Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen

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Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen
Universiteit Gent
Academiejaar 2011-2012
Egoismus bzw. Selbstsucht im bürgerlichen
Trauerspiel des 18. Jahrhunderts
Eine Analyse Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Die Soldaten aus
egoistischer Sicht.
Promotor: Prof. Dr. C. Kanz
Verhandeling voorgelegd aan de
Faculteit Letteren en Wijsbegeerte
voor het behalen van de graad van
Master in de Taal- en Letterkunde:
Duits-Engels
door
Jules De Doncker
2
3
Dankeswort
In erster Linie möchte ich meinen Eltern danken, nicht nur für die jahrelange
moralische, sondern auch für die finanzielle Unterstützung, ohne die ich nie einem
akademischen Diplom so nahe gekommen wäre. Daneben verdient auch meine
Deutschlehrerin im Gymnasium, Frau Ann Vanallemeersch, eine ehrenvolle
Erwähnung, da sie mir eine besonders angenehme erste Bekanntschaft mit der deutsche
Sprache besorgt hat, die zweifellos die Grundlage meiner heutigen Liebe für dieses
Land, seine Sprache und seine Kultur bildet. Drittens möchte ich auch der vollständigen
Fachschaft ‚deutsche Literaturwissenschaft’, zusammen mit allen Professoren, von
denen ich in den letzten vier Jahren Unterricht bekommen habe, danken für die
akademischen Kompetenzen, und insbesondere das kritische Denken, die sie mir
beigebracht haben. Eine besondere Erwähnung verdient auch mein Promotor, Prof. Dr.
Christine Kanz, nicht nur für Ihre Hilfe und professionelle Meinung während des
Schreibprozesses dieser Arbeit, sondern auch für Ihre besonders interessanten
Vorlesungen über das 18. Jahrhundert, die mich auf die Idee bzw. das Thema der Arbeit
gebracht haben. Schließlich möchte ich auch noch meiner Freundin, Charlot Tanghe,
und meinen Zimmergenossen, Gilles Suply, Pieterjan Dehaene, Jelle Dierckens und
Matthias Goeminne, danken für ihr konstruktives Feed-back, das mir bei dem
Denkprozess hinter dieser Arbeit zweifellos weitergeholfen hat.
4
5
Inhalt
Inhalt..................................................................................................................................5
0. Einführung.....................................................................................................................7
1. Egoismus in den Lexika des 18. Jahrhunderts: eine Begriffsbestimmung..................10
2. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel........................................................................14
2.1. Der Egoismus des ‚intriganten’ Hofes..........................................................15
Emilia Galotti..........................................................................................15
Die Soldaten............................................................................................27
2.2. Der Egoismus der ‚bürgerlichen’ Kleinfamilie............................................35
Emilia Galotti..........................................................................................36
Die Soldaten............................................................................................51
3. Schlussfolgerung.........................................................................................................74
3.1 Folgen für die Gattungsbestimmung des bürgerlichen Trauerspiels: eine
Neudefinierung?..................................................................................................74
3.2 Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspieles:
exemplum ex negativo?.......................................................................................77
3.3 Ausblick.........................................................................................................80
4. Bibliographie...............................................................................................................82
6
7
0. Einführung
Traditionell wird dem bürgerlichen Trauerspiel in der Forschung ein festes
Personal, einen typischen Handlungsablauf und eine kennzeichnende gesellschaftliche
Funktion beigemessen. Die ersten zwei Voraussetzungen können aus folgendem Zitat
Alexander Košenina abgeleitet werden:
Auf dem Theater und in der Literatur wird Stimmung gegen die Verführung
bürgerlicher Mädchen durch adlige Nichtsnutze gemacht, gleichzeitig gewähren
erste Väter ihren Töchtern freie Partnerwahl […] und große Bösewichter öffnen
den Zuschauern das Innerste ihrer Verbrecherseelen[.]1
Im ersten Satz wird offensichtlich auf oben genannte typische Handlungsablauf, nach
der ein adliger Verführer bzw. Soldat ein unschuldiges, tugendhaftes Bürgermädchen zu
verführen versucht und auf diese Weise die Ehre bzw. Tugend dieses Mädchens
gefährdet, hingewiesen. Der Rest des Zitats weist dann die anderen zwei wichtigsten
Rollen auf: Einerseits gibt es der Vaterfigur, der immer das Glück seiner Tochter
anzustreben scheint. Andererseits darf auch der bürgerliche Intrigant, der, indem er
jedermann zur Erfüllung seiner eigenen Ziele bzw. seines eigenen Nutzens zu
gebrauchen versucht, sich oft als größter Bösewicht des Stückes erweist, nicht
vergessen werden. Die dritte, funktionale Voraussetzung dieser Gattung besteht darin,
dass das Drama eine „Gefühlserregung, Reinigung der Affekte und moralische
Besserung“2 bei dem Publikum veranlassen soll. Dazu hat Lessing u.a. die Begriffe der
Mitleidspoetik, der gemischten Charaktere und der poetischen Wahrheit eingeführt, auf
die aber vor allem in der Schlussfolgerung noch näher eingegangen wird.
Diese Arbeit hat aber vor, das bürgerliche Trauerspiel aus einer ganz neuen Sicht
zu analysieren, indem auf der Suche nach egoistischem bzw. selbstsüchtigem Verhalten
in dieser Gattung gegangen wird. Mit einem Versuch, in verschiedenen Stücken
möglichst viele Belege des egoistischen Verhaltens aufzuzeigen, will diese Arbeit
einerseits die vorherrschenden Auffassungen über das bürgerliche Trauerspiel und seine
gesellschaftliche Position bzw. Funktion in Frage stellen, andererseits einen alternativen
und nuancierteren Blick auf diese Gattung, die traditionell das tugendhafte Burgertum
statt des intriganten Adels bevorzugt und eine moralisierende Wirkung beigemessen
1
Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin: Akademie
Verlag 2008, S. 9.
2
Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165.
8
wird, propagieren. Dabei wird vielmehr versucht, die bisherigen Theorien über diese
Art Dramen mit den neuen Befunden in Übereinstimmung zu bringen, als dass diese als
völlig falsch beiseitegeschoben werden.
Da der Umfang dieser Arbeit gezwungenermaßen beschränkt ist, beschäftigt sich
die Analyse konkret mit nur zwei bürgerlichen Trauerspielen. Dabei darf, besonders in
Hinsicht auf seinen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung einer Theorie dieser
Gattung und auf das Dramas des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen, ein Stück des
Theatertheoretikers und Dramatikers, Gotthold Ephraim Lessing, nicht fehlen. Obwohl
sich eine Analyse des Dramas Miss Sara Sampson, infolge seines Status als erstes
Bürgerliches
Trauerspiel
Deutschlands
einerseits,
„als
Gattungsparadigma“3
andererseits, aufdrängt, optiert diese Arbeit für eine Analyse Emilia Galottis, das laut
Alexander Košenina ebenso gut „als Bürgerliches Trauerspiel par excellence [gilt]“ 4.
Daneben wird auch Jakob Michael Reinhold Lenz’ Die Soldaten, als Theaterstück, in
dem die Voraussetzung der gemischten bzw. zwiespaltigen Charaktere, die Lessing als
Theatertheoretiker zwar propagiert, laut Inge Stephan als Dramatiker aber nicht
eingehalten hat5, tatsächlich erfüllt wird, besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl
die Analyse die vorhergehende Verneinung der Anwesenheit gemischter Charaktere in
den Dramen Lessings widerlegen wird, kann trotzdem an einem Unterschied zwischen
den zwei Stücken festgehalten werden, und zwar in dem Sinne, dass Lenz in Die
Soldaten offensichtlich auf eine solche realistischere Darstellung des Personals zu
zielen scheint, während Lessing tatsächlich versucht, „die Helden bzw. Heldinnen
seiner Stücke […] [als] Vertreter eines abstrakten bürgerlichen Tugendideals“6
darzustellen, dieser Versuch aber, wegen des in dieser Arbeit aufgezeigten egoistischen
Substrats, scheitert.7
Methodisch wird in erster Linie auf ‚close reading’ zurückgegriffen, um eine
möglichst detaillierte und umfassende, d.h. auch nuancierte, Charaktervorstellung der
verschiedenen Schlüsselfiguren machen zu können, bei der unter dem Ausdruck
‚Schlüsselfigur’ diejenige Gestalten verstanden werden, die unmittelbar mit dem
3
Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2007, S. 215.
Alexander Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165.
5
Inge Stephan: „Aufklärung“. In: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart – Weimar: Verlag J.B. Metzler
2008, S. 167.
6
Stephan: „Aufklärung“, S. 167.
7
Auf diesen Unterschied zwischen den beiden Stücken wird in der Schlussfolgerung ausführlicher
eingegangen.
4
9
tragischen Ablauf des Stückes verbunden sind, was heißt, dass sie entweder einen
Anteil an diesem Ablauf haben, oder die negativen Folgen dieses Ablaufes am eigenen
Leibe erfahren. Daneben werden, womöglich, mehrere Aspekte dieser Figuren
Charakters und Verhaltens anhand von gendertheoretischen Befunden, als den
Geschlechtscharakteren des 18. Jahrhunderts (nicht) entsprechend, weiter gedeutet.
Zum Aufbau dieser Arbeit lässt sich schließlich sagen, dass es, neben dieser
Einführung, drei Kapitel gibt, in dem jeweils eine wichtige Komponente einer Analyse
der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
So
beschäftigt
sich
Forschungsgegenstandes,
das
erste
indem
Kapitel
versucht
mit
wird,
dem
genauen
anhand
von
Festlegen
des
Einträgen
aus
verschiedenen Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts eine Arbeitsdefinition des Egoismus
bzw. der Selbstsucht aufzustellen. Im zweiten Kapitel, auf das auch das Hauptgewicht
dieser Arbeit liegen wird, folgt dann die eigentliche Analyse des Egoismus bzw.
egoistischen Verhaltens in den zwei oben genannten bürgerlichen Trauerspielen. Dabei
wird nach der traditionellen Figurenkonstellation dieser Gattung eine Zweiteilung
zwischen dem intriganten Adel und der tugendhaften bürgerlichen Kleinfamilie
gemacht, bei der in jedem Teil zwar komparativ vorgegangen wird, die Figuren der
beiden Tragödien aber nacheinander analysiert werden. Das dritte Kapitel, das zugleich
auch die Schlussfolgerung der Arbeit bilden wird, reserviert, neben den üblichen
Schlüssen, die unmittelbar aus der vorhergehenden Analyse gezogen werden können,
auch Raum für eine ausführliche Reflexion über die etwaige Notwendigkeit einer
Neudefinierung bzw. Adaption der heutigen Gattungsbestimmung einerseits, über die
Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspiels als
moralisierende bzw. erzieherische Gattung andererseits. Schließlich wird in einem
Ausblick das enorme Potenzial einer Erweiterung der Analyse auf andere (nicht-)
literarischen Gattungen dieser Epoche, oder sogar auf die Mentalität des 18.
Jahrhunderts im Allgemeinen, aufgezeigt.
10
1. Egoismus in den Lexika des 18. Jahrhunderts: eine
Begriffsbestimmung
Dieses erste Kapitel wird sich, wie auch der Titel schon sagt, mit einer
Begriffsbestimmung des Forschungsgegenstandes, d.h. die Bedeutung der Wörter
‚Egoismus’, ‚Selbstsucht’ und semantisch verwandter Begriffe im 18. Jahrhundert,
beschäftigen. Dazu wird in erster Linie die Entstehungsgeschichte dieses semantischen
Feldes besondere Aufmerksamkeit gewidmet, worauf in einem zweiten Teil versucht
wird, anhand von Einträgen aus Wörterbüchern dieser Epoche eine Arbeitsdefinition
des Egoismus bzw. der Selbstsucht, die den Ausgangspunkt der darauffolgenden
Analyse Lessings Emilia Galotti und Lenz’ Die Soldaten bilden wird, aufzustellen.
Wenn man sich die wichtigsten Wörterbücher des 18. Jahrhunderts anschaut, so
ist die Abwesenheit eines Eintrags für ‚Egoismus’, vor allem in Hinsicht auf die Menge
semantisch verwandter Einträge, wie ‚Selbstsucht’, ‚Ichsucht’ oder ‚Eigenliebe’,
besonders auffällig. Trotzdem muss man in dieser Epoche im deutschen Sprachgebiet
schon Kenntnis von diesem Wort gehabt haben, denn sowohl im Deutschen
Wörterbuch, mit dem die Brüder Grimm 1838 angefangen haben, wie auch in dem noch
älteren Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, das zwischen
1774 und 1786 von Johann Christoph Adelung hergestellt wurde, wird ‚Egoismus’ in
ihren jeweiligen Erklärungen als Synonym verwendet. Ein möglicher Grund, weshalb
diese bedeutenden Lexikologen ihn nicht als selbstständigen Eintrag aufgenommen
haben, liegt darin, dass ‚Egoismus’, so stellt Hans Schulz in seinem Deutschen
Fremdwörterbuch, das von Otto Basler fortgeführt wurde, fest, „[i]m frühen 18.
Jahrhundert über französisch égoïsme in den deutschen Sprachraum gelangt“8 und daher
den Status eines Fremdwortes bekommen hat. In diesem Sinne erregt das Fehlen von
‚Egoismus’ schon weniger Staunen und in Hinsicht auf die Feindlichkeit bzw. (leichte)
Abneigung Fremdwörtern gegenüber, die die Brüder Grimm und Adelung in ihren
jeweiligen Vorworten zeigen, ist eine solche Auslassung sogar zu erwarten:
Alle sprachen solange sie gesund sind, haben einen naturtrieb, das fremde von
sich abzuhalten und wo sein eindrang erfolgte, es wieder auszustoszen,
wenigstens mit den heimischen elementen auszugleichen. […] Es ist pflicht der
8
Hans Schulz, Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Berlin: Walter de Gruyter 2004, Band 5, S. 33.
11
sprachforschung und zumal eines deutschen wörterbuchs dem maszlosen und
unberechtigten vordrang des fremden widerstand zu leisten und einen unterschied
fest zu halten zwischen zwei ganz von einander abstehenden gattungen
ausländischer wörter, wenn auch ihre grenze hin und wieder sich verläuft.9
Ich hatte bey der ersten Bearbeitung dieses Wörterbuches anfänglich den
Entschluß gefasset, alle theils aus Noth, theils aus Unverstand und Mangel des
Geschmackes in die Deutsche Sprache eingeführte fremde Wörter gänzlich bey
Seite zu legen, und mich bloß auf eigentlich Deutsche einzuschränken. Allein ich
wurde doch sehr bald selbst überzeugt, daß die ganzliche Abwesenheit aller
Wörter dieser Art leicht für einen wesentlichen Mangel gehalten werden könnte,
zumahl da ein großer Theil derselben nunmehr unentbehrlich ist, und für viele
vielleicht noch mehr einer Erklärung bedarf, als eigentlich Deutsche Wörter.10
Das Zitat Adelungs erklärt zugleich auch, weshalb ‚Egoist’ wohl als selbstständiger
Eintrag von ihm aufgenommen worden ist, indem laut ihm das Wort wegen des Fehlens
eines deutschen Äquivalents tatsächlich unentbehrlich wäre, während auf ‚Egoismus’,
der, wie schon gesagt, mit ‚Selbstsucht’ (und bei den Brüdern Grimm auch ‚Ichsucht’)
eigenständig deutsche Synonyme hat, verzichtet werden könne.
Dass selbstsüchtiges bzw. egoistisches Verhalten im 18. Jahrhundert immer mehr
ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt und an Einfluss zu gewinnen beginnt, zeigt die
Entstehungsgeschichte dieses semantischen Wortfeldes, die, im Rahmen einer
Wiederentdeckung des Menschen unter dem Impuls der Aufklärung, das Bedürfnis nach
einer Terminologie, mit der man jenes menschliche Handeln beschreiben könne,
aufzeigt. So gelangt, wie schon gesagt, das Wort ‚Egoismus’ laut dem deutschen
Fremdwörterbuch schon im frühen 18. Jahrhundert über das französische Wort
‚égoïsme’ in den deutschen Sprachraum. Wie man im Grimmschen Wörterbuch lesen
kann, entsteht seine deutsche Variante, ‚Selbstsucht’, erst mehrere Jahrzehnte später, in
1759.11 Auffälligerweise, aber nicht zufälligerweise, ist der Einfluss aus Frankreich, das
zusammen mit England die Wiege der Aufklärungsbewegung bildet, in dieser Epoche
auch im Bereich der Lexik spürbar.
9
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig 1854-1961. Abrufbar unter folgender URL:
http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?
sigle=DWB&mainmode=Vorworte&file=vor01_html#abs1.25.05.2012.
10
Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit
beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte
und verbesserte Ausgabe. Leipzig 1793-1801. Abrufbar unter folgender URL:
http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=Adelung&mainmode=Vorworte.25.05.2012.
11
Grimm: Deutsches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py?
sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GS26199.25.05.2012.
12
Am wichtigsten für eine Analyse der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel
bleiben aber die Definitionen, die die Lexikografen dieser Epoche für ‚Selbstsucht’ (mit
‚Egoismus’ als Synonym) und andere, semantisch verwandte Begriffe gegeben haben.
So umschreiben die Brüder Grimm ‚Selbstsucht’ als „begierde, streben nach dem
eignen vortheil“12; eine Definition, die mit der Umschreibung dieses Begriffes durch
Adelung fast identisch ist: „die ungeordnete Begierde, in allen Vorfällen seine eigenen
Vortheile zu suchen“13. Beide betonen, dass es sich um ein Nachstreben des eigenen
Vorteil bzw. eine Erfüllung des eigenen Nutzens, oder Eigennutzes, handelt. Ab diesem
Punkt ist es aber vor allem Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch, das eine
weitere Begriffsbestimmung der ‚Selbstsucht’ ermöglicht, indem das semantische Feld
dieser ‚Selbstsucht’ bei ihm viel stärker vertreten ist als bei den Brüdern Grimm, die nur
noch ‚Ichsucht’ als dem Egoismus gleichbedeutend auflisten. Adelung dagegen gibt
schon eine umfassendere Definition des ‚Selbstsucht’-Begriffes, indem er einerseits
diese Begierde nach dem eigenen Vorteil „ungeordnet“ nennt und sie auf diese Art und
Weise negativ konnotiert, andererseits mittels des Ausdrucks „in allen Vorfällen“ einen
temporalen Aspekt hinzufügt, der die Beharrlichkeit des selbstsüchtigen Handelns stark
hervorhebt. Daneben enthält das Grammatisch-kritische Wörterbuch auch einen
ausführlichen Eintrag für ‚Eigennutz’, der oben unmittelbar mit der Selbstsucht
verknüpft worden ist:
1. Der eigene Nutzen, besonders in engerer nachtheiliger Bedeutung, der Nutzen,
welchen man mit Ausschließung und auf Kosten des Nutzens anderer hat. Seinen
Eigennutz suchen. Noch mehr und häufiger aber, 2. die Neigung seinen eigenen
Nutzen zu befördern. 1) So wohl in weiterer und unschuldiger Bedeutung, da
dieses Wort mit der Eigenliebe im guten Verstande beynahe von einerley
Bedeutung ist, und in dem Triebe bestehet, seinen eigenen Nutzen zu befördern.
Allein in diesem Verstande wird das Wort nur zuweilen von den Philosophen
gebraucht. Am häufigsten nimmt man es, 2) in engerer und nachtheiliger
Bedeutung, von dem Triebe, seinen eigenen Nutzen mit Ausschließung und zum
Nachtheile des Nutzens anderer zu befördern14
12
Grimm: Deutsches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL: http://woerterbuchnetz.de/cgibin/WBNetz/wbgui_py?
sigle=DWB&mode=Vernetzung&hitlist=&patternlist=&lemid=GS26199.25.05.2012.
13
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL:
http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?
sigle=Adelung&mode=Vernetzung&lemid=DS03972.25.05.2012.
14
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL:
http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?
sigle=Adelung&mode=Vernetzung&lemid=DE00333.25.05.2012.
13
Neben die oben genannte negative Konnotation werden hier auch die nachteiligen
Folgen des Eigennutzes, der in seinem zweiten Bedeutung fast synonym mit Selbstsucht
ist, betont: Ein Eigennutziger nimmt einfach keinen Rücksicht auf den Nutzen seiner
Umgebung, was zu einer Beeinträchtigung anderer Personen führen kann. Achtet man
schließlich auch auf Adelungs Eintrag für Egoist als „ein[en] Mensch[en], welcher aus
ungeordneter Eigenliebe in allen Dingen nur sich und seine Vortheile sucht“15, so lässt
sich aus allen diesen Anregungen folgende Arbeitsdefinition derivieren: egoistisches,
selbstsüchtiges oder eigennütziges Handeln ist ein beständiges und beharrliches Streben
nach dem eigenen Vorteil, das, um sein Ziel zu erreichen, nichts oder niemanden scheut,
was oft eine Beschädigung des Nutzens bzw. des Wohles anderer Personen zur Folge
hat.
Indem in dieser Definition die Komponente des Handelns eine zentrale Stelle
einnimmt (ob man ein Egoist ist oder nicht, ist durch die Handlungen des Persons
bedingt), scheint eine Analyse des Dramas des 18. Jahrhunderts, und zwar des
bürgerlichen Trauerspiels, da in dieser Gattung die Handlung am direktesten,
unmittelbar vor dem Publikum, fast lebensecht hervortritt, besonders gerechtfertigt.
Zugleich bildet die Unmittelbarkeit aber auch die größte Schwierigkeit einer Analyse
dieser Gattung, denn genau diese ist in dem konkreten Forschungsobjekt, das von dem
Autor niedergeschriebene Theaterstück, zum Teil verloren gegangen. Die Handlung,
und mithin die Selbstsucht, muss daher teils aus Regieanweisungen des Autors, teils aus
den Worten der Personen abgeleitet werden, wie sich aus der nachfolgenden Analyse
ergeben wird.
15
Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch. Abrufbar unter folgender URL:
http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?
sigle=Adelung&mode=Vernetzung&lemid=DE00086.25.05.2012.
14
2. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel
Dieses Kapitel umfasst eine Detailanalyse zweier bürgerlichen Trauerspiele,
Emilia Galotti und Die Soldaten, die, wie oben schon erwähnt worden ist, von einer
Spaltung zwischen der intriganten höfischen und der tugendhaften bürgerlichen Welt
gekennzeichnet wird, die auch Inge Stephan in ihrer Auseinandersetzung über die
Aufklärung in der Deutschen Literaturgeschichte erkennt:
In der kontrastierenden Gegenüberstellung von >bürgerlich-privat< und >höfischöffentlich< lag nichtsdestoweniger ein starkes gesellschaftskritisches Element; die
private Sphäre der Familie wurde als >allgemein-menschliche< reklamiert, der
gegenüber die höfische Sphäre als unpersönlich, kalt und menschenfeindlich
erschien.16
Dieses Zitat gibt auch Anlass zu einem zusätzlichen, aber zum Teil spekulativen Grund
für eine solche Zweiteilung: Wenn es im bürgerlichen Trauerspiel tatsächlich Egoismus
geben würde, so lässt sich der beabsichtigte Kritik an den Höfen nach vermuten, dass
sie vor allem bei den Angehörigen der höfischen Welt und ihres Umfeldes zu suchen ist,
denn „[d]ort – in der Erwerbssphäre des Mannes [in der Öffentlichkeit] – herrscht die
Konkurrenz, der kalte Egoismus, schäbiges Übervorteilen usw.“17 Indem Lessing mittels
des bürgerlichen Trauerspiels eine „Reinigung der Affekte und moralische Besserung“18
der Zuschauer anstrebte, gewinnt diese Spaltung an Schärfe, denn um das dazu
benötigten Midleid zu erregen, braucht man einen krassen Gegensatz zwischen der
unschuldigen bürgerlichen Kleinfamilie, die von…
unmittelbare[n] ökonomische[n] Tugenden wie Ordnung, Pünktlichkeit,
anhaltende Arbeitsamkeit, zugleich aber auch, auf dieser Grundlage aufbauend,
[…] „ächte, wahre Würde des Menschen, höhere, bessere Moralität, mehr Güte
des Herzens, Wohlwollen, wärmere und aufrichtige Freundschaft und einen
wirklich ausgebildeten Geist […]19
regiert wird, und dem schuldigen, intriganten Adel, dessen Kabale den Zusammenbruch
dieser geborgenen Privatsphäre herbeiführen. In diesem Sinne wäre der Unterschied
zwischen höfischer und bürgerlicher Welt auch ein Unterschied zwischen einem von
dem Publikum (und vielleicht auch von dem heutigen Leser) erwarteten und einem
16
Stephan: „Aufklärung“, S. 164.
Barbara Duden, „Das schöne Eigentum. Zur Herausbildung des bürgerlichen Frauenbildes an der
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert.“ In: Kursbuch 47 (1977), S. 133.
18
Košenina: Literarische Antropologie, S. 165.
19
Duden, „Das schöne Eigentum.“, S. 132.
17
15
etwaigen unerwarteten Egoismus, dessen Anwesenheit im Text, indem er seiner
Überraschung halber vermutlich unbeabsichtigt hereingeschlichen ist, viel weniger
eindeutig ist.
Daneben ist die charakteristische Figurenkonstellation dieser Gattung der Analyse
auch in dem Sinne von Nutzen, dass die in den verschiedenen Stücken
wiederkehrenden, prototypischen Figuren eine vergleichende Untersuchung der Dramen
nicht nur ermöglichen, sondern sogar wünschenswert machen. Daher werden zuerst,
neben den eventuellen einmalig vorkommenden Figuren, dem adligen Verführer und
dem bürgerlichen Intriganten Aufmerksamkeit gewidmet. Anschließend wird sich diese
Arbeit mit der Frage beschäftigen, ob das selbstsüchtige Verhalten auch in die
bürgerliche Kleinfamilie, die sich traditionell aus einem autoritären aber liebenden
Vater, einer kupplerischen Mutter und ihrer tugendhaften, unschuldigen Tochter
zusammensetzt, eingedrungen ist. Indem Lessings Emilia Galotti häufig „als
Bürgerliches Trauerspiel par excellence“20 bewertet wird, wird sich die Analyse immer
zunächst auf die Darstellung der Figuren in diesem Drama beziehen, worauf diese
‚Prototypen’ mit ihren Äquivalenten aus dem anderen Stücke verglichen werden
können.
2.1. Der Egoismus des ‚intriganten’ Hofes
Emilia Galotti
Dem typischen Ablauf des bürgerlichen Trauerspiels nach versucht in Emilia
Galotti ein adliger Verführer, der Prinz von Guastalla, das Herz einer unschuldigen
Bürgertochter, Emilia, zu erobern. Der Leser bekommt aber eine sehr doppeldeutige
Darstellung des Prinzen, indem er einerseits sich selber ständig als politisch korrekter
Herrscher, der seiner aufrichtigen Liebe für Emilia und der Umstände, die diese Liebe
verhindern, zum Opfer fällt, darstellt, andererseits seine Handlungen das Bild eines
heuchlerischen und egoistischen Mannes, der zu der Erfüllung seines Wünsches, Emilia
zu besitzen, nichts oder niemandem aus dem Weg geht, vermitteln. Im Folgenden wird
dieses negative Bild eines rücksichtlosen Egoisten, von der scheinheiligen
Selbstdarstellung des Prinzen ausgehend, weiter begründet.
20
Košenina: Literarische Antropologie, S. 165.
16
Schon im ersten Auftritt zeigt der Prinz ein wichtiges Charakteristikum des
Selbstsüchtigen auf, indem er das Wohlergehen vieler seiner Untertanen seiner eigenen
Obsession für Emilia unterordnet, wie folgendes Zitat treffend illustriert:
DER PRINZ […]. Klagen, nichts als Klagen! Bittschriften, nichts als Bittschriften! –
Die traurigen Geschäfte; und man beneidet uns noch! – Das glaub ich; wenn wir
allen helfen könnten: dann wären wir zu beneiden. – Emilia? (Indem er noch eine
von den Bittschriften aufschlägt, und nach dem unterschriebenen Namen sieht.)
Eine Emilia? – Aber eine Emilia Bruneschi – nicht Galotti. Nicht Emilia Galotti!
– Was will sie, diese Emilia Bruneschi? (Er lieset.) Viel gefodert; sehr viel. –
Doch sie heißt Emilia. Gewährt! (Er unterschreibt […])21
In dem ersten Teil des Zitats wahrt der Prinz den Schein, ein pflichtbewusster und
ehrlicher Herrscher zu sein, noch einigermaßen, indem er bedauert, dass er nicht jedem
Bürger, der ihm eine Klage oder Bittschrift gemacht hat, helfen kann. Schon hier wird
diese Darstellung aber von einem großen, sogar übertriebenen Selbstmitleid
überschattet, das ein außerordentliches Interesse an sich selbst verrät: Statt die
Untertanen, deren Bitten er nicht genehmigen kann und die daher wirklich benachteiligt
werden, zu bemitleiden, beklagt er, dem an nichts fehlt, sich selbst, indem er sich
hartnäckig weigert, zu begreifen, weshalb man ihm beneiden könne. In dem zweiten
Teil wird seine Selbstbezogenheit auf die Spitze getrieben, denn die einzige Bittschrift,
die der Prinz gewährt, ist die irgendeiner Emilia (nicht einmal Emilia Galotti), die
obendrein sehr viel von ihm fordert. Zudem ist der einzige Grund für diese
Genehmigung, die Tatsache, dass diese Frau dem Gegenstand seiner Liebe gleichnamig
ist. In diesem Sinne scheint diese Handlung des Prinzen eine versuchte Erfüllung seines
Verlangens, Emilia Galotti, die ihm an diesem Punkt noch völlig unerreichbar erscheint,
für sich zu gewinnen, bei der jene Emilia Bruneschi als bequeme Stellvertreterin ihrer
Namensschwester fungiert. Trotzdem kann man sich in diesem Fall noch fragen, ob es
sich, statt ein beharrliches Streben nach dem eigenen Vorteil, nicht um eine naive,
blinde Liebe handelt.
Diese alternative Lektüre verliert aber allmählich an Plausibilität, indem der Prinz
u.a. in einem Gespräch mit dem Maler, Conti, ihm sein Vorhaben, Emilia zu besitzen,
auf sublimierte Art und Weise in Bezug auf Contis Porträt des Mädchens erklärt („DER
PRINZ […] (Lächelnd.) Dieses Ihr Studium der weiblichen Schönheit, Conti, wie könnt
21
Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen. Stuttgart: Philipp Reclam
jun. GmbH & Co 2001, S. 5.
17
ich besser tun, als es auch zu dem meinigen zu machen?“22), Conti aber mit
bedenklichen Praktiken vonseiten dem Prinzen vertraut zu sein scheint, denn, wenn er
sich für seine Gemälde so viel bezahlen lassen darf, wie er will, fragt er ihm: „CONTI.
Sollte ich nun bald fürchten, Prinz, dass Sie so, noch etwas anders belohnen wollen, als
die Kunst.“23 Schon hier, noch immer im ersten Aufzug, wird dem Leser das Bild eines
korrupten Prinzen, der auch unerlaubte Methoden zum Erreichen seines Ziels nicht
scheut, vermittelt. Auch die Aufrichtigkeit seiner Liebe büßt an Glaubwürdigkeit ein,
indem der Prinz dem Publikum den sexuellen Aspekt seiner Obsession selber verrät:
„DER PRINZ. […] Wer dich auch besäße, schönres Meisterstück der Natur! – Was Sie
dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fodre nur! Fodert nur! –
Am liebsten kauft’ ich dich, Zauberin, von dir selbst!“ 24 Aus diesem Zitat lässt sich
schließen, dass er Liebe vielmehr einen kommerziellen Wert beimisst, als dass sie von
Empfindsamkeit regiert wird. In diesem Sinne macht er seine ‚Liebe’ für Emilia zur
Handelsware, was unvermeidlich Anlass zu einer Verknüpfung der Liebe mit der
Prostitution gibt. Indem der Prinz den Eltern oder Emilia selbst ihre Liebe, die er seiner
kommerziellen Liebesauffassung gemäß als ‚sie in Besitz nehmen’ umschreibt,
vergüten will, zeigt er, dass einerseits Emilia für ihn nicht mehr als eine ordinäre
Prostituierte ist, andererseits der Respekt vor und die Interesse an dem Wohlergehen
seiner Untertanen bloß Schein ist. Schließlich scheint auch die Tatsache, dass er Emilia
nach seinem Lustschlosse entführt, auf ein eher sexuelles Interesse an ihr hinzudeuten.
Gäbe es bis auf diesem Punkt, in der Form eines Desinteresses an dem Nutzen
anderer und eines übertriebenen Interesses an dem Eigennutz, schon einen Ansatz des
egoistischen Verhaltens, so entwickelt sich der Prinz erst ab dem sechsten Auftritt der
ersten Aufzug wirklich zu einer rücksichtslosen destruktiven Kraft, indem er den
bürgerlichen Intrigant, Marinelli, beauftragt, die Heirat von Emilia mit dem Grafen
Appiani, koste es, was es wolle, zu verhindern: „MARINELLI. […] Wollen Sie mir freie
Hand lassen, Prinz? Wollen Sie alles genehmigen, was ich tue? DER PRINZ. Alles,
Marinelli, alles, was diesen Streich abwenden kann.“25 Die nachteiligen Folgen für die
Umwelt einer solchen Obsession für den eigenen Nutzen, genauso wie der schlechten
Ablauf der Geschichte, lässen sich ein wenig später schon vorausahnen, indem der
22
Lessing: Emilia Galotti, S. 11.
Lessing: Emilia Galotti, S. 11.
24
Lessing: Emilia Galotti, S. 12.
25
Lessing: Emilia Galotti, S. 17-18.
23
18
Prinz, völlig uninteressiert an seiner Pflicht als Fürsten, ein Todesurteil unterschreiben
will:
DER PRINZ. Was ist sonst? Etwas zu unterschreiben?
CAMILLO ROTA. Ein Todesurteil wäre zu unterschreiben.
DER PRINZ. Recht gern. – Nur her! geschwind.
CAMILLO ROTA (stutzig und den Prinzen starr ansehend). Ein Todesurteil, sagt ich.
DER PRINZ. Ich höre ja wohl. – Es könnte schon geschehen sein. Ich bin eilig.26
Wären die Gefahren des selbstsüchtigen Handelns am Anfang noch zum größten Teil
virtuell, so ist ab jetzt aber peinlich deutlich, dass der Prinz, teils aus Verzicht auf den
Nutzen anderer Personen, teils aus beharrlichem Streben nach der Erfüllung des eigenen
Wünsches, über Leichen gehen wird.
Die Darstellung des Prinzen als rücksichtslosen Egoist wird auch in dem Rest des
Stückes unvermindert eingehalten, indem er, nach dem Überfall auf das Gefolge des
Brautpaares und der Entführung Emilias, das Mädchen mit zärtlicher Gewalt und „nicht
ohne Sträuben“27 nach seinem Lustschlosse abführt.
Eine scheinbare Mentalitätsänderung gibt es erst im Moment, dass er den Mord an
dem Grafen Appiani erfährt und sich der Folgen seiner Handlungen bewusst zu werden
beginnt: „DER PRINZ. Bei Gott! bei dem allgerechten Gott! ich bin unschuldig an diesem
Blute. – Wenn Sie mir vorher gesagt hätten, dass es dem Grafen das Leben kosten
werde – Nein, nein! und wenn es mir selbst das Leben gekostet hätte! –“28 Dennoch
stellt sich auch hier wieder das Eigeninteresse als höchstes Gut heraus, indem der Prinz
sofort die gekränkte Unschuld zu spielen versucht. Nachdem er ihn bei dem Streben
nach der Besitz Emilias weit außerhalb der Grenzen von moralischem Verhalten geführt
hat, wird sich der Egoismus ab jetzt, da der Prinz einsieht, dass „man [Angelo] für das
Werkzeug, und [ihn] für den Täter halten [wird]“29, völlig auf die Wahrung seines Rufes
konzentrieren. So wird mehrmals versucht, die Schuld an den nachteiligen Folgen seiner
rücksichtslosen Obsession auf Marinelli abzuwälzen. Dies geschieht zum ersten Mal in
Bezug auf den Tod des Grafen Appiani:
DER PRINZ. […] Und das wollen Sie doch nur sagen: der Tod des Grafen ist für
mich […] das einzige Glück, was meiner Liebe zustatten kommen konnte. Und als
dieses,– mag er doch geschehen sein, wie er will! – Ein Graf mehr in der Welt,
oder weniger! Denke ich Ihnen so recht? – Topp! auch ich erschrecke vor einem
26
Lessing: Emilia Galotti, S. 19.
Lessing: Emilia Galotti, S. 49.
28
Lessing: Emilia Galotti, S. 54-55.
29
Lessing: Emilia Galotti, S. 56.
27
19
kleinen Verbrechen nicht. Nur, guter Freund, muss es ein kleines stilles
Verbrechen sein. Und sehen Sie, unseres da, wäre nun gerade weder stille noch
heilsam. Es hätte den Weg zwar gereiniget, aber zugleich gesperrt.30
In diesem Zitat erreicht die unempfindliche Selbstsucht des Prinzen einen zweiten
traurigen Höhepunkt, denn der Grund seiner Zurechtweisung Marinellis ist nicht das
unnötige Blutvergießen während der Entführung Emilias, sondern die Tatsache, dass
gerade dieses Blutvergießen die Verführung des Mädchens unmöglich macht. Mit
anderen Worten wird nicht Marinellis Verbrechen verurteilt, denn der Prinz erwähnt
erneut, dass auch er vor einem Verbrechen nicht zurückschreckt, sondern die Größe und
vor allem die Folgen dieses Verbrechens. In diesem Sinne werden sogar die
nachteiligen Folgen seines Verhaltens für andere Personen in dem Licht seines Strebens
nach der Erfüllung persönlicher Ziele als nachteilige Folgen für ihn selbst erfahren: die
Schuld an dem Scheitern des Planes wird der Schuld an dem Tod eines unschuldigen
Mannes vorgezogen. Das vorläufige Entkommen Marinellis an der Wut des Prinzens,
indem er ihm eine neue Möglichkeit bietet, Emilia für sich gewinnen zu können,
beweist schon zum zigsten Mal, dass Eigenbelang für den Prinzen das einzige Gut ist.
Schließlich kann auch der letzte Auftritt des Dramas als symptomatisch für die
Selbstsucht des Prinzen betrachtet werden, denn, sobald das Komplott, um Besitz von
Emilia zu nehmen, nach hinten losgeht, indem dem Vater, Odoardo, keinen anderen
Ausweg mehr offen gelassen wird, als seine Tochter zu ermorden, unternimmt der Prinz
einen allerletzten verzweifelten Versuch, die Schuld auf einen anderen abzuwälzen und
so seinen Ruf zu wahren. Dazu erhebt er zuerst Vorwürfe gegen den Vater, der er
grausam nennt. Letztendlich ist es aber Marinelli, der die Zeche bezahlen muss, indem
der Prinz ihn mit einem großen Aufwand fortschickt und sich selber zudem die Rolle
eines Opfers dieser falschen Menschen zuschreibt:
DER PRINZ (nach einigem Stillschweigen, unter welchem er den Körper mit
Entsetzen und Verzweiflung betrachtet, zu Marinelli). Hier! heb ihn auf. – Nun?
Du bedenkst dich? – Elender! – (Indem er ihm den Dolch aus der Hand reißt.)
Nein, dein Blut soll mit diesem Blute sich nicht mischen. – Geh, dich auf ewig zu
verbergen! – Geh! sag ich. – Gott! Gott! – Ist es, zum Unglücke so mancher, nicht
genug, dass Fürsten Menschen sind: müssen sich auch noch Teufel in ihren
Freund verstellen?31
30
31
Lessing: Emilia Galotti, S. 56.
Lessing: Emilia Galotti, S. 87.
20
Dieses Zitat zeigt zuerst die Verzweiflung, die den Prinzen, wenn er sich den
dramatischen Ablauf seines Versuches, Emilia zu erobern, und den darausfolgenden,
etwaigen Verlust seines Rufes bewusst wird, überfällt. Darauf setzt er alles daran,
einerseits auf Marinelli als den Schuldigen zu weisen, indem er ihm mittels des
Dolches, die Marinelli bloß in der Hand hält, (s)eine (eigene) späte Reue über den
tödlichen Ausgang der Intrige in der Form eines Selbstmordversuches zuschreibt, dies
angeblich vereitelt und ihn des Landes verweist; andererseits sich die Hände in
Unschuld zu waschen, indem er eine ‚aufrichtige’ Bekümmernis um das Schicksal des
Mädchens aufzeigt und verhindern will, dass Marinellis falsches Blut sich mit dem
tugendhaften Blut Emilias vermischt. Auf ähnlicher, vielleicht sogar identischer, Art
und Weise wie in dem allerersten Auftritt des Dramas versucht der Prinz die Schein des
Interesses an dem Gemeinwohl bzw. Wohl seiner Untertanen, kurz: des Altruismus, zu
wahren, wird aber aufs Neue von seinen egoistischen Handlungen verraten. Nicht nur
verwendet er den oben genannten imaginären Selbstmordversuch, um die Schuld von
sich zu schieben, auch sühlt er sich nach wie vor in Selbstmitleid: Als ob er weiß, dass
man ihn trotz allem doch für den tödlichen Ablauf seiner Kampagne um die Eroberung
Emilias verantwortlich machen wird, entschuldigt er sein Verhalten, indem er im letzten
Satz mit tiefem Bedauern betrachtet, dass auch Fürsten nur Menschen sind und er
zudem das Pech gehabt hat, mit einem teuflischen Mensch befreundet zu sein.
Aus dieser Analyse der adligen Verführer in Emilia Galotti lässt sich schließen,
dass der Prinz dem Definition aus dem ersten Teil dieses Kapitels nach eine durch und
durch egoistische Figur ist: Während des ganzen Stückes ist er damit beschäftigt, ohne
Rücksicht auf die nachteiligen Folgen für andere Personen, seinen eigenen Interessen,
der ‚Eroberung’ Emilias bzw. der Wahrung seines Rufes, anzustreben.
Traditionell gibt es im bürgerlichen Trauerspiel auch die Rolle des bürgerlichen
Intriganten, der einem Angehörigen der höfischen Welt zwar Beistand leistet, ihn aber
zugleich vor seiner eigenen Karren spannt. Diese wird in Emilia Galotti von Marinelli
erfüllt, der mit List, Tücke und Erpressung nacheinander bei dem Prinzen hoch im Kurs
zu stehen, sich an Appiani zu rächen und seine eigene Haut zu retten versucht.
Der erste Eindruck, der dem Publikum von dem Kammerherren des Prinzen
bekommt, ist keineswegs der eines rücksichtslosen und zielstrebigen Egoisten, sondern
21
der eines bescheidenen Dieners und einer schwachen Person, die dem Zorn seines
Herren fürchtet und ihm, um diesen zu vermeiden, immer nach dem Munde redet.
Trotzdem gelingt es Marinelli, diese falsche Bescheidenheit, die anfangs ein bloßer
Verteidigungsmechanismus scheint, produktiv zu machen, wie folgendes Zitat zeigt:
DER PRINZ (der gegen ihn wieder aufspringt). Verräter – […] dass Sie, Sie, so
treulos, so hämisch mir bis auf diesen Augenblick die Gefahr verhehlen dürfen,
die meiner Liebe drohte[.] […]
MARINELLI. Ich weiß kaum Worte zu finden, Prinz, – wenn Sie mich auch dazu
kommen ließen – Ihnen mein Erstaunen zu bezeigen. – Sie lieben Emilia Galotti?
– Schwur dann gegen Schwur: Wenn ich von dieser Liebe das Geringste vermutet
habe; so möge weder Engel noch Heiliger von mir wissen! – Eben das wollt’ ich
in die Seele der Orsina schwören. Ihr Verdacht schweift auf einer ganz andern
Fährte.
DER PRINZ. So verzeihen Sie mir, Marinelli; – (indem er sich ihm in die Arme
wirft) und betauern Sie mich.
MARINELLI. Nun da, Prinz! Erkennen Sie da die Frucht Ihrer Zurückhaltung! –
„Fürsten haben keinen Freund! können keinen Freund haben!“ – Und die Ursache,
wenn dem so ist? – Weil sie keinen haben wollen. – Heute beehren sie uns mit
ihrem Vertrauen, teilen uns ihre geheimsten Wünsche mit, schließen uns ihre
ganze Seele auf: und morgen sind wir ihnen wieder so fremd, als hätten sie nie ein
Wort mit uns gewechselt.
DER PRINZ. Ach! Marinelli, wie konnt ich Ihnen vertrauen, was ich mir selbst kaum
gestehen wollte?32
Dieser Dialog, in dem sich einen unterschwelligen Machtstreit zwischen den
Gesprächspartern entfaltet, macht zugleich den wichtigsten Unterschied zwischen dem
Prinzen und Marinelli deutlich: während der Prinz von seinen Gefühlen regiert wird und
demzufolge impulsiv und heftig, man könnte sagen: mit einem großen, seinem Amt
angemessenen Machtdemonstration, auf die Nachricht, Emilia wird noch am selben Tag
heiraten, reagiert, stellt sich Marinelli als ein berechnender Intrigant heraus, dessen
wichtigste Waffe nicht die frechen Äußerungen und Handlungen des Prinzen, sondern
eine viel nuanciertere, betrügerische Sprachverwendung ist, mittels der er hier die
Macht erfolgreich an sich reißt. Indem er sich in seiner Erwiderung auf die
unberechtigten Vorwürfe des Prinzen einerseits ausführlich entschuldigt, andererseits
von diesen Worten sehr gekränkt zeigt, findet Marinelli das perfekte Gleichgewicht
zwischen Respekt vor und Angriff auf seinen Herren, durch das es ihm gelingt, dem
Prinzen ein Schuldgefühl aufzuhalsen. Auf diese Art und Weise bekommt Marinelli ab
jetzt die Oberhand im Gespräch. Diese Umkehrung der Machtsverhältnisse lässt sich
32
Lessing: Emilia Galotti, S. 16-17.
22
einerseits daran erkennen, dass es jetzt der Kammerherr ist, der dem Prinzen Vorwürfe
macht, ist andererseits auch typographisch in dem Text festgelegt, indem in die Anrede
Marinellis an den Prinzen die Großbuchstaben allmählich verschwinden, während der
Prinz seinem Kammerherren diese Reverenz noch immer erweist. Zum Schluss versucht
der Intrigant die eroberte Macht zu sichern, indem er den Prinzen so weit führen will,
dass er ihn als seinen Freund erkennen wird. Dieses Vorgehen Marinellis, das in hohem
Maße auf Menschenkenntnis und Listigkeit beruht, ist exemplarisch für den ganzen
Text und sorgt dafür, dass der Intrigant die Macht des Prinzen bis zum allerletzten
Auftritt ausnutzen kann.
Die Methoden, an den diese zwei Personen festhalten, mögen zwar verschieden
sein, in dem Egoismus, d.h. der Beharrlichkeit und Rücksichtslosigkeit des Strebens
nach dem eigenen Nutzen, ist Marinelli seinem Herren auffällig ähnlich. Wie der
Konflikt mit dem Grafen Appiani zeigt, macht auch er in seinem Kampf um die
Anerkennung des Prinzen vor nichts Halt:
MARINELLI. […] Als ich sahe, dass weder Ernst noch Spott den Grafen bewegen
konnte, seine Liebe der Ehre nachzusetzen: versucht ich es, ihn in Harnisch zu
jagen. Ich sagte ihm Dinge, über die er sich vergaß. Er stieß Beleidigungen gegen
mich aus: und ich forderte Genugtuung, – und forderte sie gleich auf der Stelle. –
Ich dachte so: entweder er mich; oder ich ihn. Ich ihn: so ist das Feld ganz unser.
Oder er mich: nun, wenn auch; so muss er fliehen, und der Prinz gewinnt
wenigstens Zeit. […] – Er versetzte, dass er auf heute doch noch etwas Wichtigers
zu tun habe, als sich mit mir den Hals zu brechen. Und so beschied er mich auf
die ersten acht Tage nach der Hochzeit.33
Einerseits zeigt dieses Zitat nochmals, wie Marinelli seine bevorzugte Waffe, die
Sprache, zur Täuschung des Prinzen einsetzt, denn der Bericht des Gespräches mit
Appiani, den er seinem Herren hier erstattet, ist keine getreue Wiedergabe des echten
Vorfalls. Indem nicht der Graf, sondern Marinelli selber sich in Wirklichkeit mit der
Ausrede, er möchte Appianis „zärtlichen Bräutigam den heutigen Tag nicht
verderben“34, aus dem Zweikampf herauszureden versucht, stellt sich heraus, dass der
Intrigant auch vor einer Lüge nicht zurückschreckt, wenn sie die ‚wechselseitige’
Loyalität zwischen ihm und dem Prinzen verstärken könne. Andererseits zeigt sich auch
die Reaktion Marinellis, wenn seine arglistigen Umstimmtechniken unwirksam sind.
Nachdem seine mannigfachen Versuche, Appiani die Heirat bis auf Weiteres
33
34
Lessing: Emilia Galotti, S. 40-41.
Lessing: Emilia Galotti, S 38.
23
verschieben zu lassen, sodass er als Gesandter des Prinzen eine wichtige Angelegenheit
erledigen kann, nur auf Skepsis vonseiten dem Grafen gestoßen sind, greift Marinelli zu
Beleidigungen, um eine physische Konfrontation mit ihm herbeizuführen. Auch Gewalt
scheint dieser schlaue Intigrant demnach nicht zu fürchten.
Der Ablauf des Konfliktes mit dem Grafen rückt Marinelli aber in ein anderes,
vielleicht noch lasterhafteres Licht, denn, wie sich schon an der feigen Flucht vor dem
Duell gezeigt hat, schreckt er zwar vor der Anwendung von Gewalt nicht zurück, lässt
sie aber am liebsten anderen Personen über. In diesem Sinne besteht sein Egoismus vor
allem daraus, ohne jedes Risiko bzw. mit einer minimalen Chance auf nachteilige
Folgen für sich selbst einen maximalen persönlichen Gewinn zu erzielen. Konkret muss
den Grafen aus dem Weg geräumt werden, weil dieser der Einzige ist, der der Macht
seiner trügerischen Sprachverwendung widerstanden hat und daher den weiteren
Ausbau seiner Macht beeinträchtigen könne. Dass Geld dabei keine Rolle spielt, zeigt
er, indem er einen gedungenen Mörder, Angelo, einsetzt, der den Grafen während des
Überfalles bzw. der Entführung ermorden muss.
Auch diese Nebenfigur zeigt erwartungsgemäß einen eingehenden Egoismus auf:
Trotz einer falschen Bekümmernis um das Wohl anderer Personen, scheint alles sich für
ihn schließlich um Geld zu drehen, wie, neben dem Gespräch zwischen ihm und seinem
Informanten innerhalb der Familie Galotti, auch folgendes Zitat zeigt: „ANGELO. Ich
könnte weinen, um den ehrlichen Jungen! Ob mir sein Tod schon das (indem er den
Beutel [mit Gold] in der Hand wieget) um ein Vierteil verbessert. Denn ich bin sein
Erbe; weil ich ihn gerächet habe.“35
In dem Moment, dass Marinellis Plan fehlzuschlagen beginnt, werden die
wirklichen Machtsverhältnisse zwischen ihm und seinem Herren deutlich. In dem Streit,
den der Prinzen über den Tod des Grafen Appiani mit ihm anfängt, nimmt Marinelli
dezidiert die überlegene Position ein, indem er nacheinander bitter, kalt, noch kälter und
schließlich höchst gleichgültig auf die Vorwürfe des Prinzen reagiert, was ihn fast zum
Wahnsinn treibt.36 Wenn der Prinz sich ausgewütet hat, wird Marinellis Überlegenheit
weiter begründet, indem er jetzt dem Prinzen den Vorwurf macht, selbst an dem
Misserfolg der Verschwörung Schuld zu haben. Die Machtsübertragung vollzieht sich
im Moment, dass auch der Prinz seinen Fehler, an Emilia in der Kirche herangetreten zu
35
36
Lessing: Emilia Galotti, S. 44.
Lessing: Emilia Galotti, S. 55-57.
24
haben, einsieht, und wird während des Restes des Dramas von der Einschränkung der
Rolle des Prinzen auf marionettenhaften Ausführer der Befehle Marinellis
symptomatisiert. Demgegenüber bekommt Marinelli eine aktive Rolle, indem er alles
daran setzt, die Folgen dieses Fehlers zu tilgen und in dieser Hinsicht die Macht des
Prinzen, die für die Erhaltung seiner eigenen Macht lebenswichtig ist, zu wahren. Wie
sich aber gegen das Ende der Geschichte herausstellt, ist die Situation aussichtslos:
Marinellis neuer Plan, dem Prinzen Emilia auszutragen und auf diese Weise hoch im
Kurs bei ihm zu bleiben, scheitert jämmerlich und in dem letzten Austritt verliert er
schließlich alles, wofür er sich schon während des ganzen Stückes abarbeitet hat, indem
der Prinz, wie schon gesagt, den Intriganten entlarvt und ihm auf diese Weise eine
letztendliche Machtsergreifung gelingt.
Aus dieser Analyse könne man schließen, dass anhand des unrühmlichen
Untergangs des bürgerlichen Intriganten in Emilia Galotti ein Beispiel geschafft wird:
Indem Marinelli, der auf seine Suche nach immer mehr Macht den Grafen Appiani
umbringen lässt, seinen Prinzen täuscht und schließlich die Macht seines Herren an sich
zu reißen versucht, aus dem Land ausgewiesen wird, zeigt sich, dass ein solches
beharrliches Streben nach dem eigenen Nutzen, das den angerichteten Schaden für die
Umwelt völlig ignoriert, nicht lohnt.
Schließlich muss auch die Gräfin Orsina, eine wichtige Nebenfigur in dem Sinne,
dass sie nicht auf eine Rolle aus der typischen Figurenkonstellation des bürgerlichen
Trauerspiels zurückgeführt werden kann, Aufmerksamkeit gewidmet werden. Obwohl
man sie anfangs als unschuldiges Opfer der prinzlichen Obsession für Emilia
bezeichnen könne, entwickelt sie sich innerhalb kürzester Zeit zur Rachegöttin des
Prinzen, die beharrlich die blutige Vergeltung der Untreue ihres Geliebten anstrebt:
ORSINA. […] (wie in der Entzückung) welch eine himmlische Phantasie! Wann wir
einmal alle, – wir, das ganze Heer der Verlassenen, – wir alle in Bacchantinnen, in
Furien verwandelt, wenn wir alle ihn unter uns hätten, ihn unter uns zerrissen,
zerfleischten, sein Eingeweide durchwühlten, – um das Herz zu finden, das der
Verräter einer jeden versprach, und keiner gab! Ha! das sollte ein Tanz werden!
das sollte!37
Im Folgenden wird gezeigt, wie die Gräfin, ab dem Moment, dass sie den
Liebesverrat ihres Prinzen erfährt, bis dass sie Odoardo den Dolch, mit dem er den
37
Lessing: Emilia Galotti, S. 71.
25
Prinzen töten kann, übergibt, alles daran setzt, die Schuld einzig und allein auf ihren
ehemaligen Geliebten abzuwälzen. Sobald Marinelli (dank eines bisschen Hilfe des
Prinzens) Orsina davon überzeugt hat, dass sein Herr sie nicht mehr liebt, bittet sie dem
Kammerherren, über den sie offensichtlich weiß, dass er ein falscher und lügenhafter
Intrigant ist, ihr eine bessere Entschuldigung, als dass der Prinz einfach beschäftigt ist,
vorzulügen: „ORSINA. […] Lügen Sie mir eines auf eigene Rechnung vor. Was kostet
Ihnen denn eine Lüge?“38 Im Hinblick auf seine bedenklichen, sogar lasterhaften
Praktiken würde eine Lüge mehr oder weniger Orsina zufolge für ihn doch nichts mehr
ausmachen. Für einmal erzählt Marinelli aber die Wahrheit und sobald die Gräfin den
ganzen Hergang erfährt, glaubt sie (mit Recht), eine Verschwörung des Prinzen, um
Emilia für sich zu gewinnen, entdeckt zu haben:
ORSINA. Haben sie keinen Anteil daran?
MARINELLI. Woran?
ORSINA. Schwören Sie! – Nein, schwören Sie nicht. Sie möchten eine Sünde mehr
begehen – Oder ja; schwören Sie nur. Eine Sünde mehr oder weniger für einen,
der doch verdammt ist! – Haben Sie keinen Anteil daran?
[…]
MARINELLI. Was? worüber?
ORSINA. Wohl, – so will ich Ihnen etwas vertrauen; […] (Und ihren Mund seinem
Ohre nähert, als ob sie ihm zuflüstern wollte, was sie aber sehr laut ihm
zuschreiet.) Der Prinz ist ein Mörder!
MARINELLI. Gräfin, – Gräfin – sind Sie ganz von Sinnen?
ORSINA. Von Sinnen? Ha! ha! ha! (aus vollem Halse lachend.) Ich bin selten, oder
nie, mit meinem Verstand so wohl gewesen, als eben itzt.39
In dieser sehr wichtigen Passage zeigt sich Orsina als eine ebenso große Intrigantin wie
Marinelli. Indem sie nacheinander aufs Neue seine Aufrichtigkeit und die Reinheit
seiner Seele in Zweifel zieht, ihn in die Irre führt und in seinem Ohr schreit, dass der
Prinz ein Mörder ist und ihn, wenn er darauf fragt, ob sie von Sinnen ist, einfach ins
Gesicht auslacht, verrät ihr Verhalten dem Kammerherren gegenüber, dass sie einerseits
von der Mitschuld Marinellis im Bilde ist, andererseits nur wenig Respekt vor einem
solchen mickrigen Person haben kann. Weil ihr rachedurstiges Ziel aber vor allem dem
Prinzen gilt und die Mühe, auch Marinelli zu stürzen, wegen seiner oben genannten
großen Abhängigkeit seines Herren nicht lohnt, fasst sie den Plan, dem ganzen Volk
seines Prinzen Verschwörung aufzudecken. Um die Schuld völlig auf ihren ehemaligen
Geliebten schieben zu können, lässt sie Marinelli zudem schwören, dass er daran keinen
38
39
Lessing: Emilia Galotti, S. 63.
Lessing: Emilia Galotti, S. 65.
26
Anteil hat. Die Berechnung und Kaltblütigkeit ihres Planes werden betont, indem sie
Marinelli versichert, dass sie bei vollem Verstand ist und sich in dieser Hinsicht als dem
Verbündeten und Intriganten des Prinzen überlegen herausstellt.
Dass Orsina den Moment besonders gut zu nutzen weiß, zeigt sich erst in dem
Moment, dass Odoardo ankommt, voll und ganz. War sie schon im Begriff, das
Lustschloss des Prinzen zu verlassen, so sieht sie in dem Vater Emilias eine
Möglichkeit, ihre Rache an dem Prinzen noch blutiger (und daher für sie
befriedigender) zu üben. „Zweifellos ist Orsinas proklamiertes Mitgefühl auch davon
bestimmt, Odoardo in ihre Rachepläne einzuspannen“40 und indem sie ihm ihre Version
des prinzlichen Planes, ihm seine Tochter zu entnehmen, erklärt und darauf die
Beziehung zwischen beiden mittels der mutuellen Identifizierung als Beleidigte bzw.
Opfer des Prinzen festigt, macht sie Odoardo tatsächlich zu einem Bundesgenossen
ihres neuen Planes:
ORSINA. Wirkt es, Alter! Wirkt es?
ODOARDO. Da steh ich nun vor der Höhle des Räubers – (Indem er den Rock von
beiden Seiten auseinander schlägt, und sich ohne Gewehr sieht.) Wunder, dass ich
aus Eilfertigkeit nicht auch die Hände zurückgelassen! – (An alle
Schubsäckefühlend, als etwas suchend.) Nichts! Gar nichts! nirgends!
ORSINA. Ha, ich verstehe! – Damit kann ich aushelfen! – Ich hab einen
mitgebracht. (Einen Dolch hervorziehend.) Da nehmen Sie! Nehmen Sie
geschwind, eh uns jemand sieht. – […] Nehmen Sie ihn! (Ihm den Dolch
aufdringend.) Nehmen Sie!41
Wie sich aus diesem Zitat zeigt, ist die Bekümmernis und das Mitleid, das Orsina in
erster Linie für das traurige Schicksal der Familie Galotti zeigt und die den Anlass dazu
wären, dass sie Odoardo die Verschwörung des Prinzen verrät, nur Schein, denn, indem
sie dem Vater fragt, ob ihre Geschichte wirkt, d.h. ob ihres Anschwärzen des Prinzen
die von ihr beabsichtigte Wirkung hat, stellt sich heraus, dass es sich hier um eine
Adaption ihres originalen Racheplanes handelt, mit dem sie der Betrügerei ihres
ehemaligen Geliebten ein blutiges Ende setzen will. Dass Odoardo dabei nur als
Vehikel ihres Raches gesehen wird, zeigt der Druck, den sie auf den Vater ausübt,
indem sie ihm einerseits den Dolch, mit dem er den Prinzen ermorden soll, aufdrängt,
ihn andererseits herausfordert, die Gelegenheit zur Vergeltung zu ergreifen und auf
diese Weise seine Männlichkeit zu beweisen.
40
Gunter Saße: Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit
des familialen Wertsystems im Drama der Aufklärung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1988, S. 188.
41
Lessing: Emilia Galotti, S. 70.
27
Daher könne man auch die Gräfin Orsina als eine Egoistin bezeichnen, und zwar
in dem Sinne, dass sie einerseits beharrlich das Ziel, sich an dem Prinzen zu rächen,
anstrebt und dazu einen blutigen Mord und die Täuschung bzw. den Missbrauch eines
aufrichtig beunruhigten Vaters nicht scheut, andererseits die etwaigen nachteiligen
Folgen für andere Personen, bewusst oder unbewusst, zu wenig in Acht genommen hat.
Gerade wegen dieser Rücksichtslosigkeit scheitert schließlich auch ihren Plan und hat
auch sie, indem sie Odoardo die Mordwaffe verschafft hat, Anteil an dem Tode Emilias.
Die Soldaten
Wenn man sich auf der Suche nach egoistischem Verhalten innerhalb dem Adel in
die Soldaten macht, fällt sogleich ein wichtiger Unterschied mit Lessings Emilia Galotti
auf, denn die Geschichte spielt sich hier nicht in der Umwelt des Hofes, sondern in der
Armee ab. Trotzdem stellen sich aber einige Parallelen zwischen dem Personal der
beiden Stücke heraus, die den Aufbau dieses Kapitels folgendermaßen bestimmen:
Zuerst wird dem Baron, Desportes, den man an dem ersten Blick als Pendant des
adligen Verführers aus Emilia Galotti bezeichnen könne, Aufmerksamkeit gewidmet.
Auf ähnliche Art und Weise wird der Tuchhändler Stolzius darauf als Gegenstück des
bürgerlichen Intriganten, Marinelli, analysiert. Schließlich wird auch der Offizier Mary
mit der Gräfin Orsina verglichen. Diese drei Personen sind gezwungenermaßen aus
einer viel größeren militären Personal gewählt worden, und zwar auf Grund ihrer
wesentlichen Rolle in der Liebesgeschichte mit dem Bürgermädchen, aus der, genau
wie in Emilia Galotti, die Tragik des Stückes hervorgeht.
In folgender Analyse wird versucht, diese Personen in erster Linie als Opfer der
Verführerin, Marie, darzustellen, um danach tiefer auf ihr egoistisches Verhalten, das
sich unverkennbar aus ihrem Selbstverständnis als Opfer ergibt, einzugehen.
Obwohl der Baron Desportes an dem ersten Blick die Rolle des adligen
Verführers zu erfüllen scheint und auch von mehreren Personen, insbesondere von
Maries Vater, Wesener, und ihrem Geliebten, Stolzius, auf diese Art und Weise
dargestellt wird, wird dieses Bild von dem Anfang des Stückes an schon stark nuanciert.
Nicht nur muss man die Beschuldigungen der zwei oben genannten Personen wegen
ihrer engen Beziehung mit dem Bürgermädchen Marie mit der nötigen Reserve
28
überprüfen, es gibt auch mehrere Hinweise auf die Aufrichtigkeit seiner Liebe für
Weseners Tochter. So erweist er sich schon bei seinem ersten Auftritt als
leidenschaftlicher Anbeter, der Marie, koste es, was es wolle, von seiner Liebe zu
überzeugen versucht:
DESPORTES. Was macht Sie denn da, meine göttliche Mademoiselle?
[…]
DESPORTES (kniend). Ich schwöre Ihnen, dass ich noch in meinem Leben nichts
Vollkommeners gesehen habe, als Sie sind.
[…]
DESPORTES. Ich falsch? […] Ist das falsch, wenn ich mich vom Regiment
wegstehle, da ich mein Semestre doch verkauft habe, und jetzt riskiere, dass,
wenn man erfährt, dass ich nicht bei meinen Eltern bin, wie ich vorgab, man mich
in Prison wirft, wenn ich wiederkomme, ist das falsch, nur um das Glück zu
haben, Sie zu sehen, Vollkommenste?42
Das Zitat zeigt einen mehrfachen Versuch des Barons, das Bürgermädchen der
Aufrichtigkeit seiner Liebe zu überzeugen. So versucht er zuerst, indem er den
Gegenstand seiner Anbetung, und in diesem Sinne auch die Anbetung selbst, zu einem
göttlichen bzw. religiösen Niveau erhebt, die Sittlichkeit seiner Avancen zu betonen. Da
sich Marie von diesem göttlichen Titel aber nicht beeindrücken lässt, verleiht Desportes
darauf seine Verehrung mittels eines Kniefalles und einer Betonung ihrer
Vollkommenheit Nachdruck. Indem auch diese tönenden Worte das Mädchen nicht
überzeugen können und sie dem Baron ihre Bedenken über seine Aufrichtigkeit sogar
unverhohlen eingesteht, sieht er sich gezwungen, Marie auf die große Opfer, die er für
sie auf sich nehmen will, hinzuweisen. Tatsächlich scheint die Tatsache, dass er für das
Bürgermädchen sogar eine Freiheitsstrafe riskiere, den Ernst seiner Avancen wesentlich
an Glaubwürdigkeit gewinnen zu lassen. Daneben betonen auch die vielen Geschenke,
die der Baron Marie gibt, und die fast religiöse Anbetung, die sich aus dem Gedicht an
dem Mädchen erneut erweist43, die Leidenschaftlichkeit seiner Liebe für Marie. Sogar
Wesener muss, nachdem seine Tochter ihm das Gedicht ihres Verehrers gezeigt hat,
nachgeben,
dass
der
Baron
„doch
honett
[denkt]“44.
Könne
man
diese
verschiedenartigen Avancen wegen ihrer Übertriebenheit noch als leere Worte einerseits
und Versuche, die Liebe des Mädchens durch teure Präsente zu erkaufen, andererseits
42
Jakob Michael Reinhold Lenz: Die Soldaten. Eine Komödie. Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH &
Co, 2004, S. 7-8.
43
Lenz: Die Soldaten, S. 17.
44
Lenz: Die Soldaten, S. 17.
29
beiseiteschieben, so scheint folgendes Eingeständnis Desportes’ seine Aufrichtigkeit
völlig außer Zweifel zu stellen:
DESPORTES. Ihr Glück – mit solch einem Lümmel. Was denken Sie doch, liebstes
Mariel, und was denkt Ihr Vater? Ich kenne ja des Menschen und seine Umstände.
Und kurz und gut, Sie sind für keinen Bürger gemacht.
MARIE. Nein, Herr Baron, davon wird nichts, das sind nur leere Hoffnungen, mit
denen Sie mich hintergehen. Ihre Familie wird das nimmermehr zugeben.
DESPORTES. Das ist meine Sorge.45
Der Versuch des Barons, Marie ihr Schuldgefühl Stolzius gegenüber auszureden, könne
man zweifach deuten: Einerseits erweist sich daraus ein gewisser Egoismus, denn
Desportes will Marie, obwohl er weiß, dass sie schon Stolzius versprochen worden ist,
angeblich, weil sie einen Mann aus einer höheren sozialen Schicht verdient, für sich
gewinnen. In diesem Sinne entspricht sein Verhalten der oben genannten Definition der
Selbstsucht, denn Desportes’ beharrliches Streben nach einer Heirat mit Marie erweist
sich tatsächlich auch als rücksichtslos, indem er keinen Moment an die (etwaigen)
Folgen für den betrogenen Tuchhändler denkt. Andererseits zeugt die Bereitschaft des
Barons, seiner Familie entgegenzutreten, um eine Heirat mit dem sozial unterlegenen
Bürgermädchen zustande zu bringen, auch von der Aufrichtigkeit seiner Liebe für
Marie. Mit anderen Worten scheut sich Desportes nicht davor, der öffentlichen Meinung
und der bestehenden gesellschaftlichen Barriere zu trotzen.
Wie sich aber schon rasch herausstellt, scheint die Liebe bzw. Verführung ihn
blind gemacht zu haben, denn, nachdem er mit der spielerischen bzw. leichtsinnigen
Liebesauffassung Maries konfrontiert worden ist46, verschwindet der Baron, in einem
Versuch, das verführerische Bürgermädchen bzw. Soldatenhure loszuwerden, spurlos.
Ab diesem Punkt scheint sich der Egoismus des Barons, da er aus seinem Liebestraum
erwacht ist und, neben seinem Irrtum, auch den etwaigen Rufschaden, den die
Beziehung mit der Soldatendirne, wofür Marie gehalten wird, veranlassen könne,
einsieht, besonders zu entwickeln. So versucht er das Bürgermädchen in seinem
beharrlichen Streben nach der Wahrung seiner Reputation nicht nur in einen üblen Ruf
zu bringen, sondern zeigt Desportes sich überdem bereit, alle Mittel, mit den er Marie
loswerden könne, einzusetzen:
45
Lenz: Die Soldaten, S. 28.
Lenz: Die Soldaten, S. 29. Auf diese Szene wird, indem sie mehr über den Charakter des
Bürgermädchens sagt, als dass sie einen Beitrag zu dieser Analyse des Barons leisten könne, unten, in der
Analyse der ‚tugendhaften’ Tochter, Marie, tiefer eingegangen.
46
30
DESPORTES. Wie ich dir sage, es ist eine Hure vom Anfang an gewesen, und sie ist
mir nur darum gut gewesen, weil ich ihr Präsente machte. Ich bin ja durch sie in
Schulden gekommen, dass es erstaunend war, sie hätte mich um Haus und Hof
gebracht, hätt ich das Spiel länger getrieben.
[…]
Was zu tun, ich schreib meinem Jäger, er soll sie empfangen, und ihr so lange
Stubenarrest auf meinem Zimmer ankündigen, bis ich selber wieder nach
Philippeville zurückkäme, und sie heimlich zum Regiment abholte. […] Nun mein
Jäger ist ein starker robuster Kerl, die Zeit wird ihnen schon lang werden auf einer
Stube allein. Was der nun aus ihr macht, will ich abwarten, (lacht höhnisch) ich
hab ihm unter der Hand zu verstehen gegeben, dass es mir nicht zuwider sein
würde.
MARY. Hör, Desportes, das ist doch malhonett.
DESPORTES. Was malhonett, was willst du – Ist sie nicht versorgt genug, wenn mein
Jäger sie heuratet?47
Indem sich Desportes in dem ersten Teil des Zitats große Mühe gibt, das verführerische
Bürgermädchen als eine auf Geld versessene Prostituierte darzustellen, die ihre Liebe
für ihn nur vorgetäuscht hat, um ihn möglichst viel Geld abspenstig zu machen, zeigt
sich die oben genannte Verleumdung, mit der er einerseits seinen Irrtum bzw. seine
Täuschung, die ihn tief in Schulden gebracht hat, andererseits den darauf folgenden
Plan, um Marie loszuwerden, zu beschönigen versucht. Denn, wie sich aus dem zweiten
Teil des Zitats herausstellt, brauche der Baron jede Güte, Aufrichtigkeit und Unschuld,
kurzum jede Menschlichkeit, die das Mädchen möglicherweise beigemessen werden
könne, zu widerlegen, um eine solche teuflische, menschenunwürdige Strafe
rechtfertigen zu können. Nach seiner Liebe für Marie, scheint jetzt das Sehnen nach
Rache den Baron zu verblenden: Nicht nur scheint Desportes, trotz des
Bewusstmachungsversuches Marys, die Unanständigkeit seines Planes, Marie
vorübergehend an seinen Jäger auszuliefern, sodass dieser starke und virile, aber auch
sehr einsame Mann sich an dem Mädchen vergreifen und sie schließlich heiraten
(müssen) würde, nicht zu erkennen bzw. nicht erkennen zu wollen; auch das höhnische
Lachen lässt vermuten, dass der Baron nicht mehr klar denkt.
Die Ursache dieser Geistesverwirrung (und des daraus folgenden Egoismus) ist
eine zweifache Verzweiflung, die sich dem Baron bemächtigt hat und die sich
besonders aus den zwei folgenden Zitaten erweist:
DESPORTES. Wenn sie mir hierher kommt, ist mein ganzes Glück verdorben – zu
Schand zu Spott bei allen Kameraden.48
47
48
Lenz: Die Soldaten, S. 61.
Lenz: Die Soldaten, S. 54.
31
DESPORTES (der sich in einen Winkel gestellt hat, für sich). Ihr Bild steht
unaufhörlich vor mir – Pfui Teufel! fort mit den Gedanken. Kann ich dafür, dass
sie so eine wird. Sie hat’s ja nicht besser haben wollen. (Tritt wieder zur andern
Gesellschaft, und hustet erbärmlich.)49
Einerseits weiß Desportes, dass er Marie, die von dem Militär als Soldatendirne
betrachtet wird, loswerden muss, um seinen guten Ruf den Kameraden gegenüber zu
wahren. Dieses Bewusstsein wird nicht nur in dem ersten Zitat vom Baron expliziert,
sondern schimmert auch in dem zweiten Zitat durch, indem Desportes sich selber davon
zu überzeugen versucht, dass Marie selbst Schuld an ihrem Status einer Hure hat. Diese
Überzeugung braucht er, um das Mädchen später ohne Schuldgefühl anschwärzen, und
auf diese Weise mittels der Betonung seines Irrtums bzw. der Täuschung durch Marie
seinen Ruf wahren zu können. Andererseits erweisen sich aus beiden Zitaten auch die
großen Schwierigkeiten, auf die er bei dem Veruch, das Mädchen loszuwerden, stößt,
denn sowohl physisch, wie auch mental bleibt Marie ihn verfolgen. Nicht nur bedroht
das Bürgermädchen, indem sie dem Baron bis in die Armee nachzulaufen versucht, den
Plan, den er zur Wahrung seines Rufes gefasst hat; auch ihr ekelhaftes Bild, das ihm
unaufhörlich vor den Augen steht, quält ihn dermaßen, dass er davon, seinem
erbärmlichen Husten nach zu urteilen, fast auf den Tod erkränkt. In diesem Sinne
scheint die oben genannte Verzweiflung, die Anlass zu dem egoistischen Verhalten des
Barons gibt, aus dem Zusammenstoß zwischen dem Verlangen einerseits und der
Unfähigkeit andererseits, Marie loszuwerden, hervorzugehen.
Aus dieser Analyse lässt sich schließen, dass Desportes keineswegs der
rücksichtslose adlige Verführer, für den man ihn, im Vergleich zu dem Prinzen in
Emilia Galotti, an den ersten Blick halte, ist. Seine Selbstsucht könne man als eine
geläuterte Selbstsucht bewerten, und zwar in dem Sinne, dass das beharrliche und
rücksichtslose Streben, Marie loszuwerden und auf diese Weise seinen Ruf wahren zu
können, fast zwangsläufig aus seiner Rolle, als Opfer der Verführung des
Bürgermädchens hervorzugehen scheint. Indem Marie ihn dermaßen verführt hat, dass
er ganz von ihr besessen scheint, sieht sich Desportes gezwungen, oben genanntes
gefühllos-egoistisches Verhalten, bei dem er die etwaigen Folgen für das Glück und den
Ruf des Mädchens nicht im Geringsten berücksichtigt, anzunehmen, damit er diese
schonunglose Verführerin letztendlich loswerden könne.
49
Lenz: Die Soldaten, S. 58.
32
Auch der Tuchhändler Stolzius soll man, bevor ihn mit dem bürgerlichen
Intriganten Marinelli zu vergeichen, in erster Linie als Opfer des leichtsinnigen,
verführerischen Bürgermädchens betrachten. Wie sich aus dem folgenden Zitat ergibt,
scheint auch er, genau wie sein Konkurrent, Desportes, Marie aufrichtig und
leidenschaftlich zu lieben:
STOLZIUS (mit verbundenem Kopf). Mir ist nicht wohl, Mutter!
MUTTER (steht eine Weile und sieht ihn an). Nu, ich glaube, Ihm steckt das
verzweifelte Mädel im Kopf, darum tut er Ihm so weh. […]
STOLZIUS. Aus Ernst, Mutter, mir ist nicht recht.
MUTTER. Nu, wenn du mir gute Worte gibst, so will ich dir das Herz wohl leichter
machen (Zieht einen Brief heraus.)
STOLZIUS (springt auf). Sie hat Euch geschrieben?
MUTTER. Da, kansst du’s lesen. (Stolzius reißt ihn ihr aus der Hand, und
verschlingt den Brief mit den Augen.) Aber hör, der Obriste will das Tuch
ausgemessen haben für die Regimenter.
STOLZIUS. Lasst mich den Brief beantworten, Mutter.
MUTTER. Hans Narr, ich rede vom Tuch, das der Obrist bestellt hat für die
Regimenter. Kommt denn –50
Diese Szene erweist sich als symptomatisch für die Leidenschaftlichkeit der Liebe des
Tuchhändlers. In Gegensatz zum Baron, dessen Unfähigkeit, Marie loszuwerden, ihn
schließlich fast auf den Tod erkrankt, scheint Stolzius schwer an der Abwesenheit seiner
zukünftigen Gattin zu leiden. Obwohl er seiner Mutter von der Echtheit seiner
Krankheit zu überzeugen versucht, durchschaut sie die Anstellerei ihres Sohnes leicht,
indem sie Stolzius’ Obsession für das Bürgermädchen, völlig zurecht, als Ursache
seiner angeblichen Kopschmerzen anweist. Denn tatsächlich scheint der Tuchhändler,
indem die Mutter ihm einen Brief seiner Geliebten übergibt, wunderbar zu genesen: Lag
er am Anfang noch schwer erkrankt da, so springt er, sobald er den Brief erblickt,
auffällig lebhaft auf und scheint er überdem auch auf einmal die Kraft gefunden zu
haben, „ihn ihr aus der Hand [zu reißen]“. Die Leidenschaftlichkeit, die Stolzius für
Marie empfindet, erweist sich aber nicht nur aus dem Leiden, den ihre Abwesenheit
herbeiführt; auch die Begierde, mit der er diesen Brief verschlingt und die Tatsache, das
er über die geringste Beachtung seiner zukünftigen Gattin seine Arbeit völlig
vernachlässigt bekräftigen oben genannte Obsession. In diesem Sinne stellt sich Stolzius
tatsächlich als ein richtiger ‚Hans Narr’ heraus, indem er über diese Leidenschaft völlig
50
Lenz: Die Soldaten, S. 6-7.
33
den Kopf verloren zu haben scheint. Dies erweist sich u.a. auch aus der übersteigerten
Reaktion des Tuchhändlers auf die Hechelei über eine etwaige Beziehung zwischen
Desportes und Marie: „STOLZIUS. Aber das Gerede, Herr Major! Stadt und Land ist voll
davon. Ich könnte mich den Augenblick ins Wasser stürzen, wenn ich dem Ding
nachdenke.“51 Man könne sogar behaupten, dass sich Stolzius, indem er wegen bloßes
Getratsches über einen ‚Ehebruch’ seiner Geliebten schon Selbstmord erwägt, fast als
Verrückter herausstellt.
Dieses große Selbstmitleid entwickelt sich aber schon rasch zu einer
rücksichtslosen Rachsucht, die wesentlich von seiner verblendenden Leidenschaft
beeinflusst wird, und zwar in dem Sinne, dass Stolzius Marie, wegen seiner Schwäche
für das Bürgermädchen, völlig entschuldigt und seine Rache sich demzufolge auf den
Baron beschränkt:
STOLZIUS (fasst ihr beide Hände). Liebe Mutter, schimpft nicht auf sie, sie ist
unschuldig, der Officier hat ihr den Kopf verrückt. Seht einmal, wie sie mir sonst
geschrieben hat. Ich muss den Verstand verlieren darüber. Solch ein gutes Herz!
[…] (Springt auf.) […]
MUTTER (weint). Wohin, du Gottsvergessener?
STOLZIUS. Ich will dem Teufel, der sie verkehrt hat – (Fällt kraftlos auf die Bank,
beide Hände in die Höhe.) Oh du sollst mir’s bezahlen, du sollst mir’s bezahlen.
(Kalt.) Ein Tag ist wie der andere, was nicht heut kommt, kommt morgen, und
was langsam kommt, kommt gut.52
Wie sich aus dem folgenden Zitat ergibt, ist auch Stolzius, genau wie sein großer
Konkurrent, Desportes, von seiner Liebe für bzw. der Verführung durch Marie
verblendet worden. In Gegensatz zu dem Baron, scheint der Tuchhändler aber unfähig,
die leichtsinnige Liebesauffassung seiner Geliebten als eigentliche Ursache des
‚Ehebruches’ zu erkennen, indem er selber zugibt, dass er über das gute Herz des
Bürgermädchens den Verstand verlieren muss. Tragischerweise fällt gerade Desportes,
den Stolzius im Grunde, wegen ihres geteilten Opferstatus, als Bundgenosse betrachten
soll, erneut zum Opfer, diesmal nicht seiner eigenen, sondern der Liebe seines
Konkurrenten für Marie, denn in einem Anfall von Geistesverwirrung, über die sich
seine Mutter tief betrübt zeigt, denkt Stolzius irrtümlicherweise den Baron als „Teufel,
der sie [Marie] verkehrt hat“ zu erkennen.
51
52
Lenz: Die Soldaten, S. 19.
Lenz: Die Soldaten, S. 33.
34
Ab diesem Punkt ermöglicht sich der Vergleich zwischen dem betrogenen
Geliebten, Stolzius, und dem bürgerlichen Intriganten, indem sich Stolzius auf der
Suche nach einer Möglichkeit, sich an dem Baron zu rachen, macht. Dabei sind es
besonders die Kälte und die Berechnung seines Planes, die an der Intrige Marinellis in
Emilia Galotti erinnern. Wie sich aus dem Ende des oben stehendes Zitats erweist, ist
Stolzius bereit, behutsam eine günstige Gelegenheit abzuwarten, um seine Rache an
Desportes zu nehmen. Indem er als Bedienter in der Haushaltung des Officiers Mary,
der einen guten Freund des Barons ist, infiltriert, um Desportes auf diese Weise bei dem
Abendessen zu vergiften, bevor den oben genannten Selbstmord zu verüben, erweist
sich der Tuchhändler als ein richtiger Intrigant, der auf die krumme Tour jede Situation
zu seinem Vorteil zu gebrauchen bzw. missbrauchen weiß. Dabei zeigt sich die
Rücksichtslosigkeit seines Strebens nach Rache besonders an die Beharrlichkeit, mit der
er dieses Vorhaben, trotz der Gespräche zwischen Mary und Desportes, die er überhört
und in der Desportes sich mehrmals als Opfer des verführerischen Bürgermädchens
darstellt, durchführt.
Aus dieser Analyse könne man schließen, dass auch der Tuchhändler Stolzius,
genau wie sein Konkurrent Desportes, eine geläuterte Selbstsucht aufzeigt. Auch er
erweist sich in erster Linie als Opfer der Verführung durch bzw. seiner Liebe für Marie.
In Gegensatz zum Baron, hat seine Liebe ihn aber permanent verblendet und sieht er
daher nicht ein, dass auch seine Geliebte, und insbesondere ihre verführerische Qualität,
Mitschuld an ihrem ‚Ehebruch’ bzw. Beziehung mit Desportes haben. Obwohl er darauf
ein beharrliches Streben nach Rache an dem Baron aufweist, deren Rücksichtslosigkeit
sich besonders an seine Bereitschaft zeigt, Desportes dazu zu ermorden, lässt sich auch
Stolzius’ Egoismus, in Hinsicht auf die Geistesverwirrung, die aus seinem
leidenschaftlichen Liebe für Marie hervorgeht, gewissermaßen entschuldigen.
Schließlich soll auch der Officier, Mary, im Rahmen eines Versuches, ihn mit der
Gräfin Orsina zu vergleichen, zwar sehr kurz, Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Zuerst aber erweist auch er sich als Opfer der Verführung des Bürgermädchens, indem
er nichts lieber will, als Desportes ‚einen guten Dienst zu erweisen’ und Marie an seiner
Stelle zu heiraten:
35
MARY. Soll ich dir aufrichtig sagen, Stolzius, wenn der Desportes das Mädchen
nicht heuratet, so heurate ich’s. Ich bin zum Rasendwerden verliebt in sie. Ich
habe schon versucht, mir die Gedanken zu zerstreuen, du weißt wohl, mit der
Düval, und denn gefällt mir die Wirtschaft mit dem Grafen gar nicht, und dass die
Gräfin sie nun gar ins Haus genommen hat, aber alles das – verschlägt doch
nichts, ich kann mir die Narrheit nicht aus dem Kopf bringen.53
Dieses Zitat fasst den Charakter des Officiers hervorragend zusammen: Einerseits ist er,
wie er selber sagt, „zum Rasendwerden verliebt in sie [Marie]“ und gelingt es ihm, trotz
des Versuches, seine Gedanken mittels einer Liebelei mit Madame Düval abzuleiten,
keineswegs, das Bürgermädchen aus dem Kopf zu schlagen. Andererseits könne man
ihn mit Orsina vergleichen, und zwar in dem Sinne, dass er die Situation zu seinem
Vorteil zu biegen versucht. Obwohl er vorgibt, eine Ehe mit Marie eingehen zu wollen,
um seinem Freund, Desportes, der verzweifelt versucht, das Mädchen loszuwerden, zu
helfen, scheint er mit dieser Wohltat in erster Linie seine eigene Liebe für Marie
befriedigen zu wollen.
Indem er sich in seinem Streben nach einer Ehe mit dem Bürgermädchen aber
unerfolgreich zeigt und dieses Streben keine offensichtlichen, negativen Folgen mit sich
zu bringen scheint, könne man schwerlich zu Schlussfolgerungen in Bezug auf die
Rücksichtslosigkeit und Beharrlichkeit des Officiers kommen und muss man daher
schließen, dass Mary, teilweise wegen einer Mangel an Beweisen, vielmehr als
Opportunisten bewertet werden soll, als dass man ihn als richtigen Egoisten betrachten
könne.
2.2. Der Egoismus der ‚bürgerlichen’ Kleinfamilie
Im Rahmen einer Analyse des bzw. Suche nach selbstsüchtigem Verhalten
innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie wird sich in diesem Teil die Frage stellen, ob
die verschiedenen Angehörigen dieses „Schutzraum[es] gegen feudale Willkür […] und
[…] Enklave des Gefühls gegen das in Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend sich
durchsetzende Prinzip der Rationalität“54 vielleicht nicht selbst Schuld an dessem
Zerfall haben. Gerade weil dieser Kleinfamilie in dem 18. Jahrhundert eine solche
positive Konnotation beigemissen wurde, lässt sich aber vermuten, dass die Selbstsucht
dieser Figuren entweder besser versteckt, oder viel flüchtiger sein wird und daher
53
54
Lenz: Die Soldaten, S. 50.
Stephan: „Aufklärung“, S. 168.
36
vielmehr zwischen den Zeilen gesucht werden muss. Indem im Folgenden nacheinander
die Rollen des Vaters, der Bürgertochter und der Mutter in Emilia Galotti bzw. Die
Soldaten analysiert werden, wird einen Versuch unternommen, diesen Egoismus in
einer kohärtenten Ausführung festzulegen.
Emilia Galotti
Wenn man der Vaterfigur im bürgerlichen Trauerspiel eine selbstsüchtige
Lebenshaltung und den dementsprechenden Anteil an dem tragischen Ablauf des
Dramas beizumessen versucht, fragt man im Grunde, wie man einem Vater, der seine
Tochter zärtlich liebt und sie vor jedem kleinsten Fehltritt und jeder etwaigen Gefahr
aus der Umwelt zu schützen versucht, den Status eines Altruisten, der in seinem Streben
nach dem größtmöglichen Wohl dieser Tochter seine eigenen Interessen ständig
zurückstellt, abnehmen kann und ihn stattdessen völlig gegensätzlich als Egoisten, der,
wie die Definition sagt, beharrlich und rücksichtslos dem eigenen Nützen nachstrebt,
bezeichnen kann. Eine potenzielle Lösung dieses auf den ersten Blick problematischen
Gegensatzes zweier einander ausschließenden Mentalitäten liege in folgender wichtigen
Einsicht der Genderforschung über die Verhältnisse innerhalb der bürgerlichen
Kleinfamilie in dieser Epoche: „Der Mann hatte in der bürgerlichen Kleinfamilie eine
so starke Stellung, dass er praktisch Besitzer der Frau war.“55 Dieses Besitzverhältnis
bzw. „Ökonomisierung der Beziehungen“56, das eine unmittelbare Folge der im 18.
Jahrhundert zunehmenden Arbeitsteilung zwischen der öffentlichen und entlohnten
männlichen
Produktion
und
der
häuslichen
und
unbezahlten
weiblichen
Reproduktionsarbeit war, gibt es sowohl in Bezug auf die Mutter, wie auch auf die
Tochter und wird im Folgenden als wesentlichen Teil der Begründung der Selbstsucht
Odoardos angeführt.
Am wichtigsten ist in dieser Hinsicht die Beziehung zwischen Vater und Tochter,
die der Ausgangspunkt dieser Analyse des Bürgervaters Odoardo bildet und die von
Stephan auf folgende Weise prägnant zusammengefasst wird:
Die Töchter sind ‚Eigentum’, ‚Vermögen’ und ‚Ware’ des Vaters, ihre Tugend ist
nicht nur ein ideelles, sondern auch ein materielles Gut. […] Die Tugend der
Töchter ist die Macht der Väter. Als ‚Ware’ wird die Tochter zum Objekt des
55
56
Stephan: „Aufklärung“, S. 168.
Stephan: „Aufklärung“, S. 166.
37
Austauschs zwischen Männern und zum Gegenstand der Auseinandersetzung
zwischen Adel und Bürgertum.57
Aus diesem Zitat gehen zwei wichtige Aspekte der Beziehung bzw. des
Besitzverhältnisses zwischen Vater und Tochter hervor, die, wenn man sie auf den Text
anwendet, zeigen, dass Odoardo Emilia und ihre Tugend vielmehr als Gegenstand
seines Kampfes mit dem Hofe betrachtet, als dass sie als gefühlvoller und eigenwilliger
Mensch anerkannt wird.
Ein erster ist der materialistische Umgang des Vaters mit seiner Tochter, der von
einer doppelten Reduzierung Emilias gekennzeichnet wird: Einerseits wird die
Bürgertochter auf ihre (laut dem Vater) wichtigste Eigenschaft, die Tugend, reduziert;
andererseits wird diese Tugend nur als gegenständlicher Teil des väterlichen
Vermögens
betrachtet.
Symptomatisch
für
diese
Verniedlichung
bzw.
Entmenschlichung der Tochter ist die zärtliche Tyrannei, mittels der Odoardo seine
Herrschaft über die Familie, und insbesondere über Emilia, zu konsolidieren versucht.
Diese äußert sich schon in dem ersten Auftritt Odoardos in einer übertriebenen
Besorgtheit um bzw. Schutz vor einem Fehltritt seiner Tochter, indem er seiner Gattin,
Claudia, seinen Ärger darüber ausdrückt, dass sie Emilia ganz allein „[d]ie wenigen
Schritte“58 nach der Kirche machen lassen hat, denn laut ihm ist „[e]iner […] genug zu
einem Fehltritt“59. Weist an diesem Punkt noch nichts auf den oben genannten
materialistischen Umgang Odoardos mit seiner Tochter und scheint er sie im Gegenteil
sogar zärtlich zu lieben, so werden erst gegen Ende der Geschichte, ab dem Moment,
dass Odoardo nach der Entführung Emilias an dem Lustschlosse des Prinzen auftaucht,
die wirklichen Verhältnisse zwischen Vater und Tochter peinlich deutlich. Wie
folgendes Zitat suggeriert, handelt Odoardo nicht so sehr aus Liebe für seine Tochter,
als vielmehr aus Bekümmernis um die Erhaltung seiner Macht: „ODOARDO GALOTTI. […]
Was hat die gekränkte Tugend mit der Rache des Lasters zu schaffen? Jene allein hab
ich zu retten.“60 Indem Odoardo nicht die Rettung seiner Tochter, sondern nur die
Wahrung ihrer Tugend für notwendig zu halten glaubt, zeigt er, dass einerseits Emilia in
seinen Augen kein gefühlvoller und eigenwilliger Mensch ist, sondern ihm nur wegen
ihrer Tugend viel bedeutet; andererseits er selber ein Egoist ist, und zwar in dem Sinne,
57
Stephan: „Aufklärung“, S. 166.
Lessing: Emilia Galotti, S. 21.
59
Lessing: Emilia Galotti, S. 22.
60
Lessing: Emilia Galotti, S. 75.
58
38
dass er sich in seinem Streben nach die Wahrung seiner Macht bzw. der Tugend seiner
Tochter als Quelle dieser Macht keineswegs um das Schicksal dieser Tochter zu
kümmern scheint. Die Rest des Stückes unterschreibt diese Betrachtung in
verschiedener Weise. So bestätigt folgendes Zitat die Tyrannei Odoardos, die Emilia in
dem Sinne, dass sie unumgänglich dem Willen ihres Vaters unterworfen ist, zu einem
unpersönlichen Teil des Eigentums des Vaters macht: „ODOARDO (hitzig). Erwägen!
erwägen! Ich erwäge, dass hier nichts zu erwägen ist. – Sie soll, sie muss mit mir.“ 61
Indem Odoardo Emilia als seinen Besitz betrachtet und er, als Eigentümer des
Mädchens, das absolute Entscheidungsrecht über sie hat, gibt es hier in seinen Augen
keinen Anlass zu einer Erwägung mit dem Prinzen und Marinelli über das Schicksal
seiner Tochter. In dieser Hinsicht bestätigt auch die folgende Aussage Odoardos seine
Gewalt über das Tun und Denken Emilias: „ODOARDO. […] Ich denke, ich weiß es, was
meiner Tochter in ihren itzigen Umständen einzig ziemet.“62 Indem er für Emilia denkt
und zu wissen glaubt, was gut für sie ist, betont der zärtlich-tyrannische Vater hier aufs
Neue seine absolute Autorität in dem Bereich der Entscheidungen über seine Tochter
bzw. sein Eigentum. Diese Haltung seiner Tochter gegenüber kulminiert in dem
vorletzten Auftritt des Stückes, in dem Odoardo u.a. mit den folgenden Worten Emilia
von ihrem Plan, Selbstmord zu verüben, um auf diese Weise ihren Vater an dem Mord
seiner Tochter und der darauf folgenden Verfolgung zu hindern, abzubringen versucht:
„ODOARDO. Was? Dahin wäre es gekommen? Nicht doch; nicht doch! Besinne dich. –
Auch du hast nur Ein Leben zu verlieren. EMILIA. Und nur Eine Unschuld!“63 In Hinsicht
auf das in dieser Analyse schon festgestellte egoistische Verhalten Odoardos, das von
dem beharrlichen und rücksichtslosen Streben nach der Wahrung der Tugend Emilias
und der dazugehörigen Macht gekennzeichnet wird, erweist sich Emilias Anmerkung
offensichtlich als eine höhnische Bemerkung an die Adresse ihres Vaters. Mittels dieses
kürzen Sätzchens wird Odoardo von seiner eigenen Tochter entlarvt, indem sie sich der
eigentlichen Absicht ihres Vaters, sie von ihrem Selbstmordplan abzubringen, bewusst
zeigt: Odoardo macht sich in erster Linie Sorgen über die Macht, die er infolge des
Verlustes der Tugend Emilias, wenn sie Selbstmord verüben würde, verlieren könne;
Die Bekümmernis um das Leben seiner Tochter wird mit Recht als Scheinmanöver
61
Lessing: Emilia Galotti, S. 77.
Lessing: Emilia Galotti, S. 78.
63
Lessing: Emilia Galotti, S. 85.
62
39
beiseitegeschoben, denn gerade in dem Moment, dass Emilia ihren eigenen Willen zum
ersten Mal in dem Stücke durchzusetzen versucht und sich selbst mit dem Dolche
durchstechen will, reißt Odoardo die Macht doppelt an sich. Indem er Emilia
durchsticht, gelingt es ihm nicht nur das beinahe abgetrotzete Selbstbestimmungsrecht
Emilias rückgängig zu machen, sondern auch ihre Tugend bzw. Unschuld, „[d]ie über
alle Gewalt erhaben ist“64 zu wahren.
Dieses Zitat stellt eine Verbindung mit dem zweiten wichtigen Aspekt der VaterTochter-Beziehung in dem bürgerlichen Trauerspiel her, der einen besseren Einblick in
die Beweggründe für Odoardos selbstsüchtiges Verhalten verschaffen kann: die Tochter
als „Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum.“ 65 In diesem
Sinne scheint auch Emilia sowohl als ihres Vaters wichtigste Waffe, wie auch als
symbolisches Objekt, denn, wie schon erwähnt, ist ihre Tugend seine Macht, in dem
Streit um bürgerliche Autonomie zu fungieren. Konkret zeigt ein Monolog Odoardos, in
dem er in seinem Zorn über die freche Äußerung Marinellis, der Prinz soll entscheiden,
was mit Emilia geschehen wird, seine verborgenen Motive verrät, diese hartnäckig in
den Kontext des Machtkampfes zwischen Adel und Bürgertum eingebettete Auffassung
der Tochter auf, die ihre entmenschlichende Reduzierung auf ihre Tugend als materielle
Gegenstand dieses Kampfes erneut Nachdruck verleiht: „ODOARDO GALOTTI. Wie? –
Nimmermehr! – Mir vorschreiben, wo sie hin soll? – Mir sie vorenthalten? – Wer will
das? Wer darf das? – Der hier alles darf, was er will? Gut, gut; so soll er sehen wie viel
auch ich darf, ob ich es schon nicht durfte!“66 Indem sich darauf ein Wortstreit um das
Entscheidungsrecht über bzw. Besitz von Emilia entspinnt, zeigt sich der wirkliche
Grund der scheinbaren Bekümmernis des Vaters um seine Tochter: Wie es einen
Egoisten geziemt, strebt Odoardo, ohne Rücksicht auf den etwaigen Verlust des Lebens
seiner Tochter zu nehmen, die Wahrung ihrer Unschuld, die er, als Symbol seiner
Macht, von dem Adel gefährdet glaubt, an. Dieser Machtstreit, der man in dem Sinne,
dass nur Odoardo ihn derart auffasst und es der Prinz keineswegs um den Verlust der
Tugend Emilias bzw. der Macht Odoardos zu tun ist, als imaginär bewerten könne,
kulminiert in dem Mord des Vaters an seiner Tochter, mit dem er zeigt, lieber seinen
Besitz zu vernichten, als ihn dem Adel vergeben zu müssen. Indem er mit seiner
64
Lessing: Emilia Galotti, S. 85.
Stephan: „Aufklärung“, S. 166.
66
Lessing: Emilia Galotti, S. 77.
65
40
einschneidenden Aktion „eine Rose gebrochen [hat], ehe der Sturm sie entblätter[en
konnte]67 bzw. die Tugend seiner Tochter auf immer gewahrt hat, glaubt sich Odoardo
am Ende (unbegreiflich) der moralische Sieger, was er mittels des ausführlichen
Vorwurfes an die Adresse des Prinzen stark betonen will.
In Hinsicht auf die verschiedenen, oben angeführten Spuren des wirklichen
Charakters Odoardos, lässt sich schließen, dass auch der scheinbar altruistische, strenge,
aber zärtlich liebende Vater um kein Haar besser ist als der egoistische und intrigante
Adel: Genau wie Marinelli, widmet das Interesse Odoardos sich einseitig der Wahrung
seiner Macht. Obwohl er dabei viel impulsiver bzw. weniger berechnend als der
bürgerliche Intrigant vorgeht, kann auch er auf der Grundlage der Beharrlichkeit und
Rücksichtslosigkeit seines Strebens als Egoist bezeichnet werden.
Obwohl die Mutter im bürgerlichen Trauerspiel, wenn es schon eine gibt, oft von
den (Vater)Figuren als dumm und kupplerisch beiseite geschoben wird oder gegen das
Ende des Stückes einfach von der Bühne verschwindet, darf man ihren Anteil an dem
(tragischen) Ablauf der Geschichte keineswegs unterschätzen. Auch Odoardo scheint
diesen Anteil in dem Moment, dass Orsina ihm den Plan des Prinzen aufdeckt, zu
erkennen: „ODOARDO. […] (Blickt wild um sich, und stampft, und schäumet.) Nun,
Claudia? Nun, Mütterchen? – Haben wir nicht Freude erlebt! O des gnädigen Prinzen!
O der ganz besondern Ehre!“68 Mit diesen Worten verweist der Vater nach folgendem
Vorwurf, den er seiner Gattin, in Bezug auf ihr Bedauern über den Verlust ihrer Tochter
infolge der Heirat zwischen Emilia und dem Grafen Appiani, schon eher gemacht hat:
ODOARDO. Was nennst du, sie verlieren? Sie in den Armen der Liebe zu wissen?
Vermenge dein Vergnügen an ihr, nicht mit ihrem Glücke. – Du möchtest meinen
alten Argwohn erneuern: – dass es mehr das Geräusch und die Zerstreuung der
Welt, mehr die Nähe des Hofes war, als die Notwendigkeit, unserer Tochter eine
anständige Erziehung zu geben, was dich bewog, hier in der Stadt mit ihr zu
bleiben[.]69
Diese öffentliche Bezichtigung der Mutter scheint alle Charakterzüge, die der
Mutterfigur in dem bürgerlichen Trauerspiel oft beigemessen werden, zu bestätigen:
Indem sie laut Odoardo nur aus persönlichen Interessen, wie der Hang nach dem
oberflächlichen Amüsement und der Lebendigkeit der höfischen Welt, in der Stadt
67
Lessing: Emilia Galotti, S. 87.
Lessing: Emilia Galotti, S. 70.
69
Lessing: Emilia Galotti, S. 25.
68
41
wohnen wollte und das Glück ihrer Tochter nur an zweiter Stelle kommen ließ, stellt sie
sich als kurzsichtig und naiv, aber über alles als eine Egoistin heraus, denn auch sie
zeigt sich in dieser Hinsicht beharrlich und rücksichtslos in ihrem Streben nach dem
eigenen Nutzen: die Angehörigkeit und Anerkennung des Hofes. Obwohl die
Zuschreibung einer Mitschuld an Claudia in dem Sinne, dass sie Emilia wegen ihres
Strebens dem Prinzen, bewusst oder unbewusst, zu nahe gebracht hat, zweifellos für
annehmbar gehalten werden kann und sich aus ihrer Begeisterung über die
Aufmerksamkeit, die der Prinzen ihrer Tochter geschenkt hat, ein kupplerischer Aspekt
und eine besondere Empfänglichkeit für Schmeichelei schließen lassen, muss die
Beschuldigung Odoardos mit gebotener Vorsicht aufnehmen, denn aus der oben
stehenden Analyse der Vaterfigur hat sich schon herausgestellt, dass Odoardo, wegen
der Impulsivität und Radikalität seiner Maßnahmen gegen den etwaigen Verlust seiner
Macht, wesentlich an Glaubwürdigkeit einbußen muss. Überdem soll dieses
Anschwärzen ihres Ehemannes im Rahmen der kantschen Auffassung, „[d]ie Familie ist
kein Binnenraum des Glücks, sondern fortwährender Kampf zwischen Mann und
Frau“70, als logischer Aspekt ihrer Ehe aufgefasst werden. Trotzdem bildet sie einen
interessanten Ausgangspunkt bzw. Anregung für eine Analyse der Selbstsucht der
Mutterfigur.
Wenn man sich jetzt, statt auf die Darstellung Claudias von Odoardos Sicht aus zu
achten, anhand der Selbstcharakterisierung ein Bild von der Mutter zu machen versucht,
fällt die große Bekümmernis, den Schein ihrer Unschuld den anderen Personen
gegenüber zu wahren, sogleich ins Auge. So weiß sie, indem sie gegen die oben
genannte Beschuldigung Odoardos einwendet, dass ohne sie bzw. ihre Entscheidung, in
der Stadt zu wohnen, Emilia den Grafen nie kennengelernt haben könnte71, die
Bestätigung dieses Vorwurfes und den daraus folgenden Verlust ihrer Unschuld zu
entkommen. Noch stärker und rücksichtsloser zeigt sich dieses Streben nach
Rechtschaffenheit aber in folgendem Zitat:
CLAUDIA. Wenn du in deiner Verwirrung auch ihn [Odoardo] das hättest hören
lassen!
EMILIA. Nun, meine Mutter? – Was hätt er an mir Strafbares finden können?
CLAUDIA. Nichts; ebenso wenig, als an mir. Und Doch, doch – Ha, du kennst
deinen Vater nicht! In seinem Zorne hätt er den unschuldigen Gegenstand des
70
71
Duden: “Das schöne Eigentum.”, S. 127.
Lessing: Emilia Galotti, S. 25.
42
Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt ich ihm
geschienen, das veranlasst zu haben, was ich weder verhindern, noch vorhersehen
können.72
In dieser Szene gelingt es Claudia auf großartige Art und Weise bis auf dreimal, ihre
Unschuld vor drei verschiedenen Personen zu wahren. Weil sie weiß, dass Odoardo,
wenn er etwas über den zweiten Annäherungsversuch des Prinzen an Emilia erfährt,
seinen Vorwurf, Claudia sei nur aus Eigennutz in die Stadt umgezogen und nimmt zu
wenig Rücksicht auf den Schutz ihrer Tochter, bestätigt sehen wird, versucht sie zuerst
Emilia davon zu überzeugen, ihrem Vater diesen Vorfall zu verschweigen. Indem sie
dazu die Impulsivität ihres Ehemannes während seiner Wutanfälle, mit der auch Emilia
ohne Zweifel vertraut sein muss, als wichtigstes Argument verwendet, wird die
Unschuld der Mutter zugleich auch ihrer Tochter gegenüber doppelt begründet, denn
einerseits wird Emilia jeden Vorwurf, den Odoardo seiner Gattin nachher darüber
machen würde, aller Wahrscheinlichkeit nach als einen unbesonnenen und
übertriebenen Versuch, seine Wut an Claudia auszulassen, beiseiteschieben;
andererseits gibt es die explizite Betonung der eigenen Unschuld, die sich insbesondere
auf die Unmöglichkeit beruft, den oben genannten Vorfall vorauszusehen, geschweige
denn zu verhindern. Wer aber zwischen den Zeilen liest, wird in diesem Zitat schon
schnell eine durchschimmernde Bestätigung bzw. Bewusstsein ihres Schuldes
betrachten, denn gerade die oben genannte Betonung, sie konnte diesen Vorfall „weder
verhindern, noch vorhersehen“73, verrät, dass sie sich zumindest des Anlasses dieser
zweiten Begegnung bzw. der Bewunderung des Prinzen bewusst war; diese
Aufmerksamkeit der höfischen Welt ihr aber derart geschmeichelt hat, dass sie blind für
die etwaigen Folgen für ihre Tochter war. Daneben zeigt sich Claudias rücksichtsloses
Interesse an dem eigenen Nutzen auch in der radikalen Selbstbezogenheit ihres
Antwortes auf die Frage Emilias nach ihrer Strafbarkeit in den Augen des Vaters, indem
die ganze Entschuldigung nicht Emilia, sondern ihr betrefft. Sogar die Aussage,
Odoardo würde „den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher“74
verwechseln, lässt sich durch ihre Positionierung zwischen zwei Sätze, in den die
Betonung auf den Wörtern ‚mir’ und ‚ich’ liegt, zweideutig auffassen. Doch scheint
auch dieser Satz sich vor allem auf ihr selbst zu beziehen und fungiert er in dieser
72
Lessing: Emilia Galotti, S. 29.
Lessing: Emilia Galotti, S. 29.
74
Lessing: Emilia Galotti, S. 29.
73
43
Hinsicht als Nachdruck verleihendes Element der Selbstcharakterisierung Claudias als
scheinbar „unschuldigen Gegenstand des Verbrechens“75. Drittens gelingt es ihr, ihre
Unschuld auch vor Appiani zu wahren, indem sie Emilia mit dem Argument, sie wird
Appiani für nichts unruhig machen und ihr Geständnis wird nur Argwohn in die Ehe
hineinbringen, davon zu überzeugen weiß, auch ihrem zukünftigen Ehemann die
Begegnung in der Kirche nicht aufzudecken.
Dass die zwei oben festgelegten Aspekte der Mutterfigur in Emilia Galotti, die
Schuld an der Anbetung Emilias durch den Prinzen und der daraus folgenden Tragödie
wegen des Mangels an Rücksicht auf die etwaigen Folgen ihrer Annäherungsversuche
an dem Hofe für ihre Tochter einerseits; die beharrliche Betonung ihrer Unschuld
andererseits, nicht nur auf diese Szene bzw. den Anfang des Stückes beschränkt sind,
zeigen folgende Beispiele aus der Auflösung des Dramas:
CLAUDIA. Was? Räuber wären es gewesen, die uns anfielen? – Mörder waren es;
erkaufte Mörder! – Und Marinelli, Marinelli war das letzte Wort des sterbenden
Grafen! Mit einem Tone!
MARINELLI. Mit einem Tone?
CLAUDIA. Ha, könnt ich ihn nur vor Gerichte stellen, diesen Ton! – Doch, weh mir!
Ich vergesse darüber meine Tochter. – Wo ist sie?76
Dieses erste Zitat zeigt, wie Claudia, in dem Moment, dass sie Marinelli in dem
Lustschloss des Prinzen begegnet und einsieht, dass der Tod des Grafen keinen
unglücklichen Zufall, sondern einen von ihm bezahlten Mord war, über diese
Erkenntnis ihre Bekümmernis über das Schicksal ihrer eigenen Tochter vergisst. Indem
sie ihr gebrochenes Streben, mittels der Heirat Emilias mit dem Grafen Appiani in eine
höhere Gesellschaftsschicht aufzusteigen bzw. sich den hohen Adel anzunähern, wegen
des Kriminalcharakters des Grafen Todes umso peinlicher und beklagenswertiger
erfährt, zeigt sich die Mutter vielmehr daran interessiert, Marinelli dieses Mordes zu
beschuldigen und in diesem Sinne die Gerechtigkeit, und zugleich ihre Rache, siegen zu
lassen, als dass sie ihre Tochter vor einem noch unsicheren Schicksal hüten will. Nur
ganz am Ende ihrer Raserei und fast nebenbei, fällt ihr der eigentliche Gegenstand ihrer
Suche ein und kehrt die Sorge um Emilia, zwar in viel weniger heftigem Maße als ihre
Wut über den Mord an dem Grafen bzw. ihre Chance auf einen Anschluss an dem
hohen Adel, wieder.
75
76
Lessing: Emilia Galotti, S. 29.
Lessing: Emilia Galotti, S. 52.
44
CLAUDIA (die im Hereintreten sich umsiehet, und sobald sie ihren Gemahl erblickt,
auf ihn zuflieget). Erraten! – Ah, unser Beschützer, unser Retter! Bist du da,
Odoardo? Bist du da? – […] Was soll ich dir sagen, wenn du noch nichts weißt? –
Was soll ich dir sagen, wenn du schon alles weißt? – Aber wir sind unschuldig.
Ich bin unschuldig. Deine Tochter ist unschuldig. Unschuldig, in allem
unschuldig!77
Dieses zweite Beispiel, das die Reaktion Claudias auf die kommende Konfrontation mit
ihrem Ehemann zeigt, scheint das Bild der Mutter als beharrliche und rücksichtslose
Egoistin gewissermaßen zu mildern. Es lässt sich zwar nicht leugnen, dass sie, indem
sie einerseits laut darüber zu denken scheint, wie sie sich aus Odoardos Zorn
herausreden könne, andererseits bis auf viermal ihre Unschuld betont, in erster Linie ihr
Imageschaden Odoardo gegenüber zu beschränken versucht; doch könne der
Beweggrund dieses Versuches den Leser bzw. Zuschauer vielleicht milder stimmen,
denn verschiene Details in diesem Zitat scheinen darauf hinzudeuten, dass der
übertriebene Wille, als unschuldig und rechtschaffen betrachtet zu werden, in Wahrheit
ein Verlangen, von ihrem Ehemann geliebt zu werden, ist. In diesem Sinne scheint sich
die Mutterfigur letztendlich gegen die kantschen Eheauffassung als „einen offenen oder
verdeckten Kampf der Geschlechter“78, die bis auf diesen Punkt ständig die Oberhand
hatte, zu wehren. Wird diese These schon von der Tatsache, dass sie bei seinem Einzug
auf ihn zufliegt, und der Anbetung Odoardos als lang ersehnten Beschützer und Retter
unterstützt, so lässt der vierfache Ausruf ihrer Unschuld sie noch an Plausibilität
gewinnen, denn, indem sie sowohl ihre Unschuld als die ihrer Tochter betont und die
Zweiteilung bzw. den Kontrast zwischen beiden mittels der Verschmelzung der beiden
in dem Worte ‚wir’ aufzulösen versucht, stellt sie zum ersten Mal in dem Stücke eine
explizite und enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter her, die das Verlangen
verrät, von Odoardo geliebt zu werden, wie er Emilia zu lieben scheint. Im Nachhinein
könne man sowohl das beharrliche Streben nach einer höheren gesellschaftlichen
Position, wie auch das große Bemühen um die Wahrung ihrer Unschuld als einen
vergeblichen Ruf um die Anerkennung und Liebe ihrer sozialen Umwelt bzw. einen
Ausbruchsversuch aus der Vergessenheit, in der die Mütter in dem bürgerlichen
Trauerspiel immer verdrängt werden, bewerten.
Trotz dieses mildernden Umstandes, muss doch zwangsläufig auf ein egoistisches
Verhalten der Mutter in Emilia Galotti geschlossen werden. Wenn ihre Absichten auch
77
78
Lessing: Emilia Galotti, S. 71.
Duden: „Das schöne Eigentum.“, S. 128.
45
keineswegs böse sind, zeigt sich Claudia, indem sie in ihrem doppelten Streben nach
Angehörigkeit einer höheren sozialen Schicht einerseits und Anerkennung ihrer
Unschuld andererseits, keine Rücksicht auf die etwaigen negativen Folgen für ihre
Tochter nimmt, trotzdem als eine Egoistin. Auch sie hat letztendlich Mitschuld an dem
Tod Emilias, denn ihr Hang nach der Schmeichelei der höfischen Welt hat die
prinzliche Aufmerksamkeit für ihre Tochter veranlasst bzw. befördert.
Schließlich muss – vielleicht überraschenderweise – auch das Bürgermädchen,
das traditionell mit positiv konnotierten, aber typisch weiblichen Eigenschaften, wie
„Tugendhaftigkeit, Treue, Hingabe und Emotionalität“79, gleichgesetzt wurde, im
Rahmen einer Analyse der Selbstsucht in dem bürgerlichen Trauerspiel die nötige
Aufmerksamkeit geschenkt werden. Obwohl Emilia am Ende des Stückes als noch
unbeleidigte Tugend von ihrem Vater in den Tod gejagt wird und diese Tugend ihm auf
diese Weise auf immer gewahrt scheint, gibt es durch den ganzen Text hindurch
Hinweise, die, wenn man sie vereint, ein ganz neues Licht auf die Tochterfigur im
bürgerlichen Trauerspiel werfen können. Im Folgenden wird versucht, möglichst viele
dieser Angaben in einer kohärenten These zu versammeln.
Wie bei der Analyse der Mutterfigur, könnte man auch bei der Analyse der
tugendhaften Emilia eine Beschuldigung durch eine andere Person als Ausgangspunkt
nehmen:
ORSINA. Nun da; buchstabieren Sie es zusammen! – Des Morgens, sprach der Prinz
Ihre Tochter in der Messe; des Nachmittags hat er sie auf seinem Lust- –
Lustschlosse. […] Mit einer Vertraulichkeit! mit einer Inbrunst! – Sie hatten
nichts Kleines abzureden. Und recht gut, wenn es abgeredet worden; recht gut,
wenn Ihre Tochter freiwillig sich hierher gerettet! Sehen Sie: so ist es doch keine
gewaltsame Entführung; sondern bloß ein kleiner – kleiner Meuchelmord.80
In diesem Zitat versucht die Gräfin Orsina Odoardo von der Mitschuld seiner Tochter
an dem Mord des Grafen Appiani zu überzeugen, indem sie ihm suggeriert, dass die
inszenierten Überfall und Rettung Emilias, nicht von dem Prinzen allein geplant,
sondern ein Rank ist, den seine Tochter und der Prinzen zusammen geschmiedet haben,
um auf die krumme Tour die Heirat zwischen Emilia und Appiani zu verhindern und
zugleich eine zukünftige, öffentliche Liebesbeziehung mit ihrem geheimen Liebhaber,
79
80
Stephan: „Aufklärung“, S. 168.
Lessing: Emilia Galotti, S. 70.
46
dem Prinzen von Guastalla zu ermöglichen. Dass Odoardo bis auf den letzten Moment
vor der Konfrontation mit seiner Tochter an ihrer Unschuld zweifelt81, lässt diese
Verdächtigungen durch Orsina, die man auf den ersten Blick als Produkt ihrer
Eifersucht auf Emilia, die, als neues Objekt der prinzlichen Verehrung, den Verlust
seines Interesses an der Gräfin veranlasst hat, einerseits, ihres Bedarfs nach der
Erkenntnis der Mittäterschaft Emilias, die ihren Prinzen als einen von diesem
Bürgermädchen Getäuschten in gewissem Maße entschuldigen und ihr in diesem Sinne
doch ein wenig Gemütsruhe schenken könne, andererseits, beiseiteschieben würde,
wesentlich an Plausibilität gewinnen. Obwohl der Vater seinen Argwohn gegen seine
Tochter schließlich fallen lässt und am Ende sogar ihre Unschuld vor den Augen des
Prinzen verkündet bzw. herausschreit, könnte man diese Verdächtigungen Emilias auf
der Grundlage ihres Verhaltens keineswegs widerlegen; Im Gegenteil, viele ihrer
Äußerungen scheinen das Bild des Bürgermädchens als eine trügerische, rücksichtslose
Egoistin, deren Selbstsucht aber, vor allem wegen ihrer emotionalen Begründung,
weniger kalt und berechnet, und daher auch weniger negativ konnotiert ist, zu
bestätigen.
Schon bei ihrem ersten Auftritt, in dem sie von dem Annäherungsversuch des
Prinzen in der Kirche sehr bestürzt heimkommt, kann man mehrere verdächtige
Elemente verspüren. So verdient z.B. der Widerspruch, den folgendes Zitat in Hinsicht
auf den ausführlichen und detaillierten Bericht, den Emilia soeben über ihre
erschütternde
Begegnung
mit
dem
Prinzen
erstattet
hat,
bildet,
besondere
Aufmerksamkeit:
EMILIA. […] Ich floh –
CLAUDIA. Und der Prinz dir nach –
EMILIA. Was ich nicht wusste, bis ich in der Halle mich bei der Hand ergriffen
fühlte. Und von ihm! Aus Scham musst ich standhalten: mich von ihm
loszuwinden, würde die Vorbeigehenden zu aufmerksam auf uns gemacht haben.
Das war die einzige Überlegung, deren ich fähig war – oder deren ich nun mich
wieder erinnere. Er sprach; und ich hab ihm geantwortet. Aber was er sprach, was
ich ihm geantwortet; –82
Sogar innerhalb dieses Zitats, zeigt sich der oben genannte Widerspruch, indem sich
Emilia die Verfolgung des Prinzen anfangs noch haargenau zu erinnern scheint,
während sie an dem darauf folgenden Gespräch mit ihrem Verfolger überhaupt keine
81
82
Lessing: Emilia Galotti, S. 83.
Lessing: Emilia Galotti, S. 29.
47
Erinnerung mehr hat. Auch die Behauptung, sie hat sich aus Scham nicht aus dem Hand
des Prinzen losgerissen, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die
Betonung, dies war die einzige Überlegung, die sie in diesem Moment anstellen konnte,
erscheinen, indem sie den ausführlichen Bericht der Begegnung in der Kirche, in dem
Emilia die Beschreibung ihrer Gefühle und Gedanke bis in die kleinsten Details fähig
ist, unmittelbar folgen, verdächtig. In dieser Hinsicht kann dieser plötzliche
Gedächtnisverlust Emilias besser als Heimlichtuerei bewertet werden: Anstatt diesen
Teil der Geschichte ihrer Mutter nicht erzählen zu können, scheint sie ihn nicht erzählen
zu wollen, was vermuten lässt, dass die Scham nicht der wirkliche Grund, weshalb sie
den Hand des Prinzen nicht loslassen wollte, ist und dass es sich, wie Orsina später
suggerieren wird, tatsächlich um ein vertrauliches Treffen mit ihrem Liebhaber handelt.
Indem man den Inhalt des Gespräches nur raten kann, ist es an diesem Punkt jedoch
unmöglich, Emilia der Mitwissenschaft bzw. Mittäterschaft an dem Plan, ihren
zukünftigen Bräutigam zu beseitigen und sie nach dem Lustschloss des Prinzen zu
‚entführen’, zu beschuldigen. Was man in dem Bewusstsein, dass das Bürgermädchen
sich vor einer Lüge nicht zu scheuen scheint, aber wohl behaupten kann, ist, dass auch
der Bericht über den unerwünschten Annäherungsversuch in der Kirche, besonders
seinem Zusammenhang und nüchternen Detail nach, nichts mehr als eine sorgfältig
komponierte Geschichte, um ihre Unschuld den Eltern gegenüber zu wahren bzw. ihnen
ihre Beziehung mit dem Prinzen zu verheimlichen, ist.
Daneben scheint Emilia ein gewisses Bemühen, Zwietracht in der Beziehung mit
dem Grafen zu säen, aufzuzeigen, indem sie kurz darauf mit einer auffälligen
Halsstarrigkeit gegen den Rat ihrer Mutter, Appiani diesen Vorfall nicht aufzudecken,
entgegentritt. Paradoxerweise scheint die Warnung Claudias, „dass ein Gift, welches
nicht gleich wirket, darum kein minder gefährliches Gift ist“ und „was auf den
Liebhaber keinen Eindruck macht, […] ihn auf den Gemahl machen [kann]“83, ihre
Tochter in dieser Überzeugung zu stärken. Erst in dem Moment, dass Emilia die
Unnachgiebigkeit ihrer Mutter in dieser Angelegenheit erkennt, gibt es einen
scheinbaren Umschwung in ihrem Denken:
EMILIA. Nun ja, meine Mutter! Ich habe keinen Willen gegen den Ihrigen. – Aha!
(Mit einem tiefen Atemzuge.) Auch wird mir wieder ganz leicht. – Was für ein
83
Lessing: Emilia Galotti, S. 30.
48
albernes, furchtsames Ding ich bin! […] O meine Mutter! – so müsste ich mir mit
meiner Furcht vollends lächerlich vorkommen!84
Indem ihr Versuch, Claudia der Notwendigkeit, Appiani die Begegnung mit dem
Prinzen aufzudecken, zu überzeugen, fehlschlägt, gibt Emilia schließlich nach. Dieser
Umschwung geschieht aber so jäh und extrem, dass man sie schwerlich als authentische
und spontane Äußerung ihrer geänderten Gefühle auffassen kann. Vielmehr soll er,
indem die Gefühlsübertreibung des plötzlichen Ausruf ‚Aha!’ und des darauf folgenden
tiefen Atemzuges, nach dem Emilia auf einmal, als ob sie gerade aus einem Traum
erwacht
ist,
wieder
klar
denken
kann,
sehr
theatralisch
anmuten,
als
Bestätigungsversuch ihrer Tugend, die ihr über einen etwaigen Verdacht, sie liebt den
Prinzen statt Appiani, erhaben könne, betrachtet werden. Nicht nur diese Theatralität,
sondern auch die Schmeichelei an die Adresse Claudias, die sich vor allem in der
Wiederholung der Wendung ‚meine Mutter!’ äußert, mittels der Emilia das Recht ihrer
Mutter zu betonen versucht, suggerieren einen Versuch des Bürgermädchens, bei ihrer
Mutter hoch im Kurs zu stehen und auf diese Weise ihre Unschuld in den Augen
Claudias sicherzustellen. Auch die doppelte Betonung, die Furcht hat ihr die Sinne und
den Verstand betäubt, dient dazu, ihrer Mutter den wirklichen Grund ihres Willes,
Appiani den Vorfall mit dem Prinzen aufzudecken, zu verschleiern. Auf diese Art und
Weise weiß Emilia den Schein, ein typisches, tugendhaftes, treues, aber leider zu viel
von ihren Gefühlen getriebenes Bürgermädchen zu sein, ihrer Umwelt gegenüber zu
wahren.
Eine ähnliche Szene, in der Emilia gegen das Ende des Stückes mit Odoardo
konfrontiert wird, erweist sich als entscheidend für die Bestätigung bzw. Verfeinerung
des oben stehenden neutraleren Bildes der tugendhaften Tochter, indem Emilia ihrem
Vater endlich ihr wahres Gesicht zu zeigen scheint. Der Verlauf dieses Auftrittes verrät
offensichtlich eine innere Zerrissenheit zwischen ihren fortwährenden Gefühlen für den
Prinzen, gegen die sie sich nach wie vor nicht verteidigen kann, und ihrem Verstand,
der sie mit Abscheu vor ihrem Liebhaber und dem blutigen Ablauf seines Planes,
Emilia für sich zu bekommen, erfüllt. Wie folgendes Zitat, in dem Emilia ihrem Vater
die Ursache ihrer auffälligen Ruhe zu erklären versucht, zeigt, ist das Bürgermädchen
die einzige Person, die den Mut zu haben scheint, ihre Schuld an dem Tode des Grafen
zu erkennen:
84
Lessing: Emilia Galotti, S. 31.
49
ODOARDO. […] Aber lass doch hören: was nennest du, alles verloren? – dass der
Graf
tot
ist?
EMILIA. Und warum er tot ist! Warum! – Ha, so ist es wahr, mein Vater? So ist sie
wahr die ganze schreckliche Geschichte[?] […] Denn wenn der Graf tot ist; wenn
er darum tot ist – darum! was verweilen wir noch hier? Lassen Sie uns fliehen,
mein Vater!85
Indem Emilia, mittels der Betonung der Wörter ‚warum’ und ‚darum’, bis auf viermal
den Grund des Todes Appianis für sich selbst wiederholt und ihn auf diese Weise eine
bestimmte Tragik, zumindest ihr selbst gegenüber, beizumessen scheint, lässt sich
vermuten, dass dieser Grund für sie wichtiger ist als der Tod selber. Allem Anschein
nach sieht Emilia, in dem Moment, dass der Mord an dem Grafen ihr von Odoardo
bestätigt wird, die unvermuteten, dramatischen Folgen ihrer geheimen Beziehung mit
dem Prinzen ein und erkennt das Bürgermädchen, dass auch sie, indem sie ihre Gefühle
für den Prinzen, statt sie zu unterdrücken, freien Lauf gelassen hat, Mitschuld, in
Hinsicht auf ihre empfindliche Seele vielleicht sogar die vollständige Schuld, an dem
Tod ihres Zukünftigen hat. Zugleich flößt ihr die entsetzliche Tat bzw. „die ganze
schreckliche Geschichte“, von der sie in ihren eigenen Augen, indem sie die Liebe und
Hoffnung in dem Herzen des Prinzen geschürt hat, der Veranlasser ist, Abscheu ihrem
Liebhaber gegenüber ein. Dieser äußert sich in einem verzweifelten Fluchtwunsch, der
aber sogleich von Odoardo als unmöglich beiseitegeschoben wird. Den darauf
folgenden Umschwung in ihrem Denken könne man sowohl als Wiederüberwältigung
durch ihre Gefühle für den Prinzen und Täuschungsversuch ihres Vaters, sie in dem
Lustschlosse bzw. bei ihrem Liebhaber zurückzulassen, wie auch als Erkenntnis der
Unvermeidlichkeit bzw. Sehnen nach einer Konfrontation mit dem Prinzen bewerten:
„EMILIA. […] Ich allein in seinen Händen? – Gut, lassen Sie mich nur; lassen Sie mich
nur. – Ich will doch sehn, wer mich hält, – wer mich zwingt, – wer der Mensch ist, der
einen Menschen zwingen kann.“86 In Hinsicht auf den Rest des Auftrittes, erweisen sich
beide Erklärungen als gleich möglich. Zunächst scheint Emilia hinterbleiben zu wollen,
um den Prinzen wegen seiner egoistischen Auffassung, er habe das Recht, Menschen zu
irgendetwas, was ihm einen persönlichen Vorteil bringen könne, zu zwingen,
zurechtzuweisen. Dies zeigt sich vor allem an dem Ärger, in den sie in Bezug auf den
Plan des Prinzen mit ihr, den Odoardo ihr kurz davor aufgedeckt hat, gerät: „EMILIA.
Reißt mich? bringt mich? – Will mich reißen; will mich bringen: will! will! – Als ob
85
86
Lessing: Emilia Galotti, S. 84.
Lessing: Emilia Galotti, S. 84.
50
wir, wir keinen Willen hätten, mein Vater!“87 In Hinsicht auf dieses Zitat, könne man
den darauf folgenden Mord Odoardos an seiner Tochter als allerletzten Widerstandsakt
gegen die prinzliche Autorität auffassen, mit dem sie den erst in der Aufklärung ins
Zentrum gerückten Konzept des freien Willens auf entsetzliche Art und Weise zu
betonen versuchen. Wenige Zeile später führt Emilia aber einen alternativen Grund für
ihren Tod an:
EMILIA. […] Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt
heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein Vater; so
jugendliches, so warmes Blut, als eine. Auch meine Sinne, sind Sinne. Ich stehe
für nichts. Ich bin für nichts gut.88
Indem sie ihrem Vater eingesteht, dass der Gewalt ihre Unschuld zwar nicht bedrohen
kann, ihre Sinne aber desto empfänglicher für die Verführung bzw. Korruption ihrer
Unschuld sind, wird einerseits die oben genannte Auffassung ihres Todes als
Bekräftigung des eigenen Willens gegenüber dem Adel, infolge dieser Verniedlichung
des Gewalts als einen bedrohenden Faktor für die Tugend, als eine Idee des Vaters, der
seine Tochter, und insbesondere ihre Tugend, nur als Gegenstand seiner Streit mit dem
Adel schutzwürdig glaubt, zurückgewiesen; andererseits ihren Tod als Mittel des
Schutzes gegen sich selbst, und insbesondere ihre Empfindlichkeit, gegen die sie sich
nicht zu wehren weiß, neudefiniert. Dem Bürgermädchen scheint es nicht zu gelingen,
„Pflicht und Affekt […] so zusammenfallen [zu lassen], daß die Erfüllung der Pflicht
selbst zur Äußerungsform des Triesbes wird.“89 In dieser Hinsicht könne man den
vorhergehenden Wunsch, sie in dem Lustschloss des Prinzen zu hinterlassen, als
plötzlichen Aufschwung ihrer Gefühle für ihren Liebhaber und als Anlass zu der
späteren Erkenntnis der Schwäche ihres Fleisches zugleich auffassen. Auch rückt diese
Neudefinierung des Grundes, weshalb Emilia sterben will, ihren Ärger über das
Versagen einer eigenen Wille in ein anderes Licht, indem sie mit der Ablehnung der
väterlichen Idee, Gewalt ist die größte Gefährdung ihrer Unschuld, auch seine Autorität
abzulehnen scheint. Die Tatsache, dass Emilia sich nicht von ihrem Vater, sondern nur
von sich selbst durchstechen lassen will, unterstützt dieser Umsturzversuch der
väterlichen Autorität, erweist sich aber zugleich als eine Schuldbekenntnis des
Bürgermädchens, denn, indem sie vor Selbstmord nicht zurückzuschrecken scheint,
87
Lessing: Emilia Galotti, S. 85.
Lessing: Emilia Galotti, S. 85.
89
Duden: “Das schöne Eigentum.”, S. 137.
88
51
zeigt sich, dass Emilia keine Unschuld mehr zu verlieren können glaubt. Am Ende
versucht sie sogar zum zweiten Mal, die Schuld ihres Todes auf sich zu ziehen und auf
diese Weise die Tugend ihres Vaters zu wahren: „EMILIA. Nicht Sie, mein Vater – Ich
selbst – ich selbst –“90. In Gegensatz zur früheren Konfrontation mit ihrer Mutter, gibt
Emilia ihre Schuld, in Hinsicht auf ihr egoistisches Verhalten, das, indem sie ohne
Rücksicht auf ihren Verlobten zu nehmen ihren Gefühlen für den Prinzen
hinterhergerannt hat, den Tod dieses Verlobten veranlasst hat, wenn auch auf verdeckte
Art und Weise sofort zu.
Wie sich an der extensiven Verwendung von Verben wie ‚suggerieren’,
‚scheinen’ oder ‚vermuten lassen’ gezeigt hat, muss man den Egoismus der
tugendhaften Bürgertochter bei Lessing vor allem zwischen den Zeilen lesen. Dennoch
könne man, in Hinsicht auf die Menge Hinweise, die sich durch den ganzen Text
hindurch spüren lassen, zu folgender Schlussfolgerung kommen: Auch das tugendhafte
Bürgermädchen Emilia zeigt egoistisches Verhalten auf, indem sie, ohne Rücksicht auf
die etwaigen Folgen für ihre Umwelt, und insbesondere für den Grafen, zu nehmen,
nach der Befriedigung ihrer Begierde bzw. Gefühle für den Prinzen gestrebt hat.
Trotzdem könne diese Figur positiv konnotiert werden, denn Emilia ist die einzige
Person in dem ganzen Stück, die in der Lage zu sein scheint, ihre Schuld an diesen
negativen Folgen bzw. dem Tod des Grafen zu erkennen und die überdem den Mut hat,
diese Schuld auch einzugestehen. In dieser Hinsicht erweist sich ihre Selbstsucht als
weniger beharrlich und kann man Emilia sogar als Opfer ihrer Lust bzw.
Empfindlichkeit, die sie auf Zeit verblendet haben, betrachten. Zeigt dies die Tücken
der aufklärerischen Gefühlskultur, in der der Mensch die zentrale Stelle einnimmt, so
verändert dies nicht an die Tatsache, dass Emilia sich egoistisch verhalten hat und,
indem sie die Hoffnung des Prinzen auf sie bloß angestachelt hat, unbewusst, aber
wesentlich an dem Tod des Grafen beigetragen hat.
Die Soldaten
Indem Lenz, wie sich schon an der Analyse des Egoismus im adligen Bereich
gezeigt hat, die traditionellen Rollen des Lessingschen bürgerlichen Trauerspieles völlig
umkehrt, erweist sich die bürgerliche Familie in Die Soldaten als intrigant und
90
Lessing: Emilia Galotti, S. 87.
52
betrügerisch. Besonders die Vaterfigur, Wesener, kann in dieser Hinsicht fast als
Pendant des Kammerherren Marinelli in Emilia Galotti betrachtet werden.
Erweist sich Wesener anfangs trotzdem als sehr tugendhafter Mann und zeigt er
eine aufrichtige Bekümmernis um seine Tochter Marie auf, so scheint die extreme
Dominanz in dem Umgang mit ihr, die man leicht als Tyrannei umschreiben könne,
seine Aufrichtigkeit schon zu verdächtigen. Indem er bei seinem Einzug in dem Haus
das Gespräch zwischen Marie und Desportes unterbricht und seiner Tochter ab diesem
Punkt unablässig den Mund zu verbieten versucht, lässt sich vermuten, dass das Wohl
bzw. Glück der Tochter nicht wirklich an die erste Stelle seiner Besorgnis kommt.
Vielmehr stellt sich die abweisende Haltung in der Diskussion über den Vorschlag
Desportes’, Marie auf seine Einladung in die Komödie zu führen, als Versuch, seine
Lieblingstochter für sich zu behalten, heraus. So lehnt er das anfängliche Argument des
Barons, seine Töchter alles Vergnügen versagen, sei ungesund und mache sie
melancholisch, kategorisch ab, indem er einwendet, dass einerseits die Arbeit Marie
wohl gesund halten wird, andererseits ihre Kamerädinnen seiner Tochter schon
Vergnügen
genug
verschaffen.91
Überdem
versucht
er
seinen
Standpunkt
folgendermaßen zu verstärken: „WESENER. […] Meine Tochter ist nicht gewohnt, in die
Komödie zu gehen, das würde nur Gerede bei den Nachbarn geben, und mit einem
jungen Herrn von den Milizen dazu.“92 Erweist sich dieses Argument, wegen der
raschen Aufeinanderfolge drei unterschiedlicher Begründungen, als verzweifelt und
daher auch schwach, so könne es doch einen besseren Einblick in die wirklichen
Besorgnisse des Vaters verschaffen. Einerseits legt Wesener einen großen Wert auf den
Äußeren, indem er sich sehr besorgt über das Bild, das die Außenwelt bzw. die
Nachbarn von seiner Tochter, und mithin auch von ihm und der ganzen Familie,
bekommen würde, falls Marie in die Komödie gehe, zeigt. Damit impliziert er aber
zugleich, dass er, wenn es keine Nachbarn geben würde, die sie verurteilen können, kein
Problem daraus machen würde. In dieser Hinsicht stellt sich der äußere Schein als eine
der wichtigsten Besorgnisse Weseners heraus: das Bild der tugendhaften Bürgerfamilie
ist ihrer tatsächlichen Tugendhaftigkeit offensichtlich überlegen. Daneben betont er,
dass auch Desportes’ Stelle als Militär für ihn ein Hindernis bildet. Damit bezieht
91
92
Lenz: Die Soldaten, S. 8-9.
Lenz: Die Soldaten, S. 9.
53
Wesener sich auf eine allgemeine Kümmernis dieser Epoche in Bezug auf den
Soldatenstand, die er selber folgendermaßen zusammenfasst:
WESENER. […] Einer ist so gut wie der andere, lehr du mich die jungen Milizen nit
kennen. Da laufen sie in alle Aubergen und in alle Kaffeehäuser, und erzählen
sich, und eh man sich’s versieht, wips ist ein armes Mädel in der Leute Mäuler.
[…]
MARIE. Papa. (Fängt an zu weinen.) Er ist auch immer so grob.
WESENER (klopft sie auf die Backen). Du musst mir das so übel nicht nehmen, du
bist meine einzige Freude, Narr, darum trag ich auch Sorge für dich.93
Aus diesem Zitat stellt sich eine zweite große Besorgnis des Vaters heraus: Indem er
seine Tochter auf unrafinierte Art und Weise vor den Verführungsversuchen des jungen
Militärs warnt, zeigt er einerseits ein Bemühen um die Wahrung der Tugend Maries,
andererseits eine auffällige Unempfindlichkeit für ihre Gefühle auf. In dieser Hinsicht
scheinen die beiden Väter, Wesener und Odoardo Galotti, einander zu ähneln, denn
beide erwecken den Eindruck, mehr an der Unschuld ihrer Töchter, als an ihrem Glück
interessiert zu sein. Die Rest des Zitats bestätigt diese These, indem Wesener seine
Tochter, die sich von seiner Grobheit sehr bestürzt gezeigt und zu weinen angefangen
hat, einfach auf die Wange schlägt (Die Härte dieses Schlages bleibt übrigens
dahingestellt.), und sagt, sie soll ihm das nicht übel nehmen, weil er nur für sie sorgen
will. Auf diese Art und Weise wird Marie infantilisiert und verliert sie, nicht nur
symbolisch, sondern im oben genannten Gespräch mit Desportes, in dem Wesener für
sie antwortet und ihr Anteil auf nur wenige Randbemerkungen beschränkt wird, auch
konkret, ihre eigene Stimme bzw. Wille. Besonders auffällig ist, dass Wesener Marie
„[s]eine einzige Freude“ nennt und seine Tochter in diesem Sinne weniger unpersönlich
bzw. sachlich als Odoardo in Emilia Galotti zu betrachten scheint. Obwohl man dies an
dem ersten Blick als persönlichere Auffassung seiner Tochter positiv bewerten könne,
gibt es mehrere Hinweise, die die oben genannte Benennung in ein schiefes Licht
stellen können. Zuerst gibt es die beiläufige Bemerkung des Vaters, die er Marie in
Bezug auf die Zitternadel, die ihr Desportes schenken will, macht: „WESENER (indem er
die andern einschachtelt, brummt etwas heimlich zu Marien). Zitternadel du selber,
sollst in deinem Leben keine auf den Kopf bekommen, das ist kein Tragen für dich. (Sie
schweigt still und arbeitet fort.)94 In diesem Zitat zeigt Wesener seiner Tochter heimlich
seinen Ärger über den offensichtlichen Verführungsversuch des Barons. Die
93
94
Lenz: Die Soldaten, S. 11.
Lenz: Die Soldaten, S. 10.
54
schmollende Bemerkung „Zitternadel du selber“ scheint aber vielmehr eines
eifersüchtigen Geliebten zu enstammen, als dass es als eine logische Reaktion eines
schützenden Vaters aufgefasst werden könne. Auch die darauf folgende Anmerkung,
Marie soll nie eine Zitternadel auf den Kopf tragen, die offenbar als Äußerung der
Widerwilligkeit, seine Tochter mit einem anderen Manne teilen zu müssen, ausgelegt
werden kann, scheint in Hinsicht auf das vorangehende Schmollen eher Teil eines
Gespräches zwischen Geliebten. Überdem könne auch die Verneinung von Marie als
Zeichen, dass die Bemerkung ihres Vaters etwas betrefft, worüber besser nicht geredet
wird bzw. nicht geredet werden darf, gedeutet werden.
Diese Suggestion einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter
gewinnt in den nächsten Auftritten wesentlich an Plausibilität, denn auch dort gibt es
jede Menge Hinweise, auf die, der Möglichkeit einer solchen Beziehung eingedenk,
keineswegs verzichtet werden kann. In erster Linie suggerieren die Handlungen der
beiden Personen eine abnormal große Zärtlichkeit in dem Umgang miteinander, indem
Emilia, wenn sie ganz geputzt hereintritt, Wesener sogleich um den Hals fällt und sich
ihm auf den Schoß setzt.95 Wenn auch der Vater sich weniger schmeichlerisch
gegenüber seiner Tochter verhält, so verrät auch sein Benehmen die oben genannte
Zärtlichkeit, die man als charakteristisch für eine Liebesbeziehung bezeichnen könne,
denn, in dem Moment, dass Marie ihm eingesteht, sie hat trotz seines ausdrücklichen
Verbotes, nicht mit Desportes in die Komödie zu gehen, genau dasjenige gemacht,
ähnelt Weseners Reaktion eher die eines verratenen Liebhabers, als die eines Vaters, der
sich über den Ungehorsam seiner Tochter enttäuscht zeigt:
MARIE. Ich kann’s Ihm nicht verhehlen, ich bin in der Komödie gewesen. Was das
für Dings ist.
WESENER (rückt seinen Stuhl vom Tisch weg, und kehrt das Gesicht ab). […] (stößt
sie von seinem Schoß). Fort von mir, du Luder, – willst die Mätresse vom Baron
werden?96
Die Bestürzung, die Wesener über Maries Ignorieren seines Verbotes aufzeigt, mutet
dermaßen übertrieben an, dass es kaum einem bloß enttäuschten Vater zugeschrieben
werden könne. Überdem gleicht, neben der Übertreibung, auch das Wesen seiner
Reaktion eher die eines betrogenen Geliebten, indem er Marie, mittels des Abkehrens
seines Gesichtes und des Wegstoßens der Tochter von seinem Schoß, vielmehr aus
95
96
Lenz: Die Soldaten, S. 15.
Lenz: Die Soldaten, S. 15-16.
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gekränkter Liebe von sich abzustoßen scheint, als dass er ihr, wie es einem richtigen
Vater geziemt, auf der Stelle eine Strafe auferlegt. Obwohl die Strafe kurz darauf
tatsächlich folgt, stellt auch diese sich im Nachhinein als eine Schutzmaßnahme, die er
zum Vorteil Maries ergriffen hat, heraus, denn, indem Wesener sie ohne Essen ins
Zimmer schickt, setzt er zugleich den Streit zwischen Marie und ihrer Schwester,
Charlotte, ein Ende.97 Auf diese Art und Weise weiß er die Tugend seiner
Lieblingstochter, die von Charlotte, die ihm durchaus nichts zu bedeuten scheint,
bedroht wurde, zu wahren:
CHARLOTTE. Das ist alles Mariel schuld. (Weint.) Die gottsvergessne Alleweltshure
will honette Mädels in Blame bringen, weil sie so denkt.
WESENER (sehr laut). Halt’s Maul! Marie hat ein viel zu edles Gemüt, als dass sie
von dir reden sollte, aber du schalusierst auf deine eigene Schwester; weil du nicht
so schön bist als sie, sollst du zum wenigsten besser denken. Schäm dich –98
In diesem Zitat verrät die Heftigkeit der väterlichen Reaktion aufs Neue das wirkliche
Verhältnis zwischen Wesener und Marie: Indem er Charlotte auf aggressive Weise den
Mund zu stopfen versucht, lässt sich vermuten, dass Wesener sich der Wahrheit dieser
Beschuldigung peinlich bewusst ist, oder dass sie ihn zumindest schwer kränkt. Die
außerordentliche Zärtlichkeit Marie gegenüber zeigt sich aber vor allem daran, dass der
Vater sich keineswegs davor scheut, seine am wenigsten beliebte Tochter mittels der
Bezichtigung, sie schwärzt Marie nur aus Eifersucht an, in einen üblen Ruf zu bringen,
wenn er dadurch den Schein von Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit, der über
seiner Lieblingstochter liegt, wahren könne. Außerdem scheint die Kaltherzigkeit
Charlotte gegenüber aus einem bitteren Ärger über die Tatsache, dass sie ihm genau
dasjenige aufzudecken versucht, was er nicht wahrhaben will, d.h. Maries
Heimlichkeiten mit dem Baron und ihr verführerisches Benehmen Männern gegenüber
im allgemeinen, hervorzugehen. In diesem Sinne benimmt sich Wesener auch bei
seinem verbalen Angriff an Charlotte, indem dieser als verzweifelten Versuch, die
Unschuld seiner Tochter bzw. Liebhaberin sich selbst gegenüber zu wahren, betrachtet
werden kann, als einen eifersüchtigen Geliebten.
Könne Maries verführerische Schmeichelei ihrem Vater gegenüber bis jetzt noch
immer als unschuldigen Versuch, Wesener mild zu stimmen, bevor sie ihm ihren Gang
in die Komödie aufdecken wird, bewertet werden, so spricht, neben das oben genannte
97
98
Lenz: Die Soldaten, S. 16.
Lenz: Die Soldaten, S. 16.
56
Benehmen des Vaters, auch der nächsten Auftritt, in dem der Vater Marie in ihrem
Zimmer aufsucht, um die Details der etwaigen Beziehung zwischen ihr und dem Baron
aus ihr herauszukriegen, gegen diese Deutung. Liest man ihn in Hinsicht auf den oben
genannten Versuch Weseners, seine Lieblingstochter für ihn allein zu behalten,
einerseits, und die Möglichkeit einer inzestuösen Beziehung zwischen Vater und
Tochter andererseits, so weist schon die erste Frage des Vaters vielmehr die Eifersucht
eines Geliebten, als die aufrichtige Besorgtheit eines Vaters auf: „WESENER. […] Hör,
Mariel! du weißt, ich bin dir gut, sei du nur recht aufrichtig gegen mich, es wird dein
Schade nicht sein. Sag mir, hat dir der Baron was von der Liebe vorgesagt?“99 Diese
Kümmernis Weseners, Desportes hätte Marie vielleicht „was von der Liebe vorgesagt“,
könne man zweifach auffassen: Einerseits stellt sich die Angst, der Baron hätte seiner
Tochter das Wesen einer aufrichtigen Liebesbeziehung aufgedeckt und ihr eventuell den
schändlichen Charakter der inzestuösen Beziehung mit ihrem Vater erklärt, heraus, was
das Ende dieser Beziehung bedeuten würde; andererseits könne man ‚jemandem was
von der Liebe vorsagen’ als ‚mit jemandem (in sexuellem Sinne) intim sein’ auffassen
und erweist sich in dieser Hinsicht die Angst, Wesener müsse seine Tochter mit einem
anderen Manne teilen bzw. verliere sie an diesem anderen Mann. Welche Interpretation
man auch wählt, die Bekümmernis des Vaters, um Marie, von anderen Männern
möglichst weit entfernt, für sich selbst zu behalten, schimmert immer wieder durch. Ein
letzter Hinweis auf die Liebesbeziehung zwischen Vater und Tochter folgt kurz darauf,
indem Marie ihrem Vater noch scheinbar sittsam bis auf zweimal die Hand küsst,
Wesener seiner Tochter aber auch zurückküsst.100 Weil auch hier, genau wie bei dem
Schlag, den er Marie nach seiner groben Warnung für die Verführungsversuche des
Militärs versetzt hat, das Wesen der Küsse dahingestellt bleibt, darf man die
Möglichkeit, diese Küsse seien feurig bzw. leidenschaftlich, in Hinsicht auf die oben
erwähnte Menge Hinweise auf eine inzestuöse Beziehung zwischen Wesener und seiner
Tochter, keineswegs ausschließen.
Neben dieser potentiell leidenschaftlich liebenden Seite des Vaters, zeigt sich in
diesem Auftritt auch die damit kontrastierende, berechnendere, noch eindeutiger
egoistische Seite Weseners, die aufs Neue verrät, dass das Wohl seiner Tochter seinem
eigenen Nutzen ständig unterlegen ist. Nachdem der Vater während des ganzen ersten
99
Lenz: Die Soldaten, S. 17.
Lenz: Die Soldaten, S. 18.
100
57
Aktes alles darangesetzt hat, Marie davon zu überzeugen, einen Abstand zwischen ihr
und Desportes, den er offensichtlich als Konkurrent in dem Ringen um die Liebe seiner
Tochter betrachtet, zu wahren, scheint Wesener auf einmal seinen eigenen Vorteil in
den aufrichtigen Liebesbeteuerungen des Barons zu erkennen. Indem Marie ihrem Vater
die bedingunglose Anbetung des Barons bis in die kleinsten Details aufdeckt und ihm
anhand des Gedichtes und der Zitternadel, die Desportes ihr heimlich geschenkt hat,
zeigt, wie viel dieser Militär für seine Tochter opfern würde, denkt Wesener sich einen
Plan aus, den man auf den ersten Blick durchaus einer kupplerischen Mutterfigur
zuschreiben könne:
WESENER. […] [D]u kannst nur immer allesfort mit ihm in die Komödie gehn, nur
nimm jedes Mal die Madame Weyher mit, und lass dir nur immer nichts davon
merken, als ob ich davon wüsste, sondern sag nur, dass er’s recht geheim hält, und
dass ich sehr böse werden würde, wenn ich’s erführe. Nur keine Präsente von ihm
angenommen, Mädel, um Gottes willen! […] Kannst noch einmal gnädige Frau
werden, närrisches Kind. Man kann nicht wissen, was einem manchmal für ein
Glück aufgehoben ist.
MARIE. Aber, Papa, (etwas leise) was wird der arme Stolzius sagen?
WESENER. Du musst darum den Stolzius nicht so gleich abschrecken, hör einmal. –
Nu, ich will dir schon sagen, wie du den Brief an ihn einzurichten hast.101
Obwohl Wesener das Glück seiner Tochter an die erste Stelle zu setzen scheint, lassen
die offensichtlichen negativen Folgen bzw. Aussichte des Planes und das daraus
folgende, fast unvermeidbare blutige Ende vermuten, dass ein böser Wille des Vaters
trotzdem mit im Spiel ist. Um ihr Glück besser zu machen, regt er seine Tochter dazu
an, sowohl Desportes, der sich bereit zeigt, alles aufzugeben, um sie für sich zu
gewinnen, wie auch Stolzius, dem Marie eigentlich versprochen ist, hinzuhalten. Auf
diese Weise könne Marie eine günstige Gelegenheit abpassen, um letztendlich den
Liebhaber zu wählen, der für sie am meisten von Vorteil sein wird. Wie uneigennützig
dieser Ratschlag des Vaters auch erscheinen mag, die plötzliche Nachsicht, die Marie
einen häufigen Umgang mit dem Baron unter bestimmten Bedingungen erlaubt, gibt
Anlass zu einem Verdacht gegen den auffällig nachgiebigen Bürgermann. Vor allem die
Bedingung, Desportes soll überhaupt nichts von Weseners Mitwissen seiner
Verführungsversuche erfahren, kann als wesentliche Komponente eines falschen Planes,
Marie, trotz der Vorgabe des Vaters, nur aus Versicherung des größtmöglichen Glückes
für seine Tochter zu handeln, für sich selbst behalten zu können, gedeutet werden. In
101
Lenz: Die Soldaten, S. 18.
58
diesem Sinne hält Wesener dem oben erwähnten Vergleich mit einer typischen
Mutterfigur nicht stand, denn sein Plan, der anfangs wegen der Absicht, aus den
Liebhabern einen möglichst großen sozialen bzw. wirtschaftlichen Vorteil zu ziehen,
dem unbedachtsam naiven, kupplerischen Versuch der Mutterfigur zu ähneln scheint,
erweist sich nicht im Geringsten als naiv und kupplerisch. Indem er mittels der oben
genannten Bedingung das Versprechen seiner Tochter, seine Kenntnis ihres Umganges
mit dem Baron und infolgedessen auch den Ratschlag bzw. Plan niemandem
aufzudecken, zu erzwingen weiß, vermeidet Wesener den Verdacht, den sowohl
Stolzius, wie auch Desportes, falls sie von diesem Gespräch Kenntnis hätten, gegen ihn
hegen würde. Denn, wie Marie keineswegs zu erkennen scheint, ist die Bekümmernis
des Vaters um ihr Glück im Grunde ein Versuch, den Argwohn der beiden Liebhaber
gegeneinander zu erwecken. In dieser Hinsicht ist die Geheimhaltung seiner Kenntnis
der Verführungsversuche des Barons für Wesener aus einem zweiten Grund
lebenswichtig, weil Desportes, neben dem etwaigen Schöpfen eines Verdachtes gegen
ihn, auch keineswegs durch den überbehütenden, strengen und fast feindseligen Vater,
mit dem er kurz davor konfrontiert worden ist, abgeschreckt werden soll, damit er diese
Verführungsversuche nicht einstellen wird. Daneben darf auch „de[m] arme[n]
Stolzius“ nicht sogleich jede Hoffnung auf Marie geraubt werden, sodass er sich
genauso bereit zeigen würde wie Desportes, um die Liebe seiner Tochter zu kämpfen.
Nachdem er mittels der Bedingungen, die er seiner Tochter gestellt hat, schon die
Kontrolle über die Beziehung zwischen Marie und Desportes gewonnen hat, zeigt
Wesener, indem er auch den Briefwechsel seiner Tochter mit Stolzius seiner ‚Zensur’
unterwerfen will, einen Hang zu absoluter Kontrolle auf, der man als Ausbauversuch
der oben genannten väterlichen Tyrannei bewerten könne. Dass das Wohl Maries dabei
überhaupt keine Rolle spielt, erweist sich aus dem Desinteresse an dem unverkennbaren
Verdacht, der Stolzius, wenn er den wirklichen Umfang und Ernst ihres Umganges mit
dem Baron erfahre, in Hinsicht auf das (von ihrem Vater eingeredetes) Herunterspielen
bzw. Verheimlichen ihrer Beziehung mit Desportes, gegen sie hegen würde. Überdem
spricht auch die doppelte Moral, die aus dem Kontrast zwischen dem Anfang des
Gespräches, in dem er Marie fragt „recht aufrichtig gegen [ihn]“102 zu sein, und seinem
Ende, in dem diese Aufrichtigkeit in Bezug auf den Umgang mit dem Baron Stolzius
102
Lenz: Die Soldaten, S. 17.
59
gegenüber
unter
dem Vorwand, ihn
nicht
unnötig
zu beunruhigen,
nicht
notwendigerweise eingehalten werden soll, hervorgeht, wesentlich gegen die
Ehrlichkeit und Tugendhafitgkeit des Vaters. Schließlich zeigt sich aus diesem Zitat
besonders gut, dass Wesener den Vergleich mit Marinelli, auf den schon am Anfang der
Analyse dieser Vaterfigur kurz hingewiesen wurde, leicht aushält, und zwar in dem
Sinne, dass sich Wesener, indem er einen ‚unschuldigen’ Gespräch, in dem er seine
Tochter aus scheinbar guten Absichten berät und ihr seine Hilfe bei dem Schreiben
eines Briefes an Stolzius anbietet, in eine erfolgreiche Überzeugung seiner Tochter, sich
seinen trügerischen Plan zu ihrem eigenen Nachteil völlig zu widmen, umzuwandeln
weiß, als begnadeter Redner, den es gelingt, die andere Personen mittels seiner
täuschenden Sprache immer wieder zu seinem eigenen Nutzen zu ge- bzw.
missbrauchen, erweist.
Die These, Wesener versucht seine Tochter in dem oben stehenden Zitat mittels
der Täuschung dazu zu bringen, seinen Plan, Stolzius und Desportes gegeneinander
aufzuhetzen, damit sie einander erledigen werden, unwissentlich zu unterstützen,
gewinnt wesentlich an Plausibilität, indem auch die Handlungen des Vaters während
des Restes des Stückes in Hinsicht auf einen solchen Plan leicht gedeutet werden
können. So erweist sich seine außerordentliche Besorgnis über das plötzliche
Verschwinden des Barons als Bekümmernis um die Wahrung des Rufes seiner Familie
einerseits, um das Gelingen seines Planes andererseits:
JUNGFER ZIPFERSAAT. Das wird meinem Vetter eine große Freude machen, Herr
Wesener, wenn Sie es auf sich nehmen wollen, den guten Namen vom Herrn
Baron zu retten.
WESENER. Ich geh mit Ihr, den Augenblick. (Sucht seinen Hut.) Ich will den Leuten
das Maul stopfen, die sich unterstehen wollen, mir das Haus in übeln Ruf zu
bringen, versteht Sie mich.103
WESENER. Wenn er fort ist, so muss er wiederkommen[.] […] Ich kenne das Haus
seit länger als gestern, sie werden doch das nicht wollen auf sich sitzen lassen.
Kurz und gut, schick herauf zu unserm Notarius droben, ob er zu Hause ist, ich
will den Wechsel, den ich für ihn unterschrieben habe, vidimieren lassen, zugleich
die Kopie von dem Promesse de Mariage und alles den Eltern schicken.104
Die Zitate zeigen die Aktionen, die Wesener nach der Flucht des Barons vor seinen
Schulden unternimmt. Wie sich schon aus der oben erwähnten eheren Konfrontation
zwischen Wesener und Desportes erwiesen hat und in dem ersten Zitat erneut bestätigt
103
104
Lenz: Die Soldaten, S. 35.
Lenz: Die Soldaten, S. 37.
60
wird, betrifft die erste Bekümmernis des Vaters das Bild der Tugendhaftigkeit seiner
Familie der Öffentlichkeit gegenüber. Dass ein solches Bild für Wesener etwas
oberflächliches ist, bei dem der äußerliche Schein prävaliert, zeigt sich an die allzu
rasche Annahme, er brauche nur die Schulden des Barons zu bezahlen, um den guten
Ruf seiner Familie zu retten, bei der er zu vergessen scheint, dass auch die Tatsache,
Desportes führt seine Tochter in die Komödie, während sie schon Stolzius versprochen
ist, oder sein ziemlich grob formuliertes Vorhaben, diejenige, die den guten Ruf seiner
Familie zu gefährden wagen, das Maul zu stopfen, demselben guten Ruf schon
geschadet haben können. Daneben scheint sich Wesener auch um die Versicherung
einer Rückkehr des Barons sehr zu kümmern, was sich, in Hinsicht auf sein
eifersüchtig-feindseliges Verhalten in der Diskussion mit Desportes über seine
Einladung, Marie in die Komödie zu führen, zumindest als auffällig bzw. erstaunlich
herausstellt. Bewerte man das große Bemühen um diese Rückkehr als uneigennütziger
Versuch, seine Tochter mit einer Wiedervereinigung mit ihrem neuen Geliebten zu
beglücken, so könnte man aufgrund desselben zweiten Zitats schon mehrere Einwände
dagegen erheben. Erstens gibt es den Zwang, den er dem Eltern des Barons, indem er
ihnen die Dokumente, die ihren Sohn gesetzlich mit seiner Tochter verbinden, schicken
will, aufzuerlegen versucht. Dabei könne der explizit erwähnte ‚Promesse de Mariage’
als wichtigster Grund für eine Verdächtigung des Vaters angeführt werden. Nicht nur
scheint es äußerst unwahrscheinlich, dass eine gezwungene Heirat Marie, die, wie sich
später zeigen wird, auf der Suche ist nach einer selbstständigen Liebe, die nicht von
einer äußeren Instanz, wie u.a. den Vater, bestimmt wird, wirklich glücklich machen
kann, auch die Tatsache, dass Marie einerseits dem Tuchhändler Stolzius versprochen
ist, andererseits von Desportes die Heirat verheißt worden ist, scheint zum Mindesten
problematisch. Zweitens kontrastiert ein solcher Altruismus stark mit dem früheren
Befund, Wesener versucht sein großes Bemühen um den eigenen Nutzen der Außenwelt
gegenüber als eine Bekümmernis um den Ruf bzw. das Wohl seiner Familie oder seiner
Tochter darzustellen. In dieser Hinsicht könne auch die übertriebene Mühe, die Wesener
sich gibt, um Desportes unter den Zwang seiner Eltern mit Marie wieder zu vereinen,
als Versuch, die Gerüchteküche über eine etwaige Beziehung zwischen dem Baron und
seiner Tochter kochen zu lassen, aufgefasst werden. Dabei erweist sich die Offenbarung
des ‚Promesse[s] de Mariage’ des Barons als unverzichtbarer Reiz der Eifersucht
61
Stolzius’, die schließlich Anlass zu der Konfrontation zwischen den beiden Liebhaber,
in der Stolzius sowohl Desportes, wie auch sich selbst erledigt und auf diese Weise
Wesener das Feld überlässt, geben wird.
In diesem Sinne lassen sich schließlich auch die überproportionalen Reaktionen
des Vaters auf das Verschwinden und die letztendliche Wiedererkennung Maries,
besonders im Kontrast zu dem kalten, fast gleichgültigen Benehmen seiner anderen
Tochter, Charlotte, gegenüber, als die extreme Empfindsamkeit eines leidenschaftlichen
Geliebten bewerten. So ruft Wesener, wenn er die Nachricht der Flucht Maries
bekommt, folgendes aus: „WESENER. Marie fortgelaufen –! Ich bin des Todes.“105 Der
verzweifelte Ausruf bildet einen krassen Gegensatz zu folgender späteren Szene, in der
der Vater, über seiner Besorgnis um den Verlust seiner geliebten Tochter, Charlotte, die
ihn nur zu trösten versucht, unverschämt unterbricht: „WESENER. Es ist alles umsonst.
Sie ist nirgends ausfindig zu machen. (Schlägt in die Hände.) Gott! – wer weiß, wo sie
sich ertränkt hat! CHARLOTTE. Wer weiß aber noch, Papa – WESENER. Nichts.“106 Wie sich
auch schon aus dem Zitat, in dem Wesener Marie gegen die Beschuldigung Charlottes
feurig zu verteidigen versucht, gezeigt hat, scheint der Vater nur eine seiner Tochter
zärtlich zu lieben. Auch hier gibt es einen auffälligen Gegensatz zwischen seinem
Verhalten gegenüber Marie, deren Verschwinden ihn bis zum Tode betrübt, und dem
gegenüber Charlotte, die er zuerst über seinen extremen Fokus auf Marie zu vergessen
scheint und danach, aus völligem Desinteresse an ihrer Meinung, einfach unterbricht.
Überdem setzt Wesener mit dieser Unterbrechung die Rolle Charlottes in dem Rest des
Stückes ein resolutes Ende, indem sie nach dieser Szene weder auftritt noch von
anderen Personen erwähnt wird. Zum Schluss erweist sich auch die ‚Anagnorisis’, in
der Vater und Tochter bzw. die zwei Geliebten einander letztendlich zurückfinden, als
symptomatisch für den oben genannten Kontrast einerseits, für die These einer
inzestuösen Beziehung zwischen Vater und Tochter andererseits: „WESENER (schreit
laut). Ach meine Tochter! MARIE. Mein Vater! (Beide wälzen sich halb tot auf der Erde.
Eine Menge Leute versammlen sich um sie, und tragen sie fort.)“107 Vor allem die
Intimität und die immense Freude, die von dem gemeinsamen herumwälzen auf der
105
Lenz: Die Soldaten, S. 54.
Lenz: Die Soldaten, S. 55.
107
Lenz: Die Soldaten, S. 64.
106
62
Erde ausgeht, bietet eine Liebesbeziehung zwischen Wesener und Marie als möglichen
Grund für die nur nebensächliche Bedeutung der anderen Tochter, Charlotte, an.
Obwohl viele Argumente und Hinweise, die in dieser Analyse der Vaterfigur in
Die Soldaten vorgebracht worden sind, an den ersten Blick vielleicht wenig mit einem
egoistischen Verhalten Weseners zu tun haben scheinen, erweisen sie sich, in Hinsicht
auf folgenden Gesamteindruck, den sie zusammen von dem Vater bilden, meiner
Meinung nach alle als unverzichtbar: Indem Wesener alles daransetzt, seine Tochter
Marie, im Rahmen einer inzestuösen Beziehung mit ihr, aus den ‚Klauen’ zweier
Männer, die sie aufrichtig zu lieben scheinen, zu halten, erweist sich Wesener als ein
wahrer Egoist. Die Beharrlichkeit und Rücksichtlosigkeit dieser Selbstsucht zeigt sich
daran, dass er, indem er Marie unter dem Vorwand, auf diese Weise ihr eigenes Glück
bessern
zu
können,
zur
Gehilfin
seines
Planes
macht,
die
öffentliche
Verführungsversuche Desportes’ gegen die Eifersucht Stolzius’ auszuspielen, um so
seiner Beziehung mit seiner Tochter den Weg zu ebnen. Wie sich am Ende zeigt, gilt
seine Interesse dabei einseitig dem Besitz seiner Tochter; die negativen Folgen seiner
schlauen Intrige, d.h. der Tod des Barons und Stolzius’ und die Tatsache, dass er Marie
auf diese Art und Weise zur Sklave seiner Liebe macht, scheinen ihm nicht im
Geringsten zu interessieren.
Daneben zeigt auch das tugendhafte Bürgermädchen, Marie, das man in erster
Linie als Opfer der väterlichen Intrige bewerten könne, eine egoistische Lebenshaltung
auf, auch wenn sich diese, in Gegensatz zu der kalten, berechneten Selbstsucht
Weseners, als viel naiver bzw. impulsiver erweist. Wie man, allerdings heutzutage, von
einem Mädchen, das sich gerade in der Übergangsphase von Kindheit nach
Erwachsensein befindet, erwarten könne, scheint diesen Egoismus aus einer Auflehnung
gegen die elterliche, und insbesondere die väterliche, Autorität, die, wie sich oben
gezeigt hat, erstickend wirkt, zu entspringen. Ähnlich wie bei Emilia Galotti, nimmt
auch hier das Streben nach Befriedigung der erwachenden, sexuellen Gefühle eine
zentrale Stelle in der Selbstsucht des Bürgermädchens ein.
Diese Analyse der Bürgertochter Marie gründet sich völlig auf den oben
erwähnten Leitgedanke, sie befindet sich auf sowohl physischer, wie auch mentaler
Ebene in der Mitte der Übergangsperiode von der Kindheit nach dem Erwachsensein,
63
auf den in dem Laufe des Dramas mehrmals hingewiesen wird. So führt Marie, indem
sie die Verführungsversuche des Barons am Anfang abzulehnen versucht, selbst den
folgenden Grund an: „MARIE (wieder auf ihre Arbeit sehend). Meine Mutter hat mir
doch oft gesagt, ich sei noch nicht volkommen ausgewachsen, ich sei in den Jahren, wo
man weder schön noch hässlich ist.“108 In diesem Zitat wird die oben genannte
Übergangsphase, und zwar ihr körperlicher Aspekt, schon am Anfang des Stückes
explizit erwähnt. Wie Frau Wesener laut Marie gesagt hätte, ist Marie körperlich noch
nicht völlig erwachsen. Ihre zweite Bemerkung, dass ihre Tochter „weder schön noch
hässlich ist“, weist, neben dem schon erwähnten expliziten, körperlichen Aspekt, auch
einen impliziten, mental-sexuellen auf. Indem die Mutter mittels dieser Beobachtung
die angehende Schönheit und Sexualität ihrer Tochter zumindest zeitweilig zu
unterdrücken versucht, stellt sich diese Bemerkung als sowohl den Körper, wie auch
den Geist, d.h. die erwachenden (Liebes-)Gefühle dem männlichen Geschlecht
gegenüber, betreffend heraus. Hierauf wird aber später noch tiefer eingegangen. Zuerst
muss einer logischen Folge dieser Übergangsphase, die für die Erklärung des manchmal
eigenartigen Verhaltens Maries von ausschlaggebender Bedeutung ist, besondere
Aufmerksamkeit gewidmet werden: Weil Marie weder Kind noch Erwachsene ist, so
wäre es logisch, dass ihr Benehmen Charakteristiken der beiden Altersklassen aufzeigen
würde. Tatsächlich scheint sich der Einfluss dieser Übergangsperiode in einem
doppeldeutigen, gespaltenen Verhalten zu äußern. Wie sich im Folgenden zeigen wird,
benimmt sich Marie je nach Situation entweder wie ein wahres Kind, oder wie eine
wahre Erwachsene. Auffällig ist aber, dass beide Verhaltensweisen von einer
(scheinbar) jeweiligen Form der Selbstsucht gekennzeichnet werden.
Indem Marie schon in dem allerersten Auftritt ein durchaus kindisches Benehmen
aufzeigt, wird es dem Publikum bzw. Leser besonders klar gemacht, dass Marie noch
ein Kind ist. So erweist sich aus ihrer Bitte um die Hilfe ihrer Schwester, Charlotte, bei
dem Schreiben eines Briefes an Stolzius, eine naive Unschuld, die fast nur einem Kind
zugeschrieben werden könne: „MARIE (mit untergestütztem Kopf einen Brief
schreibend). Schwester, weißt du nicht, wie schreibt man Madame, M a ma, t a m m
tamm, m e me.“109 Nicht nur die Tatsache, dass sie ‚Madame’ ausführlich buchstabieren
muss, bevor sie es ‚richtig’ schreiben kann, sondern auch die Art und Weise, auf die sie
108
109
Lenz: Die Soldaten, S. 8.
Lenz: Die Soldaten, S. 5.
64
„mit untergestütztem Kopf“ dasitzt, vermitteln das Bild eines kindlich-naiven
Bürgermädchens, dem erwachsene Tätigkeiten, wie in diesem Fall das Briefeschreiben,
noch sehr fremd bzw. schwierig zuscheinen. Auch der kleine Streit, den Marie zuerst
über die geringste Bemerkung ihrer Schwester, nach der sie übrigens selbst gefragt hat,
und später über das Ende des Briefes, das sie Charlotte nicht zeigen will, anfängt,
verleiht diesem Bild Nachdruck:
MARIE. Das Übrige geht dich nichts an. Sie will allesfort klüger sein, als der Papa;
letzthin sagte der Papa auch, es wäre nicht höflich, wenn man immer wir schriebe,
und ich und so dergleichen. […]
CHARLOTTE. Sie wollt mir den Schluss nicht vorlesen, gewiss hat Sie da was
Schönes vor den Herrn Stolzius.
[…]
MARIE. Hör, Lotte, lass mich zufrieden mit dem Stolzius, ich sag dir’s, doch ich
geh gleich herunter, und klag’s dem Papa.
[…]
MARIE. Lotte. (Fängt an zu weinen und läuft herunter.)110
Aus diesem Zitat zeigt sich nicht nur die kindlich-provozierende Haltung der beiden
Schwester einander gegenüber, auch erweist sich Maries bevorzugte Position bei ihrem
Vater zugleich als Grund ihrer Macht über Charlotte und als Ausgangspunkt ihres
kindlich-egoistischen Verhaltens. Mit anderen Worten könne man behaupten, dass
Marie auf selbstsüchtige Art und Weise, d.h. ohne Rücksicht auf die etwaigen negativen
Folgen für andere Personen, und insbesondere für ihre Schwester, zu nehmen, ihre
Stellung der ‚fille à papa’ ausnutzt, um die Auseinandersetzungen mit Charlotte, in den
sie öfter Bemerkungen bzw. Beobachtungen macht, die Maries Schein von
Vollkommenheit der Außenwelt gegenüber durchbrechen würden, zu ihrem Vorteil
ausschlagen zu lassen. Dass ihre Macht allerdings auf die Vorliebe Weseners für sie
beruht, zeigt sich daran, dass Marie in jedem Einwand, den sie in dem oben stehenden
Zitat gegen Charlottes neckische Bemerkungen über ihre Liebe für bzw. Liebelei mit
Stolzius erhebt, ihren Papa, die sie offensichtlich als die höchste Autorität auf allen
Gebieten, wie hier z.B. in dem Bereich des Briefeschreibens, aufwertet, als eine
Warnung an die Adresse ihrer Schwester erwähnt. Wie sich aus dem Ende des Zitats
herausstellt, beschränkt das Bürgermädchen sich nicht auf bloße Drohung; Indem Marie
sich möglichst kindisch benimmt und weinend zu ihrem Vater herunterläuft, versucht
sie tatsächlich ihre kindliche Unschuld und die bevorzugte Position bei ihrem Vater
110
Lenz: Die Soldaten, S. 5-6.
65
auszunutzen, um Charlotte, wegen ihrer Bedenken zu dieser Unschuld, in einen üblen
Ruf zu bringen, während sie als Opfer dieses (scheinbar) unbegründeten Angriffes von
Wesener geschont wird. Schließlich bildet dieses durchaus kindliche Verhalten Maries
in diesem Streit einen krassen Kontrast zu dem Gegenstand der Auseinandersetzung: ein
Flirt bzw. Liebesbeziehung mit dem Tuchhändler Stolzius. Diese Beobachtung gibt
Anlass zu der oben genannten, entgegengesetzten Seite der Persönlichkeit des
Bürgermädchens, die auch in der darauf folgenden Szene stärker hervortritt.
Indem Marie einerseits die Komplimente des Barons Desportes aufgrund ihrer
Unreife, die sie, wie sich oben schon gezeigt hat, von ihrer Mutter eingeredet worden
ist, abzulehnen versucht, sich andererseits, wenn auch Wesener sich in das Gespräch
mischt, sehr willig zeigt, sich von dem Baron in die Komödie führen zu lassen, erweist
sich ein Verhalten, das man zumindest als Liebelei betrachten muss und schwerlich dem
unschuldigen Kind aus dem ersten Auftritt zuschreiben könne. Dies lässt vermuten, dass
Marie das kindliche Benehmen, das sie besonders in dem Umgang mit ihrer Familie
aufzeigt, nur schauspielert und als Strategie verwendet, um ihre Unschuld der
Öffentlichkeit gegenüber und ihre bevorzugte Position bei dem Vater zu wahren. In
diesem Sinne erweist sich Marie vielmehr als gerissene junge Erwachsene, die sich ihrer
Sexualität bewusst zu werden anfängt und ein erwachendes Interesse an dem
männlichen Geschlecht aufzuzeigen beginnt, als dass man sie als unschuldiges bzw.
unwissendes Kind betrachten kann, wie folgendes Zitat besonders verdeutlicht: „([…]
Marie winkt Desportes lächelnd zu.) […] (Marie lächelt, und sobald der Vater
beschäftigt ist, eine herauszunehmen, winkt sie ihm zu.)111 Zeige sich schon aus ihrem
Versuch, die Einwände ihres Vaters gegen einen Gang mit Desportes in die Komödie
feurig zu widerlegen, ein bestimmtes Bedürfnis nach Kontakt mit dem anderen
Geschlecht, so unterliegt es, dem Verhalten des Bürgermädchens in diesem Zitat nach
zu urteilen, keinem Zweifel, dass Marie sich durchaus ihres Verführungspotenzials
bewusst ist und es auch aktiv anwendet, um, in diesem Fall, Desportes zu verführen und
auf diese Weise ihren erwachenden Bedarf an der Aufmerksamkeit des männlichen
Geschlechtes zu befriedigen. In dieser Hinsicht könnte auch die Bemerkung Weseners,
Marie „hat immer rote Backen“112, statt eines Zeichens der Gesundheit, als Hinweis auf
ihren beständigen Liebes- bzw. sexuellen Wunsch bewertet werden. Je offensichtlich
111
112
Lenz: Die Soldaten, S. 10.
Lenz: Die Soldaten, S. 8.
66
der Verführungsversuch des Bürgermädchens dem Baron gegenüber ist, desto sicher
versucht sie ihre Absichte vor dem Vater zu verbergen. Wie sich aus dem Zitat
herausgestellt hat, passt Marie behutsam eine günstige Gelegenheit ab, um Desportes
hinter Weseners Rücken verführen zu können. Dieses Benehmen kann man mit dem
paradoxen Ende der Szene verbinden, in dem Marie in ihrer eheren Infantilität zu
verfallen scheint:
MARIE. Papa. (Fängt an zu weinen.) Er ist auch immer so grob.
WESENER (klopft sie auf die Backen). Du musst mir das so übel nicht nehmen, du
bist meine einzige Freude, Narr, darum trag ich auch Sorge für dich.
MARIE. Wenn Er mich doch nur wollte für mich selber sorgen lassen. Ich bin doch
kein klein Kind mehr.113
Wie die anfängliche Reaktion Maries auf die Warnung Weseners vor den
Verführungsversuchen des Militärs zeigt, versucht das Bürgermädchen ihrem Vater
gegenüber ständig die Rolle des unschuldigen Kindes, die die Basis sowohl ihres
Machtes Charlotte gegenüber, wie auch ihrer Tugendhaftigkeit der Öffentlichkeit
gegenüber bildet, zu spielen. Um diese beide zu behalten, darf ihre Kindlichkeit aber
keinem Zweifel unterliegen und muss Maries Streben nach der Befriedigung ihres
Liebes- bzw. sexuellen Wunsches hinter dem Rücken des Vaters geschehen.
Paradoxerweise untergräbt Marie ihr unschuldiges kindlich-naives Bild schließlich
selbst, indem sie explizit und in Gegenwart des Vaters ihren Wunsch, für sich selbst
sorgen zu dürfen, mit dem Einwand, sie ist kein kleines Kind mehr, begründet. In dieser
Hinsicht erweist sich das Streben nach völliger Autonomie auf der Ebene der Liebe
bzw. Sexualität als die wichtigste Motivierung ihres doppeldeutigen Verhaltens. Mit
anderen Worten versucht Marie, ohne die Gunst ihres Vaters und der Öffentlichkeit zu
verlieren, heimlich zu einer emotionellen bzw. sexuellen Entfaltung zu gelangen.
Ab diesem Punkt verliert dieses Streben des Bürgertochters, da eine solche
heimliche Entfaltung sich, indem Wesener Maries Einwände in der vorhergehenden
Diskussion mit Desportes, genau wegen ihrer Kindlichkeit, nicht ernst nimmt und
demzufolge die Einladung des Barons, seine Tochter in die Komödie zu führen,
kategorisch ablehnt, als unwirksam herausstellt, wesentlich an Subtilität. Wie sich schon
aus der Analyse der Vaterfigur gezeigt hat, weist Maries ‚kindliches’ Verhalten ihrem
Vater gegenüber, indem sie sich, um seine Gnade wegen der Ignorierung oben
genanntes Verbotes zu flehen, nacheinander um den Hals fällt, sich auf seinen Schoß
113
Lenz: Die Soldaten, S. 11.
67
setzt114 und ihm später in ihrem Schlafzimmer mehrmals die Hand küsst115, allmählich
mehr Charakteristiken eines Verführungsversuches bzw. einer Liebelei auf. In dieser
Hinsicht scheint Marie dasjenige, was Wesener als eine inzestuöse Liebesbeziehung mit
seiner Tochter auffasst und wofür er schließlich, zwar auf indirekte Art und Weise,
mehrere Menschen in den Tod treibt, vielmehr als heimlichen und ‚erwachseneren’
Besteckungsversuch, Wesener mittels ihrer wichtigsten Waffe, die Verführung, auf
ihrer Seite zu halten, damit ihre Tugend durch seine Autorität gewahrt würde, zu
betrachten.
Das einzige kindliche Merkmal, das Marie während des ganzen Stückes aufzeigt,
das man aber den Geschlechtscharakteren des 18. Jahrhunderts nach auch einfach als
typisch weibliches Merkmal bewerten könne, ist ihre (scheinbare) Naivität, die den
Schein des Unschuldes der Bürgertochter wesentlich fördert. Auch diese erweist sich
u.a. aus der oben genannten Konfrontation zwischen Marie und ihrem Vater in dem
Schlafzimmer:
MARIE (küsst ihm die Hand). Gute Nacht, Pappuschka! – (Da er fort ist, tut sie
einen tiefen Seufzer, und tritt ans Fenster, indem sie sich aufschnürt.) Das Herz ist
mir so schwer. Ich glaube, es wird gewittern die Nacht. Wenn es einschlüge –
(Sieht in die Höhe, die Hände über ihre offene Brust schlagend.) Gott! was hab
ich denn Böses getan? – – Stolzius – ich lieb dich ja noch – aber wenn ich nun
mein Glück besser machen kann – und Papa selber mir den Rat gibt, (zieht die
Gardine vor) trifft mich’s, so trifft mich’s, ich sterb nicht anders als gerne.
(Löscht ihr Licht aus.)116
Dieses Zitat bildet eine besonders gute Zusammenfassung des Bürgermädchens
Charakters. So scheint den tiefen Seufzer der Erleichterung, den sie nach dem Aufbruch
ihres Vaters von sich gibt, wiederum darauf hinzuweisen, dass Marie sich Mühe
machen muss, den Schein der kindlichen Unschuld vor Wesener zu wahren. In diesem
Sinne scheint sich Marie, indem sie die Idee der Möglichkeit einer Besserung ihres
Glückes, wegen der sie Stolzius vorübergehend hinhalten soll, völlig ihrem Vater
zuschreibt, sich der Bösheit dieses Ratschlages aber offensichtlich unbewusst zeigt,
auch während des Restes des Zitats als die naive ‚fille à papa’ aus dem ersten Auftritt zu
erweisen. Auf diese Art und Weise weiß sie einer etwaigen Beschuldigung der
Mittäterschaft an dem Plan Weseners zu entkommen und überdem ihrem Vater die
114
Lenz: Die Soldaten, S. 15.
Lenz: Die Soldaten, S. 18.
116
Lenz: Die Soldaten, S. 18.
115
68
Verantwortlichkeit für den späteren Tod des Barons und Stolzius’ völlig in die Schuhe
zu schieben. In Hinsicht auf die auffällig positiven Folgen ihrer Naivität, zeigt dieses
Zitat auch manche Hinweise auf, die suggerieren, dass diese naive Haltung tatsächlich
vielmehr eine bewusst angewendete Strategie zur Wahrung ihrer Unschuld bzw.
Tugendhaftigkeit ist. So deutet, neben den expliziten Angaben der Schwere des Herzens
und der Frage, was sie denn Böses getan hat, auch die Beobachtung des nahenden
Gewitters auf ein gewisses Bewusstsein des etwaigen schlechten Ablaufes bzw. der
Bösheit ihres Vaters Rates hin. Ob es sich dabei um ein richtiges Bewusstsein oder eher
eine Vorahnung handelt, bleibt dahingestellt. Schließlich heben Maries Handlungen
auch ihre verführerische Qualität stark hervor, denn die tugendhafte Tochter schnürt
sich zuerst in aller Offenheit vor dem Fenster auf und schlägt ein wenig später die
Hände über die offene Brust.
Der weiteren Verlauf des Stückes beeinträchtigt eine eindeutige Darstellung des
Charakters des Bürgermädchens wesentlich. Einerseits scheint Marie an dem ersten
Blick den Rat ihres Vaters zu befolgen, indem sie Desportes bei ihrer nächsten
Begegnung offensichtlich gegen Stolzius aufhetzt:
MARIE (etwas leiser). Sehen Sie nur, was mir der Mensch, der Stolzius, schreibt,
recht als ob er ein Recht hätte, mich auszuschelten. (Weint wieder.)
DESPORTES (liest stille). Das ist ein impertinenter Esel. Aber sagen Sie mir, warum
wechseln Sie Briefe mit solch einem Hundejungen?
MARIE (trocknet sich die Augen). Ich will Ihnen nur sagen, Herr Baron, es ist, weil
er angehalten hat um mich, und ich ihm schon so gut als halb versprochen bin.
DESPORTES. Er um Sie angehalten? Wie darf sich der Esel das unterstehen? Warten
Sie, ich will ihm den Brief beantworten.117
Aus diesem Zitat stellt sich zuerst heraus, dass das Bürgermädchen dem Tuchhändler
Stolzius tatsächlich einen Brief, den Wesener möglicherweise aufzustellen geholfen hat,
geschickt hat. Aus der Reaktion Maries auf seine Antwort lässt sich überdem schließen,
dass dieser Brief, zusammen mit den Gerüchten über die Verführungsversuche des
Barons, Stolzius’ Eifersucht erfolgreich gereizt hat und ihn gegen die beiden Geliebten
aufgehetzt hat. Indem sie schließlich, in voller Bestürzung, Desportes die Beleidigungen
des Tuchhändlers aufdeckt und ihn auf diese Weise auch gegen Stolzius in Harnisch
bringt, scheint Marie den Plan ihres Vaters, in Hinsicht auf ihre (gespielte) Naivität,
unbewusst zur Ausführung zu bringen. Andererseits weist dieses Zitat auch manche
Elemente auf, die auf eine richtig naive Rebellion der Tochter gegen den Vater
117
Lenz: Die Soldaten, S. 27.
69
hindeuten können. So ignoriert Marie, indem sie den Baron ganz allein und in dem
eigenen Hause empfängt und ihn überdem weiter zu verführen versucht, die Bitte ihres
Vaters, Desportes keine allzu große Hoffnung auf sie zu machen. Zwar scheint sie die
väterlichen Voraussetzungen, ihn nur im Beisein der Madame Weyher in die Komödie
zu begegnen und keine Präsente von ihm anzunehmen, zu befolgen; Ihre
offensichtlichen Verführungsversuche lassen aber vermuten, dass sie den Zweck dieser
Voraussetzungen keineswegs einsieht. Nicht nur macht sie dem Baron, indem sie sagt,
dass sie Stolzius nur „so gut als halb versprochen“ ist, große Hoffnung auf sie, auch ihre
Handlungen scheinen eine wesentliche Steigerung Desportes’ Liebe zu bezwecken:
(Sie fangen an zu scheckern, sobald sie den Arm rückt, macht er Miene zu
schreiben, nach vielem Lachen gibt sie ihm mit der nassen Feder eine große
Schmarre übers Gesicht. […] Er kommt näher, sie droht ihm mit der Feder,
endlich steckt sie das Blatt in die Tasche, er will sie daran verhindern, sie ringen
zusammen, Marie kützelt ihn […])118
In diesem Sinne könne man Maries Naivität, die bis jetzt eher als bewusst angewendete
Entschuldigungsstrategie aufgefasst wurde, viel überzeugender als typisch weiblichen
Geschlechtscharakter bewertet werden119. Dies bedeutet, dass das Bürgermädchen,
neben dem Zweck der oben genannten Voraussetzungen ihres Vaters, auch die Bösheit
seines Ratschlages wirklich nicht erkennt hat. Wenn Marie diesen Rat aber, wie sich
oben herausgestellt hat, bewusst oder unbewusst, nicht verfolgt, so könne sich die oben
erwähnte, vorausgeahnte, aber nicht erkannte Bösheit auch auf ihr eigenes Verhalten
beziehen, denn, indem sie eingesteht, auch Stolzius noch immer zu lieben, scheint die
Tatsache, dass sie zwei Männer liebt und an sich binden will, für Marie überhaupt kein
Problem darzustellen. In Hinsicht auf diese naive Auffassung, könne man auch das
letzte Zitat als argloses Verführungsspiel des Mädchens bewerten. Erweist sich dies
schon aus dem lockeren Gefecht, das Marie einem kleinen Küsschen vorangehen lässt,
so betont der weiteren Verlauf des Auftritts besonders die naive Rücksichtslosigkeit und
Bedeutungslosigkeit dieses Spieles:
118
Lenz: Die Soldaten, S. 28.
Diese Naivität findet man in Karin Hausens Übersicht der männlichen und weiblichen
Geschlechtscharaktere im 18. Jahrhundert, zwar in der Form positiv konnotierter Charakteristika, wie
Empfänglichkeit und Rezeptivität, zurück.
Karin Hausen: „Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“ – Eine Spiegelung der Dissoziation von
Erwerbs- und Familienleben.“ In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue
Forschungen. Hg. von Werner Conze. Stuttgart: Klett 1976, S. 368.
119
70
Jungfer Zipfersaat tritt herein.
MARIE (hier und da launigt herumknicksend). Jungfer Zipfersaat, hier hab ich die
Ehre, dir einen Baron zu präsentieren, der sterblich verliebt in dich ist. […]
JUNGFER ZIPFERSAAT (beschämt). Ich weiß nicht, wie du bist, Mariel.
MARIE (einen tiefen Knicks). Jetzt können Sie Ihre Liebesdeklaration machen.
(Läuft ab, die Kammertür hinter sich zuschlagend. Jungfer Zipfersaat ganz
verlegen tritt ans Fenster. Desportes, der sie verächtlich angesehen, passt auf
Marien, die von Zeit zu Zeit die Kammertür ein wenig eröffnet. Endlich steckt sie
den Kopf heraus: höhnisch.) Na, seid ihr bald fertig?
(Desportes sucht sich zwischen die Tür einzuklemmen, Marie sticht ihn mit einer
großen Stecknadel fort, er schreit und läuft plötzlich heraus, um durch eine
andere Tür in jenes Zimmer zu kommen. Jungfer Zipfersaat geht ganz
verdrüsslich fort, derweil das Geschrei und Gejauchz im Nebenzimmer
fortwährt.)120
Aus diesem Zitat, das einen letzten und ausschlaggebenden Charakterzug der
Tochterfigur aufzeigt, erweist sich in erster Linie Jungfer Zipfersaat als größtes Opfer
des Bürgermädchens Spieles. Indem Marie sie, völlig unerwartet, mit einem Baron, der
sich in sie verliebt haben würde, konfrontiert, versetzt das Mädchen ihre Freundin in
große Scham. Überdem bringt sie Jungfer Zipfersaat in eine höchst unbequeme
Situation: nicht nur lässt Marie sie mit Desportes in ihrem Zimmer allein da, auch wird
sie von dem Baron verächtlich angesehen und, wenn die beiden Geliebten das
Verführungsspiel weiterführen, sogar gänzlich ignoriert.
Die oben genannte
Rücksichtslosigkeit des Bürgermädchens zeigt sich daran, dass Marie keinen Moment
an die Kränkung, die dieses Spiel ihrer Freundin zufügen könne, denkt und außerdem
über die Fortsetzung des Spieles die offensichtlich missvergnügte Jungfer gänzlich
vergisst. In Hinsicht auf die Liebesauffassung des Mädchens, die aus dieser Spielerei
hervorgeht, gibt es aber hinreichende Gründe für eine Bewertung des Barons, die sie
wirklich leidenschaftlich zu lieben scheint, als größtes Opfer Maries. Indem sie schon
am Anfang ‚launigt herumknickst’, scheint Marie nicht nur die Verführung, sondern
auch die Liebe als ein Spiel bzw. einen Scherz aufzufassen; eine Idee, die sich als roter
Faden durch das oben stehende Zitat hindurchzuziehen scheint. So dreht das ganze Spiel
des Mädchens in erster Linie um eine scherzhafte und aufziehende Verkuppelung der
Jungfer Zipfersaat mit dem Baron. In diesem Sinne zeigen auch die Aussagen Maries
eine sehr leichtsinnige und spielerische Auffassung der Liebe auf, indem sie keine
Mühe damit zu haben scheint, zuerst Desportes nur spaßeshalber eine Liebe für ihre
Freundin zuzuschreiben, um die beiden Gäste danach in einem Zimmer einzusperren,
120
Lenz: Die Soldaten, S. 29.
71
damit der Baron der Jungfer Zipfersaat seine Liebesdeklaration machen könne. Dass sie
die Liebesauffassung des Bürgermädchens aber keineswegs teilen, zeigt sich an die
unbequeme Haltung, die Desportes und Zipfersaat nach ihrer Einsperrung annehmen.
Indem sie irgendwelchen Kontakt miteinander peinlich zu vermeiden bzw. einander zu
ignorieren versuchen, erweist sich, dass laut diesen Personen Liebe keineswegs als
etwas leichtsinniges oder komisches aufgefasst werden soll. Der Scherz, den Marie
daraus gemacht hat, führt einerseits zu einer tiefen Beschämung bei Jungfer Zipfersaat,
andererseits zu Verachtung und Ärger bei dem Baron. Wie wenn man Marie, nach dem
oben genannten heraufziehenden Gewitter, erneut vor den Gefahren eines solchen
Verhaltens zu warnen versucht, erscheint, während ‚das Geschrei und Gejauchz im
Nebenzimmer fortwährt’, Weseners alte Mutter, die die Szene mit dem folgenden Lied
abschließt:
MUTTER. Ein Mädele jung ein Würfel ist, / Wohl auf den Tisch gelegen: / Das
kleine Rösel aus Hennegau / Wird bald zu Gottes Tisch gehen. // […] Was
lächelst so froh mein liebes Kind, / Dein Kreuz wird dir’n schon kommen. /
Wenn’s heißt, das Rösel aus Hennegau / Hab nun einen Mann genommen. // O
Kindlein mein, wie tut’s mir so weh, / Wie dir dein Äugelein lachen, / Und wenn
ich die tausend Tränelein seh, / Die werden dein Bäckelein waschen.121
In Hinsicht auf den vorangehenden Liebesscherz ihrer Enkeltochter, enthält dieses Lied
eine offensichtliche Warnung für Marie. Indem sie sich fragt, weshalb ihr liebes Kind
bzw. ihre Kleintochter Marie so froh lächelt und dieses Lächeln ihr überdem Kummer
bereitet, verurteilt die Mutter den sehr leichtsinnigen Umgang mit der Liebe, die das
Mädchen soeben aufgezeigt hat. Zugleich scheint sie betonen zu wollen, dass Marie,
wenn sie heiraten wird bzw. muss und die Realität bzw. Seriosität der Liebe
kennenlernen wird, ihrer zusammengestürzten Liebesauffassung noch viele Träne
nachweinen wird. Wie der letzte Vers dieses Liedes aber suggeriert, soll dieser Verduss
auch eine sittliche Läuterung mit sich bringen, die Marie, in Hinsicht auf den Verweis
nach einer etwaigen Schwangerschaft, möglicherweise brauchen wird. Denn die zwei
letzten Verse der zweiten Strophe enthälten eine offensichtliche sexuelle Konnotation,
die darauf hinweisen könnte, dass sich in dem Nebenzimmer etwas mehr, als ein
unschuldiges Verführungsspiel, zuträgt. In diesem Sinne können auch die Stelle, die
Marie, nach dem Verschwinden des Barons, bei der Gräfin bekommt, und letztendlich
121
Lenz: Die Soldaten, S. 29-30.
72
ihre Flucht nach der Verweisung des gräflichen Geländes als Versuche, der
Öffentlichkeit ihre Schwangerschaft zu verdecken, gedeutet werden.
Vor allem wichtig für diese Analyse ist aber die Tatsache, dass Maries
Verführungs- bzw. Liebesspiele immer in Tränen enden. Zuerst stößt Stolzius sich in
dem oben erwähnten Brief als untreue Geliebte von sich ab. Der Verdruss über diese
Beleidigung verwendet sie aber sogleich zu der Eroberung bzw. Verführung des Barons.
Wenn auch dieser aber plötzlich verschwindet, bleibt Marie aber ganz allein mit ihrem
Kummer zurück. In diesem Sinne zeigt sich ihre Naivität aufs Neue, und zwar daran,
dass es sie, trotz einer unendlichen Reihe von Warnungen, die ihr sowohl explizit von
weiblichen Figuren, wie die Schwester, Mutter und Großmutter, wie auch implizit in der
Form natürlicher (weiblicher) Vorzeichen erteilt worden sind, nicht gelingt, die Gefahre
ihres leichtsinnig verführerischen Verhaltens zu erkennen und ihren Drang nach
sexueller bzw. emotionaler Entfaltung zu bändigen.
Obwohl sich das Bürgermädchen, Marie, als ein sehr vieldeutiger Charakter
herausstellt und manche Elemente ihrer Persönlichkeit und ihres Lebenswandels, wie
z.B. die etwaige Schwangerschaft, nur suggeriert werden, zeigt diese Analyse meiner
Meinung
nach
zumindest
ein
paar
Konstanten
auf,
nach
den
man
eine
Charakterbeschreibung der ‚tugendhaften’ Tochter konstruieren könnte. Trotz ihrer
typisch weiblichen Naivität, die ihr Verhalten teilweise entschuldigen könne, erweist
sich auch Marie als eine richtige Egoistin. Genau wie die anderen Personen, die bis jetzt
analysiert worden sind, weist das Bürgermädchen ein beharrliches und rücksichtsloses
Streben nach dem eigenen Nutzen, in diesem Fall nach dem Befriedigung ihrer Wunsch
der sexuellen bzw. emotionalen Entfaltung, auf. Indem Emilia sich die ganze
Geschichte hindurch damit zu beschäftigen scheint, den einen Mann nach dem anderen
zu verführen, bildet auch hier, ähnlich wie bei Emilia Galotti, das warme Blut bzw. die
Sinne des Bürgermädchens ihr wichtigstes Problem. Der größte Gegensatz zwischen
beiden besteht darin, dass Emilia sich ihrer Unfähigkeit, den Verführungsversuchen des
Prinzen widerstehen zu können, bewusst ist, während Marie sich selbst als die große
Verführerin herausstellt und sich ihrer Unfähigkeit, dem Akt des Verführens zu
widerstehen, völlig unbewusst ist. Die Tochterfigur in Die Soldaten scheint ihre
unverkennbare verführerische Qualität sogar zu missbrauchen, indem sie diese sogar als
eine Bestechungstrategie verwendet, um Wesener, trotz ihres verführerischen
73
Umganges mit mehreren Männern, über den er sich zweifellos sehr verdrießlich zeigen
würde, auf ihre Seite zu halten und auf diese Weise ihren Schein der Tugendhaftigkeit
mittels seiner Autorität zu gewährleisten. Daneben weist Marie auch in dem Umgang
mit ihrer Schwester, Charlotte, ein offensichtliches egoistisches Verhalten auf. Das Ziel
ihres Strebens ist hier aber nicht die Befriedigung des sexuellen bzw. Liebeswunsch,
sondern die Erhaltung bzw. Festigung ihrer bevorzugte Position bei ihrem Vater
einerseits, und eine Strafe für die Schwester, die ihre Tugendhaftigkeit in Zweifel zu
ziehen wagt andererseits. Dazu missbraucht sie gerade diese bevorzugte Position, die, in
Kombination mit einem kindlichen Verhalten Wesener gegenüber, dafür sorgt, dass die
Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern immer zu Maries Vorteil ausschlagen.
Die Rücksichtslosigkeit dieses erwachsene bzw. kindliche, egoistische Verhalten geht
aus ihrer Naivität hervor: Trotz der vielen Warnungen und die mehrfache Abweisung
(Zuerst verstößt Stolzius sie als ungetreue Geliebte in einem Brief; Später verlässt auch
Desportes sie und verschwindet spurlos.), die sie immer in Tränen versetzt, scheint
Marie den selbstsüchtigen Aspekt ihres Verhaltens nicht zu erkennen. So bleibt sie,
ohne Rücksicht zu nehmen auf die Strafe und die Beleidigungen, die Charlotte wegen
ihres kindlich-entschuldigenden Benehmens leiden muss, oder die gebrochenen
Männerherzen, die ihr leichtsinniger Umgang mit der Liebe veranlässt, beharrlich ihre
Ziele verfolgen. In diesem Sinne hat auch das Bürgermädchen Marie einen
wesentlichen Anteil an der Eifersucht des Tuchhändlers Stolzius, die schließlich den
dramatischen Tod des Barons und Stolzius’ selbst veranlasst, und könne auch sie als
eine beharrliche, zwar unabsichtlich rücksichtslose Egoistin bezeichnet werden.
Die bürgerliche Kleinfamilie in Die Soldaten besteht weiter noch aus der
Mutterfigur, der Schwester, Charlotte, und Weseners alter Mutter, die aber, indem die
Rollen dieser Nebenfiguren sich vor allem auf die (unerfolgreiche) Warnung des
Bürgermädchens zu beschränken scheinen und sie daher keinen Anteil an dem
dramatischen Ablauf des Stückes haben, in dieser Analyse der Selbstsucht im
bürgerlichen Trauerspiel außer Betracht gelassen werden.
74
3. Schlussfolgerung
Dieses Kapitel wird, neben einigen inhaltlichen Schlussfolgerungen über die zwei
analysierten Dramen, vor allem die Folgen des oben aufgezeigten Egoismus besondere
Aufmerksamkeit widmen. In einem ersten Teil werden die oben genannten inhaltlichen
Schlüsse der traditionellen Umschreibung des bürgerlichen Trauerspieles, die sich stark
an den typischen Figurenkonstellation und Handlungsablauf solcher Dramen orientiert,
gegenübergestellt. Dabei wird man sich unweigerlich mit der Frage beschäftigen
müssen, ob eine Neudefinierung bzw. Adaption der heutigen Gattungsbestimmung sich
nicht aufdrängt. Zweitens müssen auch die Folgen für die gesellschaftliche Position
bzw. Funktion der Gattung beachtet werden, bei der besonders die moralisierende bzw.
erzieherische Wirkung dieser Theaterstücke in Frage gestellt wird. Schließlich werden
auch den etwaigen Folgen dieser Analyse für die bisherige Forschung der Literatur des
18. Jahrhunderts nicht aus dem Auge verloren, indem in einem dritten Teil einen
Ausblick auf die neuen Forschungsmöglichkeiten, die eine solche Analyse des
egoistischen Substrats eröffnen könne, gegeben wird.
3.1 Folgen für die Gattungsbestimmung des bürgerlichen Trauerspiels: eine
Neudefinierung?
Um die Folgen dieser Analyse für die traditionelle bzw. heutige Umschreibung
des bürgerlichen Trauerspiels beurteilen zu können, braucht man sich zuerst ein
einheitliches Bild der Gattungsdefinition zu machen. Dazu scheint sich vor allem die bei
mehreren Forschern vorkommende Begründung der Gattungsbezeichnung Emilia
Galottis, die man, indem diesem Stücke öfters den Status des „Bürgerliche[n]
Trauerspiel[es] par excellence“122 beigemessen wird, als exemplarisch für die ganze
Gattung betrachten könnte, besonders zu eignen. So greift Alexander Košenina in erster
Linie auf die Thematik des Stückes zurück, um oben stehende Benennung zu
rechtfertigen:
Dafür spricht zunächst der Stoff: Thema ist der Konflikt zwischen der höfischen
Welt, vertreten durch den selbstherrlichen und verantwortungslosen Prinzen
Hettore Gonzaga und seinen intriganten Kammerherrn Marinelli, und der Familie
des Odoardo Galotti, seiner Frau Claudia und der Tochter Emilia. Die Verführung
122
Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165.
75
der bürgerlichen Unschuld durch den adligen Machthaber und ihre Opferung
durch den Vater ist äußerst tragisch, stärker als das Bild einer bewundernswerten
Heroine oder Märtyrerin zeichnet Lessing aber das psychologische Bild einer
jungen Frau in ihrer allzumenschlichen Schwäche, Angreifbarkeit,
Verletzlichkeit.123
Eine ähnliche Umschreibung gibt auch Peter-André Alt, indem er in seinem Lehrbuch
über die Aufklärung stellt,
[dass] auch sie [Emilia Galotti] […] ein >bürgerliches Trauerspiel< [ist], insofern
sie eine Familientragödie im Einflussfeld höfischer Intrigen darstellt, die nicht
allein ständische Konflikte, sondern zugleich die Sprengkraft der Leidenschaften
und die Disharmonie zwischen Emotion und Vernunft vor Augen führt.124
Aus diesen zwei Zitaten lässt sich schließen, dass ein typischer Inhalt bzw. festgelegter
Themenkreis eine wichtige bzw. die wichtigste Bedingung für die Gattungsbezeichnung
eines Stückes als bürgerliches Trauerspiel bildet. Konkret zeigen Dramen dieser Art
einen Handlungsablauf auf, der von einem Konflikt zwischen dem negativ konnotierten
intriganten Adel und dem positiv konnotierten tugendhaften Bürgertum gekennzeichnet
wird, bei dem auch die menschliche Schwachheit dieses Bürgertums, die besonders aus
seiner Unfähigkeit, die Leidenschaftlichkeit zu bändigen bzw. mit dem Voraussetzung
menschlicher Vernunft dieser Epoche in Einklang zu bringen, hervorgeht, nicht aus dem
Auge verloren wird. Hieraus könne man schließen, dass ein bürgerliches Trauerspiel
thematisch zweifach bedingt wird: Erstens zeigt es ein festgelegtes Personal auf, indem
eine Kleinfamilie, die von bürgerlichen „Tugenden, wie Humanität, Toleranz,
Gerechtigkeit, Mitleidsfähigkeit, Sittlichkeit, Gefühlsreichtum usw.“125 regiert wird,
einigen Personen aus der „unpersönlich[en], kalt[en] und menschenfeindlich[en]“126
höfischen Welt gegenübergestellt werden. Zweitens befolgen Dramen dieser Gattung
einen bestimmten Handlungsablauf: Ein Verführungsversuch eines Adligen, mittels
dessen er ein tugendhaftes Bürgermädchen für sich zu gewinnen hofft, führt,
möglicherweise durch Zutun eines bürgerlichen Intriganten, zu einer Verletzung des
Mädchens Ehre, die auch teilweise in der oben genannten menschlichen Schwäche
‚bürgerlicher’ Personen begründet liegt und die den direkten Anlass zum tragischen
Ablauf des Stückes bildet.
123
Košenina: Literarische Anthropologie, S. 165-166.
Alt: Aufklärung, S. 221.
125
Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 164.
126
Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 164.
124
76
Lässt sich diese thematische Gattungsbestimmung zwar ‚in abstracto’ auf die oben
analysierten Dramen anwenden (Emilia Galotti scheint oberflächlich die inhaltlichen
Bedingungen zu erfüllen und, indem in Die Soldaten die Verführungsversuche des
Militärs nicht nur von dem Vaterfigur, Wesener127, sondern auch von dem Feldprediger,
Eisenhardt, und sogar von dem Oberst, Graf von Spannheim, selbst128 als große Gefahr
für die Unschuld bzw. Tugend der Bürgermädchen erachtet werden, könne auch dieses
Stück auf den ersten (einigermaßen vorurteilsbehafteten) Blick als typisches Beispiel
eines bürgerlichen Trauerspiels betrachtet werden.), so erweist sich diese These, und
mithin auch die oben festgelegte thematische Bedingung der Gattung, in Hinsicht auf
die Selbstsucht, die bei allen Schlüsselfiguren dieser zwei Dramen aufgezeigt worden
ist, als unhaltbar, denn nicht der Versuch eines Adligen bzw. Soldaten, ein tugendhaftes,
aber auch leidenschaftliches Bürgermädchens zu verführen, sondern das beharrliche und
rücksichtslose Streben aller Personen nach dem eigenen Nutzen scheint den tragischen
Ablauf der Stücke herbeizuführen. Konkret könne in Emilia Galotti eine Kombination
der prinzlichen Verführung und Emilias sinnliche Schwäche den Tod des
Bürgermädchens nicht verursachen, ohne dass u.a. (1) Marinelli, in einem persönlichen
Machts- und Rachestreben, den Plan schmiedet, mittels dessen sein Herr Emilia für sich
gewinnen könne, den aber auch die Schuld des Prinzen an dem Tod des Grafen Appiani
keinem Zweifel unterliegen lassen scheint, (2) die Gräfin Orsina Odoardo, in dem
Glauben, der Vater wird sich nach ihrem Anschwärzen des Prinzen an ihrer Stelle an
ihrem ehemaligen Geliebten rächen, einen Dolch überreicht, und (3) Odoardo über sein
beharrliches Streben nach der Wahrung seiner Tochter Ehre bzw. seines wichtigsten
Besitzes die Gefühle, die Emilia für den Prinzen zu empfinden scheint, ignoriert und sie
auf diese Weise in den Tod treibt. Wird bei Lessing die bestehende Gegenüberstellung
des Adels und Bürgertums, in der Form eines Unterschiedes zwischen der kälteren,
berechneteren, und daher auch negativ konnotierten, adligen Selbstsucht und dem
gefühlsgetriebenen, naiveren, und daher auch positiver anmutenden, bürgerlichen
Egoismus, noch einigermaßen eingehalten, so scheint Lenz, indem sich der Vaterfigur
als berechneter Intrigant und die ‚tugendhafte’ Marie als rücksichtslose Verführerin den
Liebhaber der Tochter, die in erster Linie als Opfer der weiblichen Verführung
betrachtet werden sollen, gegenüberstehen, eine völlige Umkehrung dieser Verhältnisse
127
128
Lenz: Die Soldaten, S. 11.
Lenz: Die Soldaten, S. 14.
77
anzustreben, auf die in dem zweiten Teil dieser Schlussfolgerung näher eingegangen
wird.
Wie sich oben herausgestellt hat, scheinen sowohl Emilia Galotti, wie auch Die
Soldaten den als typisch bewerteten Ablauf eines bürgerliches Trauerspiels nicht zu
befolgen. Überdem werden in beiden Stücken die ‚bürgerliche’ Kleinfamilie und die
‚intrigante’ höfische Welt sehr unterschiedlich, sogar gegensätzlich, konnotiert. In
diesem Sinne könne man auf Egoismus bzw. Selbstsucht als einzige Konstante in der
Handlungsablauf dieser Dramen schließen, was Anlass zu folgender Neudefinierung
bzw. Nuancierung der thematischen Bestimmung dieser Gattung gibt: Thematisch bzw.
inhaltlich bleibt das bürgerliche Trauerspiel zweifach bedingt: Auf der Ebene des
Personals liegt noch immer eine Gegenüberstellung zweier Gruppen Personen, die die
bürgerliche, kleinfamiliale bzw. adlige Welt symbolisieren, vor. Auf der Ebene des
Handlungsablaufes muss man aber erkennen, dass das tragische Ende des Stückes nur
an der Oberfläche unmittelbar von dem Verführungsversuch eines Adligen bzw.
Soldaten und der sinnliche Schwäche des Bürgermädchens veranlasst wird, und dass es
ohne den in dieser Arbeit aufgezeigten unterschwelligen Egoismus, d.h. das beharrliche
und rücksichtslose Streben aller Figuren nach dem eigenen Nutzen, nie zu solchem
Ablauf kommen könne.
3.2 Folgen für die gesellschaftliche Position des bürgerlichen Trauerspieles:
exemplum ex negativo?
Neben der oben aufgezeigten thematischen Gattungsbestimmung, muss auch ein
zweites Charakteristikum des bürgerlichen Trauerspiels besondere Aufmerksamkeit
gewidmet werden, da diese Gattung schon ab ihrem Anfang bei Lessing bis auf heute
immer auch funktional bedingt worden ist:
Diese Berufung Lessings auf das Menschliche hing eng zusammen mit seinem
Bemühen um eine neue, differenzierte Funktionsbestimmung der Literatur. Nicht
moralische Belehrung im gottschedschen Sinne, sondern sittliche Läuterung
wollte Lessing erreichen. Ziel der Tragödie war es, Furcht und Mitleid beim
Zuschauer bzw. Leser zu erregen. Durch Furcht und Mitleid sollte die Tragödie
zur Reinigung der Leidenschaften (Katharsis) führen.129
129
Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 157.
78
Obwohl Lessing dem Drama keine moralisch belehrende Funktion mehr beimessen
wollte, liegt auch bei dem lessingschen bürgerlichen Trauerspiel, zwar implizit, eine
ähnliche Wirkung vor, denn, indem das Drama Furcht und Mitleid, und mithin eine
sittliche Läuterung, erregen soll, stimuliert es den Menschen des 18. Jahrhunderts
gleichwohl, die Gefühle zu bändigen und vernünftig bzw. moralisch zu handeln. Auch
wenn die Weise, auf die sie ihre Wirkung erreicht, variieren könne, scheint die
gesellschaftliche Position bzw. Funktion dieser Gattung als moralisierendes,
erzieherisches Drama aber außer Zweifel zu stehen.
Wenn sich aber, wie sich in dieser Arbeit herausgestellt hat, alle Schlüsselfiguren
dieser Dramen egoistisch verhalten, so problematisiert sich oben genannte funktionale
Gattungsbestimmung, indem einerseits eine Instanz, die moralisch zu handeln versucht
bzw. vernünftig handeln will und mit der das Publikum Mitleid haben könne, völlig
fehlt; andererseits die in diesen Stücken allgegenwärtige Selbstsucht im schroffen
Kontrast zur damaligen Moral, und insbesondere zum kantschen kategorischen
Imperativ, steht.
Kant versucht im zweiten Teil der Grundlegung die Idee unbedingten Sollens von
verschiedenen Seiten her gleichsam auszumessen, was ihn zu immer erneuten
Formulierungen des Kategorischen Imperativs als dem Moralprinzip führt. […]
Die Grundformel lautet: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du
zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (GMS 7, 51 = IV,
421) […] Die zweite Formel ist die so genannte „Selbstzweckformel“: „Handle
so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden
andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (GMS 7,
61 = IV, 429)130
Vor allem in Bezug auf die „Selbstzweckformel“, erscheint oben genannter Gegensatz
zwischen
‚moralisierendem’
Drama
und
der
eigentlichen
Moral
besonders
offensichtlich, da fast alle Personen in Emilia Galotti und Die Soldaten, in ihrem
beharrlichen und rücksichtslosen Streben nach dem eigenen Vorteil, ihren Mitmenschen
gerade als Mittel zum Erreichen ihres Zieles betrachten. So verwendet Marinelli den
Prinzen nur, um seine eigene Macht zu erweitern, und versucht er, wenn seinen Plan
fehlschlägt, die Schuld an dem Tod des Grafen völlig auf seinen Herren abzuwälzen,
oder sieht Marie ihre Liebhaber nur als Gegenstände, auf die sie ihre spielerische
Liebesgefühle zeitweilig projizieren, danach aber einfach beiseiteschieben kann. In
Hinsicht auf diesen allgegenwärtigen, der kantschen Moral widersprechenden
130
Otfried Höffe und Maximilian Forschner: Lexikon der Ethik. München: Beck 1977, S. 132.
79
Egoismus, der in mehreren bürgerlichen Trauerspielen aufgezeigt worden ist, scheint
eine Durchführung der lessingschen Mitleidspoetik problematisch und wäre es vielleicht
eine bessere Alternative, diese bürgerlichen Trauerspiele als ‚exempla ex negativo’
aufzufassen.
Erscheint Lessings dramatisches Prinzip, durch Furcht und Mitleid eine sittliche
Läuterung bzw. moralische Besserung des Publikums zu veranlassen, nicht haltbar bzw.
unwirksam, so erweist sich ein zweiter Aspekt seiner Mitleidspoetik als desto besser
erfüllt.
Diese Möglichkeit [,dass das Unheil einer Figur im Drama auch den Zuschauer
treffen könne] finde ich alsdenn, und könne zu einer großen Wahrscheinlichkeit
erwachsen, wenn ihn [die Figur] der Dichter nicht schlimmer mache, als wir
gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken und handeln
lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und gehandelt haben, oder
wenigstens glauben, daß wir hätten denken und handeln müssen;131
Mit diesen Worten umschreibt Lessing in seiner Hamburgischen Dramaturgie, wie sich
die Figuren im bürgerlichen Trauerspiel verhalten sollen, um die oben genannte
Wirkung auf die Zuschauer zu bewirken. Der Dramatiker soll „gemischte Charaktere“
aus seiner Personen machen und „soll die Dinge nicht naturalistisch wiedergeben, sein
Ziel soll vielmehr die poetische Wahrheit sein.“132 Mit anderen Worten sollen die
Figuren dieser Gattung als Menschen, die sowohl positive, wie auch negative
Eigenschaften aufzeigen, und die auf diese Weise das Wesentliche bzw. Typische der
menschlichen Natur verkörpern, dargestellt werden. Indem die meisten Personen in
Emilia Galotti und Die Soldaten eine egoistische Lebenshaltung aufzeigen, die
Rücksichtslosigkeit ihrer Selbstsucht aber oft aus einer Vergessenheit, die besonders
von der Beharrlichkeit ihres Strebens bzw. dem starken Fokus auf ihr Ziel veranlasst
wird, zu stammen scheint, könne man schließen, dass beide Stücke diese Bedingung
tatsächlich zu erfüllen scheinen.
Doch muss ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Dramen beobachtet
werden, da Lessing die bürgerliche Kleinfamilie als „Vertreter eines abstrakten
bürgerlichen Tugendideals“133 positiv zu konnotieren versucht, während Lenz „–
131
Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. [Fünfundsiebzigstes Stück.] Stuttgart: Philipp
Reclam jun. Verlag 1995. Abrifbar unter folgender URL:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/1183/77.25.05.2012.
132
Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 157.
133
Inge Stephan: „Aufklärung“, S. 167.
80
Lessingsche Ansätze radikalisierend–“134 diese Aufwertung des Bürgertums mittels
einer Umkehrung der Verhältnisse nuancieren will. Aus dieser Behauptung geht, vor
allem in Bezug auf Emilia Galotti, hervor, dass der Autor (Lessing) nie die Absicht
gehabt hätte, auch die bürgerliche Kleinfamilie als egoistisch darzustellen und so seine
eigene Mitleidspoetik, und zugleich auch die gesellschaftliche Funktion der Gattung, zu
beeinträchtigen. In Bezug auf Die Soldaten scheint eine solche egoistische Darstellung
aller Personen wahrscheinlicher, indem hier offensichtlich eine kritische Nuancierung
des Gegensatzes zwischen Adel und Bürgertum angestrebt wird.
Da Behauptungen über die Autorintention aber zwangsläufig spekulativ sind,
scheint es eine bessere Alternative, der von Roland Barthes verkündeten „Tod des
Autors“135, der den Text als eine Entität, die ein Eigenleben führt, versteht, in dieser
Analyse zu inkorporieren und so zu der folgenden Schlussfolgerung zu kommen: Die
Selbstsucht, die in dieser Arbeit bei allen Schlüsselfiguren der zwei analysierten
bürgerlichen Trauerspiele aufgezeigt worden ist, kommt, ob sich der Autor nun davon
bewusst war oder nicht, unmittelbar aus dem Text hervor. In diesem Sinne könne sie,
besonders in Hinsicht auf Lessings Voraussetzung poetischer Wahrheit, als typisch
menschliche Eigenschaft, die immer unterschwellig anwesend ist, aufgefasst werden.
Auch wenn der Egoismus der dramatischen Figuren das gesellschaftliche Ziel der
Mitleidspoetik zu widersprechen scheinen, darf man diese Theorie nicht ohne Weiteres
zurückweisen, da dieser Egoismus eher als gesellschaftliches Substrat, das von dem
Publikum bzw. Autoren erkennt wurde oder nicht, aufgefasst werden soll.
3.3 Ausblick
Da der Umfang dieser Arbeit, die, besonders wegen Platzmangels, eine Analyse nur
zweier bürgerlichen Trauerspiele enthält, gezwungenermaßen beschränkt ist, gibt es
logischerweise
eine
Vielzahl
von
Erweiterungsmöglichkeiten
dieses
Forschungsgegenstandes (d.h. Egoismus im bürgerlichen Trauerspiel). So muss in erster
Linie ein großeres Korpus an Dramen dieser Gattung auf eine ähnliche Art und Weise
134
Manfred Windfuhr: Nachwort. In: Lessing: Die Soldaten, S. 85.
In seinem Essay La mort de l’auteur. (The death of the author. bzw. Der Tod des Autors.), spricht sich
Roland Barthes gegen eine auf die Autor bzw. Autorintention bezogene Lektüre literarischer Texte aus.
Stattdessen soll man den Text als selbständiges Phänomen betrachten, aus dem seine Bedeutung direkt
hervorgeht. Mit anderen Worten wird der Text, wie oben gesagt, als eine Entität, die ein Eigenleben führt,
aufgefasst.
135
81
analysiert werden, um die oben stehenden Befunde mit größerer Gewissheit bekräftigen
bzw. entkräften zu können. Daneben scheint auch eine Rezeptionforschung dieser
Dramen eine interessante Sicht auf diese Problematik geben zu können, indem auf diese
Weise untersucht werden könne, ob das Publikum des 18. Jahrhunderts oben
aufgezeigte Selbstsucht erkennt hätte. Am interessantsten wäre aber meiner Meinung
nach, diese Arbeit als Anfang bzw. Anlass zu einer umfänglicheren Untersuchung bzw.
Dissertation aufzufassen, in der die Theorie des New Historicism verwendet wird, um
z.B. anhand einer Diskursanalyse136 oben aufgezeigte Selbstsucht auf andere
literarischen Gattungen, wie der Roman oder die Lyrik, auf nicht-literarische Gattungen,
wie die Philosophie, oder sogar auf die Mentalität des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen
zu übertragen und auf diese Weise eine bis jetzt noch unerkannte ‚soziale Energie’137
des Egoismus aufzuzeigen.
136
Moritz Baßler weist in der Einführung seines Sammelbandes New Historicism. Literaturgeschichte als
Poetik der Kultur. auf den Wert, den der New Historicism auf die Diskursanalyse als Forschungsmethode
legt, und umschreibt den Nutzen dieser Methode folgendermaßen: „Der New Historicism hat sich
dagegen vorgenommen, sozusagen das Mikroskop auf das aus Diskursfäden gesponnene dichte Gewebe
der Kultur bzw. Geschichte zu richten und einzelne Fäden daraus zu verfolgen, um jeweils ein Stück
Komplexität, Unordnung, Polyphonie, Alogik und Vitalität der Geschichte zu rekonstruieren.“ In diesem
Sinne könnte die Diskursanalyse wesentlich dazu beitragen, ‚die einzelne Faden’ des Egoismus, die in
dieser Arbeit nur im bürgerlichen Trauerspiel aufgezeigt worden ist, durch Texte aller Sorten des 18.
Jahrhunderts zu verfolgen.
137
Das Konzept ‚soziale Energie’ (social energy) stammt ursprünglich von dem US-amerikanischen
Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt, der es u.a. folgendermaßen definiert: „The term implies
something measurable, yet I cannot provide a convenient and reliable formula for isolating a single, stable
quantum for examination. We identify energia [sic] only indirectly, by its effects: it is manifested in the
capacity to produce, shape, and organize collective physical and mental experiences.” In Hinsicht auf die
konstituierende Funktion der Selbstsucht im bürgerlichen Trauerspiel einerseits (Egoismus bildet die
wichtigste Veranlassung zum tragischen Ablauf des Stückes) und die Realitätsbezogenheit des Dramas
des 18. Jahrhunderts andererseits, scheint es interessant, nachzugehen, ob auch Egoismus bzw.
Selbstsucht als ein die physische und mentale Erfahrung organisierendes Prinzip betrachtet werden kann.
82
4. Bibliographie
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Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der
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Philipp Reclam jun. GmbH & Co 2001.
83
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