Paris des Ostens

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Paris des Ostens
Neuö Zürcör Zäitung
Freitag, 22. Juli 2011 U Nr. 169
REISEN UND FREIZEIT 53
«Paris des Ostens»
Riga, die grösste und wichtigste Stadt des Baltikums, wartet mit mehreren Trümpfen auf
Die lettische Kapitale Riga, die
wohl wichtigste Stadt des Baltikums, zeigt sich in diesem Sommer in bester Laune. Besucher
können hier auf manch eine
architektonische und kulturelle
Trouvaille stossen.
Thomas Veser
Jahrhundertelang wichtigste Lebensader der lettischen Hauptstadt, zerschneidet die breite Daugava (Düna)
das Zentrum in zwei verschiedenartige
Teile, die kaum etwas gemeinsam haben. Auf der rechten Flussseite das vertraute Bild der weitgehend autofreien
Altstadt, überwiegend aus Backstein erbaut und mit mächtigen Gotteshäusern
ausgestattet. Auf der linken Seite nach
der Vansu- oder Akmenbrücke der bedeutend weniger weltmännisch wirkende Stadtteil Pardaugava – auf Deutsch
schlicht «jenseits der Daugava». Moderne Hochhauszeilen säumen hier das
Ufer, dahinter bestimmen Strassenzüge
mit vielen renovierten Holzhäusern aus
dem 19. Jahrhundert das Bild. In diesem
oftmals verkannten Quartier spielt sich
der ganz normale lettische Alltag ab.
Hier bekommt man sein Bier noch
wesentlich günstiger als auf der anderen
Flussseite.
brochen. Nun hofft man, dass das Prestigeobjekt frühestens bis 2015 bezugsfertig ist.
Endlich konnten im vergangenen
Jahr auch die Arbeiten am Konzerthaus
auf dem AB-Damm im Fluss beginnen.
Mit seinem dominierenden und weit
auskragenden Dach soll es einmal gut
2000 Besucher fassen können. Wenn die
Pläne aufgehen, wird sich jenseits der
Düna eines Tages eine von Grünflächen
aufgelockerte Kunst- und Kulturmeile
erstrecken. Bis dahin wird allerdings
noch viel Wasser die Düna hinunterfliessen.
Als grösste Stadt und wichtigster
Wirtschaftsstandort des Baltikums verfügt Riga aber bereits jetzt über architektonische und kulturelle Trümpfe, die
einen Besuch wert sind. «Mit Ecken aus
Gold und einem Rand aus Silber», so
besangen die Schöpfer einer alten
Volksweise die einstige Hansestadt, die
vor über acht Jahrhunderten gegründet
worden war. Gestaltet von Letten,
Deutschen und Russen, zu denen sich
jüdische, polnische und ukrainische
Minderheiten gesellten, übernahm Riga
mit seinem Polytechnikum später eine
Vorreiterrolle in der Architektenausbildung im baltischen Raum.
Als der Jugendstil in Mode kam, griffen Architekten die neue Strömung begeistert auf und entwickelten eine eigene lettische Variante, die den Besucher heute noch verzaubert. Ganze
«Freilichtmuseum»
Rigas Altstadt, in der Liebhaber einer
originellen Beizenszene sofort fündig
werden, sein Jugendstilquartier, die
klassisch russischen Holzhäuser und
neuerdings auch das mit eigener Schule
sowie Kirche versehene Arbeiterquartier zwischen Tallinn- und ValmieraStrasse hat die Unesco 1997 mit dem
Weltkulturerbe-Prädikat geadelt.
Die Bezeichnung «Freilichtmuseum
der Architektur», die sich Riga selbst
verliehen hat, greift nicht zu hoch. Vor
dieser historischen Kulisse findet im
20. Jahr der wiedergewonnenen Unabhängigkeit das Riga-Festival mit Folklore, klassischen Konzerten, Theater
und einem Jahrmarkt statt. Kunstliebhaber werden vom 20. August an auch
eines der renommiertesten Museen besuchen können – das meisterhaft renovierte Museum für ausländische Kunst
in der nach venezianischem Stil erbauten Riga-Börse.
Ehrgeiziges Bauprojekt
Ausgerechnet diese Kulisse haben Rigas
Stadtväter für ihre ehrgeizigsten Bauprojekte auserkoren: ein modernes
Konzerthaus und die neue Nationalbibliothek. Geplant in Form eines gigantischen Berges aus Eis, hätte die Bibliothek eigentlich schon 2008 fertiggestellt
sein sollen. Doch die Wirtschaftskrise,
die Lettland besonders heftig erwischte,
hatte die Arbeiten eine Zeitlang unter-
Die Daugava teilt die Stadt Riga in zwei Teile. Hier die rechte Flussseite mit der Altstadt.
Ähnlich und doch anders
Jeder der drei baltischen Staaten hat seine Eigenarten behalten
Anita Geurts
Obwohl die gemeinsame Vergangenheit
der baltischen Staaten noch überall sehr
präsent ist, sind die kulturellen Traditionen dieser drei Länder oft recht verschieden – angefangen bei den drei Landessprachen. Kaum haben wir gelernt,
«tänan» (danke) auf Estnisch zu sagen,
heisst das gleiche Wort in Lettland «paldies» und wenig später auf Litauisch
«aciu». Die estnische Sprache gehört
zur finno-ugrischen Sprachgruppe, und
auch sonst zeigt sich das nördlichste
Land im Baltikum in mancher Hinsicht
sehr mit Finnland verbunden. Die lettischen und litauischen Idiome sind dagegen Teil der ostbaltischen Sprachgruppe der indogermanischen Sprachfamilie.
Dass Estland, Lettland und Litauen
keineswegs homogen sind, betont auch
die baltische Tourismus-Zentrale auf
ihrer Website, wo sie sinngemäss feststellt: Wer das mittelalterliche Tallinn,
die Jugendstil-Metropole Riga und die
barocke litauische Hauptstadt Vilnius
besucht, wird Städte mit ganz unterschiedlichen Atmosphären vorfinden.
Schwierige Integration
Untereinander verständigt sich die jüngere Generation von Balten meist auf
Englisch, während ältere Personen neben der Landessprache oft noch
Deutsch oder Russisch beherrschen.
Denn noch immer leben viele Russen
im Baltikum. Gegen 30 Prozent der Bevölkerung Estlands sind russischer Abstammung, in Lettland sind es etwa 17
Prozent und in Litauen knapp 14 Prozent. Diese Einwohner werden nur eingebürgert, wenn sie Sprache und Geschichte des jeweiligen baltischen Staates beherrschen – was eine Integration
erschwert. Deshalb finden viele dieser
«Nichtbürger» kaum Arbeit und leben
häufig unter der Armutsgrenze.
Stilvolle Bäder-Architektur
Mit dem Überlandbus fahren wir von
Tallinn stundenlang über schnurgerade
Wege unweit der Ostseeküste nach
Riga. Wir scheinen durch gottverlassene
Landschaften unterwegs zu sein, flankiert von finsteren Tannen- und Birken-
Ostsee
Jurmala
LITAUEN
150 Kilometer
ESTLAND
Rigaer
Bucht
Riga
RUSSLAND
Estland, Lettland und Litauen
bilden gemeinsam das Baltikum.
Da die Unterschiede zwischen
den drei Staaten aber recht gross
sind, lehnen Letten, Esten und
Litauer diese Kollektivbezeichnung häufig ab.
Strassenzüge in den Vororten, vor allem
die Brivibas- und die Alberta-Strasse,
wo sich auch das Jugendstil-Museum
befindet, erstrahlen fast lückenlos im
reinsten lettischen Art nouveau. Kein
Wunder, dass Riga gerne als «Paris des
Ostens» bezeichnet wurde.
Dem historischen Kern hingegen war
weniger Glück beschieden. Etliche Teile
fielen im Zweiten Weltkrieg in Schutt
und Asche, aber auch danach wurde die
einst dichte Altstadt ausgelichtet, weil
man Platz schaffen wollte für moderne
Verwaltungsgebäude. Seit der Unabhängigkeit hat man diverse, zuvor aus
dem Stadtbild verschwundene Architektur-Juwelen rekonstruiert und zahlreiche bestehende Gebäude sorgfältig
renoviert. Dazu zählt das 1883 erbaute
russische Michael-Tschechow-Theater.
LETTLAND
WEISSRUSSLAND
NZZ-INFOGRAFIK / cke.
wäldern: zum Ende der Welt. Ein einsamer Kirchturm, ein verwaister Friedhof, verkommene Gehöfte, eine dünne
Rauchfahne oder eine bettelnde Babuschka an der Bushaltestelle lassen gelegentlich Leben in der Provinz vermuten. Ein Relikt aus Sowjet-Zeiten ist der
heute unüberwachte Grenzübergang
zwischen Estland und Lettland mit
Wachtürmen, rostigem Stacheldraht
und Betonbarrieren.
Nur zehn Kilometer südöstlich der
Hauptstadt Riga und gut erreichbar mit
der Regionalbahn liegt Jurmala, Riviera
der Ostsee in der Rigaer Bucht mit
einem sagenhaften 32 Kilometer langen, breiten Sandstrand. «Jurmala be-
deutet Strand, und nachdem man dort
Anfang des 19. Jahrhunderts schwefelhaltige Mineralquellen entdeckt hatte,
entwickelte sich die mit dichten Kiefernwäldern gesäumte Küstenregion
zum mondänen Kurort. Der russische
Adel und die damalige internationale
High Society trafen sich hier zum sommerlichen Stelldichein, und von Jurmalas hellem Licht und den Sonnenuntergängen schwärmten Maler und Dichter», weiss die junge, engagierte Touristikfachfrau Gunta uns während eines
Bummels auf der beliebten Flaniermeile Jomas zu berichten.
Sie zeigt uns nostalgische Sommerhäuser mit Veranda und Türmchen aus
bunt bemaltem Holz in stilvoller BäderArchitektur. Die zahlreichen Restaurants, Musikpavillons, Cafés und Biergärten sind sehr gut gepflegt, nur ab und
zu fehlt ein frischer Anstrich. Wir stöbern im kleinen Heimatmuseum, das
über Geschichte und Strandleben von
anno dazumal Auskunft gibt, und amüsieren uns über die Ausstellung früherer
Bademode und historischer Bilder.
Bereit für Luxustouristen
Für preiswerte Heilbadekuren sind Jurmalas Kurhotels auch in der Nebensaison stark frequentiert. Das traditionsreichste von ihnen, das Baltic
Beach Hotel, etwa mutierte kürzlich erfolgreich zum modischen Wellness-Resort und war bei unserem Besuch gänzlich ausgebucht. Neuere Hotels und oft
in russischem Auftrag erbaute Luxusvillen werden unmittelbar am und auf dem
Strand und in den angrenzenden Wäldern erstellt. Auch das Boutique-Hotel
Light House steht mit eleganten Themen-Zimmern unmittelbar am Strand:
Jurmala ist also auch für anspruchsvolle
Westtouristen gerüstet.
www.baltikuminfo.de/
REINHARD SCHMID / FOTOTECA 9X12
www.liveriga.com/de
Rückgrat des Tourismus
Air Baltic stärkt trotz Turbulenzen den Fremdenverkehr
hag. U Turbulenzen gehören für eine
Airline zum Alltag – nicht nur in der
Luft. Auch unternehmerisch und strategisch gilt es oft gröbere Unwetter zu
überstehen. Durch ein solches steuert
zurzeit gerade die teilstaatliche lettische
Fluggesellschaft Air Baltic.
An dieser Stelle soll nun aber nicht
der Zwist zwischen dem deutschen AirBaltic-Mehrheitsaktionär Bertolt Flick
und der lettischen Staatsführung thematisiert sein. Doch darf man der Airline
gerade aus Anlass einer touristischen
Sonderbeilage zum Baltikum wünschen, dass sie ohne Schaden aus diesen
heiklen Turbulenzen hinausfliegen
wird. Denn die Air Baltic ist dank ihrem
dichten Netz auch in touristischen Nischen ein zentraler Garant für das
Volkseinkommen dieser Region.
Ost-West-Netzwerker
Das sieht naturgemäss auch Janis Vanags so, der die Airline als zweiter Chef
der Corporate Communications vertritt.
Er weist darauf hin, dass Air Baltic mit
nur rund 1400 Mitarbeitenden umsatzmässig gut 8 Prozent zum Export des
Landes beiträgt und nach Jahren der
Steigerung auch 2010 erneut 16 Prozent
Passagiere mehr hatte transportieren
können. Vanags erläutert uns auch, wie
Air Baltic erfolgreich ein neues fliegerisches Geschäftsmodell umgesetzt und
sich so von einer reinen Punkt-zuPunkt-Billigfluggesellschaft zu einem
eigentlichen Netzwerk-Carrier entwickelt hat. Dieser Schachzug habe Air
Baltic zur grössten Fluggesellschaft mit
regelmässigen Verbindungen ab Riga
(Lettland), Tallinn (Estland), Vilnius
(Litauen) und Oulu (Finnland) zu den
wichtigsten europäischen Metropolen
gemacht, streicht Vanags heraus.
Die Optik der Air-Baltic-Führungsriege teilte offenkundig auch die European Regions Airline Association
(ERA). Denn sie verlieh der Airline
2009 den begehrten Gold Award mit
der Begründung, Air Baltic habe einen
zentralen Beitrag dazu geleistet, Riga
und das Baltikum zu einem wichtigen
internationalen Drehkreuz auszubauen.
Sie habe so wesentlich mitgeholfen, Ost
und West politisch und touristisch zu
verbinden. Auch ab der Schweiz wartet
Air Baltic – je nach Saison und Wochentag – mit echten Kampfpreisen auf. So
fliegt man etwa ab Zürich bereits ab 69
Euro einfach nach Riga oder für 121
Euro nach Tallinn – Steuern und Abgaben inbegriffen.
Erneuerung der Flotte
Soeben hat die Airline eine breite Erneuerung ihrer Flotte angekündigt. Geplant ist, zur kommenden Wintersaison
die seit 1998 eingesetzten zehn Fokker50-Flugzeuge nach immerhin insgesamt
72 Millionen Flugkilometern in Pension
zu schicken und durch energieeffizientere und wartungsarme Maschinen zu
ersetzen.
Die Fokkers, deren Ausmusterung
ursprünglich erst für 2013 geplant war,
brachten vor allem die Transitreisenden
zum Nord-Hub Riga, wo sie die Weiterreise zu Zielen wie Berlin, London, Tel
Aviv oder Kiew antreten. Laut CEO
Flick sollen die neuen Maschinen auch
Schwankungen durch steigende Kerosinpreise oder Unruhen im Nahen Osten auffangen helfen. Ausserdem wird
laut Flick derzeit die Option geprüft,
kommenden Sommer zusätzlich moderne Turboprop-Flugzeuge in die Flotte
aufzunehmen.
Mit Blick auf die Doppelrolle von
Tallinn und Turku als diesjährige Kulturhauptstädte Europas bewirbt Air
Baltic nun mit attraktiven Tarifen die
Flüge in die frühere finnische Metropole – und versucht so dem Hauptkonkurrenten Finnair Paroli zu bieten.