiel in der Forschung ein festes Personal, einen typischen Handlungsablauf und eine kennzeichnende gesellschaftliche Funktion beigemessen. Die ersten zwei Voraussetzungen können aus folgendem Zitat Alexander Košenina abgeleitet werden: Auf dem Theater und in der Literatur wird Stimmung gegen die Verführung bürgerlicher Mädchen durch adlige Nichtsnutze gemacht, gleichzeitig gewähren erste Väter ihren Töchtern freie Partnerwahl […] und große Bösewichter öffnen den Zuschauern das Innerste ihrer Verbrecherseelen[.]1 Im ersten Satz wird offensichtlich auf oben genannte typische Handlungsablauf, nach der ein adliger Verführer bzw. Soldat ein unschuldiges, tugendhaftes Bürgermädchen zu verführen versucht und auf diese Weise die Ehre bzw. Tugend dieses Mädchens gefährdet, hingewiesen. Der Rest des Zitats weist dann die anderen zwei wichtigsten Rollen auf: Einerseits gibt es der Vaterfigur, der immer das Glück seiner Tochter anzustreben scheint. Andererseits darf auch der bürgerliche Intrigant, der, indem er jedermann zur Erfüllung seiner eigenen Ziele bzw. seines eigenen Nutzens zu gebrauchen versucht, sich oft als größter Bösewicht des Stückes erweist, nicht vergessen werden. Die dritte, funktionale Voraussetzung dieser Gattung besteht darin, dass das Drama eine „Gefühlserregung, Reinigung der Affekte und moralische Besserung“2 bei dem Publikum veranlassen soll. Dazu hat Lessing u.a. die Begriffe der Mitleidspoetik, der gemischten Charaktere und der poetischen Wahrheit eingeführt, auf die aber vor allem in der Schlussfolgerung noch näher eingegangen wird. Diese Arbeit hat aber vor, das bürgerliche Trauerspiel aus einer ganz neuen Sicht zu analysieren, indem auf der Suche nach egoistischem bzw. selbstsüchtigem Verhalten in dieser Gattung gegangen wird. Mit einem Versuch, in verschiedenen Stücken möglichst viele Belege des egoistischen Verhaltens aufzuzeigen, will diese Arbeit einerseits die vorherrschenden Auffassungen über das bürgerliche Trauerspiel und seine gesellschaftliche Position bzw. Funktion in Frage stellen, andererseits einen alternativen und nuancierteren Blick auf diese Gattung, die traditionell das tugendhafte Burgertum statt des intriganten Adels bevorzugt und eine moralisierende Wirkung beigemessen 1 Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin: Akademie Verlag 2008, S. 9. 2 Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165. 8 wird, propagieren. Dabei wird vielmehr versucht, die bisherigen Theorien über diese Art Dramen mit den neuen Befunden in Übereinstimmung zu bringen, als dass diese als völlig falsch beiseitegeschoben werden. Da der Umfang dieser Arbeit gezwungenermaßen beschränkt ist, beschäftigt sich die Analyse konkret mit nur zwei bürgerlichen Trauerspielen. Dabei darf, besonders in Hinsicht auf seinen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer Theorie dieser Gattung und auf das Dramas des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, ein Stück des Theatertheoretikers und Dramatikers, Gotthold Ephraim Lessing, nicht fehlen. Obwohl sich eine Analyse des Dramas Miss Sara Sampson, infolge seines Status als erstes Bürgerliches Trauerspiel Deutschlands einerseits, „als Gattungsparadigma“3 andererseits, aufdrängt, optiert diese Arbeit für eine Analyse Emilia Galottis, das laut Alexander Košenina ebenso gut „als Bürgerliches Trauerspiel par excellence [gilt]“ 4. Daneben wird auch Jakob Michael Reinhold Lenz’ Die Soldaten, als Theaterstück, in dem die Voraussetzung der gemischten bzw. zwiespaltigen Charaktere, die Lessing als Theatertheoretiker zwar propagiert, laut Inge Stephan als Dramatiker aber nicht eingehalten hat5, tatsächlich erfüllt wird, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl die Analyse die vorhergehende Verneinung der Anwesenheit gemischter Charaktere in den Dramen Lessings widerlegen wird, kann trotzdem an einem Unterschied zwischen den zwei Stücken festgehalten werden, und zwar in dem Sinne, dass Lenz in Die Soldaten offensichtlich auf eine solche realistischere Darstellung des Personals zu zielen scheint, während Lessing tatsächlich versucht, „die Helden bzw. Heldinnen seiner Stücke […] [als] Vertreter eines abstrakten bürgerlichen Tugendideals“6 darzustellen, dieser Versuch aber, wegen des in dieser Arbeit aufgezeigten egoistischen Substrats, scheitert.7 Methodisch wird in erster Linie auf ‚close reading’ zurückgegriffen, um eine möglichst detaillierte und umfassende, d.h. auch nuancierte, Charaktervorstellung der verschiedenen Schlüsselfiguren machen zu können, bei der unter dem Ausdruck ‚Schlüsselfigur’ diejenige Gestalten verstanden werden, die unmittelbar mit dem 3 Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 215. Alexander Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165. 5 Inge Stephan: „Aufklärung“. In: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart – Weimar: Verlag J.B. Metzler 2008, S. 167. 6 Stephan: „Aufklärung“, S. 167. 7 Auf diesen Unterschied zwischen den beiden Stücken wird in der Schlussfolgerung ausführlicher eingegangen. 4 9 tragischen Ablauf des Stückes verbunden sind, was heißt, dass sie entweder einen Anteil an diesem Ablauf haben, oder die negativen Folgen dieses Ablaufes am eigenen Leibe erfahren. Daneben werden, womöglich, mehrere Aspekte dieser Figuren Charakters und Verhaltens anhand von gendertheoretischen Befunden, als den Geschlechtscharakteren des 18. Jahrhunderts (nicht) entsprechend, weiter gedeutet. Zum Aufbau dieser Arbeit lässt sich schließlich sagen, dass es, neben dieser Einführung, drei Kapitel gibt, in dem jeweils eine wichtige Komponente einer Analyse der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. So beschäftigt sich Forschungsgegenstandes, das erste indem Kapitel versucht mit wird, dem genauen anhand von Festlegen des Einträgen aus verschiedenen Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts eine Arbeitsdefinition des Egoismus bzw. der Selbstsucht aufzustellen. Im zweiten Kapitel, auf das auch das Hauptgewicht dieser Arbeit liegen wird, folgt dann die eigentliche Analyse des Egoismus bzw. egoistischen Verhaltens in den zwei oben genannten bürgerlichen Trauerspielen. Dabei wird nach der traditionellen Figurenkonstellation dieser Gattung eine Zweiteilung zwischen dem intriganten Adel und der tugendhaften bürgerlichen Kleinfamilie gemacht, bei der in jedem Teil zwar komparativ vorgegangen wird, die Figuren der beiden Tragödien aber nacheinander analysiert werden. Das dritte Kapitel, das zugleich auch die Schlussfolgerung der Arbeit bilden wird, reserviert, neben den üblichen Schlüssen, die unmittelbar aus der vorhergehenden Analyse gezogen werden können, auch Raum für eine ausführliche Reflexion über die etwaige Notwendigkeit einer Neudefinierung bzw. Adaption der heutigen Gattungsbestimmung einerseits, über die Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspiels als moralisierende bzw. erzieherische Gattung andererseits. Schließlich wird in einem Ausblick das enorme Potenzial einer Erweiterung der Analyse auf andere (nicht-) literarischen Gattungen dieser Epoche, oder sogar auf die Mentalität des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, aufgezeigt. 10 1. Egoismus in den Lexika des 18. Jahrhunderts: eine Begriffsbestimmung Dieses erste Kapitel wird sich, wie auch der Titel schon sagt, mit einer Begriffsbestimmung des Forschungsgegenstandes, d.h. die Bedeutung der Wörter ‚Egoismus’, ‚Selbstsucht’ und semantisch verwandter Begriffe im 18. Jahrhundert, beschäftigen. Dazu wird in erster Linie die Entstehungsgeschichte dieses semantischen Feldes besondere Aufmerksamkeit gewidmet, worauf in einem zweiten Teil versucht wird, anhand von Einträgen aus Wörterbüchern dieser Epoche eine Arbeitsdefinition des Egoismus bzw. der Selbstsucht, die den Ausgangspunkt der darauffolgenden Analyse Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Die Soldaten bilden wird, aufzustellen. Wenn man sich die wichtigsten Wörterbücher des 18. Jahrhunderts anschaut, so ist die Abwesenheit eines Eintrags für ‚Egoismus’, vor allem in Hinsicht auf die Menge semantisch verwandter Einträge, wie ‚Selbstsucht’, ‚Ichsucht’ oder ‚Eigenliebe’, besonders auffällig. Trotzdem muss man in dieser Epoche im deutschen Sprachgebiet schon Kenntnis von diesem Wort gehabt haben, denn sowohl im Deutschen Wörterbuch, mit dem die Brüder Grimm 1838 angefangen haben, wie auch in dem noch älteren Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, das zwischen 1774 und 1786 von Johann Christoph Adelung hergestellt wurde, wird ‚Egoismus’ in ihren jeweiligen Erklärungen als Synonym verwendet. Ein möglicher Grund, weshalb diese bedeutenden Lexikologen ihn nicht als selbstständigen Eintrag aufgenommen haben, liegt darin, dass ‚Egoismus’, so stellt Hans Schulz in seinem Deutschen Fremdwörterbuch, das von Otto Basler fortgeführt wurde, fest, „[i]m frühen 18. Jahrhundert über französisch égoïsme in den deutschen Sprachraum gelangt“8 und daher den Status eines Fremdwortes bekommen hat. In diesem Sinne erregt das Fehlen von ‚Egoismus’ schon weniger Staunen und in Hinsicht auf die Feindlichkeit bzw. (leichte) Abneigung Fremdwörtern gegenüber, die die Brüder Grimm und Adelung in ihren jeweiligen Vorworten zeigen, ist eine solche Auslassung sogar zu erwarten: Alle sprachen solange sie gesund sind, haben einen naturtrieb, das fremde von sich abzuhalten und wo sein eindrang erfolgte, es wieder auszustoszen, wenigstens mit den heimischen elementen auszugleichen. […] Es ist pflicht der 8 Hans Schulz, Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Berlin: Walter de Gruyter 2004, Band 5, S. 33. 11 sprachforschung und zumal eines deutschen wörterbuchs dem maszlosen und unberechtigten vordrang des fremden widerstand zu leisten und einen unterschied fest zu halten zwischen zwei ganz von einander abstehenden gattungen ausländischer wörter, wenn auch ihre grenze hin und wieder sich verläuft.9 Ich hatte bey der ersten Bearbeitung dieses Wörterbuches anfänglich den Entschluß gefasset, alle theils aus Noth, theils aus Unverstand und Mangel des Geschmackes in die Deutsche Sprache eingeführte fremde Wörter gänzlich bey Seite zu legen, und mich bloß auf eigentlich Deutsche einzuschränken. Allein ich wurde doch sehr bald selbst überzeugt, daß die ganzliche Abwesenheit aller Wörter dieser Art leicht für einen wesentlichen Mangel gehalten werden könnte, zumahl da ein großer Theil derselben nunmehr unentbehrlich ist, und für viele vielleicht noch mehr einer Erklärung bedarf, als eigentlich Deutsche Wörter.10 Das Zitat Adelungs erklärt zugleich auch, weshalb ‚Egoist’ wohl als selbstständiger Eintrag von ihm aufgenommen worden ist, indem laut ihm das Wort wegen des Fehlens eines deutschen Äquivalents tatsächlich unentbehrlich wäre, während auf ‚Egoismus’, der, wie schon gesagt, mit ‚Selbstsucht’ (und bei den Brüdern Grimm auch ‚Ichsucht’) eigenständig deutsche Synonyme hat, verzichtet werden könne. Dass selbstsüchtiges bzw. egoistisches Verhalten im 18. Jahrhundert immer mehr ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und an Einfluss zu gewinnen beginnt, zeigt die Entstehungsgeschichte dieses semantischen Wortfeldes, die, im Rahmen einer Wiederentdeckung des Menschen unter dem Impuls der Aufklärung, das Bedürfnis nach einer Terminologie, mit der man jenes menschliche Handeln beschreiben könne, aufzeigt. So gelangt, wie schon gesagt, das Wort ‚Egoismus’ laut dem deutschen Fremdwörterbuch schon im frühen 18. Jahrhundert über das französische Wort ‚égoïsme’ in den deutschen Sprachraum. Wie man im Grimmschen Wörterbuch lesen kann, entsteht seine deutsche Variante, ‚Selbstsucht’, erst mehrere Jahrzehnte später, in 1759.11 Auffälligerweise, aber nicht zufälligerweise, ist der Einfluss aus Frankreich, das zusammen mit England die Wiege der Aufklärungsbewegung bildet, in dieser Epoche auch im Bereich der Lexik spürbar. 9 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=DWB&mainmode=Vorworte&file=vor01_html#abs1.25.05.2012. 10 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=Adelung&mainmode=Vorworte.25.05.2012. 11 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GS26199.25.05.2012. 12 Am wichtigsten für eine Analyse der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel bleiben aber die Definitionen, die die Lexikografen dieser Epoche für ‚Selbstsucht’ (mit ‚Egoismus’ als Synonym) und andere, semantisch verwandte Begriffe gegeben haben. So umschreiben die Brüder Grimm ‚Selbstsucht’ als „begierde, streben nach dem eignen vortheil“12; eine Definition, die mit der Umschreibung dieses Begriffes durch Adelung fast identisch ist: „die ungeordnete Begierde, in allen Vorfällen seine eigenen Vortheile zu suchen“13. Beide betonen, dass es sich um ein Nachstreben des eigenen Vorteil bzw. eine Erfüllung des eigenen Nutzens, oder Eigennutzes, handelt. Ab diesem Punkt ist es aber vor allem Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch, das eine weitere Begriffsbestimmung der ‚Selbstsucht’ ermöglicht, indem das semantische Feld dieser ‚Selbstsucht’ bei ihm viel stärker vertreten ist als bei den Brüdern Grimm, die nur noch ‚Ichsucht’ als dem Egoismus gleichbedeutend auflisten. Adelung dagegen gibt schon eine umfassendere Definition des ‚Selbstsucht’-Begriffes, indem er einerseits diese Begierde nach dem eigenen Vorteil „ungeordnet“ nennt und sie auf diese Art und Weise negativ konnotiert, andererseits mittels des Ausdrucks „in allen Vorfällen“ einen temporalen Aspekt hinzufügt, der die Beharrlichkeit des selbstsüchtigen Handelns stark hervorhebt. Daneben enthält das Grammatisch-kritische Wörterbuch auch einen ausführlichen Eintrag für ‚Eigennutz’, der oben unmittelbar mit der Selbstsucht verknüpft worden ist: 1. Der eigene Nutzen, besonders in engerer nachtheiliger Bedeutung, der Nutzen, welchen man mit Ausschließung und auf Kosten des Nutzens anderer hat. Seinen Eigennutz suchen. Noch mehr und häufiger aber, 2. die Neigung seinen eigenen Nutzen zu befördern. 1) So wohl in weiterer und unschuldiger Bedeutung, da dieses Wort mit der Eigenliebe im guten Verstande beynahe von einerley Bedeutung ist, und in dem Triebe bestehet, seinen eigenen Nutzen zu befördern. Allein in diesem Verstande wird das Wort nur zuweilen von den Philosophen gebraucht. Am häufigsten nimmt man es, 2) in engerer und nachtheiliger Bedeutung, von dem Triebe, seinen eigenen Nutzen mit Ausschließung und zum Nachtheile des Nutzens anderer zu befördern14 12 Grimm: Deutsches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py? sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GS26199.25.05.2012. 13 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=Adelung&mode=Vernetzung&lemid=DS03972.25.05.2012. 14 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=Adelung&mode=Vernetzung&lemid=DE00333.25.05.2012. 13 Neben die oben genannte negative Konnotation werden hier auch die nachteiligen Folgen des Eigennutzes, der in seinem zweiten Bedeutung fast synonym mit Selbstsucht ist, betont: Ein Eigennutziger nimmt einfach keinen Rücksicht auf den Nutzen seiner Umgebung, was zu einer Beeinträchtigung anderer Personen führen kann. Achtet man schließlich auch auf Adelungs Eintrag für Egoist als „ein[en] Mensch[en], welcher aus ungeordneter Eigenliebe in allen Dingen nur sich und seine Vortheile sucht“15, so lässt sich aus allen diesen Anregungen folgende Arbeitsdefinition derivieren: egoistisches, selbstsüchtiges oder eigennütziges Handeln ist ein beständiges und beharrliches Streben nach dem eigenen Vorteil, das, um sein Ziel zu erreichen, nichts oder niemanden scheut, was oft eine Beschädigung des Nutzens bzw. des Wohles anderer Personen zur Folge hat. Indem in dieser Definition die Komponente des Handelns eine zentrale Stelle einnimmt (ob man ein Egoist ist oder nicht, ist durch die Handlungen des Persons bedingt), scheint eine Analyse des Dramas des 18. Jahrhunderts, und zwar des bürgerlichen Trauerspiels, da in dieser Gattung die Handlung am direktesten, unmittelbar vor dem Publikum, fast lebensecht hervortritt, besonders gerechtfertigt. Zugleich bildet die Unmittelbarkeit aber auch die größte Schwierigkeit einer Analyse dieser Gattung, denn genau diese ist in dem konkreten Forschungsobjekt, das von dem Autor niedergeschriebene Theaterstück, zum Teil verloren gegangen. Die Handlung, und mithin die Selbstsucht, muss daher teils aus Regieanweisungen des Autors, teils aus den Worten der Personen abgeleitet werden, wie sich aus der nachfolgenden Analyse ergeben wird. 15 Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=Adelung&mode=Vernetzung&lemid=DE00086.25.05.2012. 14 2. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel Dieses Kapitel umfasst eine Detailanalyse zweier bürgerlichen Trauerspiele, Emilia Galotti und Die Soldaten, die, wie oben schon erwähnt worden ist, von einer Spaltung zwischen der intriganten höfischen und der tugendhaften bürgerlichen Welt gekennzeichnet wird, die auch Inge Stephan in ihrer Auseinandersetzung über die Aufklärung in der Deutschen Literaturgeschichte erkennt: In der kontrastierenden Gegenüberstellung von >bürgerlich-privat< und >höfischöffentlich< lag nichtsdestoweniger ein starkes gesellschaftskritisches Element; die private Sphäre der Familie wurde als >allgemein-menschliche< reklamiert, der gegenüber die höfische Sphäre als unpersönlich, kalt und menschenfeindlich erschien.16 Dieses Zitat gibt auch Anlass zu einem zusätzlichen, aber zum Teil spekulativen Grund für eine solche Zweiteilung: Wenn es im bürgerlichen Trauerspiel tatsächlich Egoismus geben würde, so lässt sich der beabsichtigte Kritik an den Höfen nach vermuten, dass sie vor allem bei den Angehörigen der höfischen Welt und ihres Umfeldes zu suchen ist, denn „[d]ort – in der Erwerbssphäre des Mannes [in der Öffentlichkeit] – herrscht die Konkurrenz, der kalte Egoismus, schäbiges Übervorteilen usw.“17 Indem Lessing mittels des bürgerlichen Trauerspiels eine „Reinigung der Affekte und moralische Besserung“18 der Zuschauer anstrebte, gewinnt diese Spaltung an Schärfe, denn um das dazu benötigten Midleid zu erregen, braucht man einen krassen Gegensatz zwischen der unschuldigen bürgerlichen Kleinfamilie, die von… unmittelbare[n] ökonomische[n] Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit, anhaltende Arbeitsamkeit, zugleich aber auch, auf dieser Grundlage aufbauend, […] „ächte, wahre Würde des Menschen, höhere, bessere Moralität, mehr Güte des Herzens, Wohlwollen, wärmere und aufrichtige Freundschaft und einen wirklich ausgebildeten Geist […]19 regiert wird, und dem schuldigen, intriganten Adel, dessen Kabale den Zusammenbruch dieser geborgenen Privatsphäre herbeiführen. In diesem Sinne wäre der Unterschied zwischen höfischer und bürgerlicher Welt auch ein Unterschied zwischen einem von dem Publikum (und vielleicht auch von dem heutigen Leser) erwarteten und einem 16 Stephan: „Aufklärung“, S. 164. Barbara Duden, „Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.“ In: Kursbuch 47 (1977), S. 133. 18 Košenina: Literarische Antropologie, S. 165. 19 Duden, „Das schöne Eigentum.“, S. 132. 17 15 etwaigen unerwarteten Egoismus, dessen Anwesenheit im Text, indem er seiner Überraschung halber vermutlich unbeabsichtigt hereingeschlichen ist, viel weniger eindeutig ist. Daneben ist die charakteristische Figurenkonstellation dieser Gattung der Analyse auch in dem Sinne von Nutzen, dass die in den verschiedenen Stücken wiederkehrenden, prototypischen Figuren eine vergleichende Untersuchung der Dramen nicht nur ermöglichen, sondern sogar wünschenswert machen. Daher werden zuerst, neben den eventuellen einmalig vorkommenden Figuren, dem adligen Verführer und dem bürgerlichen Intriganten Aufmerksamkeit gewidmet. Anschließend wird sich diese Arbeit mit der Frage beschäftigen, ob das selbstsüchtige Verhalten auch in die bürgerliche Kleinfamilie, die sich traditionell aus einem autoritären aber liebenden Vater, einer kupplerischen Mutter und ihrer tugendhaften, unschuldigen Tochter zusammensetzt, eingedrungen ist. Indem Lessings Emilia Galotti häufig „als Bürgerliches Trauerspiel par excellence“20 bewertet wird, wird sich die Analyse immer zunächst auf die Darstellung der Figuren in diesem Drama beziehen, worauf diese ‚Prototypen’ mit ihren Äquivalenten aus dem anderen Stücke verglichen werden können. 2.1. Der Egoismus des ‚intriganten’ Hofes Emilia Galotti Dem typischen Ablauf des bürgerlichen Trauerspiels nach versucht in Emilia Galotti ein adliger Verführer, der Prinz von Guastalla, das Herz einer unschuldigen Bürgertochter, Emilia, zu erobern. Der Leser bekommt aber eine sehr doppeldeutige Darstellung des Prinzen, indem er einerseits sich selber ständig als politisch korrekter Herrscher, der seiner aufrichtigen Liebe für Emilia und der Umstände, die diese Liebe verhindern, zum Opfer fällt, darstellt, andererseits seine Handlungen das Bild eines heuchlerischen und egoistischen Mannes, der zu der Erfüllung seines Wünsches, Emilia zu besitzen, nichts oder niemandem aus dem Weg geht, vermitteln. Im Folgenden wird dieses negative Bild eines rücksichtlosen Egoisten, von der scheinheiligen Selbstdarstellung des Prinzen ausgehend, weiter begründet. 20 Košenina: Literarische Antropologie, S. 165. 16 Schon im ersten Auftritt zeigt der Prinz ein wichtiges Charakteristikum des Selbstsüchtigen auf, indem er das Wohlergehen vieler seiner Untertanen seiner eigenen Obsession für Emilia unterordnet, wie folgendes Zitat treffend illustriert: DER PRINZ […]. Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! – Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch! – Das glaub ich; wenn wir allen helfen könnten: dann wären wir zu beneiden. – Emilia? (Indem er noch eine von den Bittschriften aufschlägt, und nach dem unterschriebenen Namen sieht.) Eine Emilia? – Aber eine Emilia Bruneschi – nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti! – Was will sie, diese Emilia Bruneschi? (Er lieset.) Viel gefodert; sehr viel. – Doch sie heißt Emilia. Gewährt! (Er unterschreibt […])21 In dem ersten Teil des Zitats wahrt der Prinz den Schein, ein pflichtbewusster und ehrlicher Herrscher zu sein, noch einigermaßen, indem er bedauert, dass er nicht jedem Bürger, der ihm eine Klage oder Bittschrift gemacht hat, helfen kann. Schon hier wird diese Darstellung aber von einem großen, sogar übertriebenen Selbstmitleid überschattet, das ein außerordentliches Interesse an sich selbst verrät: Statt die Untertanen, deren Bitten er nicht genehmigen kann und die daher wirklich benachteiligt werden, zu bemitleiden, beklagt er, dem an nichts fehlt, sich selbst, indem er sich hartnäckig weigert, zu begreifen, weshalb man ihm beneiden könne. In dem zweiten Teil wird seine Selbstbezogenheit auf die Spitze getrieben, denn die einzige Bittschrift, die der Prinz gewährt, ist die irgendeiner Emilia (nicht einmal Emilia Galotti), die obendrein sehr viel von ihm fordert. Zudem ist der einzige Grund für diese Genehmigung, die Tatsache, dass diese Frau dem Gegenstand seiner Liebe gleichnamig ist. In diesem Sinne scheint diese Handlung des Prinzen eine versuchte Erfüllung seines Verlangens, Emilia Galotti, die ihm an diesem Punkt noch völlig unerreichbar erscheint, für sich zu gewinnen, bei der jene Emilia Bruneschi als bequeme Stellvertreterin ihrer Namensschwester fungiert. Trotzdem kann man sich in diesem Fall noch fragen, ob es sich, statt ein beharrliches Streben nach dem eigenen Vorteil, nicht um eine naive, blinde Liebe handelt. Diese alternative Lektüre verliert aber allmählich an Plausibilität, indem der Prinz u.a. in einem Gespräch mit dem Maler, Conti, ihm sein Vorhaben, Emilia zu besitzen, auf sublimierte Art und Weise in Bezug auf Contis Porträt des Mädchens erklärt („DER PRINZ […] (Lächelnd.) Dieses Ihr Studium der weiblichen Schönheit, Conti, wie könnt 21 Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co 2001, S. 5. 17 ich besser tun, als es auch zu dem meinigen zu machen?“22), Conti aber mit bedenklichen Praktiken vonseiten dem Prinzen vertraut zu sein scheint, denn, wenn er sich für seine Gemälde so viel bezahlen lassen darf, wie er will, fragt er ihm: „CONTI. Sollte ich nun bald fürchten, Prinz, dass Sie so, noch etwas anders belohnen wollen, als die Kunst.“23 Schon hier, noch immer im ersten Aufzug, wird dem Leser das Bild eines korrupten Prinzen, der auch unerlaubte Methoden zum Erreichen seines Ziels nicht scheut, vermittelt. Auch die Aufrichtigkeit seiner Liebe büßt an Glaubwürdigkeit ein, indem der Prinz dem Publikum den sexuellen Aspekt seiner Obsession selber verrät: „DER PRINZ. […] Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! – Was Sie dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fodre nur! Fodert nur! – Am liebsten kauft’ ich dich, Zauberin, von dir selbst!“ 24 Aus diesem Zitat lässt sich schließen, dass er Liebe vielmehr einen kommerziellen Wert beimisst, als dass sie von Empfindsamkeit regiert wird. In diesem Sinne macht er seine ‚Liebe’ für Emilia zur Handelsware, was unvermeidlich Anlass zu einer Verknüpfung der Liebe mit der Prostitution gibt. Indem der Prinz den Eltern oder Emilia selbst ihre Liebe, die er seiner kommerziellen Liebesauffassung gemäß als ‚sie in Besitz nehmen’ umschreibt, vergüten will, zeigt er, dass einerseits Emilia für ihn nicht mehr als eine ordinäre Prostituierte ist, andererseits der Respekt vor und die Interesse an dem Wohlergehen seiner Untertanen bloß Schein ist. Schließlich scheint auch die Tatsache, dass er Emilia nach seinem Lustschlosse entführt, auf ein eher sexuelles Interesse an ihr hinzudeuten. Gäbe es bis auf diesem Punkt, in der Form eines Desinteresses an dem Nutzen anderer und eines übertriebenen Interesses an dem Eigennutz, schon einen Ansatz des egoistischen Verhaltens, so entwickelt sich der Prinz erst ab dem sechsten Auftritt der ersten Aufzug wirklich zu einer rücksichtslosen destruktiven Kraft, indem er den bürgerlichen Intrigant, Marinelli, beauftragt, die Heirat von Emilia mit dem Grafen Appiani, koste es, was es wolle, zu verhindern: „MARINELLI. […] Wollen Sie mir freie Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue? DER PRINZ. Alles, Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann.“25 Die nachteiligen Folgen für die Umwelt einer solchen Obsession für den eigenen Nutzen, genauso wie der schlechten Ablauf der Geschichte, lässen sich ein wenig später schon vorausahnen, indem der 22 Lessing: Emilia Galotti, S. 11. Lessing: Emilia Galotti, S. 11. 24 Lessing: Emilia Galotti, S. 12. 25 Lessing: Emilia Galotti, S. 17-18. 23 18 Prinz, völlig uninteressiert an seiner Pflicht als Fürsten, ein Todesurteil unterschreiben will: DER PRINZ. Was ist sonst? Etwas zu unterschreiben? CAMILLO ROTA. Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben. DER PRINZ. Recht gern. – Nur her! geschwind. CAMILLO ROTA (stutzig und den Prinzen starr ansehend). Ein Todesurteil, sagt ich. DER PRINZ. Ich höre ja wohl. – Es könnte schon geschehen sein. Ich bin eilig.26 Wären die Gefahren des selbstsüchtigen Handelns am Anfang noch zum größten Teil virtuell, so ist ab jetzt aber peinlich deutlich, dass der Prinz, teils aus Verzicht auf den Nutzen anderer Personen, teils aus beharrlichem Streben nach der Erfüllung des eigenen Wünsches, über Leichen gehen wird. Die Darstellung des Prinzen als rücksichtslosen Egoist wird auch in dem Rest des Stückes unvermindert eingehalten, indem er, nach dem Überfall auf das Gefolge des Brautpaares und der Entführung Emilias, das Mädchen mit zärtlicher Gewalt und „nicht ohne Sträuben“27 nach seinem Lustschlosse abführt. Eine scheinbare Mentalitätsänderung gibt es erst im Moment, dass er den Mord an dem Grafen Appiani erfährt und sich der Folgen seiner Handlungen bewusst zu werden beginnt: „DER PRINZ. Bei Gott! bei dem allgerechten Gott! ich bin unschuldig an diesem Blute. – Wenn Sie mir vorher gesagt hätten, dass es dem Grafen das Leben kosten werde – Nein, nein! und wenn es mir selbst das Leben gekostet hätte! –“28 Dennoch stellt sich auch hier wieder das Eigeninteresse als höchstes Gut heraus, indem der Prinz sofort die gekränkte Unschuld zu spielen versucht. Nachdem er ihn bei dem Streben nach der Besitz Emilias weit außerhalb der Grenzen von moralischem Verhalten geführt hat, wird sich der Egoismus ab jetzt, da der Prinz einsieht, dass „man [Angelo] für das Werkzeug, und [ihn] für den Täter halten [wird]“29, völlig auf die Wahrung seines Rufes konzentrieren. So wird mehrmals versucht, die Schuld an den nachteiligen Folgen seiner rücksichtslosen Obsession auf Marinelli abzuwälzen. Dies geschieht zum ersten Mal in Bezug auf den Tod des Grafen Appiani: DER PRINZ. […] Und das wollen Sie doch nur sagen: der Tod des Grafen ist für mich […] das einzige Glück, was meiner Liebe zustatten kommen konnte. Und als dieses,– mag er doch geschehen sein, wie er will! – Ein Graf mehr in der Welt, oder weniger! Denke ich Ihnen so recht? – Topp! auch ich erschrecke vor einem 26 Lessing: Emilia Galotti, S. 19. Lessing: Emilia Galotti, S. 49. 28 Lessing: Emilia Galotti, S. 54-55. 29 Lessing: Emilia Galotti, S. 56. 27 19 kleinen Verbrechen nicht. Nur, guter Freund, muss es ein kleines stilles Verbrechen sein. Und sehen Sie, unseres da, wäre nun gerade weder stille noch heilsam. Es hätte den Weg zwar gereiniget, aber zugleich gesperrt.30 In diesem Zitat erreicht die unempfindliche Selbstsucht des Prinzen einen zweiten traurigen Höhepunkt, denn der Grund seiner Zurechtweisung Marinellis ist nicht das unnötige Blutvergießen während der Entführung Emilias, sondern die Tatsache, dass gerade dieses Blutvergießen die Verführung des Mädchens unmöglich macht. Mit anderen Worten wird nicht Marinellis Verbrechen verurteilt, denn der Prinz erwähnt erneut, dass auch er vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt, sondern die Größe und vor allem die Folgen dieses Verbrechens. In diesem Sinne werden sogar die nachteiligen Folgen seines Verhaltens für andere Personen in dem Licht seines Strebens nach der Erfüllung persönlicher Ziele als nachteilige Folgen für ihn selbst erfahren: die Schuld an dem Scheitern des Planes wird der Schuld an dem Tod eines unschuldigen Mannes vorgezogen. Das vorläufige Entkommen Marinellis an der Wut des Prinzens, indem er ihm eine neue Möglichkeit bietet, Emilia für sich gewinnen zu können, beweist schon zum zigsten Mal, dass Eigenbelang für den Prinzen das einzige Gut ist. Schließlich kann auch der letzte Auftritt des Dramas als symptomatisch für die Selbstsucht des Prinzen betrachtet werden, denn, sobald das Komplott, um Besitz von Emilia zu nehmen, nach hinten losgeht, indem dem Vater, Odoardo, keinen anderen Ausweg mehr offen gelassen wird, als seine Tochter zu ermorden, unternimmt der Prinz einen allerletzten verzweifelten Versuch, die Schuld auf einen anderen abzuwälzen und so seinen Ruf zu wahren. Dazu erhebt er zuerst Vorwürfe gegen den Vater, der er grausam nennt. Letztendlich ist es aber Marinelli, der die Zeche bezahlen muss, indem der Prinz ihn mit einem großen Aufwand fortschickt und sich selber zudem die Rolle eines Opfers dieser falschen Menschen zuschreibt: DER PRINZ (nach einigem Stillschweigen, unter welchem er den Körper mit Entsetzen und Verzweiflung betrachtet, zu Marinelli). Hier! heb ihn auf. – Nun? Du bedenkst dich? – Elender! – (Indem er ihm den Dolch aus der Hand reißt.) Nein, dein Blut soll mit diesem Blute sich nicht mischen. – Geh, dich auf ewig zu verbergen! – Geh! sag ich. – Gott! Gott! – Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht genug, dass Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren Freund verstellen?31 30 31 Lessing: Emilia Galotti, S. 56. Lessing: Emilia Galotti, S. 87. 20 Dieses Zitat zeigt zuerst die Verzweiflung, die den Prinzen, wenn er sich den dramatischen Ablauf seines Versuches, Emilia zu erobern, und den darausfolgenden, etwaigen Verlust seines Rufes bewusst wird, überfällt. Darauf setzt er alles daran, einerseits auf Marinelli als den Schuldigen zu weisen, indem er ihm mittels des Dolches, die Marinelli bloß in der Hand hält, (s)eine (eigene) späte Reue über den tödlichen Ausgang der Intrige in der Form eines Selbstmordversuches zuschreibt, dies angeblich vereitelt und ihn des Landes verweist; andererseits sich die Hände in Unschuld zu waschen, indem er eine ‚aufrichtige’ Bekümmernis um das Schicksal des Mädchens aufzeigt und verhindern will, dass Marinellis falsches Blut sich mit dem tugendhaften Blut Emilias vermischt. Auf ähnlicher, vielleicht sogar identischer, Art und Weise wie in dem allerersten Auftritt des Dramas versucht der Prinz die Schein des Interesses an dem Gemeinwohl bzw. Wohl seiner Untertanen, kurz: des Altruismus, zu wahren, wird aber aufs Neue von seinen egoistischen Handlungen verraten. Nicht nur verwendet er den oben genannten imaginären Selbstmordversuch, um die Schuld von sich zu schieben, auch sühlt er sich nach wie vor in Selbstmitleid: Als ob er weiß, dass man ihn trotz allem doch für den tödlichen Ablauf seiner Kampagne um die Eroberung Emilias verantwortlich machen wird, entschuldigt er sein Verhalten, indem er im letzten Satz mit tiefem Bedauern betrachtet, dass auch Fürsten nur Menschen sind und er zudem das Pech gehabt hat, mit einem teuflischen Mensch befreundet zu sein. Aus dieser Analyse der adligen Verführer in Emilia Galotti lässt sich schließen, dass der Prinz dem Definition aus dem ersten Teil dieses Kapitels nach eine durch und durch egoistische Figur ist: Während des ganzen Stückes ist er damit beschäftigt, ohne Rücksicht auf die nachteiligen Folgen für andere Personen, seinen eigenen Interessen, der ‚Eroberung’ Emilias bzw. der Wahrung seines Rufes, anzustreben. Traditionell gibt es im bürgerlichen Trauerspiel auch die Rolle des bürgerlichen Intriganten, der einem Angehörigen der höfischen Welt zwar Beistand leistet, ihn aber zugleich vor seiner eigenen Karren spannt. Diese wird in Emilia Galotti von Marinelli erfüllt, der mit List, Tücke und Erpressung nacheinander bei dem Prinzen hoch im Kurs zu stehen, sich an Appiani zu rächen und seine eigene Haut zu retten versucht. Der erste Eindruck, der dem Publikum von dem Kammerherren des Prinzen bekommt, ist keineswegs der eines rücksichtslosen und zielstrebigen Egoisten, sondern 21 der eines bescheidenen Dieners und einer schwachen Person, die dem Zorn seines Herren fürchtet und ihm, um diesen zu vermeiden, immer nach dem Munde redet. Trotzdem gelingt es Marinelli, diese falsche Bescheidenheit, die anfangs ein bloßer Verteidigungsmechanismus scheint, produktiv zu machen, wie folgendes Zitat zeigt: DER PRINZ (der gegen ihn wieder aufspringt). Verräter – […] dass Sie, Sie, so treulos, so hämisch mir bis auf diesen Augenblick die Gefahr verhehlen dürfen, die meiner Liebe drohte[.] […] MARINELLI. Ich weiß kaum Worte zu finden, Prinz, – wenn Sie mich auch dazu kommen ließen – Ihnen mein Erstaunen zu bezeigen. – Sie lieben Emilia Galotti? – Schwur dann gegen Schwur: Wenn ich von dieser Liebe das Geringste vermutet habe; so möge weder Engel noch Heiliger von mir wissen! – Eben das wollt’ ich in die Seele der Orsina schwören. Ihr Verdacht schweift auf einer ganz andern Fährte. DER PRINZ. So verzeihen Sie mir, Marinelli; – (indem er sich ihm in die Arme wirft) und betauern Sie mich. MARINELLI. Nun da, Prinz! Erkennen Sie da die Frucht Ihrer Zurückhaltung! – „Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben!“ – Und die Ursache, wenn dem so ist? – Weil sie keinen haben wollen. – Heute beehren sie uns mit ihrem Vertrauen, teilen uns ihre geheimsten Wünsche mit, schließen uns ihre ganze Seele auf: und morgen sind wir ihnen wieder so fremd, als hätten sie nie ein Wort mit uns gewechselt. DER PRINZ. Ach! Marinelli, wie konnt ich Ihnen vertrauen, was ich mir selbst kaum gestehen wollte?32 Dieser Dialog, in dem sich einen unterschwelligen Machtstreit zwischen den Gesprächspartern entfaltet, macht zugleich den wichtigsten Unterschied zwischen dem Prinzen und Marinelli deutlich: während der Prinz von seinen Gefühlen regiert wird und demzufolge impulsiv und heftig, man könnte sagen: mit einem großen, seinem Amt angemessenen Machtdemonstration, auf die Nachricht, Emilia wird noch am selben Tag heiraten, reagiert, stellt sich Marinelli als ein berechnender Intrigant heraus, dessen wichtigste Waffe nicht die frechen Äußerungen und Handlungen des Prinzen, sondern eine viel nuanciertere, betrügerische Sprachverwendung ist, mittels der er hier die Macht erfolgreich an sich reißt. Indem er sich in seiner Erwiderung auf die unberechtigten Vorwürfe des Prinzen einerseits ausführlich entschuldigt, andererseits von diesen Worten sehr gekränkt zeigt, findet Marinelli das perfekte Gleichgewicht zwischen Respekt vor und Angriff auf seinen Herren, durch das es ihm gelingt, dem Prinzen ein Schuldgefühl aufzuhalsen. Auf diese Art und Weise bekommt Marinelli ab jetzt die Oberhand im Gespräch. Diese Umkehrung der Machtsverhältnisse lässt sich 32 Lessing: Emilia Galotti, S. 16-17. 22 einerseits daran erkennen, dass es jetzt der Kammerherr ist, der dem Prinzen Vorwürfe macht, ist andererseits auch typographisch in dem Text festgelegt, indem in die Anrede Marinellis an den Prinzen die Großbuchstaben allmählich verschwinden, während der Prinz seinem Kammerherren diese Reverenz noch immer erweist. Zum Schluss versucht der Intrigant die eroberte Macht zu sichern, indem er den Prinzen so weit führen will, dass er ihn als seinen Freund erkennen wird. Dieses Vorgehen Marinellis, das in hohem Maße auf Menschenkenntnis und Listigkeit beruht, ist exemplarisch für den ganzen Text und sorgt dafür, dass der Intrigant die Macht des Prinzen bis zum allerletzten Auftritt ausnutzen kann. Die Methoden, an den diese zwei Personen festhalten, mögen zwar verschieden sein, in dem Egoismus, d.h. der Beharrlichkeit und Rücksichtslosigkeit des Strebens nach dem eigenen Nutzen, ist Marinelli seinem Herren auffällig ähnlich. Wie der Konflikt mit dem Grafen Appiani zeigt, macht auch er in seinem Kampf um die Anerkennung des Prinzen vor nichts Halt: MARINELLI. […] Als ich sahe, dass weder Ernst noch Spott den Grafen bewegen konnte, seine Liebe der Ehre nachzusetzen: versucht ich es, ihn in Harnisch zu jagen. Ich sagte ihm Dinge, über die er sich vergaß. Er stieß Beleidigungen gegen mich aus: und ich forderte Genugtuung, – und forderte sie gleich auf der Stelle. – Ich dachte so: entweder er mich; oder ich ihn. Ich ihn: so ist das Feld ganz unser. Oder er mich: nun, wenn auch; so muss er fliehen, und der Prinz gewinnt wenigstens Zeit. […] – Er versetzte, dass er auf heute doch noch etwas Wichtigers zu tun habe, als sich mit mir den Hals zu brechen. Und so beschied er mich auf die ersten acht Tage nach der Hochzeit.33 Einerseits zeigt dieses Zitat nochmals, wie Marinelli seine bevorzugte Waffe, die Sprache, zur Täuschung des Prinzen einsetzt, denn der Bericht des Gespräches mit Appiani, den er seinem Herren hier erstattet, ist keine getreue Wiedergabe des echten Vorfalls. Indem nicht der Graf, sondern Marinelli selber sich in Wirklichkeit mit der Ausrede, er möchte Appianis „zärtlichen Bräutigam den heutigen Tag nicht verderben“34, aus dem Zweikampf herauszureden versucht, stellt sich heraus, dass der Intrigant auch vor einer Lüge nicht zurückschreckt, wenn sie die ‚wechselseitige’ Loyalität zwischen ihm und dem Prinzen verstärken könne. Andererseits zeigt sich auch die Reaktion Marinellis, wenn seine arglistigen Umstimmtechniken unwirksam sind. Nachdem seine mannigfachen Versuche, Appiani die Heirat bis auf Weiteres 33 34 Lessing: Emilia Galotti, S. 40-41. Lessing: Emilia Galotti, S 38. 23 verschieben zu lassen, sodass er als Gesandter des Prinzen eine wichtige Angelegenheit erledigen kann, nur auf Skepsis vonseiten dem Grafen gestoßen sind, greift Marinelli zu Beleidigungen, um eine physische Konfrontation mit ihm herbeizuführen. Auch Gewalt scheint dieser schlaue Intigrant demnach nicht zu fürchten. Der Ablauf des Konfliktes mit dem Grafen rückt Marinelli aber in ein anderes, vielleicht noch lasterhafteres Licht, denn, wie sich schon an der feigen Flucht vor dem Duell gezeigt hat, schreckt er zwar vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück, lässt sie aber am liebsten anderen Personen über. In diesem Sinne besteht sein Egoismus vor allem daraus, ohne jedes Risiko bzw. mit einer minimalen Chance auf nachteilige Folgen für sich selbst einen maximalen persönlichen Gewinn zu erzielen. Konkret muss den Grafen aus dem Weg geräumt werden, weil dieser der Einzige ist, der der Macht seiner trügerischen Sprachverwendung widerstanden hat und daher den weiteren Ausbau seiner Macht beeinträchtigen könne. Dass Geld dabei keine Rolle spielt, zeigt er, indem er einen gedungenen Mörder, Angelo, einsetzt, der den Grafen während des Überfalles bzw. der Entführung ermorden muss. Auch diese Nebenfigur zeigt erwartungsgemäß einen eingehenden Egoismus auf: Trotz einer falschen Bekümmernis um das Wohl anderer Personen, scheint alles sich für ihn schließlich um Geld zu drehen, wie, neben dem Gespräch zwischen ihm und seinem Informanten innerhalb der Familie Galotti, auch folgendes Zitat zeigt: „ANGELO. Ich könnte weinen, um den ehrlichen Jungen! Ob mir sein Tod schon das (indem er den Beutel [mit Gold] in der Hand wieget) um ein Vierteil verbessert. Denn ich bin sein Erbe; weil ich ihn gerächet habe.“35 In dem Moment, dass Marinellis Plan fehlzuschlagen beginnt, werden die wirklichen Machtsverhältnisse zwischen ihm und seinem Herren deutlich. In dem Streit, den der Prinzen über den Tod des Grafen Appiani mit ihm anfängt, nimmt Marinelli dezidiert die überlegene Position ein, indem er nacheinander bitter, kalt, noch kälter und schließlich höchst gleichgültig auf die Vorwürfe des Prinzen reagiert, was ihn fast zum Wahnsinn treibt.36 Wenn der Prinz sich ausgewütet hat, wird Marinellis Überlegenheit weiter begründet, indem er jetzt dem Prinzen den Vorwurf macht, selbst an dem Misserfolg der Verschwörung Schuld zu haben. Die Machtsübertragung vollzieht sich im Moment, dass auch der Prinz seinen Fehler, an Emilia in der Kirche herangetreten zu 35 36 Lessing: Emilia Galotti, S. 44. Lessing: Emilia Galotti, S. 55-57. 24 haben, einsieht, und wird während des Restes des Dramas von der Einschränkung der Rolle des Prinzen auf marionettenhaften Ausführer der Befehle Marinellis symptomatisiert. Demgegenüber bekommt Marinelli eine aktive Rolle, indem er alles daran setzt, die Folgen dieses Fehlers zu tilgen und in dieser Hinsicht die Macht des Prinzen, die für die Erhaltung seiner eigenen Macht lebenswichtig ist, zu wahren. Wie sich aber gegen das Ende der Geschichte herausstellt, ist die Situation aussichtslos: Marinellis neuer Plan, dem Prinzen Emilia auszutragen und auf diese Weise hoch im Kurs bei ihm zu bleiben, scheitert jämmerlich und in dem letzten Austritt verliert er schließlich alles, wofür er sich schon während des ganzen Stückes abarbeitet hat, indem der Prinz, wie schon gesagt, den Intriganten entlarvt und ihm auf diese Weise eine letztendliche Machtsergreifung gelingt. Aus dieser Analyse könne man schließen, dass anhand des unrühmlichen Untergangs des bürgerlichen Intriganten in Emilia Galotti ein Beispiel geschafft wird: Indem Marinelli, der auf seine Suche nach immer mehr Macht den Grafen Appiani umbringen lässt, seinen Prinzen täuscht und schließlich die Macht seines Herren an sich zu reißen versucht, aus dem Land ausgewiesen wird, zeigt sich, dass ein solches beharrliches Streben nach dem eigenen Nutzen, das den angerichteten Schaden für die Umwelt völlig ignoriert, nicht lohnt. Schließlich muss auch die Gräfin Orsina, eine wichtige Nebenfigur in dem Sinne, dass sie nicht auf eine Rolle aus der typischen Figurenkonstellation des bürgerlichen Trauerspiels zurückgeführt werden kann, Aufmerksamkeit gewidmet werden. Obwohl man sie anfangs als unschuldiges Opfer der prinzlichen Obsession für Emilia bezeichnen könne, entwickelt sie sich innerhalb kürzester Zeit zur Rachegöttin des Prinzen, die beharrlich die blutige Vergeltung der Untreue ihres Geliebten anstrebt: ORSINA. […] (wie in der Entzückung) welch eine himmlische Phantasie! Wann wir einmal alle, – wir, das ganze Heer der Verlassenen, – wir alle in Bacchantinnen, in Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen, zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten, – um das Herz zu finden, das der Verräter einer jeden versprach, und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden! das sollte!37 Im Folgenden wird gezeigt, wie die Gräfin, ab dem Moment, dass sie den Liebesverrat ihres Prinzen erfährt, bis dass sie Odoardo den Dolch, mit dem er den 37 Lessing: Emilia Galotti, S. 71. 25 Prinzen töten kann, übergibt, alles daran setzt, die Schuld einzig und allein auf ihren ehemaligen Geliebten abzuwälzen. Sobald Marinelli (dank eines bisschen Hilfe des Prinzens) Orsina davon überzeugt hat, dass sein Herr sie nicht mehr liebt, bittet sie dem Kammerherren, über den sie offensichtlich weiß, dass er ein falscher und lügenhafter Intrigant ist, ihr eine bessere Entschuldigung, als dass der Prinz einfach beschäftigt ist, vorzulügen: „ORSINA. […] Lügen Sie mir eines auf eigene Rechnung vor. Was kostet Ihnen denn eine Lüge?“38 Im Hinblick auf seine bedenklichen, sogar lasterhaften Praktiken würde eine Lüge mehr oder weniger Orsina zufolge für ihn doch nichts mehr ausmachen. Für einmal erzählt Marinelli aber die Wahrheit und sobald die Gräfin den ganzen Hergang erfährt, glaubt sie (mit Recht), eine Verschwörung des Prinzen, um Emilia für sich zu gewinnen, entdeckt zu haben: ORSINA. Haben sie keinen Anteil daran? MARINELLI. Woran? ORSINA. Schwören Sie! – Nein, schwören Sie nicht. Sie möchten eine Sünde mehr begehen – Oder ja; schwören Sie nur. Eine Sünde mehr oder weniger für einen, der doch verdammt ist! – Haben Sie keinen Anteil daran? […] MARINELLI. Was? worüber? ORSINA. Wohl, – so will ich Ihnen etwas vertrauen; […] (Und ihren Mund seinem Ohre nähert, als ob sie ihm zuflüstern wollte, was sie aber sehr laut ihm zuschreiet.) Der Prinz ist ein Mörder! MARINELLI. Gräfin, – Gräfin – sind Sie ganz von Sinnen? ORSINA. Von Sinnen? Ha! ha! ha! (aus vollem Halse lachend.) Ich bin selten, oder nie, mit meinem Verstand so wohl gewesen, als eben itzt.39 In dieser sehr wichtigen Passage zeigt sich Orsina als eine ebenso große Intrigantin wie Marinelli. Indem sie nacheinander aufs Neue seine Aufrichtigkeit und die Reinheit seiner Seele in Zweifel zieht, ihn in die Irre führt und in seinem Ohr schreit, dass der Prinz ein Mörder ist und ihn, wenn er darauf fragt, ob sie von Sinnen ist, einfach ins Gesicht auslacht, verrät ihr Verhalten dem Kammerherren gegenüber, dass sie einerseits von der Mitschuld Marinellis im Bilde ist, andererseits nur wenig Respekt vor einem solchen mickrigen Person haben kann. Weil ihr rachedurstiges Ziel aber vor allem dem Prinzen gilt und die Mühe, auch Marinelli zu stürzen, wegen seiner oben genannten großen Abhängigkeit seines Herren nicht lohnt, fasst sie den Plan, dem ganzen Volk seines Prinzen Verschwörung aufzudecken. Um die Schuld völlig auf ihren ehemaligen Geliebten schieben zu können, lässt sie Marinelli zudem schwören, dass er daran keinen 38 39 Lessing: Emilia Galotti, S. 63. Lessing: Emilia Galotti, S. 65. 26 Anteil hat. Die Berechnung und Kaltblütigkeit ihres Planes werden betont, indem sie Marinelli versichert, dass sie bei vollem Verstand ist und sich in dieser Hinsicht als dem Verbündeten und Intriganten des Prinzen überlegen herausstellt. Dass Orsina den Moment besonders gut zu nutzen weiß, zeigt sich erst in dem Moment, dass Odoardo ankommt, voll und ganz. War sie schon im Begriff, das Lustschloss des Prinzen zu verlassen, so sieht sie in dem Vater Emilias eine Möglichkeit, ihre Rache an dem Prinzen noch blutiger (und daher für sie befriedigender) zu üben. „Zweifellos ist Orsinas proklamiertes Mitgefühl auch davon bestimmt, Odoardo in ihre Rachepläne einzuspannen“40 und indem sie ihm ihre Version des prinzlichen Planes, ihm seine Tochter zu entnehmen, erklärt und darauf die Beziehung zwischen beiden mittels der mutuellen Identifizierung als Beleidigte bzw. Opfer des Prinzen festigt, macht sie Odoardo tatsächlich zu einem Bundesgenossen ihres neuen Planes: ORSINA. Wirkt es, Alter! Wirkt es? ODOARDO. Da steh ich nun vor der Höhle des Räubers – (Indem er den Rock von beiden Seiten auseinander schlägt, und sich ohne Gewehr sieht.) Wunder, dass ich aus Eilfertigkeit nicht auch die Hände zurückgelassen! – (An alle Schubsäckefühlend, als etwas suchend.) Nichts! Gar nichts! nirgends! ORSINA. Ha, ich verstehe! – Damit kann ich aushelfen! – Ich hab einen mitgebracht. (Einen Dolch hervorziehend.) Da nehmen Sie! Nehmen Sie geschwind, eh uns jemand sieht. – […] Nehmen Sie ihn! (Ihm den Dolch aufdringend.) Nehmen Sie!41 Wie sich aus diesem Zitat zeigt, ist die Bekümmernis und das Mitleid, das Orsina in erster Linie für das traurige Schicksal der Familie Galotti zeigt und die den Anlass dazu wären, dass sie Odoardo die Verschwörung des Prinzen verrät, nur Schein, denn, indem sie dem Vater fragt, ob ihre Geschichte wirkt, d.h. ob ihres Anschwärzen des Prinzen die von ihr beabsichtigte Wirkung hat, stellt sich heraus, dass es sich hier um eine Adaption ihres originalen Racheplanes handelt, mit dem sie der Betrügerei ihres ehemaligen Geliebten ein blutiges Ende setzen will. Dass Odoardo dabei nur als Vehikel ihres Raches gesehen wird, zeigt der Druck, den sie auf den Vater ausübt, indem sie ihm einerseits den Dolch, mit dem er den Prinzen ermorden soll, aufdrängt, ihn andererseits herausfordert, die Gelegenheit zur Vergeltung zu ergreifen und auf diese Weise seine Männlichkeit zu beweisen. 40 Gunter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1988, S. 188. 41 Lessing: Emilia Galotti, S. 70. 27 Daher könne man auch die Gräfin Orsina als eine Egoistin bezeichnen, und zwar in dem Sinne, dass sie einerseits beharrlich das Ziel, sich an dem Prinzen zu rächen, anstrebt und dazu einen blutigen Mord und die Täuschung bzw. den Missbrauch eines aufrichtig beunruhigten Vaters nicht scheut, andererseits die etwaigen nachteiligen Folgen für andere Personen, bewusst oder unbewusst, zu wenig in Acht genommen hat. Gerade wegen dieser Rücksichtslosigkeit scheitert schließlich auch ihren Plan und hat auch sie, indem sie Odoardo die Mordwaffe verschafft hat, Anteil an dem Tode Emilias. Die Soldaten Wenn man sich auf der Suche nach egoistischem Verhalten innerhalb dem Adel in die Soldaten macht, fällt sogleich ein wichtiger Unterschied mit Lessings Emilia Galotti auf, denn die Geschichte spielt sich hier nicht in der Umwelt des Hofes, sondern in der Armee ab. Trotzdem stellen sich aber einige Parallelen zwischen dem Personal der beiden Stücke heraus, die den Aufbau dieses Kapitels folgendermaßen bestimmen: Zuerst wird dem Baron, Desportes, den man an dem ersten Blick als Pendant des adligen Verführers aus Emilia Galotti bezeichnen könne, Aufmerksamkeit gewidmet. Auf ähnliche Art und Weise wird der Tuchhändler Stolzius darauf als Gegenstück des bürgerlichen Intriganten, Marinelli, analysiert. Schließlich wird auch der Offizier Mary mit der Gräfin Orsina verglichen. Diese drei Personen sind gezwungenermaßen aus einer viel größeren militären Personal gewählt worden, und zwar auf Grund ihrer wesentlichen Rolle in der Liebesgeschichte mit dem Bürgermädchen, aus der, genau wie in Emilia Galotti, die Tragik des Stückes hervorgeht. In folgender Analyse wird versucht, diese Personen in erster Linie als Opfer der Verführerin, Marie, darzustellen, um danach tiefer auf ihr egoistisches Verhalten, das sich unverkennbar aus ihrem Selbstverständnis als Opfer ergibt, einzugehen. Obwohl der Baron Desportes an dem ersten Blick die Rolle des adligen Verführers zu erfüllen scheint und auch von mehreren Personen, insbesondere von Maries Vater, Wesener, und ihrem Geliebten, Stolzius, auf diese Art und Weise dargestellt wird, wird dieses Bild von dem Anfang des Stückes an schon stark nuanciert. Nicht nur muss man die Beschuldigungen der zwei oben genannten Personen wegen ihrer engen Beziehung mit dem Bürgermädchen Marie mit der nötigen Reserve 28 überprüfen, es gibt auch mehrere Hinweise auf die Aufrichtigkeit seiner Liebe für Weseners Tochter. So erweist er sich schon bei seinem ersten Auftritt als leidenschaftlicher Anbeter, der Marie, koste es, was es wolle, von seiner Liebe zu überzeugen versucht: DESPORTES. Was macht Sie denn da, meine göttliche Mademoiselle? […] DESPORTES (kniend). Ich schwöre Ihnen, dass ich noch in meinem Leben nichts Vollkommeners gesehen habe, als Sie sind. […] DESPORTES. Ich falsch? […] Ist das falsch, wenn ich mich vom Regiment wegstehle, da ich mein Semestre doch verkauft habe, und jetzt riskiere, dass, wenn man erfährt, dass ich nicht bei meinen Eltern bin, wie ich vorgab, man mich in Prison wirft, wenn ich wiederkomme, ist das falsch, nur um das Glück zu haben, Sie zu sehen, Vollkommenste?42 Das Zitat zeigt einen mehrfachen Versuch des Barons, das Bürgermädchen der Aufrichtigkeit seiner Liebe zu überzeugen. So versucht er zuerst, indem er den Gegenstand seiner Anbetung, und in diesem Sinne auch die Anbetung selbst, zu einem göttlichen bzw. religiösen Niveau erhebt, die Sittlichkeit seiner Avancen zu betonen. Da sich Marie von diesem göttlichen Titel aber nicht beeindrücken lässt, verleiht Desportes darauf seine Verehrung mittels eines Kniefalles und einer Betonung ihrer Vollkommenheit Nachdruck. Indem auch diese tönenden Worte das Mädchen nicht überzeugen können und sie dem Baron ihre Bedenken über seine Aufrichtigkeit sogar unverhohlen eingesteht, sieht er sich gezwungen, Marie auf die große Opfer, die er für sie auf sich nehmen will, hinzuweisen. Tatsächlich scheint die Tatsache, dass er für das Bürgermädchen sogar eine Freiheitsstrafe riskiere, den Ernst seiner Avancen wesentlich an Glaubwürdigkeit gewinnen zu lassen. Daneben betonen auch die vielen Geschenke, die der Baron Marie gibt, und die fast religiöse Anbetung, die sich aus dem Gedicht an dem Mädchen erneut erweist43, die Leidenschaftlichkeit seiner Liebe für Marie. Sogar Wesener muss, nachdem seine Tochter ihm das Gedicht ihres Verehrers gezeigt hat, nachgeben, dass der Baron „doch honett [denkt]“44. Könne man diese verschiedenartigen Avancen wegen ihrer Übertriebenheit noch als leere Worte einerseits und Versuche, die Liebe des Mädchens durch teure Präsente zu erkaufen, andererseits 42 Jakob Michael Reinhold Lenz: Die Soldaten. Eine Komödie. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co, 2004, S. 7-8. 43 Lenz: Die Soldaten, S. 17. 44 Lenz: Die Soldaten, S. 17. 29 beiseiteschieben, so scheint folgendes Eingeständnis Desportes’ seine Aufrichtigkeit völlig außer Zweifel zu stellen: DESPORTES. Ihr Glück – mit solch einem Lümmel. Was denken Sie doch, liebstes Mariel, und was denkt Ihr Vater? Ich kenne ja des Menschen und seine Umstände. Und kurz und gut, Sie sind für keinen Bürger gemacht. MARIE. Nein, Herr Baron, davon wird nichts, das sind nur leere Hoffnungen, mit denen Sie mich hintergehen. Ihre Familie wird das nimmermehr zugeben. DESPORTES. Das ist meine Sorge.45 Der Versuch des Barons, Marie ihr Schuldgefühl Stolzius gegenüber auszureden, könne man zweifach deuten: Einerseits erweist sich daraus ein gewisser Egoismus, denn Desportes will Marie, obwohl er weiß, dass sie schon Stolzius versprochen worden ist, angeblich, weil sie einen Mann aus einer höheren sozialen Schicht verdient, für sich gewinnen. In diesem Sinne entspricht sein Verhalten der oben genannten Definition der Selbstsucht, denn Desportes’ beharrliches Streben nach einer Heirat mit Marie erweist sich tatsächlich auch als rücksichtslos, indem er keinen Moment an die (etwaigen) Folgen für den betrogenen Tuchhändler denkt. Andererseits zeugt die Bereitschaft des Barons, seiner Familie entgegenzutreten, um eine Heirat mit dem sozial unterlegenen Bürgermädchen zustande zu bringen, auch von der Aufrichtigkeit seiner Liebe für Marie. Mit anderen Worten scheut sich Desportes nicht davor, der öffentlichen Meinung und der bestehenden gesellschaftlichen Barriere zu trotzen. Wie sich aber schon rasch herausstellt, scheint die Liebe bzw. Verführung ihn blind gemacht zu haben, denn, nachdem er mit der spielerischen bzw. leichtsinnigen Liebesauffassung Maries konfrontiert worden ist46, verschwindet der Baron, in einem Versuch, das verführerische Bürgermädchen bzw. Soldatenhure loszuwerden, spurlos. Ab diesem Punkt scheint sich der Egoismus des Barons, da er aus seinem Liebestraum erwacht ist und, neben seinem Irrtum, auch den etwaigen Rufschaden, den die Beziehung mit der Soldatendirne, wofür Marie gehalten wird, veranlassen könne, einsieht, besonders zu entwickeln. So versucht er das Bürgermädchen in seinem beharrlichen Streben nach der Wahrung seiner Reputation nicht nur in einen üblen Ruf zu bringen, sondern zeigt Desportes sich überdem bereit, alle Mittel, mit den er Marie loswerden könne, einzusetzen: 45 Lenz: Die Soldaten, S. 28. Lenz: Die Soldaten, S. 29. Auf diese Szene wird, indem sie mehr über den Charakter des Bürgermädchens sagt, als dass sie einen Beitrag zu dieser Analyse des Barons leisten könne, unten, in der Analyse der ‚tugendhaften’ Tochter, Marie, tiefer eingegangen. 46 30 DESPORTES. Wie ich dir sage, es ist eine Hure vom Anfang an gewesen, und sie ist mir nur darum gut gewesen, weil ich ihr Präsente machte. Ich bin ja durch sie in Schulden gekommen, dass es erstaunend war, sie hätte mich um Haus und Hof gebracht, hätt ich das Spiel länger getrieben. […] Was zu tun, ich schreib meinem Jäger, er soll sie empfangen, und ihr so lange Stubenarrest auf meinem Zimmer ankündigen, bis ich selber wieder nach Philippeville zurückkäme, und sie heimlich zum Regiment abholte. […] Nun mein Jäger ist ein starker robuster Kerl, die Zeit wird ihnen schon lang werden auf einer Stube allein. Was der nun aus ihr macht, will ich abwarten, (lacht höhnisch) ich hab ihm unter der Hand zu verstehen gegeben, dass es mir nicht zuwider sein würde. MARY. Hör, Desportes, das ist doch malhonett. DESPORTES. Was malhonett, was willst du – Ist sie nicht versorgt genug, wenn mein Jäger sie heuratet?47 Indem sich Desportes in dem ersten Teil des Zitats große Mühe gibt, das verführerische Bürgermädchen als eine auf Geld versessene Prostituierte darzustellen, die ihre Liebe für ihn nur vorgetäuscht hat, um ihn möglichst viel Geld abspenstig zu machen, zeigt sich die oben genannte Verleumdung, mit der er einerseits seinen Irrtum bzw. seine Täuschung, die ihn tief in Schulden gebracht hat, andererseits den darauf folgenden Plan, um Marie loszuwerden, zu beschönigen versucht. Denn, wie sich aus dem zweiten Teil des Zitats herausstellt, brauche der Baron jede Güte, Aufrichtigkeit und Unschuld, kurzum jede Menschlichkeit, die das Mädchen möglicherweise beigemessen werden könne, zu widerlegen, um eine solche teuflische, menschenunwürdige Strafe rechtfertigen zu können. Nach seiner Liebe für Marie, scheint jetzt das Sehnen nach Rache den Baron zu verblenden: Nicht nur scheint Desportes, trotz des Bewusstmachungsversuches Marys, die Unanständigkeit seines Planes, Marie vorübergehend an seinen Jäger auszuliefern, sodass dieser starke und virile, aber auch sehr einsame Mann sich an dem Mädchen vergreifen und sie schließlich heiraten (müssen) würde, nicht zu erkennen bzw. nicht erkennen zu wollen; auch das höhnische Lachen lässt vermuten, dass der Baron nicht mehr klar denkt. Die Ursache dieser Geistesverwirrung (und des daraus folgenden Egoismus) ist eine zweifache Verzweiflung, die sich dem Baron bemächtigt hat und die sich besonders aus den zwei folgenden Zitaten erweist: DESPORTES. Wenn sie mir hierher kommt, ist mein ganzes Glück verdorben – zu Schand zu Spott bei allen Kameraden.48 47 48 Lenz: Die Soldaten, S. 61. Lenz: Die Soldaten, S. 54. 31 DESPORTES (der sich in einen Winkel gestellt hat, für sich). Ihr Bild steht unaufhörlich vor mir – Pfui Teufel! fort mit den Gedanken. Kann ich dafür, dass sie so eine wird. Sie hat’s ja nicht besser haben wollen. (Tritt wieder zur andern Gesellschaft, und hustet erbärmlich.)49 Einerseits weiß Desportes, dass er Marie, die von dem Militär als Soldatendirne betrachtet wird, loswerden muss, um seinen guten Ruf den Kameraden gegenüber zu wahren. Dieses Bewusstsein wird nicht nur in dem ersten Zitat vom Baron expliziert, sondern schimmert auch in dem zweiten Zitat durch, indem Desportes sich selber davon zu überzeugen versucht, dass Marie selbst Schuld an ihrem Status einer Hure hat. Diese Überzeugung braucht er, um das Mädchen später ohne Schuldgefühl anschwärzen, und auf diese Weise mittels der Betonung seines Irrtums bzw. der Täuschung durch Marie seinen Ruf wahren zu können. Andererseits erweisen sich aus beiden Zitaten auch die großen Schwierigkeiten, auf die er bei dem Veruch, das Mädchen loszuwerden, stößt, denn sowohl physisch, wie auch mental bleibt Marie ihn verfolgen. Nicht nur bedroht das Bürgermädchen, indem sie dem Baron bis in die Armee nachzulaufen versucht, den Plan, den er zur Wahrung seines Rufes gefasst hat; auch ihr ekelhaftes Bild, das ihm unaufhörlich vor den Augen steht, quält ihn dermaßen, dass er davon, seinem erbärmlichen Husten nach zu urteilen, fast auf den Tod erkränkt. In diesem Sinne scheint die oben genannte Verzweiflung, die Anlass zu dem egoistischen Verhalten des Barons gibt, aus dem Zusammenstoß zwischen dem Verlangen einerseits und der Unfähigkeit andererseits, Marie loszuwerden, hervorzugehen. Aus dieser Analyse lässt sich schließen, dass Desportes keineswegs der rücksichtslose adlige Verführer, für den man ihn, im Vergleich zu dem Prinzen in Emilia Galotti, an den ersten Blick halte, ist. Seine Selbstsucht könne man als eine geläuterte Selbstsucht bewerten, und zwar in dem Sinne, dass das beharrliche und rücksichtslose Streben, Marie loszuwerden und auf diese Weise seinen Ruf wahren zu können, fast zwangsläufig aus seiner Rolle, als Opfer der Verführung des Bürgermädchens hervorzugehen scheint. Indem Marie ihn dermaßen verführt hat, dass er ganz von ihr besessen scheint, sieht sich Desportes gezwungen, oben genanntes gefühllos-egoistisches Verhalten, bei dem er die etwaigen Folgen für das Glück und den Ruf des Mädchens nicht im Geringsten berücksichtigt, anzunehmen, damit er diese schonunglose Verführerin letztendlich loswerden könne. 49 Lenz: Die Soldaten, S. 58. 32 Auch der Tuchhändler Stolzius soll man, bevor ihn mit dem bürgerlichen Intriganten Marinelli zu vergeichen, in erster Linie als Opfer des leichtsinnigen, verführerischen Bürgermädchens betrachten. Wie sich aus dem folgenden Zitat ergibt, scheint auch er, genau wie sein Konkurrent, Desportes, Marie aufrichtig und leidenschaftlich zu lieben: STOLZIUS (mit verbundenem Kopf). Mir ist nicht wohl, Mutter! MUTTER (steht eine Weile und sieht ihn an). Nu, ich glaube, Ihm steckt das verzweifelte Mädel im Kopf, darum tut er Ihm so weh. […] STOLZIUS. Aus Ernst, Mutter, mir ist nicht recht. MUTTER. Nu, wenn du mir gute Worte gibst, so will ich dir das Herz wohl leichter machen (Zieht einen Brief heraus.) STOLZIUS (springt auf). Sie hat Euch geschrieben? MUTTER. Da, kansst du’s lesen. (Stolzius reißt ihn ihr aus der Hand, und verschlingt den Brief mit den Augen.) Aber hör, der Obriste will das Tuch ausgemessen haben für die Regimenter. STOLZIUS. Lasst mich den Brief beantworten, Mutter. MUTTER. Hans Narr, ich rede vom Tuch, das der Obrist bestellt hat für die Regimenter. Kommt denn –50 Diese Szene erweist sich als symptomatisch für die Leidenschaftlichkeit der Liebe des Tuchhändlers. In Gegensatz zum Baron, dessen Unfähigkeit, Marie loszuwerden, ihn schließlich fast auf den Tod erkrankt, scheint Stolzius schwer an der Abwesenheit seiner zukünftigen Gattin zu leiden. Obwohl er seiner Mutter von der Echtheit seiner Krankheit zu überzeugen versucht, durchschaut sie die Anstellerei ihres Sohnes leicht, indem sie Stolzius’ Obsession für das Bürgermädchen, völlig zurecht, als Ursache seiner angeblichen Kopschmerzen anweist. Denn tatsächlich scheint der Tuchhändler, indem die Mutter ihm einen Brief seiner Geliebten übergibt, wunderbar zu genesen: Lag er am Anfang noch schwer erkrankt da, so springt er, sobald er den Brief erblickt, auffällig lebhaft auf und scheint er überdem auch auf einmal die Kraft gefunden zu haben, „ihn ihr aus der Hand [zu reißen]“. Die Leidenschaftlichkeit, die Stolzius für Marie empfindet, erweist sich aber nicht nur aus dem Leiden, den ihre Abwesenheit herbeiführt; auch die Begierde, mit der er diesen Brief verschlingt und die Tatsache, das er über die geringste Beachtung seiner zukünftigen Gattin seine Arbeit völlig vernachlässigt bekräftigen oben genannte Obsession. In diesem Sinne stellt sich Stolzius tatsächlich als ein richtiger ‚Hans Narr’ heraus, indem er über diese Leidenschaft völlig 50 Lenz: Die Soldaten, S. 6-7. 33 den Kopf verloren zu haben scheint. Dies erweist sich u.a. auch aus der übersteigerten Reaktion des Tuchhändlers auf die Hechelei über eine etwaige Beziehung zwischen Desportes und Marie: „STOLZIUS. Aber das Gerede, Herr Major! Stadt und Land ist voll davon. Ich könnte mich den Augenblick ins Wasser stürzen, wenn ich dem Ding nachdenke.“51 Man könne sogar behaupten, dass sich Stolzius, indem er wegen bloßes Getratsches über einen ‚Ehebruch’ seiner Geliebten schon Selbstmord erwägt, fast als Verrückter herausstellt. Dieses große Selbstmitleid entwickelt sich aber schon rasch zu einer rücksichtslosen Rachsucht, die wesentlich von seiner verblendenden Leidenschaft beeinflusst wird, und zwar in dem Sinne, dass Stolzius Marie, wegen seiner Schwäche für das Bürgermädchen, völlig entschuldigt und seine Rache sich demzufolge auf den Baron beschränkt: STOLZIUS (fasst ihr beide Hände). Liebe Mutter, schimpft nicht auf sie, sie ist unschuldig, der Officier hat ihr den Kopf verrückt. Seht einmal, wie sie mir sonst geschrieben hat. Ich muss den Verstand verlieren darüber. Solch ein gutes Herz! […] (Springt auf.) […] MUTTER (weint). Wohin, du Gottsvergessener? STOLZIUS. Ich will dem Teufel, der sie verkehrt hat – (Fällt kraftlos auf die Bank, beide Hände in die Höhe.) Oh du sollst mir’s bezahlen, du sollst mir’s bezahlen. (Kalt.) Ein Tag ist wie der andere, was nicht heut kommt, kommt morgen, und was langsam kommt, kommt gut.52 Wie sich aus dem folgenden Zitat ergibt, ist auch Stolzius, genau wie sein großer Konkurrent, Desportes, von seiner Liebe für bzw. der Verführung durch Marie verblendet worden. In Gegensatz zu dem Baron, scheint der Tuchhändler aber unfähig, die leichtsinnige Liebesauffassung seiner Geliebten als eigentliche Ursache des ‚Ehebruches’ zu erkennen, indem er selber zugibt, dass er über das gute Herz des Bürgermädchens den Verstand verlieren muss. Tragischerweise fällt gerade Desportes, den Stolzius im Grunde, wegen ihres geteilten Opferstatus, als Bundgenosse betrachten soll, erneut zum Opfer, diesmal nicht seiner eigenen, sondern der Liebe seines Konkurrenten für Marie, denn in einem Anfall von Geistesverwirrung, über die sich seine Mutter tief betrübt zeigt, denkt Stolzius irrtümlicherweise den Baron als „Teufel, der sie [Marie] verkehrt hat“ zu erkennen. 51 52 Lenz: Die Soldaten, S. 19. Lenz: Die Soldaten, S. 33. 34 Ab diesem Punkt ermöglicht sich der Vergleich zwischen dem betrogenen Geliebten, Stolzius, und dem bürgerlichen Intriganten, indem sich Stolzius auf der Suche nach einer Möglichkeit, sich an dem Baron zu rachen, macht. Dabei sind es besonders die Kälte und die Berechnung seines Planes, die an der Intrige Marinellis in Emilia Galotti erinnern. Wie sich aus dem Ende des oben stehendes Zitats erweist, ist Stolzius bereit, behutsam eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um seine Rache an Desportes zu nehmen. Indem er als Bedienter in der Haushaltung des Officiers Mary, der einen guten Freund des Barons ist, infiltriert, um Desportes auf diese Weise bei dem Abendessen zu vergiften, bevor den oben genannten Selbstmord zu verüben, erweist sich der Tuchhändler als ein richtiger Intrigant, der auf die krumme Tour jede Situation zu seinem Vorteil zu gebrauchen bzw. missbrauchen weiß. Dabei zeigt sich die Rücksichtslosigkeit seines Strebens nach Rache besonders an die Beharrlichkeit, mit der er dieses Vorhaben, trotz der Gespräche zwischen Mary und Desportes, die er überhört und in der Desportes sich mehrmals als Opfer des verführerischen Bürgermädchens darstellt, durchführt. Aus dieser Analyse könne man schließen, dass auch der Tuchhändler Stolzius, genau wie sein Konkurrent Desportes, eine geläuterte Selbstsucht aufzeigt. Auch er erweist sich in erster Linie als Opfer der Verführung durch bzw. seiner Liebe für Marie. In Gegensatz zum Baron, hat seine Liebe ihn aber permanent verblendet und sieht er daher nicht ein, dass auch seine Geliebte, und insbesondere ihre verführerische Qualität, Mitschuld an ihrem ‚Ehebruch’ bzw. Beziehung mit Desportes haben. Obwohl er darauf ein beharrliches Streben nach Rache an dem Baron aufweist, deren Rücksichtslosigkeit sich besonders an seine Bereitschaft zeigt, Desportes dazu zu ermorden, lässt sich auch Stolzius’ Egoismus, in Hinsicht auf die Geistesverwirrung, die aus seinem leidenschaftlichen Liebe für Marie hervorgeht, gewissermaßen entschuldigen. Schließlich soll auch der Officier, Mary, im Rahmen eines Versuches, ihn mit der Gräfin Orsina zu vergleichen, zwar sehr kurz, Aufmerksamkeit gewidmet werden. Zuerst aber erweist auch er sich als Opfer der Verführung des Bürgermädchens, indem er nichts lieber will, als Desportes ‚einen guten Dienst zu erweisen’ und Marie an seiner Stelle zu heiraten: 35 MARY. Soll ich dir aufrichtig sagen, Stolzius, wenn der Desportes das Mädchen nicht heuratet, so heurate ich’s. Ich bin zum Rasendwerden verliebt in sie. Ich habe schon versucht, mir die Gedanken zu zerstreuen, du weißt wohl, mit der Düval, und denn gefällt mir die Wirtschaft mit dem Grafen gar nicht, und dass die Gräfin sie nun gar ins Haus genommen hat, aber alles das – verschlägt doch nichts, ich kann mir die Narrheit nicht aus dem Kopf bringen.53 Dieses Zitat fasst den Charakter des Officiers hervorragend zusammen: Einerseits ist er, wie er selber sagt, „zum Rasendwerden verliebt in sie [Marie]“ und gelingt es ihm, trotz des Versuches, seine Gedanken mittels einer Liebelei mit Madame Düval abzuleiten, keineswegs, das Bürgermädchen aus dem Kopf zu schlagen. Andererseits könne man ihn mit Orsina vergleichen, und zwar in dem Sinne, dass er die Situation zu seinem Vorteil zu biegen versucht. Obwohl er vorgibt, eine Ehe mit Marie eingehen zu wollen, um seinem Freund, Desportes, der verzweifelt versucht, das Mädchen loszuwerden, zu helfen, scheint er mit dieser Wohltat in erster Linie seine eigene Liebe für Marie befriedigen zu wollen. Indem er sich in seinem Streben nach einer Ehe mit dem Bürgermädchen aber unerfolgreich zeigt und dieses Streben keine offensichtlichen, negativen Folgen mit sich zu bringen scheint, könne man schwerlich zu Schlussfolgerungen in Bezug auf die Rücksichtslosigkeit und Beharrlichkeit des Officiers kommen und muss man daher schließen, dass Mary, teilweise wegen einer Mangel an Beweisen, vielmehr als Opportunisten bewertet werden soll, als dass man ihn als richtigen Egoisten betrachten könne. 2.2. Der Egoismus der ‚bürgerlichen’ Kleinfamilie Im Rahmen einer Analyse des bzw. Suche nach selbstsüchtigem Verhalten innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie wird sich in diesem Teil die Frage stellen, ob die verschiedenen Angehörigen dieses „Schutzraum[es] gegen feudale Willkür […] und […] Enklave des Gefühls gegen das in Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend sich durchsetzende Prinzip der Rationalität“54 vielleicht nicht selbst Schuld an dessem Zerfall haben. Gerade weil dieser Kleinfamilie in dem 18. Jahrhundert eine solche positive Konnotation beigemissen wurde, lässt sich aber vermuten, dass die Selbstsucht dieser Figuren entweder besser versteckt, oder viel flüchtiger sein wird und daher 53 54 Lenz: Die Soldaten, S. 50. Stephan: „Aufklärung“, S. 168. 36 vielmehr zwischen den Zeilen gesucht werden muss. Indem im Folgenden nacheinander die Rollen des Vaters, der Bürgertochter und der Mutter in Emilia Galotti bzw. Die Soldaten analysiert werden, wird einen Versuch unternommen, diesen Egoismus in einer kohärtenten Ausführung festzulegen. Emilia Galotti Wenn man der Vaterfigur im bürgerlichen Trauerspiel eine selbstsüchtige Lebenshaltung und den dementsprechenden Anteil an dem tragischen Ablauf des Dramas beizumessen versucht, fragt man im Grunde, wie man einem Vater, der seine Tochter zärtlich liebt und sie vor jedem kleinsten Fehltritt und jeder etwaigen Gefahr aus der Umwelt zu schützen versucht, den Status eines Altruisten, der in seinem Streben nach dem größtmöglichen Wohl dieser Tochter seine eigenen Interessen ständig zurückstellt, abnehmen kann und ihn stattdessen völlig gegensätzlich als Egoisten, der, wie die Definition sagt, beharrlich und rücksichtslos dem eigenen Nützen nachstrebt, bezeichnen kann. Eine potenzielle Lösung dieses auf den ersten Blick problematischen Gegensatzes zweier einander ausschließenden Mentalitäten liege in folgender wichtigen Einsicht der Genderforschung über die Verhältnisse innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie in dieser Epoche: „Der Mann hatte in der bürgerlichen Kleinfamilie eine so starke Stellung, dass er praktisch Besitzer der Frau war.“55 Dieses Besitzverhältnis bzw. „Ökonomisierung der Beziehungen“56, das eine unmittelbare Folge der im 18. Jahrhundert zunehmenden Arbeitsteilung zwischen der öffentlichen und entlohnten männlichen Produktion und der häuslichen und unbezahlten weiblichen Reproduktionsarbeit war, gibt es sowohl in Bezug auf die Mutter, wie auch auf die Tochter und wird im Folgenden als wesentlichen Teil der Begründung der Selbstsucht Odoardos angeführt. Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht die Beziehung zwischen Vater und Tochter, die der Ausgangspunkt dieser Analyse des Bürgervaters Odoardo bildet und die von Stephan auf folgende Weise prägnant zusammengefasst wird: Die Töchter sind ‚Eigentum’, ‚Vermögen’ und ‚Ware’ des Vaters, ihre Tugend ist nicht nur ein ideelles, sondern auch ein materielles Gut. […] Die Tugend der Töchter ist die Macht der Väter. Als ‚Ware’ wird die Tochter zum Objekt des 55 56 Stephan: „Aufklärung“, S. 168. Stephan: „Aufklärung“, S. 166. 37 Austauschs zwischen Männern und zum Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum.57 Aus diesem Zitat gehen zwei wichtige Aspekte der Beziehung bzw. des Besitzverhältnisses zwischen Vater und Tochter hervor, die, wenn man sie auf den Text anwendet, zeigen, dass Odoardo Emilia und ihre Tugend vielmehr als Gegenstand seines Kampfes mit dem Hofe betrachtet, als dass sie als gefühlvoller und eigenwilliger Mensch anerkannt wird. Ein erster ist der materialistische Umgang des Vaters mit seiner Tochter, der von einer doppelten Reduzierung Emilias gekennzeichnet wird: Einerseits wird die Bürgertochter auf ihre (laut dem Vater) wichtigste Eigenschaft, die Tugend, reduziert; andererseits wird diese Tugend nur als gegenständlicher Teil des väterlichen Vermögens betrachtet. Symptomatisch für diese Verniedlichung bzw. Entmenschlichung der Tochter ist die zärtliche Tyrannei, mittels der Odoardo seine Herrschaft über die Familie, und insbesondere über Emilia, zu konsolidieren versucht. Diese äußert sich schon in dem ersten Auftritt Odoardos in einer übertriebenen Besorgtheit um bzw. Schutz vor einem Fehltritt seiner Tochter, indem er seiner Gattin, Claudia, seinen Ärger darüber ausdrückt, dass sie Emilia ganz allein „[d]ie wenigen Schritte“58 nach der Kirche machen lassen hat, denn laut ihm ist „[e]iner […] genug zu einem Fehltritt“59. Weist an diesem Punkt noch nichts auf den oben genannten materialistischen Umgang Odoardos mit seiner Tochter und scheint er sie im Gegenteil sogar zärtlich zu lieben, so werden erst gegen Ende der Geschichte, ab dem Moment, dass Odoardo nach der Entführung Emilias an dem Lustschlosse des Prinzen auftaucht, die wirklichen Verhältnisse zwischen Vater und Tochter peinlich deutlich. Wie folgendes Zitat suggeriert, handelt Odoardo nicht so sehr aus Liebe für seine Tochter, als vielmehr aus Bekümmernis um die Erhaltung seiner Macht: „ODOARDO GALOTTI. […] Was hat die gekränkte Tugend mit der Rache des Lasters zu schaffen? Jene allein hab ich zu retten.“60 Indem Odoardo nicht die Rettung seiner Tochter, sondern nur die Wahrung ihrer Tugend für notwendig zu halten glaubt, zeigt er, dass einerseits Emilia in seinen Augen kein gefühlvoller und eigenwilliger Mensch ist, sondern ihm nur wegen ihrer Tugend viel bedeutet; andererseits er selber ein Egoist ist, und zwar in dem Sinne, 57 Stephan: „Aufklärung“, S. 166. Lessing: Emilia Galotti, S. 21. 59 Lessing: Emilia Galotti, S. 22. 60 Lessing: Emilia Galotti, S. 75. 58 38 dass er sich in seinem Streben nach die Wahrung seiner Macht bzw. der Tugend seiner Tochter als Quelle dieser Macht keineswegs um das Schicksal dieser Tochter zu kümmern scheint. Die Rest des Stückes unterschreibt diese Betrachtung in verschiedener Weise. So bestätigt folgendes Zitat die Tyrannei Odoardos, die Emilia in dem Sinne, dass sie unumgänglich dem Willen ihres Vaters unterworfen ist, zu einem unpersönlichen Teil des Eigentums des Vaters macht: „ODOARDO (hitzig). Erwägen! erwägen! Ich erwäge, dass hier nichts zu erwägen ist. – Sie soll, sie muss mit mir.“ 61 Indem Odoardo Emilia als seinen Besitz betrachtet und er, als Eigentümer des Mädchens, das absolute Entscheidungsrecht über sie hat, gibt es hier in seinen Augen keinen Anlass zu einer Erwägung mit dem Prinzen und Marinelli über das Schicksal seiner Tochter. In dieser Hinsicht bestätigt auch die folgende Aussage Odoardos seine Gewalt über das Tun und Denken Emilias: „ODOARDO. […] Ich denke, ich weiß es, was meiner Tochter in ihren itzigen Umständen einzig ziemet.“62 Indem er für Emilia denkt und zu wissen glaubt, was gut für sie ist, betont der zärtlich-tyrannische Vater hier aufs Neue seine absolute Autorität in dem Bereich der Entscheidungen über seine Tochter bzw. sein Eigentum. Diese Haltung seiner Tochter gegenüber kulminiert in dem vorletzten Auftritt des Stückes, in dem Odoardo u.a. mit den folgenden Worten Emilia von ihrem Plan, Selbstmord zu verüben, um auf diese Weise ihren Vater an dem Mord seiner Tochter und der darauf folgenden Verfolgung zu hindern, abzubringen versucht: „ODOARDO. Was? Dahin wäre es gekommen? Nicht doch; nicht doch! Besinne dich. – Auch du hast nur Ein Leben zu verlieren. EMILIA. Und nur Eine Unschuld!“63 In Hinsicht auf das in dieser Analyse schon festgestellte egoistische Verhalten Odoardos, das von dem beharrlichen und rücksichtslosen Streben nach der Wahrung der Tugend Emilias und der dazugehörigen Macht gekennzeichnet wird, erweist sich Emilias Anmerkung offensichtlich als eine höhnische Bemerkung an die Adresse ihres Vaters. Mittels dieses kürzen Sätzchens wird Odoardo von seiner eigenen Tochter entlarvt, indem sie sich der eigentlichen Absicht ihres Vaters, sie von ihrem Selbstmordplan abzubringen, bewusst zeigt: Odoardo macht sich in erster Linie Sorgen über die Macht, die er infolge des Verlustes der Tugend Emilias, wenn sie Selbstmord verüben würde, verlieren könne; Die Bekümmernis um das Leben seiner Tochter wird mit Recht als Scheinmanöver 61 Lessing: Emilia Galotti, S. 77. Lessing: Emilia Galotti, S. 78. 63 Lessing: Emilia Galotti, S. 85. 62 39 beiseitegeschoben, denn gerade in dem Moment, dass Emilia ihren eigenen Willen zum ersten Mal in dem Stücke durchzusetzen versucht und sich selbst mit dem Dolche durchstechen will, reißt Odoardo die Macht doppelt an sich. Indem er Emilia durchsticht, gelingt es ihm nicht nur das beinahe abgetrotzete Selbstbestimmungsrecht Emilias rückgängig zu machen, sondern auch ihre Tugend bzw. Unschuld, „[d]ie über alle Gewalt erhaben ist“64 zu wahren. Dieses Zitat stellt eine Verbindung mit dem zweiten wichtigen Aspekt der VaterTochter-Beziehung in dem bürgerlichen Trauerspiel her, der einen besseren Einblick in die Beweggründe für Odoardos selbstsüchtiges Verhalten verschaffen kann: die Tochter als „Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum.“ 65 In diesem Sinne scheint auch Emilia sowohl als ihres Vaters wichtigste Waffe, wie auch als symbolisches Objekt, denn, wie schon erwähnt, ist ihre Tugend seine Macht, in dem Streit um bürgerliche Autonomie zu fungieren. Konkret zeigt ein Monolog Odoardos, in dem er in seinem Zorn über die freche Äußerung Marinellis, der Prinz soll entscheiden, was mit Emilia geschehen wird, seine verborgenen Motive verrät, diese hartnäckig in den Kontext des Machtkampfes zwischen Adel und Bürgertum eingebettete Auffassung der Tochter auf, die ihre entmenschlichende Reduzierung auf ihre Tugend als materielle Gegenstand dieses Kampfes erneut Nachdruck verleiht: „ODOARDO GALOTTI. Wie? – Nimmermehr! – Mir vorschreiben, wo sie hin soll? – Mir sie vorenthalten? – Wer will das? Wer darf das? – Der hier alles darf, was er will? Gut, gut; so soll er sehen wie viel auch ich darf, ob ich es schon nicht durfte!“66 Indem sich darauf ein Wortstreit um das Entscheidungsrecht über bzw. Besitz von Emilia entspinnt, zeigt sich der wirkliche Grund der scheinbaren Bekümmernis des Vaters um seine Tochter: Wie es einen Egoisten geziemt, strebt Odoardo, ohne Rücksicht auf den etwaigen Verlust des Lebens seiner Tochter zu nehmen, die Wahrung ihrer Unschuld, die er, als Symbol seiner Macht, von dem Adel gefährdet glaubt, an. Dieser Machtstreit, der man in dem Sinne, dass nur Odoardo ihn derart auffasst und es der Prinz keineswegs um den Verlust der Tugend Emilias bzw. der Macht Odoardos zu tun ist, als imaginär bewerten könne, kulminiert in dem Mord des Vaters an seiner Tochter, mit dem er zeigt, lieber seinen Besitz zu vernichten, als ihn dem Adel vergeben zu müssen. Indem er mit seiner 64 Lessing: Emilia Galotti, S. 85. Stephan: „Aufklärung“, S. 166. 66 Lessing: Emilia Galotti, S. 77. 65 40 einschneidenden Aktion „eine Rose gebrochen [hat], ehe der Sturm sie entblätter[en konnte]67 bzw. die Tugend seiner Tochter auf immer gewahrt hat, glaubt sich Odoardo am Ende (unbegreiflich) der moralische Sieger, was er mittels des ausführlichen Vorwurfes an die Adresse des Prinzen stark betonen will. In Hinsicht auf die verschiedenen, oben angeführten Spuren des wirklichen Charakters Odoardos, lässt sich schließen, dass auch der scheinbar altruistische, strenge, aber zärtlich liebende Vater um kein Haar besser ist als der egoistische und intrigante Adel: Genau wie Marinelli, widmet das Interesse Odoardos sich einseitig der Wahrung seiner Macht. Obwohl er dabei viel impulsiver bzw. weniger berechnend als der bürgerliche Intrigant vorgeht, kann auch er auf der Grundlage der Beharrlichkeit und Rücksichtslosigkeit seines Strebens als Egoist bezeichnet werden. Obwohl die Mutter im bürgerlichen Trauerspiel, wenn es schon eine gibt, oft von den (Vater)Figuren als dumm und kupplerisch beiseite geschoben wird oder gegen das Ende des Stückes einfach von der Bühne verschwindet, darf man ihren Anteil an dem (tragischen) Ablauf der Geschichte keineswegs unterschätzen. Auch Odoardo scheint diesen Anteil in dem Moment, dass Orsina ihm den Plan des Prinzen aufdeckt, zu erkennen: „ODOARDO. […] (Blickt wild um sich, und stampft, und schäumet.) Nun, Claudia? Nun, Mütterchen? – Haben wir nicht Freude erlebt! O des gnädigen Prinzen! O der ganz besondern Ehre!“68 Mit diesen Worten verweist der Vater nach folgendem Vorwurf, den er seiner Gattin, in Bezug auf ihr Bedauern über den Verlust ihrer Tochter infolge der Heirat zwischen Emilia und dem Grafen Appiani, schon eher gemacht hat: ODOARDO. Was nennst du, sie verlieren? Sie in den Armen der Liebe zu wissen? Vermenge dein Vergnügen an ihr, nicht mit ihrem Glücke. – Du möchtest meinen alten Argwohn erneuern: – dass es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der Welt, mehr die Nähe des Hofes war, als die Notwendigkeit, unserer Tochter eine anständige Erziehung zu geben, was dich bewog, hier in der Stadt mit ihr zu bleiben[.]69 Diese öffentliche Bezichtigung der Mutter scheint alle Charakterzüge, die der Mutterfigur in dem bürgerlichen Trauerspiel oft beigemessen werden, zu bestätigen: Indem sie laut Odoardo nur aus persönlichen Interessen, wie der Hang nach dem oberflächlichen Amüsement und der Lebendigkeit der höfischen Welt, in der Stadt 67 Lessing: Emilia Galotti, S. 87. Lessing: Emilia Galotti, S. 70. 69 Lessing: Emilia Galotti, S. 25. 68 41 wohnen wollte und das Glück ihrer Tochter nur an zweiter Stelle kommen ließ, stellt sie sich als kurzsichtig und naiv, aber über alles als eine Egoistin heraus, denn auch sie zeigt sich in dieser Hinsicht beharrlich und rücksichtslos in ihrem Streben nach dem eigenen Nutzen: die Angehörigkeit und Anerkennung des Hofes. Obwohl die Zuschreibung einer Mitschuld an Claudia in dem Sinne, dass sie Emilia wegen ihres Strebens dem Prinzen, bewusst oder unbewusst, zu nahe gebracht hat, zweifellos für annehmbar gehalten werden kann und sich aus ihrer Begeisterung über die Aufmerksamkeit, die der Prinzen ihrer Tochter geschenkt hat, ein kupplerischer Aspekt und eine besondere Empfänglichkeit für Schmeichelei schließen lassen, muss die Beschuldigung Odoardos mit gebotener Vorsicht aufnehmen, denn aus der oben stehenden Analyse der Vaterfigur hat sich schon herausgestellt, dass Odoardo, wegen der Impulsivität und Radikalität seiner Maßnahmen gegen den etwaigen Verlust seiner Macht, wesentlich an Glaubwürdigkeit einbußen muss. Überdem soll dieses Anschwärzen ihres Ehemannes im Rahmen der kantschen Auffassung, „[d]ie Familie ist kein Binnenraum des Glücks, sondern fortwährender Kampf zwischen Mann und Frau“70, als logischer Aspekt ihrer Ehe aufgefasst werden. Trotzdem bildet sie einen interessanten Ausgangspunkt bzw. Anregung für eine Analyse der Selbstsucht der Mutterfigur. Wenn man sich jetzt, statt auf die Darstellung Claudias von Odoardos Sicht aus zu achten, anhand der Selbstcharakterisierung ein Bild von der Mutter zu machen versucht, fällt die große Bekümmernis, den Schein ihrer Unschuld den anderen Personen gegenüber zu wahren, sogleich ins Auge. So weiß sie, indem sie gegen die oben genannte Beschuldigung Odoardos einwendet, dass ohne sie bzw. ihre Entscheidung, in der Stadt zu wohnen, Emilia den Grafen nie kennengelernt haben könnte71, die Bestätigung dieses Vorwurfes und den daraus folgenden Verlust ihrer Unschuld zu entkommen. Noch stärker und rücksichtsloser zeigt sich dieses Streben nach Rechtschaffenheit aber in folgendem Zitat: CLAUDIA. Wenn du in deiner Verwirrung auch ihn [Odoardo] das hättest hören lassen! EMILIA. Nun, meine Mutter? – Was hätt er an mir Strafbares finden können? CLAUDIA. Nichts; ebenso wenig, als an mir. Und Doch, doch – Ha, du kennst deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt er den unschuldigen Gegenstand des 70 71 Duden: “Das schöne Eigentum.”, S. 127. Lessing: Emilia Galotti, S. 25. 42 Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt ich ihm geschienen, das veranlasst zu haben, was ich weder verhindern, noch vorhersehen können.72 In dieser Szene gelingt es Claudia auf großartige Art und Weise bis auf dreimal, ihre Unschuld vor drei verschiedenen Personen zu wahren. Weil sie weiß, dass Odoardo, wenn er etwas über den zweiten Annäherungsversuch des Prinzen an Emilia erfährt, seinen Vorwurf, Claudia sei nur aus Eigennutz in die Stadt umgezogen und nimmt zu wenig Rücksicht auf den Schutz ihrer Tochter, bestätigt sehen wird, versucht sie zuerst Emilia davon zu überzeugen, ihrem Vater diesen Vorfall zu verschweigen. Indem sie dazu die Impulsivität ihres Ehemannes während seiner Wutanfälle, mit der auch Emilia ohne Zweifel vertraut sein muss, als wichtigstes Argument verwendet, wird die Unschuld der Mutter zugleich auch ihrer Tochter gegenüber doppelt begründet, denn einerseits wird Emilia jeden Vorwurf, den Odoardo seiner Gattin nachher darüber machen würde, aller Wahrscheinlichkeit nach als einen unbesonnenen und übertriebenen Versuch, seine Wut an Claudia auszulassen, beiseiteschieben; andererseits gibt es die explizite Betonung der eigenen Unschuld, die sich insbesondere auf die Unmöglichkeit beruft, den oben genannten Vorfall vorauszusehen, geschweige denn zu verhindern. Wer aber zwischen den Zeilen liest, wird in diesem Zitat schon schnell eine durchschimmernde Bestätigung bzw. Bewusstsein ihres Schuldes betrachten, denn gerade die oben genannte Betonung, sie konnte diesen Vorfall „weder verhindern, noch vorhersehen“73, verrät, dass sie sich zumindest des Anlasses dieser zweiten Begegnung bzw. der Bewunderung des Prinzen bewusst war; diese Aufmerksamkeit der höfischen Welt ihr aber derart geschmeichelt hat, dass sie blind für die etwaigen Folgen für ihre Tochter war. Daneben zeigt sich Claudias rücksichtsloses Interesse an dem eigenen Nutzen auch in der radikalen Selbstbezogenheit ihres Antwortes auf die Frage Emilias nach ihrer Strafbarkeit in den Augen des Vaters, indem die ganze Entschuldigung nicht Emilia, sondern ihr betrefft. Sogar die Aussage, Odoardo würde „den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher“74 verwechseln, lässt sich durch ihre Positionierung zwischen zwei Sätze, in den die Betonung auf den Wörtern ‚mir’ und ‚ich’ liegt, zweideutig auffassen. Doch scheint auch dieser Satz sich vor allem auf ihr selbst zu beziehen und fungiert er in dieser 72 Lessing: Emilia Galotti, S. 29. Lessing: Emilia Galotti, S. 29. 74 Lessing: Emilia Galotti, S. 29. 73 43 Hinsicht als Nachdruck verleihendes Element der Selbstcharakterisierung Claudias als scheinbar „unschuldigen Gegenstand des Verbrechens“75. Drittens gelingt es ihr, ihre Unschuld auch vor Appiani zu wahren, indem sie Emilia mit dem Argument, sie wird Appiani für nichts unruhig machen und ihr Geständnis wird nur Argwohn in die Ehe hineinbringen, davon zu überzeugen weiß, auch ihrem zukünftigen Ehemann die Begegnung in der Kirche nicht aufzudecken. Dass die zwei oben festgelegten Aspekte der Mutterfigur in Emilia Galotti, die Schuld an der Anbetung Emilias durch den Prinzen und der daraus folgenden Tragödie wegen des Mangels an Rücksicht auf die etwaigen Folgen ihrer Annäherungsversuche an dem Hofe für ihre Tochter einerseits; die beharrliche Betonung ihrer Unschuld andererseits, nicht nur auf diese Szene bzw. den Anfang des Stückes beschränkt sind, zeigen folgende Beispiele aus der Auflösung des Dramas: CLAUDIA. Was? Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? – Mörder waren es; erkaufte Mörder! – Und Marinelli, Marinelli war das letzte Wort des sterbenden Grafen! Mit einem Tone! MARINELLI. Mit einem Tone? CLAUDIA. Ha, könnt ich ihn nur vor Gerichte stellen, diesen Ton! – Doch, weh mir! Ich vergesse darüber meine Tochter. – Wo ist sie?76 Dieses erste Zitat zeigt, wie Claudia, in dem Moment, dass sie Marinelli in dem Lustschloss des Prinzen begegnet und einsieht, dass der Tod des Grafen keinen unglücklichen Zufall, sondern einen von ihm bezahlten Mord war, über diese Erkenntnis ihre Bekümmernis über das Schicksal ihrer eigenen Tochter vergisst. Indem sie ihr gebrochenes Streben, mittels der Heirat Emilias mit dem Grafen Appiani in eine höhere Gesellschaftsschicht aufzusteigen bzw. sich den hohen Adel anzunähern, wegen des Kriminalcharakters des Grafen Todes umso peinlicher und beklagenswertiger erfährt, zeigt sich die Mutter vielmehr daran interessiert, Marinelli dieses Mordes zu beschuldigen und in diesem Sinne die Gerechtigkeit, und zugleich ihre Rache, siegen zu lassen, als dass sie ihre Tochter vor einem noch unsicheren Schicksal hüten will. Nur ganz am Ende ihrer Raserei und fast nebenbei, fällt ihr der eigentliche Gegenstand ihrer Suche ein und kehrt die Sorge um Emilia, zwar in viel weniger heftigem Maße als ihre Wut über den Mord an dem Grafen bzw. ihre Chance auf einen Anschluss an dem hohen Adel, wieder. 75 76 Lessing: Emilia Galotti, S. 29. Lessing: Emilia Galotti, S. 52. 44 CLAUDIA (die im Hereintreten sich umsiehet, und sobald sie ihren Gemahl erblickt, auf ihn zuflieget). Erraten! – Ah, unser Beschützer, unser Retter! Bist du da, Odoardo? Bist du da? – […] Was soll ich dir sagen, wenn du noch nichts weißt? – Was soll ich dir sagen, wenn du schon alles weißt? – Aber wir sind unschuldig. Ich bin unschuldig. Deine Tochter ist unschuldig. Unschuldig, in allem unschuldig!77 Dieses zweite Beispiel, das die Reaktion Claudias auf die kommende Konfrontation mit ihrem Ehemann zeigt, scheint das Bild der Mutter als beharrliche und rücksichtslose Egoistin gewissermaßen zu mildern. Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass sie, indem sie einerseits laut darüber zu denken scheint, wie sie sich aus Odoardos Zorn herausreden könne, andererseits bis auf viermal ihre Unschuld betont, in erster Linie ihr Imageschaden Odoardo gegenüber zu beschränken versucht; doch könne der Beweggrund dieses Versuches den Leser bzw. Zuschauer vielleicht milder stimmen, denn verschiene Details in diesem Zitat scheinen darauf hinzudeuten, dass der übertriebene Wille, als unschuldig und rechtschaffen betrachtet zu werden, in Wahrheit ein Verlangen, von ihrem Ehemann geliebt zu werden, ist. In diesem Sinne scheint sich die Mutterfigur letztendlich gegen die kantschen Eheauffassung als „einen offenen oder verdeckten Kampf der Geschlechter“78, die bis auf diesen Punkt ständig die Oberhand hatte, zu wehren. Wird diese These schon von der Tatsache, dass sie bei seinem Einzug auf ihn zufliegt, und der Anbetung Odoardos als lang ersehnten Beschützer und Retter unterstützt, so lässt der vierfache Ausruf ihrer Unschuld sie noch an Plausibilität gewinnen, denn, indem sie sowohl ihre Unschuld als die ihrer Tochter betont und die Zweiteilung bzw. den Kontrast zwischen beiden mittels der Verschmelzung der beiden in dem Worte ‚wir’ aufzulösen versucht, stellt sie zum ersten Mal in dem Stücke eine explizite und enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter her, die das Verlangen verrät, von Odoardo geliebt zu werden, wie er Emilia zu lieben scheint. Im Nachhinein könne man sowohl das beharrliche Streben nach einer höheren gesellschaftlichen Position, wie auch das große Bemühen um die Wahrung ihrer Unschuld als einen vergeblichen Ruf um die Anerkennung und Liebe ihrer sozialen Umwelt bzw. einen Ausbruchsversuch aus der Vergessenheit, in der die Mütter in dem bürgerlichen Trauerspiel immer verdrängt werden, bewerten. Trotz dieses mildernden Umstandes, muss doch zwangsläufig auf ein egoistisches Verhalten der Mutter in Emilia Galotti geschlossen werden. Wenn ihre Absichten auch 77 78 Lessing: Emilia Galotti, S. 71. Duden: „Das schöne Eigentum.“, S. 128. 45 keineswegs böse sind, zeigt sich Claudia, indem sie in ihrem doppelten Streben nach Angehörigkeit einer höheren sozialen Schicht einerseits und Anerkennung ihrer Unschuld andererseits, keine Rücksicht auf die etwaigen negativen Folgen für ihre Tochter nimmt, trotzdem als eine Egoistin. Auch sie hat letztendlich Mitschuld an dem Tod Emilias, denn ihr Hang nach der Schmeichelei der höfischen Welt hat die prinzliche Aufmerksamkeit für ihre Tochter veranlasst bzw. befördert. Schließlich muss – vielleicht überraschenderweise – auch das Bürgermädchen, das traditionell mit positiv konnotierten, aber typisch weiblichen Eigenschaften, wie „Tugendhaftigkeit, Treue, Hingabe und Emotionalität“79, gleichgesetzt wurde, im Rahmen einer Analyse der Selbstsucht in dem bürgerlichen Trauerspiel die nötige Aufmerksamkeit geschenkt werden. Obwohl Emilia am Ende des Stückes als noch unbeleidigte Tugend von ihrem Vater in den Tod gejagt wird und diese Tugend ihm auf diese Weise auf immer gewahrt scheint, gibt es durch den ganzen Text hindurch Hinweise, die, wenn man sie vereint, ein ganz neues Licht auf die Tochterfigur im bürgerlichen Trauerspiel werfen können. Im Folgenden wird versucht, möglichst viele dieser Angaben in einer kohärenten These zu versammeln. Wie bei der Analyse der Mutterfigur, könnte man auch bei der Analyse der tugendhaften Emilia eine Beschuldigung durch eine andere Person als Ausgangspunkt nehmen: ORSINA. Nun da; buchstabieren Sie es zusammen! – Des Morgens, sprach der Prinz Ihre Tochter in der Messe; des Nachmittags hat er sie auf seinem Lust- – Lustschlosse. […] Mit einer Vertraulichkeit! mit einer Inbrunst! – Sie hatten nichts Kleines abzureden. Und recht gut, wenn es abgeredet worden; recht gut, wenn Ihre Tochter freiwillig sich hierher gerettet! Sehen Sie: so ist es doch keine gewaltsame Entführung; sondern bloß ein kleiner – kleiner Meuchelmord.80 In diesem Zitat versucht die Gräfin Orsina Odoardo von der Mitschuld seiner Tochter an dem Mord des Grafen Appiani zu überzeugen, indem sie ihm suggeriert, dass die inszenierten Überfall und Rettung Emilias, nicht von dem Prinzen allein geplant, sondern ein Rank ist, den seine Tochter und der Prinzen zusammen geschmiedet haben, um auf die krumme Tour die Heirat zwischen Emilia und Appiani zu verhindern und zugleich eine zukünftige, öffentliche Liebesbeziehung mit ihrem geheimen Liebhaber, 79 80 Stephan: „Aufklärung“, S. 168. Lessing: Emilia Galotti, S. 70. 46 dem Prinzen von Guastalla zu ermöglichen. Dass Odoardo bis auf den letzten Moment vor der Konfrontation mit seiner Tochter an ihrer Unschuld zweifelt81, lässt diese Verdächtigungen durch Orsina, die man auf den ersten Blick als Produkt ihrer Eifersucht auf Emilia, die, als neues Objekt der prinzlichen Verehrung, den Verlust seines Interesses an der Gräfin veranlasst hat, einerseits, ihres Bedarfs nach der Erkenntnis der Mittäterschaft Emilias, die ihren Prinzen als einen von diesem Bürgermädchen Getäuschten in gewissem Maße entschuldigen und ihr in diesem Sinne doch ein wenig Gemütsruhe schenken könne, andererseits, beiseiteschieben würde, wesentlich an Plausibilität gewinnen. Obwohl der Vater seinen Argwohn gegen seine Tochter schließlich fallen lässt und am Ende sogar ihre Unschuld vor den Augen des Prinzen verkündet bzw. herausschreit, könnte man diese Verdächtigungen Emilias auf der Grundlage ihres Verhaltens keineswegs widerlegen; Im Gegenteil, viele ihrer Äußerungen scheinen das Bild des Bürgermädchens als eine trügerische, rücksichtslose Egoistin, deren Selbstsucht aber, vor allem wegen ihrer emotionalen Begründung, weniger kalt und berechnet, und daher auch weniger negativ konnotiert ist, zu bestätigen. Schon bei ihrem ersten Auftritt, in dem sie von dem Annäherungsversuch des Prinzen in der Kirche sehr bestürzt heimkommt, kann man mehrere verdächtige Elemente verspüren. So verdient z.B. der Widerspruch, den folgendes Zitat in Hinsicht auf den ausführlichen und detaillierten Bericht, den Emilia soeben über ihre erschütternde Begegnung mit dem Prinzen erstattet hat, bildet, besondere Aufmerksamkeit: EMILIA. […] Ich floh – CLAUDIA. Und der Prinz dir nach – EMILIA. Was ich nicht wusste, bis ich in der Halle mich bei der Hand ergriffen fühlte. Und von ihm! Aus Scham musst ich standhalten: mich von ihm loszuwinden, würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben. Das war die einzige Überlegung, deren ich fähig war – oder deren ich nun mich wieder erinnere. Er sprach; und ich hab ihm geantwortet. Aber was er sprach, was ich ihm geantwortet; –82 Sogar innerhalb dieses Zitats, zeigt sich der oben genannte Widerspruch, indem sich Emilia die Verfolgung des Prinzen anfangs noch haargenau zu erinnern scheint, während sie an dem darauf folgenden Gespräch mit ihrem Verfolger überhaupt keine 81 82 Lessing: Emilia Galotti, S. 83. Lessing: Emilia Galotti, S. 29. 47 Erinnerung mehr hat. Auch die Behauptung, sie hat sich aus Scham nicht aus dem Hand des Prinzen losgerissen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die Betonung, dies war die einzige Überlegung, die sie in diesem Moment anstellen konnte, erscheinen, indem sie den ausführlichen Bericht der Begegnung in der Kirche, in dem Emilia die Beschreibung ihrer Gefühle und Gedanke bis in die kleinsten Details fähig ist, unmittelbar folgen, verdächtig. In dieser Hinsicht kann dieser plötzliche Gedächtnisverlust Emilias besser als Heimlichtuerei bewertet werden: Anstatt diesen Teil der Geschichte ihrer Mutter nicht erzählen zu können, scheint sie ihn nicht erzählen zu wollen, was vermuten lässt, dass die Scham nicht der wirkliche Grund, weshalb sie den Hand des Prinzen nicht loslassen wollte, ist und dass es sich, wie Orsina später suggerieren wird, tatsächlich um ein vertrauliches Treffen mit ihrem Liebhaber handelt. Indem man den Inhalt des Gespräches nur raten kann, ist es an diesem Punkt jedoch unmöglich, Emilia der Mitwissenschaft bzw. Mittäterschaft an dem Plan, ihren zukünftigen Bräutigam zu beseitigen und sie nach dem Lustschloss des Prinzen zu ‚entführen’, zu beschuldigen. Was man in dem Bewusstsein, dass das Bürgermädchen sich vor einer Lüge nicht zu scheuen scheint, aber wohl behaupten kann, ist, dass auch der Bericht über den unerwünschten Annäherungsversuch in der Kirche, besonders seinem Zusammenhang und nüchternen Detail nach, nichts mehr als eine sorgfältig komponierte Geschichte, um ihre Unschuld den Eltern gegenüber zu wahren bzw. ihnen ihre Beziehung mit dem Prinzen zu verheimlichen, ist. Daneben scheint Emilia ein gewisses Bemühen, Zwietracht in der Beziehung mit dem Grafen zu säen, aufzuzeigen, indem sie kurz darauf mit einer auffälligen Halsstarrigkeit gegen den Rat ihrer Mutter, Appiani diesen Vorfall nicht aufzudecken, entgegentritt. Paradoxerweise scheint die Warnung Claudias, „dass ein Gift, welches nicht gleich wirket, darum kein minder gefährliches Gift ist“ und „was auf den Liebhaber keinen Eindruck macht, […] ihn auf den Gemahl machen [kann]“83, ihre Tochter in dieser Überzeugung zu stärken. Erst in dem Moment, dass Emilia die Unnachgiebigkeit ihrer Mutter in dieser Angelegenheit erkennt, gibt es einen scheinbaren Umschwung in ihrem Denken: EMILIA. Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen. – Aha! (Mit einem tiefen Atemzuge.) Auch wird mir wieder ganz leicht. – Was für ein 83 Lessing: Emilia Galotti, S. 30. 48 albernes, furchtsames Ding ich bin! […] O meine Mutter! – so müsste ich mir mit meiner Furcht vollends lächerlich vorkommen!84 Indem ihr Versuch, Claudia der Notwendigkeit, Appiani die Begegnung mit dem Prinzen aufzudecken, zu überzeugen, fehlschlägt, gibt Emilia schließlich nach. Dieser Umschwung geschieht aber so jäh und extrem, dass man sie schwerlich als authentische und spontane Äußerung ihrer geänderten Gefühle auffassen kann. Vielmehr soll er, indem die Gefühlsübertreibung des plötzlichen Ausruf ‚Aha!’ und des darauf folgenden tiefen Atemzuges, nach dem Emilia auf einmal, als ob sie gerade aus einem Traum erwacht ist, wieder klar denken kann, sehr theatralisch anmuten, als Bestätigungsversuch ihrer Tugend, die ihr über einen etwaigen Verdacht, sie liebt den Prinzen statt Appiani, erhaben könne, betrachtet werden. Nicht nur diese Theatralität, sondern auch die Schmeichelei an die Adresse Claudias, die sich vor allem in der Wiederholung der Wendung ‚meine Mutter!’ äußert, mittels der Emilia das Recht ihrer Mutter zu betonen versucht, suggerieren einen Versuch des Bürgermädchens, bei ihrer Mutter hoch im Kurs zu stehen und auf diese Weise ihre Unschuld in den Augen Claudias sicherzustellen. Auch die doppelte Betonung, die Furcht hat ihr die Sinne und den Verstand betäubt, dient dazu, ihrer Mutter den wirklichen Grund ihres Willes, Appiani den Vorfall mit dem Prinzen aufzudecken, zu verschleiern. Auf diese Art und Weise weiß Emilia den Schein, ein typisches, tugendhaftes, treues, aber leider zu viel von ihren Gefühlen getriebenes Bürgermädchen zu sein, ihrer Umwelt gegenüber zu wahren. Eine ähnliche Szene, in der Emilia gegen das Ende des Stückes mit Odoardo konfrontiert wird, erweist sich als entscheidend für die Bestätigung bzw. Verfeinerung des oben stehenden neutraleren Bildes der tugendhaften Tochter, indem Emilia ihrem Vater endlich ihr wahres Gesicht zu zeigen scheint. Der Verlauf dieses Auftrittes verrät offensichtlich eine innere Zerrissenheit zwischen ihren fortwährenden Gefühlen für den Prinzen, gegen die sie sich nach wie vor nicht verteidigen kann, und ihrem Verstand, der sie mit Abscheu vor ihrem Liebhaber und dem blutigen Ablauf seines Planes, Emilia für sich zu bekommen, erfüllt. Wie folgendes Zitat, in dem Emilia ihrem Vater die Ursache ihrer auffälligen Ruhe zu erklären versucht, zeigt, ist das Bürgermädchen die einzige Person, die den Mut zu haben scheint, ihre Schuld an dem Tode des Grafen zu erkennen: 84 Lessing: Emilia Galotti, S. 31. 49 ODOARDO. […] Aber lass doch hören: was nennest du, alles verloren? – dass der Graf tot ist? EMILIA. Und warum er tot ist! Warum! – Ha, so ist es wahr, mein Vater? So ist sie wahr die ganze schreckliche Geschichte[?] […] Denn wenn der Graf tot ist; wenn er darum tot ist – darum! was verweilen wir noch hier? Lassen Sie uns fliehen, mein Vater!85 Indem Emilia, mittels der Betonung der Wörter ‚warum’ und ‚darum’, bis auf viermal den Grund des Todes Appianis für sich selbst wiederholt und ihn auf diese Weise eine bestimmte Tragik, zumindest ihr selbst gegenüber, beizumessen scheint, lässt sich vermuten, dass dieser Grund für sie wichtiger ist als der Tod selber. Allem Anschein nach sieht Emilia, in dem Moment, dass der Mord an dem Grafen ihr von Odoardo bestätigt wird, die unvermuteten, dramatischen Folgen ihrer geheimen Beziehung mit dem Prinzen ein und erkennt das Bürgermädchen, dass auch sie, indem sie ihre Gefühle für den Prinzen, statt sie zu unterdrücken, freien Lauf gelassen hat, Mitschuld, in Hinsicht auf ihre empfindliche Seele vielleicht sogar die vollständige Schuld, an dem Tod ihres Zukünftigen hat. Zugleich flößt ihr die entsetzliche Tat bzw. „die ganze schreckliche Geschichte“, von der sie in ihren eigenen Augen, indem sie die Liebe und Hoffnung in dem Herzen des Prinzen geschürt hat, der Veranlasser ist, Abscheu ihrem Liebhaber gegenüber ein. Dieser äußert sich in einem verzweifelten Fluchtwunsch, der aber sogleich von Odoardo als unmöglich beiseitegeschoben wird. Den darauf folgenden Umschwung in ihrem Denken könne man sowohl als Wiederüberwältigung durch ihre Gefühle für den Prinzen und Täuschungsversuch ihres Vaters, sie in dem Lustschlosse bzw. bei ihrem Liebhaber zurückzulassen, wie auch als Erkenntnis der Unvermeidlichkeit bzw. Sehnen nach einer Konfrontation mit dem Prinzen bewerten: „EMILIA. […] Ich allein in seinen Händen? – Gut, lassen Sie mich nur; lassen Sie mich nur. – Ich will doch sehn, wer mich hält, – wer mich zwingt, – wer der Mensch ist, der einen Menschen zwingen kann.“86 In Hinsicht auf den Rest des Auftrittes, erweisen sich beide Erklärungen als gleich möglich. Zunächst scheint Emilia hinterbleiben zu wollen, um den Prinzen wegen seiner egoistischen Auffassung, er habe das Recht, Menschen zu irgendetwas, was ihm einen persönlichen Vorteil bringen könne, zu zwingen, zurechtzuweisen. Dies zeigt sich vor allem an dem Ärger, in den sie in Bezug auf den Plan des Prinzen mit ihr, den Odoardo ihr kurz davor aufgedeckt hat, gerät: „EMILIA. Reißt mich? bringt mich? – Will mich reißen; will mich bringen: will! will! – Als ob 85 86 Lessing: Emilia Galotti, S. 84. Lessing: Emilia Galotti, S. 84. 50 wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater!“87 In Hinsicht auf dieses Zitat, könne man den darauf folgenden Mord Odoardos an seiner Tochter als allerletzten Widerstandsakt gegen die prinzliche Autorität auffassen, mit dem sie den erst in der Aufklärung ins Zentrum gerückten Konzept des freien Willens auf entsetzliche Art und Weise zu betonen versuchen. Wenige Zeile später führt Emilia aber einen alternativen Grund für ihren Tod an: EMILIA. […] Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater; so jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe für nichts. Ich bin für nichts gut.88 Indem sie ihrem Vater eingesteht, dass der Gewalt ihre Unschuld zwar nicht bedrohen kann, ihre Sinne aber desto empfänglicher für die Verführung bzw. Korruption ihrer Unschuld sind, wird einerseits die oben genannte Auffassung ihres Todes als Bekräftigung des eigenen Willens gegenüber dem Adel, infolge dieser Verniedlichung des Gewalts als einen bedrohenden Faktor für die Tugend, als eine Idee des Vaters, der seine Tochter, und insbesondere ihre Tugend, nur als Gegenstand seiner Streit mit dem Adel schutzwürdig glaubt, zurückgewiesen; andererseits ihren Tod als Mittel des Schutzes gegen sich selbst, und insbesondere ihre Empfindlichkeit, gegen die sie sich nicht zu wehren weiß, neudefiniert. Dem Bürgermädchen scheint es nicht zu gelingen, „Pflicht und Affekt […] so zusammenfallen [zu lassen], daß die Erfüllung der Pflicht selbst zur Äußerungsform des Triesbes wird.“89 In dieser Hinsicht könne man den vorhergehenden Wunsch, sie in dem Lustschloss des Prinzen zu hinterlassen, als plötzlichen Aufschwung ihrer Gefühle für ihren Liebhaber und als Anlass zu der späteren Erkenntnis der Schwäche ihres Fleisches zugleich auffassen. Auch rückt diese Neudefinierung des Grundes, weshalb Emilia sterben will, ihren Ärger über das Versagen einer eigenen Wille in ein anderes Licht, indem sie mit der Ablehnung der väterlichen Idee, Gewalt ist die größte Gefährdung ihrer Unschuld, auch seine Autorität abzulehnen scheint. Die Tatsache, dass Emilia sich nicht von ihrem Vater, sondern nur von sich selbst durchstechen lassen will, unterstützt dieser Umsturzversuch der väterlichen Autorität, erweist sich aber zugleich als eine Schuldbekenntnis des Bürgermädchens, denn, indem sie vor Selbstmord nicht zurückzuschrecken scheint, 87 Lessing: Emilia Galotti, S. 85. Lessing: Emilia Galotti, S. 85. 89 Duden: “Das schöne Eigentum.”, S. 137. 88 51 zeigt sich, dass Emilia keine Unschuld mehr zu verlieren können glaubt. Am Ende versucht sie sogar zum zweiten Mal, die Schuld ihres Todes auf sich zu ziehen und auf diese Weise die Tugend ihres Vaters zu wahren: „EMILIA. Nicht Sie, mein Vater – Ich selbst – ich selbst –“90. In Gegensatz zur früheren Konfrontation mit ihrer Mutter, gibt Emilia ihre Schuld, in Hinsicht auf ihr egoistisches Verhalten, das, indem sie ohne Rücksicht auf ihren Verlobten zu nehmen ihren Gefühlen für den Prinzen hinterhergerannt hat, den Tod dieses Verlobten veranlasst hat, wenn auch auf verdeckte Art und Weise sofort zu. Wie sich an der extensiven Verwendung von Verben wie ‚suggerieren’, ‚scheinen’ oder ‚vermuten lassen’ gezeigt hat, muss man den Egoismus der tugendhaften Bürgertochter bei Lessing vor allem zwischen den Zeilen lesen. Dennoch könne man, in Hinsicht auf die Menge Hinweise, die sich durch den ganzen Text hindurch spüren lassen, zu folgender Schlussfolgerung kommen: Auch das tugendhafte Bürgermädchen Emilia zeigt egoistisches Verhalten auf, indem sie, ohne Rücksicht auf die etwaigen Folgen für ihre Umwelt, und insbesondere für den Grafen, zu nehmen, nach der Befriedigung ihrer Begierde bzw. Gefühle für den Prinzen gestrebt hat. Trotzdem könne diese Figur positiv konnotiert werden, denn Emilia ist die einzige Person in dem ganzen Stück, die in der Lage zu sein scheint, ihre Schuld an diesen negativen Folgen bzw. dem Tod des Grafen zu erkennen und die überdem den Mut hat, diese Schuld auch einzugestehen. In dieser Hinsicht erweist sich ihre Selbstsucht als weniger beharrlich und kann man Emilia sogar als Opfer ihrer Lust bzw. Empfindlichkeit, die sie auf Zeit verblendet haben, betrachten. Zeigt dies die Tücken der aufklärerischen Gefühlskultur, in der der Mensch die zentrale Stelle einnimmt, so verändert dies nicht an die Tatsache, dass Emilia sich egoistisch verhalten hat und, indem sie die Hoffnung des Prinzen auf sie bloß angestachelt hat, unbewusst, aber wesentlich an dem Tod des Grafen beigetragen hat. Die Soldaten Indem Lenz, wie sich schon an der Analyse des Egoismus im adligen Bereich gezeigt hat, die traditionellen Rollen des Lessingschen bürgerlichen Trauerspieles völlig umkehrt, erweist sich die bürgerliche Familie in Die Soldaten als intrigant und 90 Lessing: Emilia Galotti, S. 87. 52 betrügerisch. Besonders die Vaterfigur, Wesener, kann in dieser Hinsicht fast als Pendant des Kammerherren Marinelli in Emilia Galotti betrachtet werden. Erweist sich Wesener anfangs trotzdem als sehr tugendhafter Mann und zeigt er eine aufrichtige Bekümmernis um seine Tochter Marie auf, so scheint die extreme Dominanz in dem Umgang mit ihr, die man leicht als Tyrannei umschreiben könne, seine Aufrichtigkeit schon zu verdächtigen. Indem er bei seinem Einzug in dem Haus das Gespräch zwischen Marie und Desportes unterbricht und seiner Tochter ab diesem Punkt unablässig den Mund zu verbieten versucht, lässt sich vermuten, dass das Wohl bzw. Glück der Tochter nicht wirklich an die erste Stelle seiner Besorgnis kommt. Vielmehr stellt sich die abweisende Haltung in der Diskussion über den Vorschlag Desportes’, Marie auf seine Einladung in die Komödie zu führen, als Versuch, seine Lieblingstochter für sich zu behalten, heraus. So lehnt er das anfängliche Argument des Barons, seine Töchter alles Vergnügen versagen, sei ungesund und mache sie melancholisch, kategorisch ab, indem er einwendet, dass einerseits die Arbeit Marie wohl gesund halten wird, andererseits ihre Kamerädinnen seiner Tochter schon Vergnügen genug verschaffen.91 Überdem versucht er seinen Standpunkt folgendermaßen zu verstärken: „WESENER. […] Meine Tochter ist nicht gewohnt, in die Komödie zu gehen, das würde nur Gerede bei den Nachbarn geben, und mit einem jungen Herrn von den Milizen dazu.“92 Erweist sich dieses Argument, wegen der raschen Aufeinanderfolge drei unterschiedlicher Begründungen, als verzweifelt und daher auch schwach, so könne es doch einen besseren Einblick in die wirklichen Besorgnisse des Vaters verschaffen. Einerseits legt Wesener einen großen Wert auf den Äußeren, indem er sich sehr besorgt über das Bild, das die Außenwelt bzw. die Nachbarn von seiner Tochter, und mithin auch von ihm und der ganzen Familie, bekommen würde, falls Marie in die Komödie gehe, zeigt. Damit impliziert er aber zugleich, dass er, wenn es keine Nachbarn geben würde, die sie verurteilen können, kein Problem daraus machen würde. In dieser Hinsicht stellt sich der äußere Schein als eine der wichtigsten Besorgnisse Weseners heraus: das Bild der tugendhaften Bürgerfamilie ist ihrer tatsächlichen Tugendhaftigkeit offensichtlich überlegen. Daneben betont er, dass auch Desportes’ Stelle als Militär für ihn ein Hindernis bildet. Damit bezieht 91 92 Lenz: Die Soldaten, S. 8-9. Lenz: Die Soldaten, S. 9. 53 Wesener sich auf eine allgemeine Kümmernis dieser Epoche in Bezug auf den Soldatenstand, die er selber folgendermaßen zusammenfasst: WESENER. […] Einer ist so gut wie der andere, lehr du mich die jungen Milizen nit kennen. Da laufen sie in alle Aubergen und in alle Kaffeehäuser, und erzählen sich, und eh man sich’s versieht, wips ist ein armes Mädel in der Leute Mäuler. […] MARIE. Papa. (Fängt an zu weinen.) Er ist auch immer so grob. WESENER (klopft sie auf die Backen). Du musst mir das so übel nicht nehmen, du bist meine einzige Freude, Narr, darum trag ich auch Sorge für dich.93 Aus diesem Zitat stellt sich eine zweite große Besorgnis des Vaters heraus: Indem er seine Tochter auf unrafinierte Art und Weise vor den Verführungsversuchen des jungen Militärs warnt, zeigt er einerseits ein Bemühen um die Wahrung der Tugend Maries, andererseits eine auffällige Unempfindlichkeit für ihre Gefühle auf. In dieser Hinsicht scheinen die beiden Väter, Wesener und Odoardo Galotti, einander zu ähneln, denn beide erwecken den Eindruck, mehr an der Unschuld ihrer Töchter, als an ihrem Glück interessiert zu sein. Die Rest des Zitats bestätigt diese These, indem Wesener seine Tochter, die sich von seiner Grobheit sehr bestürzt gezeigt und zu weinen angefangen hat, einfach auf die Wange schlägt (Die Härte dieses Schlages bleibt übrigens dahingestellt.), und sagt, sie soll ihm das nicht übel nehmen, weil er nur für sie sorgen will. Auf diese Art und Weise wird Marie infantilisiert und verliert sie, nicht nur symbolisch, sondern im oben genannten Gespräch mit Desportes, in dem Wesener für sie antwortet und ihr Anteil auf nur wenige Randbemerkungen beschränkt wird, auch konkret, ihre eigene Stimme bzw. Wille. Besonders auffällig ist, dass Wesener Marie „[s]eine einzige Freude“ nennt und seine Tochter in diesem Sinne weniger unpersönlich bzw. sachlich als Odoardo in Emilia Galotti zu betrachten scheint. Obwohl man dies an dem ersten Blick als persönlichere Auffassung seiner Tochter positiv bewerten könne, gibt es mehrere Hinweise, die die oben genannte Benennung in ein schiefes Licht stellen können. Zuerst gibt es die beiläufige Bemerkung des Vaters, die er Marie in Bezug auf die Zitternadel, die ihr Desportes schenken will, macht: „WESENER (indem er die andern einschachtelt, brummt etwas heimlich zu Marien). Zitternadel du selber, sollst in deinem Leben keine auf den Kopf bekommen, das ist kein Tragen für dich. (Sie schweigt still und arbeitet fort.)94 In diesem Zitat zeigt Wesener seiner Tochter heimlich seinen Ärger über den offensichtlichen Verführungsversuch des Barons. Die 93 94 Lenz: Die Soldaten, S. 11. Lenz: Die Soldaten, S. 10. 54 schmollende Bemerkung „Zitternadel du selber“ scheint aber vielmehr eines eifersüchtigen Geliebten zu enstammen, als dass es als eine logische Reaktion eines schützenden Vaters aufgefasst werden könne. Auch die darauf folgende Anmerkung, Marie soll nie eine Zitternadel auf den Kopf tragen, die offenbar als Äußerung der Widerwilligkeit, seine Tochter mit einem anderen Manne teilen zu müssen, ausgelegt werden kann, scheint in Hinsicht auf das vorangehende Schmollen eher Teil eines Gespräches zwischen Geliebten. Überdem könne auch die Verneinung von Marie als Zeichen, dass die Bemerkung ihres Vaters etwas betrefft, worüber besser nicht geredet wird bzw. nicht geredet werden darf, gedeutet werden. Diese Suggestion einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter gewinnt in den nächsten Auftritten wesentlich an Plausibilität, denn auch dort gibt es jede Menge Hinweise, auf die, der Möglichkeit einer solchen Beziehung eingedenk, keineswegs verzichtet werden kann. In erster Linie suggerieren die Handlungen der beiden Personen eine abnormal große Zärtlichkeit in dem Umgang miteinander, indem Emilia, wenn sie ganz geputzt hereintritt, Wesener sogleich um den Hals fällt und sich ihm auf den Schoß setzt.95 Wenn auch der Vater sich weniger schmeichlerisch gegenüber seiner Tochter verhält, so verrät auch sein Benehmen die oben genannte Zärtlichkeit, die man als charakteristisch für eine Liebesbeziehung bezeichnen könne, denn, in dem Moment, dass Marie ihm eingesteht, sie hat trotz seines ausdrücklichen Verbotes, nicht mit Desportes in die Komödie zu gehen, genau dasjenige gemacht, ähnelt Weseners Reaktion eher die eines verratenen Liebhabers, als die eines Vaters, der sich über den Ungehorsam seiner Tochter enttäuscht zeigt: MARIE. Ich kann’s Ihm nicht verhehlen, ich bin in der Komödie gewesen. Was das für Dings ist. WESENER (rückt seinen Stuhl vom Tisch weg, und kehrt das Gesicht ab). […] (stößt sie von seinem Schoß). Fort von mir, du Luder, – willst die Mätresse vom Baron werden?96 Die Bestürzung, die Wesener über Maries Ignorieren seines Verbotes aufzeigt, mutet dermaßen übertrieben an, dass es kaum einem bloß enttäuschten Vater zugeschrieben werden könne. Überdem gleicht, neben der Übertreibung, auch das Wesen seiner Reaktion eher die eines betrogenen Geliebten, indem er Marie, mittels des Abkehrens seines Gesichtes und des Wegstoßens der Tochter von seinem Schoß, vielmehr aus 95 96 Lenz: Die Soldaten, S. 15. Lenz: Die Soldaten, S. 15-16. 55 gekränkter Liebe von sich abzustoßen scheint, als dass er ihr, wie es einem richtigen Vater geziemt, auf der Stelle eine Strafe auferlegt. Obwohl die Strafe kurz darauf tatsächlich folgt, stellt auch diese sich im Nachhinein als eine Schutzmaßnahme, die er zum Vorteil Maries ergriffen hat, heraus, denn, indem Wesener sie ohne Essen ins Zimmer schickt, setzt er zugleich den Streit zwischen Marie und ihrer Schwester, Charlotte, ein Ende.97 Auf diese Art und Weise weiß er die Tugend seiner Lieblingstochter, die von Charlotte, die ihm durchaus nichts zu bedeuten scheint, bedroht wurde, zu wahren: CHARLOTTE. Das ist alles Mariel schuld. (Weint.) Die gottsvergessne Alleweltshure will honette Mädels in Blame bringen, weil sie so denkt. WESENER (sehr laut). Halt’s Maul! Marie hat ein viel zu edles Gemüt, als dass sie von dir reden sollte, aber du schalusierst auf deine eigene Schwester; weil du nicht so schön bist als sie, sollst du zum wenigsten besser denken. Schäm dich –98 In diesem Zitat verrät die Heftigkeit der väterlichen Reaktion aufs Neue das wirkliche Verhältnis zwischen Wesener und Marie: Indem er Charlotte auf aggressive Weise den Mund zu stopfen versucht, lässt sich vermuten, dass Wesener sich der Wahrheit dieser Beschuldigung peinlich bewusst ist, oder dass sie ihn zumindest schwer kränkt. Die außerordentliche Zärtlichkeit Marie gegenüber zeigt sich aber vor allem daran, dass der Vater sich keineswegs davor scheut, seine am wenigsten beliebte Tochter mittels der Bezichtigung, sie schwärzt Marie nur aus Eifersucht an, in einen üblen Ruf zu bringen, wenn er dadurch den Schein von Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit, der über seiner Lieblingstochter liegt, wahren könne. Außerdem scheint die Kaltherzigkeit Charlotte gegenüber aus einem bitteren Ärger über die Tatsache, dass sie ihm genau dasjenige aufzudecken versucht, was er nicht wahrhaben will, d.h. Maries Heimlichkeiten mit dem Baron und ihr verführerisches Benehmen Männern gegenüber im allgemeinen, hervorzugehen. In diesem Sinne benimmt sich Wesener auch bei seinem verbalen Angriff an Charlotte, indem dieser als verzweifelten Versuch, die Unschuld seiner Tochter bzw. Liebhaberin sich selbst gegenüber zu wahren, betrachtet werden kann, als einen eifersüchtigen Geliebten. Könne Maries verführerische Schmeichelei ihrem Vater gegenüber bis jetzt noch immer als unschuldigen Versuch, Wesener mild zu stimmen, bevor sie ihm ihren Gang in die Komödie aufdecken wird, bewertet werden, so spricht, neben das oben genannte 97 98 Lenz: Die Soldaten, S. 16. Lenz: Die Soldaten, S. 16. 56 Benehmen des Vaters, auch der nächsten Auftritt, in dem der Vater Marie in ihrem Zimmer aufsucht, um die Details der etwaigen Beziehung zwischen ihr und dem Baron aus ihr herauszukriegen, gegen diese Deutung. Liest man ihn in Hinsicht auf den oben genannten Versuch Weseners, seine Lieblingstochter für ihn allein zu behalten, einerseits, und die Möglichkeit einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter andererseits, so weist schon die erste Frage des Vaters vielmehr die Eifersucht eines Geliebten, als die aufrichtige Besorgtheit eines Vaters auf: „WESENER. […] Hör, Mariel! du weißt, ich bin dir gut, sei du nur recht aufrichtig gegen mich, es wird dein Schade nicht sein. Sag mir, hat dir der Baron was von der Liebe vorgesagt?“99 Diese Kümmernis Weseners, Desportes hätte Marie vielleicht „was von der Liebe vorgesagt“, könne man zweifach auffassen: Einerseits stellt sich die Angst, der Baron hätte seiner Tochter das Wesen einer aufrichtigen Liebesbeziehung aufgedeckt und ihr eventuell den schändlichen Charakter der inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater erklärt, heraus, was das Ende dieser Beziehung bedeuten würde; andererseits könne man ‚jemandem was von der Liebe vorsagen’ als ‚mit jemandem (in sexuellem Sinne) intim sein’ auffassen und erweist sich in dieser Hinsicht die Angst, Wesener müsse seine Tochter mit einem anderen Manne teilen bzw. verliere sie an diesem anderen Mann. Welche Interpretation man auch wählt, die Bekümmernis des Vaters, um Marie, von anderen Männern möglichst weit entfernt, für sich selbst zu behalten, schimmert immer wieder durch. Ein letzter Hinweis auf die Liebesbeziehung zwischen Vater und Tochter folgt kurz darauf, indem Marie ihrem Vater noch scheinbar sittsam bis auf zweimal die Hand küsst, Wesener seiner Tochter aber auch zurückküsst.100 Weil auch hier, genau wie bei dem Schlag, den er Marie nach seiner groben Warnung für die Verführungsversuche des Militärs versetzt hat, das Wesen der Küsse dahingestellt bleibt, darf man die Möglichkeit, diese Küsse seien feurig bzw. leidenschaftlich, in Hinsicht auf die oben erwähnte Menge Hinweise auf eine inzestuöse Beziehung zwischen Wesener und seiner Tochter, keineswegs ausschließen. Neben dieser potentiell leidenschaftlich liebenden Seite des Vaters, zeigt sich in diesem Auftritt auch die damit kontrastierende, berechnendere, noch eindeutiger egoistische Seite Weseners, die aufs Neue verrät, dass das Wohl seiner Tochter seinem eigenen Nutzen ständig unterlegen ist. Nachdem der Vater während des ganzen ersten 99 Lenz: Die Soldaten, S. 17. Lenz: Die Soldaten, S. 18. 100 57 Aktes alles darangesetzt hat, Marie davon zu überzeugen, einen Abstand zwischen ihr und Desportes, den er offensichtlich als Konkurrent in dem Ringen um die Liebe seiner Tochter betrachtet, zu wahren, scheint Wesener auf einmal seinen eigenen Vorteil in den aufrichtigen Liebesbeteuerungen des Barons zu erkennen. Indem Marie ihrem Vater die bedingunglose Anbetung des Barons bis in die kleinsten Details aufdeckt und ihm anhand des Gedichtes und der Zitternadel, die Desportes ihr heimlich geschenkt hat, zeigt, wie viel dieser Militär für seine Tochter opfern würde, denkt Wesener sich einen Plan aus, den man auf den ersten Blick durchaus einer kupplerischen Mutterfigur zuschreiben könne: WESENER. […] [D]u kannst nur immer allesfort mit ihm in die Komödie gehn, nur nimm jedes Mal die Madame Weyher mit, und lass dir nur immer nichts davon merken, als ob ich davon wüsste, sondern sag nur, dass er’s recht geheim hält, und dass ich sehr böse werden würde, wenn ich’s erführe. Nur keine Präsente von ihm angenommen, Mädel, um Gottes willen! […] Kannst noch einmal gnädige Frau werden, närrisches Kind. Man kann nicht wissen, was einem manchmal für ein Glück aufgehoben ist. MARIE. Aber, Papa, (etwas leise) was wird der arme Stolzius sagen? WESENER. Du musst darum den Stolzius nicht so gleich abschrecken, hör einmal. – Nu, ich will dir schon sagen, wie du den Brief an ihn einzurichten hast.101 Obwohl Wesener das Glück seiner Tochter an die erste Stelle zu setzen scheint, lassen die offensichtlichen negativen Folgen bzw. Aussichte des Planes und das daraus folgende, fast unvermeidbare blutige Ende vermuten, dass ein böser Wille des Vaters trotzdem mit im Spiel ist. Um ihr Glück besser zu machen, regt er seine Tochter dazu an, sowohl Desportes, der sich bereit zeigt, alles aufzugeben, um sie für sich zu gewinnen, wie auch Stolzius, dem Marie eigentlich versprochen ist, hinzuhalten. Auf diese Weise könne Marie eine günstige Gelegenheit abpassen, um letztendlich den Liebhaber zu wählen, der für sie am meisten von Vorteil sein wird. Wie uneigennützig dieser Ratschlag des Vaters auch erscheinen mag, die plötzliche Nachsicht, die Marie einen häufigen Umgang mit dem Baron unter bestimmten Bedingungen erlaubt, gibt Anlass zu einem Verdacht gegen den auffällig nachgiebigen Bürgermann. Vor allem die Bedingung, Desportes soll überhaupt nichts von Weseners Mitwissen seiner Verführungsversuche erfahren, kann als wesentliche Komponente eines falschen Planes, Marie, trotz der Vorgabe des Vaters, nur aus Versicherung des größtmöglichen Glückes für seine Tochter zu handeln, für sich selbst behalten zu können, gedeutet werden. In 101 Lenz: Die Soldaten, S. 18. 58 diesem Sinne hält Wesener dem oben erwähnten Vergleich mit einer typischen Mutterfigur nicht stand, denn sein Plan, der anfangs wegen der Absicht, aus den Liebhabern einen möglichst großen sozialen bzw. wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen, dem unbedachtsam naiven, kupplerischen Versuch der Mutterfigur zu ähneln scheint, erweist sich nicht im Geringsten als naiv und kupplerisch. Indem er mittels der oben genannten Bedingung das Versprechen seiner Tochter, seine Kenntnis ihres Umganges mit dem Baron und infolgedessen auch den Ratschlag bzw. Plan niemandem aufzudecken, zu erzwingen weiß, vermeidet Wesener den Verdacht, den sowohl Stolzius, wie auch Desportes, falls sie von diesem Gespräch Kenntnis hätten, gegen ihn hegen würde. Denn, wie Marie keineswegs zu erkennen scheint, ist die Bekümmernis des Vaters um ihr Glück im Grunde ein Versuch, den Argwohn der beiden Liebhaber gegeneinander zu erwecken. In dieser Hinsicht ist die Geheimhaltung seiner Kenntnis der Verführungsversuche des Barons für Wesener aus einem zweiten Grund lebenswichtig, weil Desportes, neben dem etwaigen Schöpfen eines Verdachtes gegen ihn, auch keineswegs durch den überbehütenden, strengen und fast feindseligen Vater, mit dem er kurz davor konfrontiert worden ist, abgeschreckt werden soll, damit er diese Verführungsversuche nicht einstellen wird. Daneben darf auch „de[m] arme[n] Stolzius“ nicht sogleich jede Hoffnung auf Marie geraubt werden, sodass er sich genauso bereit zeigen würde wie Desportes, um die Liebe seiner Tochter zu kämpfen. Nachdem er mittels der Bedingungen, die er seiner Tochter gestellt hat, schon die Kontrolle über die Beziehung zwischen Marie und Desportes gewonnen hat, zeigt Wesener, indem er auch den Briefwechsel seiner Tochter mit Stolzius seiner ‚Zensur’ unterwerfen will, einen Hang zu absoluter Kontrolle auf, der man als Ausbauversuch der oben genannten väterlichen Tyrannei bewerten könne. Dass das Wohl Maries dabei überhaupt keine Rolle spielt, erweist sich aus dem Desinteresse an dem unverkennbaren Verdacht, der Stolzius, wenn er den wirklichen Umfang und Ernst ihres Umganges mit dem Baron erfahre, in Hinsicht auf das (von ihrem Vater eingeredetes) Herunterspielen bzw. Verheimlichen ihrer Beziehung mit Desportes, gegen sie hegen würde. Überdem spricht auch die doppelte Moral, die aus dem Kontrast zwischen dem Anfang des Gespräches, in dem er Marie fragt „recht aufrichtig gegen [ihn]“102 zu sein, und seinem Ende, in dem diese Aufrichtigkeit in Bezug auf den Umgang mit dem Baron Stolzius 102 Lenz: Die Soldaten, S. 17. 59 gegenüber unter dem Vorwand, ihn nicht unnötig zu beunruhigen, nicht notwendigerweise eingehalten werden soll, hervorgeht, wesentlich gegen die Ehrlichkeit und Tugendhafitgkeit des Vaters. Schließlich zeigt sich aus diesem Zitat besonders gut, dass Wesener den Vergleich mit Marinelli, auf den schon am Anfang der Analyse dieser Vaterfigur kurz hingewiesen wurde, leicht aushält, und zwar in dem Sinne, dass sich Wesener, indem er einen ‚unschuldigen’ Gespräch, in dem er seine Tochter aus scheinbar guten Absichten berät und ihr seine Hilfe bei dem Schreiben eines Briefes an Stolzius anbietet, in eine erfolgreiche Überzeugung seiner Tochter, sich seinen trügerischen Plan zu ihrem eigenen Nachteil völlig zu widmen, umzuwandeln weiß, als begnadeter Redner, den es gelingt, die andere Personen mittels seiner täuschenden Sprache immer wieder zu seinem eigenen Nutzen zu ge- bzw. missbrauchen, erweist. Die These, Wesener versucht seine Tochter in dem oben stehenden Zitat mittels der Täuschung dazu zu bringen, seinen Plan, Stolzius und Desportes gegeneinander aufzuhetzen, damit sie einander erledigen werden, unwissentlich zu unterstützen, gewinnt wesentlich an Plausibilität, indem auch die Handlungen des Vaters während des Restes des Stückes in Hinsicht auf einen solchen Plan leicht gedeutet werden können. So erweist sich seine außerordentliche Besorgnis über das plötzliche Verschwinden des Barons als Bekümmernis um die Wahrung des Rufes seiner Familie einerseits, um das Gelingen seines Planes andererseits: JUNGFER ZIPFERSAAT. Das wird meinem Vetter eine große Freude machen, Herr Wesener, wenn Sie es auf sich nehmen wollen, den guten Namen vom Herrn Baron zu retten. WESENER. Ich geh mit Ihr, den Augenblick. (Sucht seinen Hut.) Ich will den Leuten das Maul stopfen, die sich unterstehen wollen, mir das Haus in übeln Ruf zu bringen, versteht Sie mich.103 WESENER. Wenn er fort ist, so muss er wiederkommen[.] […] Ich kenne das Haus seit länger als gestern, sie werden doch das nicht wollen auf sich sitzen lassen. Kurz und gut, schick herauf zu unserm Notarius droben, ob er zu Hause ist, ich will den Wechsel, den ich für ihn unterschrieben habe, vidimieren lassen, zugleich die Kopie von dem Promesse de Mariage und alles den Eltern schicken.104 Die Zitate zeigen die Aktionen, die Wesener nach der Flucht des Barons vor seinen Schulden unternimmt. Wie sich schon aus der oben erwähnten eheren Konfrontation zwischen Wesener und Desportes erwiesen hat und in dem ersten Zitat erneut bestätigt 103 104 Lenz: Die Soldaten, S. 35. Lenz: Die Soldaten, S. 37. 60 wird, betrifft die erste Bekümmernis des Vaters das Bild der Tugendhaftigkeit seiner Familie der Öffentlichkeit gegenüber. Dass ein solches Bild für Wesener etwas oberflächliches ist, bei dem der äußerliche Schein prävaliert, zeigt sich an die allzu rasche Annahme, er brauche nur die Schulden des Barons zu bezahlen, um den guten Ruf seiner Familie zu retten, bei der er zu vergessen scheint, dass auch die Tatsache, Desportes führt seine Tochter in die Komödie, während sie schon Stolzius versprochen ist, oder sein ziemlich grob formuliertes Vorhaben, diejenige, die den guten Ruf seiner Familie zu gefährden wagen, das Maul zu stopfen, demselben guten Ruf schon geschadet haben können. Daneben scheint sich Wesener auch um die Versicherung einer Rückkehr des Barons sehr zu kümmern, was sich, in Hinsicht auf sein eifersüchtig-feindseliges Verhalten in der Diskussion mit Desportes über seine Einladung, Marie in die Komödie zu führen, zumindest als auffällig bzw. erstaunlich herausstellt. Bewerte man das große Bemühen um diese Rückkehr als uneigennütziger Versuch, seine Tochter mit einer Wiedervereinigung mit ihrem neuen Geliebten zu beglücken, so könnte man aufgrund desselben zweiten Zitats schon mehrere Einwände dagegen erheben. Erstens gibt es den Zwang, den er dem Eltern des Barons, indem er ihnen die Dokumente, die ihren Sohn gesetzlich mit seiner Tochter verbinden, schicken will, aufzuerlegen versucht. Dabei könne der explizit erwähnte ‚Promesse de Mariage’ als wichtigster Grund für eine Verdächtigung des Vaters angeführt werden. Nicht nur scheint es äußerst unwahrscheinlich, dass eine gezwungene Heirat Marie, die, wie sich später zeigen wird, auf der Suche ist nach einer selbstständigen Liebe, die nicht von einer äußeren Instanz, wie u.a. den Vater, bestimmt wird, wirklich glücklich machen kann, auch die Tatsache, dass Marie einerseits dem Tuchhändler Stolzius versprochen ist, andererseits von Desportes die Heirat verheißt worden ist, scheint zum Mindesten problematisch. Zweitens kontrastiert ein solcher Altruismus stark mit dem früheren Befund, Wesener versucht sein großes Bemühen um den eigenen Nutzen der Außenwelt gegenüber als eine Bekümmernis um den Ruf bzw. das Wohl seiner Familie oder seiner Tochter darzustellen. In dieser Hinsicht könne auch die übertriebene Mühe, die Wesener sich gibt, um Desportes unter den Zwang seiner Eltern mit Marie wieder zu vereinen, als Versuch, die Gerüchteküche über eine etwaige Beziehung zwischen dem Baron und seiner Tochter kochen zu lassen, aufgefasst werden. Dabei erweist sich die Offenbarung des ‚Promesse[s] de Mariage’ des Barons als unverzichtbarer Reiz der Eifersucht 61 Stolzius’, die schließlich Anlass zu der Konfrontation zwischen den beiden Liebhaber, in der Stolzius sowohl Desportes, wie auch sich selbst erledigt und auf diese Weise Wesener das Feld überlässt, geben wird. In diesem Sinne lassen sich schließlich auch die überproportionalen Reaktionen des Vaters auf das Verschwinden und die letztendliche Wiedererkennung Maries, besonders im Kontrast zu dem kalten, fast gleichgültigen Benehmen seiner anderen Tochter, Charlotte, gegenüber, als die extreme Empfindsamkeit eines leidenschaftlichen Geliebten bewerten. So ruft Wesener, wenn er die Nachricht der Flucht Maries bekommt, folgendes aus: „WESENER. Marie fortgelaufen –! Ich bin des Todes.“105 Der verzweifelte Ausruf bildet einen krassen Gegensatz zu folgender späteren Szene, in der der Vater, über seiner Besorgnis um den Verlust seiner geliebten Tochter, Charlotte, die ihn nur zu trösten versucht, unverschämt unterbricht: „WESENER. Es ist alles umsonst. Sie ist nirgends ausfindig zu machen. (Schlägt in die Hände.) Gott! – wer weiß, wo sie sich ertränkt hat! CHARLOTTE. Wer weiß aber noch, Papa – WESENER. Nichts.“106 Wie sich auch schon aus dem Zitat, in dem Wesener Marie gegen die Beschuldigung Charlottes feurig zu verteidigen versucht, gezeigt hat, scheint der Vater nur eine seiner Tochter zärtlich zu lieben. Auch hier gibt es einen auffälligen Gegensatz zwischen seinem Verhalten gegenüber Marie, deren Verschwinden ihn bis zum Tode betrübt, und dem gegenüber Charlotte, die er zuerst über seinen extremen Fokus auf Marie zu vergessen scheint und danach, aus völligem Desinteresse an ihrer Meinung, einfach unterbricht. Überdem setzt Wesener mit dieser Unterbrechung die Rolle Charlottes in dem Rest des Stückes ein resolutes Ende, indem sie nach dieser Szene weder auftritt noch von anderen Personen erwähnt wird. Zum Schluss erweist sich auch die ‚Anagnorisis’, in der Vater und Tochter bzw. die zwei Geliebten einander letztendlich zurückfinden, als symptomatisch für den oben genannten Kontrast einerseits, für die These einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter andererseits: „WESENER (schreit laut). Ach meine Tochter! MARIE. Mein Vater! (Beide wälzen sich halb tot auf der Erde. Eine Menge Leute versammlen sich um sie, und tragen sie fort.)“107 Vor allem die Intimität und die immense Freude, die von dem gemeinsamen herumwälzen auf der 105 Lenz: Die Soldaten, S. 54. Lenz: Die Soldaten, S. 55. 107 Lenz: Die Soldaten, S. 64. 106 62 Erde ausgeht, bietet eine Liebesbeziehung zwischen Wesener und Marie als möglichen Grund für die nur nebensächliche Bedeutung der anderen Tochter, Charlotte, an. Obwohl viele Argumente und Hinweise, die in dieser Analyse der Vaterfigur in Die Soldaten vorgebracht worden sind, an den ersten Blick vielleicht wenig mit einem egoistischen Verhalten Weseners zu tun haben scheinen, erweisen sie sich, in Hinsicht auf folgenden Gesamteindruck, den sie zusammen von dem Vater bilden, meiner Meinung nach alle als unverzichtbar: Indem Wesener alles daransetzt, seine Tochter Marie, im Rahmen einer inzestuösen Beziehung mit ihr, aus den ‚Klauen’ zweier Männer, die sie aufrichtig zu lieben scheinen, zu halten, erweist sich Wesener als ein wahrer Egoist. Die Beharrlichkeit und Rücksichtlosigkeit dieser Selbstsucht zeigt sich daran, dass er, indem er Marie unter dem Vorwand, auf diese Weise ihr eigenes Glück bessern zu können, zur Gehilfin seines Planes macht, die öffentliche Verführungsversuche Desportes’ gegen die Eifersucht Stolzius’ auszuspielen, um so seiner Beziehung mit seiner Tochter den Weg zu ebnen. Wie sich am Ende zeigt, gilt seine Interesse dabei einseitig dem Besitz seiner Tochter; die negativen Folgen seiner schlauen Intrige, d.h. der Tod des Barons und Stolzius’ und die Tatsache, dass er Marie auf diese Art und Weise zur Sklave seiner Liebe macht, scheinen ihm nicht im Geringsten zu interessieren. Daneben zeigt auch das tugendhafte Bürgermädchen, Marie, das man in erster Linie als Opfer der väterlichen Intrige bewerten könne, eine egoistische Lebenshaltung auf, auch wenn sich diese, in Gegensatz zu der kalten, berechneten Selbstsucht Weseners, als viel naiver bzw. impulsiver erweist. Wie man, allerdings heutzutage, von einem Mädchen, das sich gerade in der Übergangsphase von Kindheit nach Erwachsensein befindet, erwarten könne, scheint diesen Egoismus aus einer Auflehnung gegen die elterliche, und insbesondere die väterliche, Autorität, die, wie sich oben gezeigt hat, erstickend wirkt, zu entspringen. Ähnlich wie bei Emilia Galotti, nimmt auch hier das Streben nach Befriedigung der erwachenden, sexuellen Gefühle eine zentrale Stelle in der Selbstsucht des Bürgermädchens ein. Diese Analyse der Bürgertochter Marie gründet sich völlig auf den oben erwähnten Leitgedanke, sie befindet sich auf sowohl physischer, wie auch mentaler Ebene in der Mitte der Übergangsperiode von der Kindheit nach dem Erwachsensein, 63 auf den in dem Laufe des Dramas mehrmals hingewiesen wird. So führt Marie, indem sie die Verführungsversuche des Barons am Anfang abzulehnen versucht, selbst den folgenden Grund an: „MARIE (wieder auf ihre Arbeit sehend). Meine Mutter hat mir doch oft gesagt, ich sei noch nicht volkommen ausgewachsen, ich sei in den Jahren, wo man weder schön noch hässlich ist.“108 In diesem Zitat wird die oben genannte Übergangsphase, und zwar ihr körperlicher Aspekt, schon am Anfang des Stückes explizit erwähnt. Wie Frau Wesener laut Marie gesagt hätte, ist Marie körperlich noch nicht völlig erwachsen. Ihre zweite Bemerkung, dass ihre Tochter „weder schön noch hässlich ist“, weist, neben dem schon erwähnten expliziten, körperlichen Aspekt, auch einen impliziten, mental-sexuellen auf. Indem die Mutter mittels dieser Beobachtung die angehende Schönheit und Sexualität ihrer Tochter zumindest zeitweilig zu unterdrücken versucht, stellt sich diese Bemerkung als sowohl den Körper, wie auch den Geist, d.h. die erwachenden (Liebes-)Gefühle dem männlichen Geschlecht gegenüber, betreffend heraus. Hierauf wird aber später noch tiefer eingegangen. Zuerst muss einer logischen Folge dieser Übergangsphase, die für die Erklärung des manchmal eigenartigen Verhaltens Maries von ausschlaggebender Bedeutung ist, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden: Weil Marie weder Kind noch Erwachsene ist, so wäre es logisch, dass ihr Benehmen Charakteristiken der beiden Altersklassen aufzeigen würde. Tatsächlich scheint sich der Einfluss dieser Übergangsperiode in einem doppeldeutigen, gespaltenen Verhalten zu äußern. Wie sich im Folgenden zeigen wird, benimmt sich Marie je nach Situation entweder wie ein wahres Kind, oder wie eine wahre Erwachsene. Auffällig ist aber, dass beide Verhaltensweisen von einer (scheinbar) jeweiligen Form der Selbstsucht gekennzeichnet werden. Indem Marie schon in dem allerersten Auftritt ein durchaus kindisches Benehmen aufzeigt, wird es dem Publikum bzw. Leser besonders klar gemacht, dass Marie noch ein Kind ist. So erweist sich aus ihrer Bitte um die Hilfe ihrer Schwester, Charlotte, bei dem Schreiben eines Briefes an Stolzius, eine naive Unschuld, die fast nur einem Kind zugeschrieben werden könne: „MARIE (mit untergestütztem Kopf einen Brief schreibend). Schwester, weißt du nicht, wie schreibt man Madame, M a ma, t a m m tamm, m e me.“109 Nicht nur die Tatsache, dass sie ‚Madame’ ausführlich buchstabieren muss, bevor sie es ‚richtig’ schreiben kann, sondern auch die Art und Weise, auf die sie 108 109 Lenz: Die Soldaten, S. 8. Lenz: Die Soldaten, S. 5. 64 „mit untergestütztem Kopf“ dasitzt, vermitteln das Bild eines kindlich-naiven Bürgermädchens, dem erwachsene Tätigkeiten, wie in diesem Fall das Briefeschreiben, noch sehr fremd bzw. schwierig zuscheinen. Auch der kleine Streit, den Marie zuerst über die geringste Bemerkung ihrer Schwester, nach der sie übrigens selbst gefragt hat, und später über das Ende des Briefes, das sie Charlotte nicht zeigen will, anfängt, verleiht diesem Bild Nachdruck: MARIE. Das Übrige geht dich nichts an. Sie will allesfort klüger sein, als der Papa; letzthin sagte der Papa auch, es wäre nicht höflich, wenn man immer wir schriebe, und ich und so dergleichen. […] CHARLOTTE. Sie wollt mir den Schluss nicht vorlesen, gewiss hat Sie da was Schönes vor den Herrn Stolzius. […] MARIE. Hör, Lotte, lass mich zufrieden mit dem Stolzius, ich sag dir’s, doch ich geh gleich herunter, und klag’s dem Papa. […] MARIE. Lotte. (Fängt an zu weinen und läuft herunter.)110 Aus diesem Zitat zeigt sich nicht nur die kindlich-provozierende Haltung der beiden Schwester einander gegenüber, auch erweist sich Maries bevorzugte Position bei ihrem Vater zugleich als Grund ihrer Macht über Charlotte und als Ausgangspunkt ihres kindlich-egoistischen Verhaltens. Mit anderen Worten könne man behaupten, dass Marie auf selbstsüchtige Art und Weise, d.h. ohne Rücksicht auf die etwaigen negativen Folgen für andere Personen, und insbesondere für ihre Schwester, zu nehmen, ihre Stellung der ‚fille à papa’ ausnutzt, um die Auseinandersetzungen mit Charlotte, in den sie öfter Bemerkungen bzw. Beobachtungen macht, die Maries Schein von Vollkommenheit der Außenwelt gegenüber durchbrechen würden, zu ihrem Vorteil ausschlagen zu lassen. Dass ihre Macht allerdings auf die Vorliebe Weseners für sie beruht, zeigt sich daran, dass Marie in jedem Einwand, den sie in dem oben stehenden Zitat gegen Charlottes neckische Bemerkungen über ihre Liebe für bzw. Liebelei mit Stolzius erhebt, ihren Papa, die sie offensichtlich als die höchste Autorität auf allen Gebieten, wie hier z.B. in dem Bereich des Briefeschreibens, aufwertet, als eine Warnung an die Adresse ihrer Schwester erwähnt. Wie sich aus dem Ende des Zitats herausstellt, beschränkt das Bürgermädchen sich nicht auf bloße Drohung; Indem Marie sich möglichst kindisch benimmt und weinend zu ihrem Vater herunterläuft, versucht sie tatsächlich ihre kindliche Unschuld und die bevorzugte Position bei ihrem Vater 110 Lenz: Die Soldaten, S. 5-6. 65 auszunutzen, um Charlotte, wegen ihrer Bedenken zu dieser Unschuld, in einen üblen Ruf zu bringen, während sie als Opfer dieses (scheinbar) unbegründeten Angriffes von Wesener geschont wird. Schließlich bildet dieses durchaus kindliche Verhalten Maries in diesem Streit einen krassen Kontrast zu dem Gegenstand der Auseinandersetzung: ein Flirt bzw. Liebesbeziehung mit dem Tuchhändler Stolzius. Diese Beobachtung gibt Anlass zu der oben genannten, entgegengesetzten Seite der Persönlichkeit des Bürgermädchens, die auch in der darauf folgenden Szene stärker hervortritt. Indem Marie einerseits die Komplimente des Barons Desportes aufgrund ihrer Unreife, die sie, wie sich oben schon gezeigt hat, von ihrer Mutter eingeredet worden ist, abzulehnen versucht, sich andererseits, wenn auch Wesener sich in das Gespräch mischt, sehr willig zeigt, sich von dem Baron in die Komödie führen zu lassen, erweist sich ein Verhalten, das man zumindest als Liebelei betrachten muss und schwerlich dem unschuldigen Kind aus dem ersten Auftritt zuschreiben könne. Dies lässt vermuten, dass Marie das kindliche Benehmen, das sie besonders in dem Umgang mit ihrer Familie aufzeigt, nur schauspielert und als Strategie verwendet, um ihre Unschuld der Öffentlichkeit gegenüber und ihre bevorzugte Position bei dem Vater zu wahren. In diesem Sinne erweist sich Marie vielmehr als gerissene junge Erwachsene, die sich ihrer Sexualität bewusst zu werden anfängt und ein erwachendes Interesse an dem männlichen Geschlecht aufzuzeigen beginnt, als dass man sie als unschuldiges bzw. unwissendes Kind betrachten kann, wie folgendes Zitat besonders verdeutlicht: „([…] Marie winkt Desportes lächelnd zu.) […] (Marie lächelt, und sobald der Vater beschäftigt ist, eine herauszunehmen, winkt sie ihm zu.)111 Zeige sich schon aus ihrem Versuch, die Einwände ihres Vaters gegen einen Gang mit Desportes in die Komödie feurig zu widerlegen, ein bestimmtes Bedürfnis nach Kontakt mit dem anderen Geschlecht, so unterliegt es, dem Verhalten des Bürgermädchens in diesem Zitat nach zu urteilen, keinem Zweifel, dass Marie sich durchaus ihres Verführungspotenzials bewusst ist und es auch aktiv anwendet, um, in diesem Fall, Desportes zu verführen und auf diese Weise ihren erwachenden Bedarf an der Aufmerksamkeit des männlichen Geschlechtes zu befriedigen. In dieser Hinsicht könnte auch die Bemerkung Weseners, Marie „hat immer rote Backen“112, statt eines Zeichens der Gesundheit, als Hinweis auf ihren beständigen Liebes- bzw. sexuellen Wunsch bewertet werden. Je offensichtlich 111 112 Lenz: Die Soldaten, S. 10. Lenz: Die Soldaten, S. 8. 66 der Verführungsversuch des Bürgermädchens dem Baron gegenüber ist, desto sicher versucht sie ihre Absichte vor dem Vater zu verbergen. Wie sich aus dem Zitat herausgestellt hat, passt Marie behutsam eine günstige Gelegenheit ab, um Desportes hinter Weseners Rücken verführen zu können. Dieses Benehmen kann man mit dem paradoxen Ende der Szene verbinden, in dem Marie in ihrer eheren Infantilität zu verfallen scheint: MARIE. Papa. (Fängt an zu weinen.) Er ist auch immer so grob. WESENER (klopft sie auf die Backen). Du musst mir das so übel nicht nehmen, du bist meine einzige Freude, Narr, darum trag ich auch Sorge für dich. MARIE. Wenn Er mich doch nur wollte für mich selber sorgen lassen. Ich bin doch kein klein Kind mehr.113 Wie die anfängliche Reaktion Maries auf die Warnung Weseners vor den Verführungsversuchen des Militärs zeigt, versucht das Bürgermädchen ihrem Vater gegenüber ständig die Rolle des unschuldigen Kindes, die die Basis sowohl ihres Machtes Charlotte gegenüber, wie auch ihrer Tugendhaftigkeit der Öffentlichkeit gegenüber bildet, zu spielen. Um diese beide zu behalten, darf ihre Kindlichkeit aber keinem Zweifel unterliegen und muss Maries Streben nach der Befriedigung ihres Liebes- bzw. sexuellen Wunsches hinter dem Rücken des Vaters geschehen. Paradoxerweise untergräbt Marie ihr unschuldiges kindlich-naives Bild schließlich selbst, indem sie explizit und in Gegenwart des Vaters ihren Wunsch, für sich selbst sorgen zu dürfen, mit dem Einwand, sie ist kein kleines Kind mehr, begründet. In dieser Hinsicht erweist sich das Streben nach völliger Autonomie auf der Ebene der Liebe bzw. Sexualität als die wichtigste Motivierung ihres doppeldeutigen Verhaltens. Mit anderen Worten versucht Marie, ohne die Gunst ihres Vaters und der Öffentlichkeit zu verlieren, heimlich zu einer emotionellen bzw. sexuellen Entfaltung zu gelangen. Ab diesem Punkt verliert dieses Streben des Bürgertochters, da eine solche heimliche Entfaltung sich, indem Wesener Maries Einwände in der vorhergehenden Diskussion mit Desportes, genau wegen ihrer Kindlichkeit, nicht ernst nimmt und demzufolge die Einladung des Barons, seine Tochter in die Komödie zu führen, kategorisch ablehnt, als unwirksam herausstellt, wesentlich an Subtilität. Wie sich schon aus der Analyse der Vaterfigur gezeigt hat, weist Maries ‚kindliches’ Verhalten ihrem Vater gegenüber, indem sie sich, um seine Gnade wegen der Ignorierung oben genanntes Verbotes zu flehen, nacheinander um den Hals fällt, sich auf seinen Schoß 113 Lenz: Die Soldaten, S. 11. 67 setzt114 und ihm später in ihrem Schlafzimmer mehrmals die Hand küsst115, allmählich mehr Charakteristiken eines Verführungsversuches bzw. einer Liebelei auf. In dieser Hinsicht scheint Marie dasjenige, was Wesener als eine inzestuöse Liebesbeziehung mit seiner Tochter auffasst und wofür er schließlich, zwar auf indirekte Art und Weise, mehrere Menschen in den Tod treibt, vielmehr als heimlichen und ‚erwachseneren’ Besteckungsversuch, Wesener mittels ihrer wichtigsten Waffe, die Verführung, auf ihrer Seite zu halten, damit ihre Tugend durch seine Autorität gewahrt würde, zu betrachten. Das einzige kindliche Merkmal, das Marie während des ganzen Stückes aufzeigt, das man aber den Geschlechtscharakteren des 18. Jahrhunderts nach auch einfach als typisch weibliches Merkmal bewerten könne, ist ihre (scheinbare) Naivität, die den Schein des Unschuldes der Bürgertochter wesentlich fördert. Auch diese erweist sich u.a. aus der oben genannten Konfrontation zwischen Marie und ihrem Vater in dem Schlafzimmer: MARIE (küsst ihm die Hand). Gute Nacht, Pappuschka! – (Da er fort ist, tut sie einen tiefen Seufzer, und tritt ans Fenster, indem sie sich aufschnürt.) Das Herz ist mir so schwer. Ich glaube, es wird gewittern die Nacht. Wenn es einschlüge – (Sieht in die Höhe, die Hände über ihre offene Brust schlagend.) Gott! was hab ich denn Böses getan? – – Stolzius – ich lieb dich ja noch – aber wenn ich nun mein Glück besser machen kann – und Papa selber mir den Rat gibt, (zieht die Gardine vor) trifft mich’s, so trifft mich’s, ich sterb nicht anders als gerne. (Löscht ihr Licht aus.)116 Dieses Zitat bildet eine besonders gute Zusammenfassung des Bürgermädchens Charakters. So scheint den tiefen Seufzer der Erleichterung, den sie nach dem Aufbruch ihres Vaters von sich gibt, wiederum darauf hinzuweisen, dass Marie sich Mühe machen muss, den Schein der kindlichen Unschuld vor Wesener zu wahren. In diesem Sinne scheint sich Marie, indem sie die Idee der Möglichkeit einer Besserung ihres Glückes, wegen der sie Stolzius vorübergehend hinhalten soll, völlig ihrem Vater zuschreibt, sich der Bösheit dieses Ratschlages aber offensichtlich unbewusst zeigt, auch während des Restes des Zitats als die naive ‚fille à papa’ aus dem ersten Auftritt zu erweisen. Auf diese Art und Weise weiß sie einer etwaigen Beschuldigung der Mittäterschaft an dem Plan Weseners zu entkommen und überdem ihrem Vater die 114 Lenz: Die Soldaten, S. 15. Lenz: Die Soldaten, S. 18. 116 Lenz: Die Soldaten, S. 18. 115 68 Verantwortlichkeit für den späteren Tod des Barons und Stolzius’ völlig in die Schuhe zu schieben. In Hinsicht auf die auffällig positiven Folgen ihrer Naivität, zeigt dieses Zitat auch manche Hinweise auf, die suggerieren, dass diese naive Haltung tatsächlich vielmehr eine bewusst angewendete Strategie zur Wahrung ihrer Unschuld bzw. Tugendhaftigkeit ist. So deutet, neben den expliziten Angaben der Schwere des Herzens und der Frage, was sie denn Böses getan hat, auch die Beobachtung des nahenden Gewitters auf ein gewisses Bewusstsein des etwaigen schlechten Ablaufes bzw. der Bösheit ihres Vaters Rates hin. Ob es sich dabei um ein richtiges Bewusstsein oder eher eine Vorahnung handelt, bleibt dahingestellt. Schließlich heben Maries Handlungen auch ihre verführerische Qualität stark hervor, denn die tugendhafte Tochter schnürt sich zuerst in aller Offenheit vor dem Fenster auf und schlägt ein wenig später die Hände über die offene Brust. Der weiteren Verlauf des Stückes beeinträchtigt eine eindeutige Darstellung des Charakters des Bürgermädchens wesentlich. Einerseits scheint Marie an dem ersten Blick den Rat ihres Vaters zu befolgen, indem sie Desportes bei ihrer nächsten Begegnung offensichtlich gegen Stolzius aufhetzt: MARIE (etwas leiser). Sehen Sie nur, was mir der Mensch, der Stolzius, schreibt, recht als ob er ein Recht hätte, mich auszuschelten. (Weint wieder.) DESPORTES (liest stille). Das ist ein impertinenter Esel. Aber sagen Sie mir, warum wechseln Sie Briefe mit solch einem Hundejungen? MARIE (trocknet sich die Augen). Ich will Ihnen nur sagen, Herr Baron, es ist, weil er angehalten hat um mich, und ich ihm schon so gut als halb versprochen bin. DESPORTES. Er um Sie angehalten? Wie darf sich der Esel das unterstehen? Warten Sie, ich will ihm den Brief beantworten.117 Aus diesem Zitat stellt sich zuerst heraus, dass das Bürgermädchen dem Tuchhändler Stolzius tatsächlich einen Brief, den Wesener möglicherweise aufzustellen geholfen hat, geschickt hat. Aus der Reaktion Maries auf seine Antwort lässt sich überdem schließen, dass dieser Brief, zusammen mit den Gerüchten über die Verführungsversuche des Barons, Stolzius’ Eifersucht erfolgreich gereizt hat und ihn gegen die beiden Geliebten aufgehetzt hat. Indem sie schließlich, in voller Bestürzung, Desportes die Beleidigungen des Tuchhändlers aufdeckt und ihn auf diese Weise auch gegen Stolzius in Harnisch bringt, scheint Marie den Plan ihres Vaters, in Hinsicht auf ihre (gespielte) Naivität, unbewusst zur Ausführung zu bringen. Andererseits weist dieses Zitat auch manche Elemente auf, die auf eine richtig naive Rebellion der Tochter gegen den Vater 117 Lenz: Die Soldaten, S. 27. 69 hindeuten können. So ignoriert Marie, indem sie den Baron ganz allein und in dem eigenen Hause empfängt und ihn überdem weiter zu verführen versucht, die Bitte ihres Vaters, Desportes keine allzu große Hoffnung auf sie zu machen. Zwar scheint sie die väterlichen Voraussetzungen, ihn nur im Beisein der Madame Weyher in die Komödie zu begegnen und keine Präsente von ihm anzunehmen, zu befolgen; Ihre offensichtlichen Verführungsversuche lassen aber vermuten, dass sie den Zweck dieser Voraussetzungen keineswegs einsieht. Nicht nur macht sie dem Baron, indem sie sagt, dass sie Stolzius nur „so gut als halb versprochen“ ist, große Hoffnung auf sie, auch ihre Handlungen scheinen eine wesentliche Steigerung Desportes’ Liebe zu bezwecken: (Sie fangen an zu scheckern, sobald sie den Arm rückt, macht er Miene zu schreiben, nach vielem Lachen gibt sie ihm mit der nassen Feder eine große Schmarre übers Gesicht. […] Er kommt näher, sie droht ihm mit der Feder, endlich steckt sie das Blatt in die Tasche, er will sie daran verhindern, sie ringen zusammen, Marie kützelt ihn […])118 In diesem Sinne könne man Maries Naivität, die bis jetzt eher als bewusst angewendete Entschuldigungsstrategie aufgefasst wurde, viel überzeugender als typisch weiblichen Geschlechtscharakter bewertet werden119. Dies bedeutet, dass das Bürgermädchen, neben dem Zweck der oben genannten Voraussetzungen ihres Vaters, auch die Bösheit seines Ratschlages wirklich nicht erkennt hat. Wenn Marie diesen Rat aber, wie sich oben herausgestellt hat, bewusst oder unbewusst, nicht verfolgt, so könne sich die oben erwähnte, vorausgeahnte, aber nicht erkannte Bösheit auch auf ihr eigenes Verhalten beziehen, denn, indem sie eingesteht, auch Stolzius noch immer zu lieben, scheint die Tatsache, dass sie zwei Männer liebt und an sich binden will, für Marie überhaupt kein Problem darzustellen. In Hinsicht auf diese naive Auffassung, könne man auch das letzte Zitat als argloses Verführungsspiel des Mädchens bewerten. Erweist sich dies schon aus dem lockeren Gefecht, das Marie einem kleinen Küsschen vorangehen lässt, so betont der weiteren Verlauf des Auftritts besonders die naive Rücksichtslosigkeit und Bedeutungslosigkeit dieses Spieles: 118 Lenz: Die Soldaten, S. 28. Diese Naivität findet man in Karin Hausens Übersicht der männlichen und weiblichen Geschlechtscharaktere im 18. Jahrhundert, zwar in der Form positiv konnotierter Charakteristika, wie Empfänglichkeit und Rezeptivität, zurück. Karin Hausen: „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben.“ In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Hg. von Werner Conze. Stuttgart: Klett 1976, S. 368. 119 70 Jungfer Zipfersaat tritt herein. MARIE (hier und da launigt herumknicksend). Jungfer Zipfersaat, hier hab ich die Ehre, dir einen Baron zu präsentieren, der sterblich verliebt in dich ist. […] JUNGFER ZIPFERSAAT (beschämt). Ich weiß nicht, wie du bist, Mariel. MARIE (einen tiefen Knicks). Jetzt können Sie Ihre Liebesdeklaration machen. (Läuft ab, die Kammertür hinter sich zuschlagend. Jungfer Zipfersaat ganz verlegen tritt ans Fenster. Desportes, der sie verächtlich angesehen, passt auf Marien, die von Zeit zu Zeit die Kammertür ein wenig eröffnet. Endlich steckt sie den Kopf heraus: höhnisch.) Na, seid ihr bald fertig? (Desportes sucht sich zwischen die Tür einzuklemmen, Marie sticht ihn mit einer großen Stecknadel fort, er schreit und läuft plötzlich heraus, um durch eine andere Tür in jenes Zimmer zu kommen. Jungfer Zipfersaat geht ganz verdrüsslich fort, derweil das Geschrei und Gejauchz im Nebenzimmer fortwährt.)120 Aus diesem Zitat, das einen letzten und ausschlaggebenden Charakterzug der Tochterfigur aufzeigt, erweist sich in erster Linie Jungfer Zipfersaat als größtes Opfer des Bürgermädchens Spieles. Indem Marie sie, völlig unerwartet, mit einem Baron, der sich in sie verliebt haben würde, konfrontiert, versetzt das Mädchen ihre Freundin in große Scham. Überdem bringt sie Jungfer Zipfersaat in eine höchst unbequeme Situation: nicht nur lässt Marie sie mit Desportes in ihrem Zimmer allein da, auch wird sie von dem Baron verächtlich angesehen und, wenn die beiden Geliebten das Verführungsspiel weiterführen, sogar gänzlich ignoriert. Die oben genannte Rücksichtslosigkeit des Bürgermädchens zeigt sich daran, dass Marie keinen Moment an die Kränkung, die dieses Spiel ihrer Freundin zufügen könne, denkt und außerdem über die Fortsetzung des Spieles die offensichtlich missvergnügte Jungfer gänzlich vergisst. In Hinsicht auf die Liebesauffassung des Mädchens, die aus dieser Spielerei hervorgeht, gibt es aber hinreichende Gründe für eine Bewertung des Barons, die sie wirklich leidenschaftlich zu lieben scheint, als größtes Opfer Maries. Indem sie schon am Anfang ‚launigt herumknickst’, scheint Marie nicht nur die Verführung, sondern auch die Liebe als ein Spiel bzw. einen Scherz aufzufassen; eine Idee, die sich als roter Faden durch das oben stehende Zitat hindurchzuziehen scheint. So dreht das ganze Spiel des Mädchens in erster Linie um eine scherzhafte und aufziehende Verkuppelung der Jungfer Zipfersaat mit dem Baron. In diesem Sinne zeigen auch die Aussagen Maries eine sehr leichtsinnige und spielerische Auffassung der Liebe auf, indem sie keine Mühe damit zu haben scheint, zuerst Desportes nur spaßeshalber eine Liebe für ihre Freundin zuzuschreiben, um die beiden Gäste danach in einem Zimmer einzusperren, 120 Lenz: Die Soldaten, S. 29. 71 damit der Baron der Jungfer Zipfersaat seine Liebesdeklaration machen könne. Dass sie die Liebesauffassung des Bürgermädchens aber keineswegs teilen, zeigt sich an die unbequeme Haltung, die Desportes und Zipfersaat nach ihrer Einsperrung annehmen. Indem sie irgendwelchen Kontakt miteinander peinlich zu vermeiden bzw. einander zu ignorieren versuchen, erweist sich, dass laut diesen Personen Liebe keineswegs als etwas leichtsinniges oder komisches aufgefasst werden soll. Der Scherz, den Marie daraus gemacht hat, führt einerseits zu einer tiefen Beschämung bei Jungfer Zipfersaat, andererseits zu Verachtung und Ärger bei dem Baron. Wie wenn man Marie, nach dem oben genannten heraufziehenden Gewitter, erneut vor den Gefahren eines solchen Verhaltens zu warnen versucht, erscheint, während ‚das Geschrei und Gejauchz im Nebenzimmer fortwährt’, Weseners alte Mutter, die die Szene mit dem folgenden Lied abschließt: MUTTER. Ein Mädele jung ein Würfel ist, / Wohl auf den Tisch gelegen: / Das kleine Rösel aus Hennegau / Wird bald zu Gottes Tisch gehen. // […] Was lächelst so froh mein liebes Kind, / Dein Kreuz wird dir’n schon kommen. / Wenn’s heißt, das Rösel aus Hennegau / Hab nun einen Mann genommen. // O Kindlein mein, wie tut’s mir so weh, / Wie dir dein Äugelein lachen, / Und wenn ich die tausend Tränelein seh, / Die werden dein Bäckelein waschen.121 In Hinsicht auf den vorangehenden Liebesscherz ihrer Enkeltochter, enthält dieses Lied eine offensichtliche Warnung für Marie. Indem sie sich fragt, weshalb ihr liebes Kind bzw. ihre Kleintochter Marie so froh lächelt und dieses Lächeln ihr überdem Kummer bereitet, verurteilt die Mutter den sehr leichtsinnigen Umgang mit der Liebe, die das Mädchen soeben aufgezeigt hat. Zugleich scheint sie betonen zu wollen, dass Marie, wenn sie heiraten wird bzw. muss und die Realität bzw. Seriosität der Liebe kennenlernen wird, ihrer zusammengestürzten Liebesauffassung noch viele Träne nachweinen wird. Wie der letzte Vers dieses Liedes aber suggeriert, soll dieser Verduss auch eine sittliche Läuterung mit sich bringen, die Marie, in Hinsicht auf den Verweis nach einer etwaigen Schwangerschaft, möglicherweise brauchen wird. Denn die zwei letzten Verse der zweiten Strophe enthälten eine offensichtliche sexuelle Konnotation, die darauf hinweisen könnte, dass sich in dem Nebenzimmer etwas mehr, als ein unschuldiges Verführungsspiel, zuträgt. In diesem Sinne können auch die Stelle, die Marie, nach dem Verschwinden des Barons, bei der Gräfin bekommt, und letztendlich 121 Lenz: Die Soldaten, S. 29-30. 72 ihre Flucht nach der Verweisung des gräflichen Geländes als Versuche, der Öffentlichkeit ihre Schwangerschaft zu verdecken, gedeutet werden. Vor allem wichtig für diese Analyse ist aber die Tatsache, dass Maries Verführungs- bzw. Liebesspiele immer in Tränen enden. Zuerst stößt Stolzius sich in dem oben erwähnten Brief als untreue Geliebte von sich ab. Der Verdruss über diese Beleidigung verwendet sie aber sogleich zu der Eroberung bzw. Verführung des Barons. Wenn auch dieser aber plötzlich verschwindet, bleibt Marie aber ganz allein mit ihrem Kummer zurück. In diesem Sinne zeigt sich ihre Naivität aufs Neue, und zwar daran, dass es sie, trotz einer unendlichen Reihe von Warnungen, die ihr sowohl explizit von weiblichen Figuren, wie die Schwester, Mutter und Großmutter, wie auch implizit in der Form natürlicher (weiblicher) Vorzeichen erteilt worden sind, nicht gelingt, die Gefahre ihres leichtsinnig verführerischen Verhaltens zu erkennen und ihren Drang nach sexueller bzw. emotionaler Entfaltung zu bändigen. Obwohl sich das Bürgermädchen, Marie, als ein sehr vieldeutiger Charakter herausstellt und manche Elemente ihrer Persönlichkeit und ihres Lebenswandels, wie z.B. die etwaige Schwangerschaft, nur suggeriert werden, zeigt diese Analyse meiner Meinung nach zumindest ein paar Konstanten auf, nach den man eine Charakterbeschreibung der ‚tugendhaften’ Tochter konstruieren könnte. Trotz ihrer typisch weiblichen Naivität, die ihr Verhalten teilweise entschuldigen könne, erweist sich auch Marie als eine richtige Egoistin. Genau wie die anderen Personen, die bis jetzt analysiert worden sind, weist das Bürgermädchen ein beharrliches und rücksichtsloses Streben nach dem eigenen Nutzen, in diesem Fall nach dem Befriedigung ihrer Wunsch der sexuellen bzw. emotionalen Entfaltung, auf. Indem Emilia sich die ganze Geschichte hindurch damit zu beschäftigen scheint, den einen Mann nach dem anderen zu verführen, bildet auch hier, ähnlich wie bei Emilia Galotti, das warme Blut bzw. die Sinne des Bürgermädchens ihr wichtigstes Problem. Der größte Gegensatz zwischen beiden besteht darin, dass Emilia sich ihrer Unfähigkeit, den Verführungsversuchen des Prinzen widerstehen zu können, bewusst ist, während Marie sich selbst als die große Verführerin herausstellt und sich ihrer Unfähigkeit, dem Akt des Verführens zu widerstehen, völlig unbewusst ist. Die Tochterfigur in Die Soldaten scheint ihre unverkennbare verführerische Qualität sogar zu missbrauchen, indem sie diese sogar als eine Bestechungstrategie verwendet, um Wesener, trotz ihres verführerischen 73 Umganges mit mehreren Männern, über den er sich zweifellos sehr verdrießlich zeigen würde, auf ihre Seite zu halten und auf diese Weise ihren Schein der Tugendhaftigkeit mittels seiner Autorität zu gewährleisten. Daneben weist Marie auch in dem Umgang mit ihrer Schwester, Charlotte, ein offensichtliches egoistisches Verhalten auf. Das Ziel ihres Strebens ist hier aber nicht die Befriedigung des sexuellen bzw. Liebeswunsch, sondern die Erhaltung bzw. Festigung ihrer bevorzugte Position bei ihrem Vater einerseits, und eine Strafe für die Schwester, die ihre Tugendhaftigkeit in Zweifel zu ziehen wagt andererseits. Dazu missbraucht sie gerade diese bevorzugte Position, die, in Kombination mit einem kindlichen Verhalten Wesener gegenüber, dafür sorgt, dass die Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern immer zu Maries Vorteil ausschlagen. Die Rücksichtslosigkeit dieses erwachsene bzw. kindliche, egoistische Verhalten geht aus ihrer Naivität hervor: Trotz der vielen Warnungen und die mehrfache Abweisung (Zuerst verstößt Stolzius sie als ungetreue Geliebte in einem Brief; Später verlässt auch Desportes sie und verschwindet spurlos.), die sie immer in Tränen versetzt, scheint Marie den selbstsüchtigen Aspekt ihres Verhaltens nicht zu erkennen. So bleibt sie, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Strafe und die Beleidigungen, die Charlotte wegen ihres kindlich-entschuldigenden Benehmens leiden muss, oder die gebrochenen Männerherzen, die ihr leichtsinniger Umgang mit der Liebe veranlässt, beharrlich ihre Ziele verfolgen. In diesem Sinne hat auch das Bürgermädchen Marie einen wesentlichen Anteil an der Eifersucht des Tuchhändlers Stolzius, die schließlich den dramatischen Tod des Barons und Stolzius’ selbst veranlasst, und könne auch sie als eine beharrliche, zwar unabsichtlich rücksichtslose Egoistin bezeichnet werden. Die bürgerliche Kleinfamilie in Die Soldaten besteht weiter noch aus der Mutterfigur, der Schwester, Charlotte, und Weseners alter Mutter, die aber, indem die Rollen dieser Nebenfiguren sich vor allem auf die (unerfolgreiche) Warnung des Bürgermädchens zu beschränken scheinen und sie daher keinen Anteil an dem dramatischen Ablauf des Stückes haben, in dieser Analyse der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel außer Betracht gelassen werden. 74 3. Schlussfolgerung Dieses Kapitel wird, neben einigen inhaltlichen Schlussfolgerungen über die zwei analysierten Dramen, vor allem die Folgen des oben aufgezeigten Egoismus besondere Aufmerksamkeit widmen. In einem ersten Teil werden die oben genannten inhaltlichen Schlüsse der traditionellen Umschreibung des bürgerlichen Trauerspieles, die sich stark an den typischen Figurenkonstellation und Handlungsablauf solcher Dramen orientiert, gegenübergestellt. Dabei wird man sich unweigerlich mit der Frage beschäftigen müssen, ob eine Neudefinierung bzw. Adaption der heutigen Gattungsbestimmung sich nicht aufdrängt. Zweitens müssen auch die Folgen für die gesellschaftliche Position bzw. Funktion der Gattung beachtet werden, bei der besonders die moralisierende bzw. erzieherische Wirkung dieser Theaterstücke in Frage gestellt wird. Schließlich werden auch den etwaigen Folgen dieser Analyse für die bisherige Forschung der Literatur des 18. Jahrhunderts nicht aus dem Auge verloren, indem in einem dritten Teil einen Ausblick auf die neuen Forschungsmöglichkeiten, die eine solche Analyse des egoistischen Substrats eröffnen könne, gegeben wird. 3.1 Folgen für die Gattungsbestimmung des bürgerlichen Trauerspiels: eine Neudefinierung? Um die Folgen dieser Analyse für die traditionelle bzw. heutige Umschreibung des bürgerlichen Trauerspiels beurteilen zu können, braucht man sich zuerst ein einheitliches Bild der Gattungsdefinition zu machen. Dazu scheint sich vor allem die bei mehreren Forschern vorkommende Begründung der Gattungsbezeichnung Emilia Galottis, die man, indem diesem Stücke öfters den Status des „Bürgerliche[n] Trauerspiel[es] par excellence“122 beigemessen wird, als exemplarisch für die ganze Gattung betrachten könnte, besonders zu eignen. So greift Alexander Košenina in erster Linie auf die Thematik des Stückes zurück, um oben stehende Benennung zu rechtfertigen: Dafür spricht zunächst der Stoff: Thema ist der Konflikt zwischen der höfischen Welt, vertreten durch den selbstherrlichen und verantwortungslosen Prinzen Hettore Gonzaga und seinen intriganten Kammerherrn Marinelli, und der Familie des Odoardo Galotti, seiner Frau Claudia und der Tochter Emilia. Die Verführung 122 Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165. 75 der bürgerlichen Unschuld durch den adligen Machthaber und ihre Opferung durch den Vater ist äußerst tragisch, stärker als das Bild einer bewundernswerten Heroine oder Märtyrerin zeichnet Lessing aber das psychologische Bild einer jungen Frau in ihrer allzumenschlichen Schwäche, Angreifbarkeit, Verletzlichkeit.123 Eine ähnliche Umschreibung gibt auch Peter-André Alt, indem er in seinem Lehrbuch über die Aufklärung stellt, [dass] auch sie [Emilia Galotti] […] ein >bürgerliches Trauerspiel< [ist], insofern sie eine Familientragödie im Einflussfeld höfischer Intrigen darstellt, die nicht allein ständische Konflikte, sondern zugleich die Sprengkraft der Leidenschaften und die Disharmonie zwischen Emotion und Vernunft vor Augen führt.124 Aus diesen zwei Zitaten lässt sich schließen, dass ein typischer Inhalt bzw. festgelegter Themenkreis eine wichtige bzw. die wichtigste Bedingung für die Gattungsbezeichnung eines Stückes als bürgerliches Trauerspiel bildet. Konkret zeigen Dramen dieser Art einen Handlungsablauf auf, der von einem Konflikt zwischen dem negativ konnotierten intriganten Adel und dem positiv konnotierten tugendhaften Bürgertum gekennzeichnet wird, bei dem auch die menschliche Schwachheit dieses Bürgertums, die besonders aus seiner Unfähigkeit, die Leidenschaftlichkeit zu bändigen bzw. mit dem Voraussetzung menschlicher Vernunft dieser Epoche in Einklang zu bringen, hervorgeht, nicht aus dem Auge verloren wird. Hieraus könne man schließen, dass ein bürgerliches Trauerspiel thematisch zweifach bedingt wird: Erstens zeigt es ein festgelegtes Personal auf, indem eine Kleinfamilie, die von bürgerlichen „Tugenden, wie Humanität, Toleranz, Gerechtigkeit, Mitleidsfähigkeit, Sittlichkeit, Gefühlsreichtum usw.“125 regiert wird, einigen Personen aus der „unpersönlich[en], kalt[en] und menschenfeindlich[en]“126 höfischen Welt gegenübergestellt werden. Zweitens befolgen Dramen dieser Gattung einen bestimmten Handlungsablauf: Ein Verführungsversuch eines Adligen, mittels dessen er ein tugendhaftes Bürgermädchen für sich zu gewinnen hofft, führt, möglicherweise durch Zutun eines bürgerlichen Intriganten, zu einer Verletzung des Mädchens Ehre, die auch teilweise in der oben genannten menschlichen Schwäche ‚bürgerlicher’ Personen begründet liegt und die den direkten Anlass zum tragischen Ablauf des Stückes bildet. 123 Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165-166. Alt: Aufklärung, S. 221. 125 Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 164. 126 Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 164. 124 76 Lässt sich diese thematische Gattungsbestimmung zwar ‚in abstracto’ auf die oben analysierten Dramen anwenden (Emilia Galotti scheint oberflächlich die inhaltlichen Bedingungen zu erfüllen und, indem in Die Soldaten die Verführungsversuche des Militärs nicht nur von dem Vaterfigur, Wesener127, sondern auch von dem Feldprediger, Eisenhardt, und sogar von dem Oberst, Graf von Spannheim, selbst128 als große Gefahr für die Unschuld bzw. Tugend der Bürgermädchen erachtet werden, könne auch dieses Stück auf den ersten (einigermaßen vorurteilsbehafteten) Blick als typisches Beispiel eines bürgerlichen Trauerspiels betrachtet werden.), so erweist sich diese These, und mithin auch die oben festgelegte thematische Bedingung der Gattung, in Hinsicht auf die Selbstsucht, die bei allen Schlüsselfiguren dieser zwei Dramen aufgezeigt worden ist, als unhaltbar, denn nicht der Versuch eines Adligen bzw. Soldaten, ein tugendhaftes, aber auch leidenschaftliches Bürgermädchens zu verführen, sondern das beharrliche und rücksichtslose Streben aller Personen nach dem eigenen Nutzen scheint den tragischen Ablauf der Stücke herbeizuführen. Konkret könne in Emilia Galotti eine Kombination der prinzlichen Verführung und Emilias sinnliche Schwäche den Tod des Bürgermädchens nicht verursachen, ohne dass u.a. (1) Marinelli, in einem persönlichen Machts- und Rachestreben, den Plan schmiedet, mittels dessen sein Herr Emilia für sich gewinnen könne, den aber auch die Schuld des Prinzen an dem Tod des Grafen Appiani keinem Zweifel unterliegen lassen scheint, (2) die Gräfin Orsina Odoardo, in dem Glauben, der Vater wird sich nach ihrem Anschwärzen des Prinzen an ihrer Stelle an ihrem ehemaligen Geliebten rächen, einen Dolch überreicht, und (3) Odoardo über sein beharrliches Streben nach der Wahrung seiner Tochter Ehre bzw. seines wichtigsten Besitzes die Gefühle, die Emilia für den Prinzen zu empfinden scheint, ignoriert und sie auf diese Weise in den Tod treibt. Wird bei Lessing die bestehende Gegenüberstellung des Adels und Bürgertums, in der Form eines Unterschiedes zwischen der kälteren, berechneteren, und daher auch negativ konnotierten, adligen Selbstsucht und dem gefühlsgetriebenen, naiveren, und daher auch positiver anmutenden, bürgerlichen Egoismus, noch einigermaßen eingehalten, so scheint Lenz, indem sich der Vaterfigur als berechneter Intrigant und die ‚tugendhafte’ Marie als rücksichtslose Verführerin den Liebhaber der Tochter, die in erster Linie als Opfer der weiblichen Verführung betrachtet werden sollen, gegenüberstehen, eine völlige Umkehrung dieser Verhältnisse 127 128 Lenz: Die Soldaten, S. 11. Lenz: Die Soldaten, S. 14. 77 anzustreben, auf die in dem zweiten Teil dieser Schlussfolgerung näher eingegangen wird. Wie sich oben herausgestellt hat, scheinen sowohl Emilia Galotti, wie auch Die Soldaten den als typisch bewerteten Ablauf eines bürgerliches Trauerspiels nicht zu befolgen. Überdem werden in beiden Stücken die ‚bürgerliche’ Kleinfamilie und die ‚intrigante’ höfische Welt sehr unterschiedlich, sogar gegensätzlich, konnotiert. In diesem Sinne könne man auf Egoismus bzw. Selbstsucht als einzige Konstante in der Handlungsablauf dieser Dramen schließen, was Anlass zu folgender Neudefinierung bzw. Nuancierung der thematischen Bestimmung dieser Gattung gibt: Thematisch bzw. inhaltlich bleibt das bürgerliche Trauerspiel zweifach bedingt: Auf der Ebene des Personals liegt noch immer eine Gegenüberstellung zweier Gruppen Personen, die die bürgerliche, kleinfamiliale bzw. adlige Welt symbolisieren, vor. Auf der Ebene des Handlungsablaufes muss man aber erkennen, dass das tragische Ende des Stückes nur an der Oberfläche unmittelbar von dem Verführungsversuch eines Adligen bzw. Soldaten und der sinnliche Schwäche des Bürgermädchens veranlasst wird, und dass es ohne den in dieser Arbeit aufgezeigten unterschwelligen Egoismus, d.h. das beharrliche und rücksichtslose Streben aller Figuren nach dem eigenen Nutzen, nie zu solchem Ablauf kommen könne. 3.2 Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspieles: exemplum ex negativo? Neben der oben aufgezeigten thematischen Gattungsbestimmung, muss auch ein zweites Charakteristikum des bürgerlichen Trauerspiels besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, da diese Gattung schon ab ihrem Anfang bei Lessing bis auf heute immer auch funktional bedingt worden ist: Diese Berufung Lessings auf das Menschliche hing eng zusammen mit seinem Bemühen um eine neue, differenzierte Funktionsbestimmung der Literatur. Nicht moralische Belehrung im gottschedschen Sinne, sondern sittliche Läuterung wollte Lessing erreichen. Ziel der Tragödie war es, Furcht und Mitleid beim Zuschauer bzw. Leser zu erregen. Durch Furcht und Mitleid sollte die Tragödie zur Reinigung der Leidenschaften (Katharsis) führen.129 129 Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 157. 78 Obwohl Lessing dem Drama keine moralisch belehrende Funktion mehr beimessen wollte, liegt auch bei dem lessingschen bürgerlichen Trauerspiel, zwar implizit, eine ähnliche Wirkung vor, denn, indem das Drama Furcht und Mitleid, und mithin eine sittliche Läuterung, erregen soll, stimuliert es den Menschen des 18. Jahrhunderts gleichwohl, die Gefühle zu bändigen und vernünftig bzw. moralisch zu handeln. Auch wenn die Weise, auf die sie ihre Wirkung erreicht, variieren könne, scheint die gesellschaftliche Position bzw. Funktion dieser Gattung als moralisierendes, erzieherisches Drama aber außer Zweifel zu stehen. Wenn sich aber, wie sich in dieser Arbeit herausgestellt hat, alle Schlüsselfiguren dieser Dramen egoistisch verhalten, so problematisiert sich oben genannte funktionale Gattungsbestimmung, indem einerseits eine Instanz, die moralisch zu handeln versucht bzw. vernünftig handeln will und mit der das Publikum Mitleid haben könne, völlig fehlt; andererseits die in diesen Stücken allgegenwärtige Selbstsucht im schroffen Kontrast zur damaligen Moral, und insbesondere zum kantschen kategorischen Imperativ, steht. Kant versucht im zweiten Teil der Grundlegung die Idee unbedingten Sollens von verschiedenen Seiten her gleichsam auszumessen, was ihn zu immer erneuten Formulierungen des Kategorischen Imperativs als dem Moralprinzip führt. […] Die Grundformel lautet: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS 7, 51 = IV, 421) […] Die zweite Formel ist die so genannte „Selbstzweckformel“: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS 7, 61 = IV, 429)130 Vor allem in Bezug auf die „Selbstzweckformel“, erscheint oben genannter Gegensatz zwischen ‚moralisierendem’ Drama und der eigentlichen Moral besonders offensichtlich, da fast alle Personen in Emilia Galotti und Die Soldaten, in ihrem beharrlichen und rücksichtslosen Streben nach dem eigenen Vorteil, ihren Mitmenschen gerade als Mittel zum Erreichen ihres Zieles betrachten. So verwendet Marinelli den Prinzen nur, um seine eigene Macht zu erweitern, und versucht er, wenn seinen Plan fehlschlägt, die Schuld an dem Tod des Grafen völlig auf seinen Herren abzuwälzen, oder sieht Marie ihre Liebhaber nur als Gegenstände, auf die sie ihre spielerische Liebesgefühle zeitweilig projizieren, danach aber einfach beiseiteschieben kann. In Hinsicht auf diesen allgegenwärtigen, der kantschen Moral widersprechenden 130 Otfried Höffe und Maximilian Forschner: Lexikon der Ethik. München: Beck 1977, S. 132. 79 Egoismus, der in mehreren bürgerlichen Trauerspielen aufgezeigt worden ist, scheint eine Durchführung der lessingschen Mitleidspoetik problematisch und wäre es vielleicht eine bessere Alternative, diese bürgerlichen Trauerspiele als ‚exempla ex negativo’ aufzufassen. Erscheint Lessings dramatisches Prinzip, durch Furcht und Mitleid eine sittliche Läuterung bzw. moralische Besserung des Publikums zu veranlassen, nicht haltbar bzw. unwirksam, so erweist sich ein zweiter Aspekt seiner Mitleidspoetik als desto besser erfüllt. Diese Möglichkeit [,dass das Unheil einer Figur im Drama auch den Zuschauer treffen könne] finde ich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn [die Figur] der Dichter nicht schlimmer mache, als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen;131 Mit diesen Worten umschreibt Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie, wie sich die Figuren im bürgerlichen Trauerspiel verhalten sollen, um die oben genannte Wirkung auf die Zuschauer zu bewirken. Der Dramatiker soll „gemischte Charaktere“ aus seiner Personen machen und „soll die Dinge nicht naturalistisch wiedergeben, sein Ziel soll vielmehr die poetische Wahrheit sein.“132 Mit anderen Worten sollen die Figuren dieser Gattung als Menschen, die sowohl positive, wie auch negative Eigenschaften aufzeigen, und die auf diese Weise das Wesentliche bzw. Typische der menschlichen Natur verkörpern, dargestellt werden. Indem die meisten Personen in Emilia Galotti und Die Soldaten eine egoistische Lebenshaltung aufzeigen, die Rücksichtslosigkeit ihrer Selbstsucht aber oft aus einer Vergessenheit, die besonders von der Beharrlichkeit ihres Strebens bzw. dem starken Fokus auf ihr Ziel veranlasst wird, zu stammen scheint, könne man schließen, dass beide Stücke diese Bedingung tatsächlich zu erfüllen scheinen. Doch muss ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Dramen beobachtet werden, da Lessing die bürgerliche Kleinfamilie als „Vertreter eines abstrakten bürgerlichen Tugendideals“133 positiv zu konnotieren versucht, während Lenz „– 131 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. [Fünfundsiebzigstes Stück.] Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag 1995. Abrifbar unter folgender URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1183/77.25.05.2012. 132 Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 157. 133 Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 167. 80 Lessingsche Ansätze radikalisierend–“134 diese Aufwertung des Bürgertums mittels einer Umkehrung der Verhältnisse nuancieren will. Aus dieser Behauptung geht, vor allem in Bezug auf Emilia Galotti, hervor, dass der Autor (Lessing) nie die Absicht gehabt hätte, auch die bürgerliche Kleinfamilie als egoistisch darzustellen und so seine eigene Mitleidspoetik, und zugleich auch die gesellschaftliche Funktion der Gattung, zu beeinträchtigen. In Bezug auf Die Soldaten scheint eine solche egoistische Darstellung aller Personen wahrscheinlicher, indem hier offensichtlich eine kritische Nuancierung des Gegensatzes zwischen Adel und Bürgertum angestrebt wird. Da Behauptungen über die Autorintention aber zwangsläufig spekulativ sind, scheint es eine bessere Alternative, der von Roland Barthes verkündeten „Tod des Autors“135, der den Text als eine Entität, die ein Eigenleben führt, versteht, in dieser Analyse zu inkorporieren und so zu der folgenden Schlussfolgerung zu kommen: Die Selbstsucht, die in dieser Arbeit bei allen Schlüsselfiguren der zwei analysierten bürgerlichen Trauerspiele aufgezeigt worden ist, kommt, ob sich der Autor nun davon bewusst war oder nicht, unmittelbar aus dem Text hervor. In diesem Sinne könne sie, besonders in Hinsicht auf Lessings Voraussetzung poetischer Wahrheit, als typisch menschliche Eigenschaft, die immer unterschwellig anwesend ist, aufgefasst werden. Auch wenn der Egoismus der dramatischen Figuren das gesellschaftliche Ziel der Mitleidspoetik zu widersprechen scheinen, darf man diese Theorie nicht ohne Weiteres zurückweisen, da dieser Egoismus eher als gesellschaftliches Substrat, das von dem Publikum bzw. Autoren erkennt wurde oder nicht, aufgefasst werden soll. 3.3 Ausblick Da der Umfang dieser Arbeit, die, besonders wegen Platzmangels, eine Analyse nur zweier bürgerlichen Trauerspiele enthält, gezwungenermaßen beschränkt ist, gibt es logischerweise eine Vielzahl von Erweiterungsmöglichkeiten dieses Forschungsgegenstandes (d.h. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel). So muss in erster Linie ein großeres Korpus an Dramen dieser Gattung auf eine ähnliche Art und Weise 134 Manfred Windfuhr: Nachwort. In: Lessing: Die Soldaten, S. 85. In seinem Essay La mort de l’auteur. (The death of the author. bzw. Der Tod des Autors.), spricht sich Roland Barthes gegen eine auf die Autor bzw. Autorintention bezogene Lektüre literarischer Texte aus. Stattdessen soll man den Text als selbständiges Phänomen betrachten, aus dem seine Bedeutung direkt hervorgeht. Mit anderen Worten wird der Text, wie oben gesagt, als eine Entität, die ein Eigenleben führt, aufgefasst. 135 81 analysiert werden, um die oben stehenden Befunde mit größerer Gewissheit bekräftigen bzw. entkräften zu können. Daneben scheint auch eine Rezeptionforschung dieser Dramen eine interessante Sicht auf diese Problematik geben zu können, indem auf diese Weise untersucht werden könne, ob das Publikum des 18. Jahrhunderts oben aufgezeigte Selbstsucht erkennt hätte. Am interessantsten wäre aber meiner Meinung nach, diese Arbeit als Anfang bzw. Anlass zu einer umfänglicheren Untersuchung bzw. Dissertation aufzufassen, in der die Theorie des New Historicism verwendet wird, um z.B. anhand einer Diskursanalyse136 oben aufgezeigte Selbstsucht auf andere literarischen Gattungen, wie der Roman oder die Lyrik, auf nicht-literarische Gattungen, wie die Philosophie, oder sogar auf die Mentalität des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen zu übertragen und auf diese Weise eine bis jetzt noch unerkannte ‚soziale Energie’137 des Egoismus aufzuzeigen. 136 Moritz Baßler weist in der Einführung seines Sammelbandes New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. auf den Wert, den der New Historicism auf die Diskursanalyse als Forschungsmethode legt, und umschreibt den Nutzen dieser Methode folgendermaßen: „Der New Historicism hat sich dagegen vorgenommen, sozusagen das Mikroskop auf das aus Diskursfäden gesponnene dichte Gewebe der Kultur bzw. Geschichte zu richten und einzelne Fäden daraus zu verfolgen, um jeweils ein Stück Komplexität, Unordnung, Polyphonie, Alogik und Vitalität der Geschichte zu rekonstruieren.“ In diesem Sinne könnte die Diskursanalyse wesentlich dazu beitragen, ‚die einzelne Faden’ des Egoismus, die in dieser Arbeit nur im bürgerlichen Trauerspiel aufgezeigt worden ist, durch Texte aller Sorten des 18. Jahrhunderts zu verfolgen. 137 Das Konzept ‚soziale Energie’ (social energy) stammt ursprünglich von dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, der es u.a. folgendermaßen definiert: „The term implies something measurable, yet I cannot provide a convenient and reliable formula for isolating a single, stable quantum for examination. We identify energia [sic] only indirectly, by its effects: it is manifested in the capacity to produce, shape, and organize collective physical and mental experiences.” In Hinsicht auf die konstituierende Funktion der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel einerseits (Egoismus bildet die wichtigste Veranlassung zum tragischen Ablauf des Stückes) und die Realitätsbezogenheit des Dramas des 18. Jahrhunderts andererseits, scheint es interessant, nachzugehen, ob auch Egoismus bzw. Selbstsucht als ein die physische und mentale Erfahrung organisierendes Prinzip betrachtet werden kann. 82 4. Bibliographie Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=Adelung&mainmode=Vorworte.02.04.2012. Alt, Peter-André: Aufklärung. 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Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py? sigle=DWB&mainmode=Vorworte&file=vor01_html#abs1.02.04.2012. Hausen, Karin: „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben.“ In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Hg. von Werner Conze. Stuttgart: Klett 1976, S. 363-393. Höffe, Otfried und Forschner, Maximilian: Lexikon der Ethik. München: Beck 1977. Košenina, Alexander: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin: Akademie Verlag 2008. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Die Soldaten. Eine Komödie. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co, 2004. Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co 2001. 83 Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. [Fünfundsiebzigstes Stück.] Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag 1995. 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