Betreuungs - Nomos Shop

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Betreuungs - Nomos Shop
Nomos
Praxis
Pardey | Kieß
5. Auflage | Betreuungs- und Unterbringungsrecht
ISBN 978-3-8487-1066-9
BUC_Pardey_1066-9_5A.indd 1
NomosPraxis
Pardey | Kieß
Betreuungs- und
Unterbringungsrecht
5. Auflage
Nomos
25.06.14 11:23
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NomosPraxis
Prof. Dr. Karl-Dieter Pardey
Direktor des Amtsgerichts Peine i. R.,
Honorarprofessor an der Ostfalia Hochschule
für angewandte Wissenschaften, Wolfenbüttel
Dr. Peter Kieß
Vorsitzender Richter am Landgericht Dresden
Betreuungs- und
Unterbringungsrecht
5. Auflage
Nomos
BUT_Pardey_1066-9_5A.indd 3
25.06.14 09:53
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-8487-1066-9
5. Auflage 2014
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2014. Printed in Germany. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten.
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Vorwort zur 5. Auflage
Auf Bitten des Verlages habe ich gerne die Bearbeitung der 5. Auflage dieses bewährten Handbuchs übernommen. Ich habe nur behutsam in den Text eingegriffen. Denn
der bisherige Alleinautor, Karl-Dieter Pardey, hat es verstanden, die rechtlichen
Grenzen der Beteiligten, insbesondere der Betreuer und des Gerichts, aufzuzeigen.
Die neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs
hat seine Auffassung bestätigt, wonach es wichtig ist, sich der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für das eigene Handeln bewusst zu machen. Andererseits hat KarlDieter Pardey aber nie vergessen, worum es im Betreuungsrecht geht: um Hilfe für
Menschen, die der Hilfe bedürfen. Diese Linie will ich beibehalten. Für alle Irrtümer
und Fehler, die der Leser mir gerne aufzeigen darf, übernehme ich aber allein die Verantwortung.
Die 5. Auflage berücksichtigt den Sachstand zum 1. Juli 2014.
Dresden, im Juni 2014
Peter Kieß
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Aus dem Vorwort zur 4. Auflage
Das Betreuungsrecht wird von Juristen oft als einfach, geradezu unjuristisch bewertet. Nichtjuristen halten es dagegen für typisch juristisch, schwer verstehbar. Es erweist sich in der Praxis für Beteiligte aller Professionen nach dem ersten ernsthaften
Kontakt oft als schwierig handhabbar. Der vorliegende Text will das Verständnis für
die besondere Materie vermitteln, die fachübergreifenden Ansätze verdeutlichen, die
Zugangsschwelle möglichst niedrig machen.
Es wird gezeigt, wie weit die praktischen Problemfelder sind, weiter als die veröffentlichte Diskussion vermuten lässt. Es werden Lösungsstrategien angeboten.
Der Text berücksichtigt die Möglichkeiten, andere Quellen zu erreichen. Er beschränkt sich auf bloße Hinweise, wo es einfach erscheint, allein weiter zu finden, ist
breiter angelegt, wo Verständnisgrundlagen geschaffen werden müssen.
Das Unterbringungsrecht ist als Schwerpunkt mit aufgenommen, weil Sicherungsmaßnahmen für diese Klientel immer wieder vorkommen und die Vielzahl der denkbaren Ansätze leicht Verwirrung stiftet. … Eine systematische Darstellung auch des
öffentlichen Unterbringungsrechts soll damit nicht verbunden sein. Das würde den
Rahmen dieses Buches sprengen.
…
Wendeburg/Peine, im April 2009
6
Karl-Dieter Pardey
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 5. Auflage ......................................................................
5
Aus dem Vorwort zur 4. Auflage ..........................................................
6
Abkürzungsverzeichnis ......................................................................
13
§ 1 Einführung ...............................................................................
19
I. Geschichtliches .........................................................................
II. Betreuungsrechtsänderungsgesetze .................................................
III. Verfahrensreform 2009 ...............................................................
IV. Gesetzliche Grundlagen ...............................................................
19
21
22
23
§ 2 Grundlagen ..............................................................................
25
I. Rechtliche Voraussetzungen .........................................................
II. Tatsächliche Problemfelder ..........................................................
III. Alternativen zu einer Betreuung ....................................................
IV. Vorsorgevollmacht .....................................................................
V. Betreuung für Abhängige .............................................................
27
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43
§ 3 Beteiligte ..................................................................................
45
I. Überblick zu den Beteiligten .........................................................
II. Die Beteiligteneigenschaft im Verfahren ..........................................
III. Angehörige als Beteiligte .............................................................
IV. Betreuungsbehörde ....................................................................
V. Heim/Einrichtung/Krankenhaus ....................................................
1. Keine eigenen Befugnisse .........................................................
2. Handlungspflichten ...............................................................
3. Antragsinhalte, Koordinationsbedarf .........................................
VI. Betreuungsgericht ......................................................................
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54
§ 4 Einleitung des Verfahrens .............................................................
56
I. Grundzüge des Verfahrensrechts ...................................................
II. Antrag/Anregung .......................................................................
III. Aktenzeichen ............................................................................
IV. Abgabe an ein anderes Gericht ......................................................
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60
§ 5 Ermittlungen des Gerichts ............................................................
61
I. Ermittlungen vor der Anordnung ..................................................
II. Stellung des Betroffenen (Geschäfts- und Verfahrensfähigkeit) ..............
III. Vorliegen einer Vorsorgevollmacht ................................................
IV. Stellungnahme des Arztes und der Betreuungsbehörde ........................
V. Verfahrenspfleger ......................................................................
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Inhaltsverzeichnis
VI. Akteneinsicht ............................................................................
71
§ 6 Auswahl des Betreuers ................................................................
72
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Betreuerarten ............................................................................
III. Gemeinschaftliche Vertretung .......................................................
IV. Eignungsprüfung .......................................................................
V. Professionelle Betreuung ..............................................................
VI. Sonderfunktionen ......................................................................
VII. Betreuungsvereine ......................................................................
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74
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78
§ 7 Anordnung der Betreuung ............................................................
80
I. Anordnung der Betreuung ...........................................................
II. Aufgabenkreise .........................................................................
III. Fristen ....................................................................................
IV. Bekanntgabe .............................................................................
V. Rechtsbehelfe und Rechtsmittel .....................................................
VI. Kosten ....................................................................................
80
81
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89
§ 8 Einwilligungsvorbehalt ................................................................
91
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Grundlagen ..............................................................................
III. Einwilligungsvorbehalt und Vermögenssorge ...................................
IV. Einwilligungsvorbehalt bei personenbezogenen Maßnahmen ...............
V. Kein Gutglaubensschutz ..............................................................
91
91
93
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94
§ 9 Einstweilige Anordnung ..............................................................
96
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Grundlagen ..............................................................................
III. Eilige einstweilige Anordnungen ....................................................
IV. Unmittelbare gerichtliche Maßnahmen ...........................................
V. Unterbringungen zur Begutachtung ................................................
VI. Bereitschaftsdienst .....................................................................
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100
§ 10 Tätigkeit der Betreuer .................................................................
101
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Innen- und Außenverhältnis, Vertretungshindernisse ..........................
III. Nebeneinander von Betreutem und Betreuer ....................................
IV. Vertretungshindernisse ................................................................
V. Untervollmachten, Ermächtigungen ...............................................
VI. Arbeitsablauf am Beispiel einer Heimunterbringung mit
Wohnungsauflösung ...................................................................
VII. Probleme bei einer Heimaufnahme ................................................
101
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Inhaltsverzeichnis
§ 11 Kontrollen und Hilfen .................................................................
109
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Allgemeine Kontrolltätigkeit ........................................................
III. Beschränkungen ........................................................................
IV. Betreuungsgerichtliche Genehmigungen ..........................................
V. Hilfen gegen Betreuer .................................................................
VI. Hilfen für Betreuer .....................................................................
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114
115
§ 12 Vermögenssorge ........................................................................
116
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Bezugszeitpunkt ........................................................................
III. Keine Kontrolle von Eigengeschäften des Betreuten ...........................
IV. Betroffene Werte .......................................................................
V. Keine Vermögensumschichtung .....................................................
VI. Mündelsichere Anlage ................................................................
VII. Genehmigungspflichten ...............................................................
VIII. Vollmacht neben Betreuung .........................................................
IX. Betreute als Erben ......................................................................
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121
121
122
123
§ 13 Ärztliche Maßnahmen .................................................................
125
I. Selbstbestimmung der Patienten ....................................................
II. Patientenverfügung ....................................................................
III. Vertretung bei Einwilligungen ......................................................
IV. Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen
(§ 1904 BGB) ...........................................................................
V. Dokumentationen ......................................................................
VI. Verhaltensorientierte Medikation ..................................................
VII. Entscheidungen am Lebensende ....................................................
125
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129
§ 14 Unterbringungen ........................................................................
138
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Unterbringungen nach BGB .........................................................
III. Unterbringungsähnliche Maßnahmen .............................................
IV. Unterbringungsrecht der Länder ....................................................
V. Sicherung in der eigenen Wohnung ................................................
VI. Freiwillig in der geschlossenen Abteilung .........................................
VII. Unterbringungen durch Bevollmächtigte .........................................
VIII. Verhaltensorientierte Maßnahmen .................................................
IX. Sicherungsmaßnahmen für Abhängige ............................................
X. Genehmigungsverfahren ..............................................................
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Inhaltsverzeichnis
§ 15 Weitere Zwangsmaßnahmen .........................................................
157
I. Grundlagen ..............................................................................
II. Zwangsmedikation ....................................................................
III. Zugriffe auf Wohnungen .............................................................
IV. Vollzugshilfe ............................................................................
V. Zwangsmaßnahmen in Einrichtungen .............................................
157
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162
§ 16 Sterilisation ..............................................................................
163
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Sterilisationsverbot für Minderjährige ............................................
III. Grundlagen bei Erwachsenen .......................................................
IV. Zwangsverhütungen ...................................................................
V. Verfahren ................................................................................
163
163
163
163
164
§ 17 Datenschutz und Schweigepflicht ...................................................
166
I. Grundlagen ..............................................................................
II. Spezielle Regelungen ..................................................................
III. Schweigepflichten im Team ..........................................................
IV. Handlungsgrundsätze .................................................................
166
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169
§ 18 Vergütung und Aufwendungsersatz ................................................
171
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Gesetzliche Grundlagen und Kostenträger .......................................
III. Vergütungsregelungen für Betreuer ................................................
IV. Abwicklung nach Versterben der Betreuten ......................................
V. Vergütung für Verfahrenspfleger ...................................................
171
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179
§ 19 Haftung und Versicherungen ........................................................
181
I. Verantwortlichkeit von Betreuern ..................................................
II. Haftung gegenüber dem Betreuten .................................................
III. Haftung des Betreuers gegenüber Dritten ........................................
IV. Aufsichtspflichten des Betreuers ....................................................
V. Haftung von Einrichtungen ..........................................................
VI. Versicherungen .........................................................................
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§ 20 Abschluss der Betreuung ..............................................................
189
I. Allgemeines ..............................................................................
II. Totenfürsorge ...........................................................................
III. Schlussabwicklung und Herausgabe ...............................................
189
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Inhaltsverzeichnis
Anlage I: Anträge, Muster .................................................................
192
1. Anregung zur Einrichtung einer Betreuung ...........................
2. Merkblatt für die Anregung auf Betreuung an das
Amtsgericht ..................................................................
3. Inhalt eines ärztlichen Gutachtens bzw Zeugnisses für die
Anordnung einer Betreuung .............................................
4. Betreuungsanordnung .....................................................
5. Eilgenehmigung des Gerichts (§§ 1908 i, 1846 BGB) ..............
6. Verpflichtungsprotokoll und Merkblatt für die Betreuerinnen
und Betreuer .................................................................
7. Liste für Aufgaben zu Beginn der Betreuung .........................
8. Vermögensverzeichnis .....................................................
9. Berichtsanforderungen und Berichte ...................................
9.1 Berichtsanforderung ...............................................
9.2 Berichtsmuster ......................................................
9.3 Zwangsgeldandrohung ...........................................
10. Muster zu Anträgen und Bescheidungen ..............................
10.1 Freigabeantrag ......................................................
10.2 Betreuungsgerichtliche Genehmigung zu einem
Rechtsgeschäft ......................................................
10.3 Übersendungsschreiben zu der Genehmigung ...............
10.4 Beanstandung zu einer finanziellen Abwicklung ............
10.5 Einforderung der Rechnungslegung ...........................
10.6 Prüfvermerk .........................................................
10.7 Antrag auf Genehmigung einer Maßnahme nach § 1906
Abs. 1 BGB ..........................................................
10.8 Bitte um Mitwirkung der Betreuungsbehörde ...............
10.9 Bericht über Durchführung der Maßnahme .................
10.10 Bericht über Beendigung einer Unterbringung nach
§ 1906 Abs. 1 BGB ................................................
10.11 Schreiben betr. Entscheidungen über passive Sterbehilfe,
mit Hilfsgenehmigungsantrag ...................................
11. Vorläufige Genehmigung bei der Unterbringung und der
ärztlichen Zwangsmaßnahme (§ 1906 BGB) .........................
12. Beschluss nach dem PsychKG ...........................................
13. Beispiel für eine Patientenverfügung ...................................
14. Beispiel für eine Vorsorgevollmacht ...................................
15. Beispiel für eine Betreuungsverfügung .................................
16. Betreuung zur Ergänzung einer Bevollmächtigung .................
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202
202
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206
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Inhaltsverzeichnis
Anlage II: Fallverläufe in Form von Aktenauszügen ..................................
217
Fall 1: Demenz; Sicherungsmaßnahmen ..................................
217
Fall 2: Grenzfall geistige Behinderung/Krankheit;
Vermögensverwaltung ...............................................
222
Fall 3: Geistige Behinderung ................................................
226
Fall 4: Abhängigkeit, Unterbringungsmaßnahmen .....................
230
Stichwortverzeichnis ..........................................................................
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I. Rechtliche Voraussetzungen
2
Wenn man das ernst nimmt, bleiben kaum Anwendungsfälle, weil diese Klärung in
der Regel mehr Zeit erfordert, als die Beschaffung eines Vertreters.
Das Ziel einer Betreuung ist die Begründung von Vertretungskompetenz (§ 1902 14
BGB), die natürlich mit einer tatsächlichen „Betreuung“ im Innenverhältnis einhergeht. Betreuung verschafft grundsätzlich keine Dienstleistung, sondern einen Vertretungsberechtigten. Allein tatsächliche Betreuungsdefizite sollen dadurch nicht aufgearbeitet werden.
Versorgung mit Lebensmitteln, Essen, Vermüllungsprobleme etc. sind nur dann über
eine Betreuung „lösbar“, wenn es darum geht, durch Entscheidung diese Fragen zu
regeln, Vereinbarungen im Namen des Betroffenen zu schließen, zB Pflegedienste zu
organisieren.1 Die Abwicklung selbst ist nicht Sache des Betreuers. Er muss sie nur
überwachen.
Daneben ist die Anordnung einer Betreuung auch dann möglich, wenn es darum 15
geht, einen Bevollmächtigten zu kontrollieren, ggf auch die Vollmacht zu widerrufen.2
I. Rechtliche Voraussetzungen
Eine Betreuung ist für Volljährige, also Menschen ab 18 Jahren, nach § 1896 Abs. 1 16
BGB möglich bei
n
n
n
n
psychischen Erkrankungen oder
geistigen Behinderungen oder
seelischen Behinderungen oder
(nur) körperlichen Behinderungen.
Als „psychische Krankheiten“ werden erfasst:
17
Alle nicht körperlich begründbaren seelischen Erkrankungen, auch seelische Störungen, die körperliche Ursachen haben sowie Abhängigkeitserkrankungen mit Folgeproblemen.3
„Geistige Behinderungen“ meint: Durch Geburtsschädigungen wie durch Erkran- 18
kung oder Unfall erworbene Intelligenzdefizite verschiedener Schweregrade.4
Unter „seelischen Behinderungen“ werden verstanden: Lang anhaltende oder blei- 19
bende psychische Beeinträchtigungen, insb. als Folge psychischer Erkrankungen sowie als Auswirkung des Altersabbaus.5
1 Die Beseitigung einer Vermüllung enthält viele tatsächliche Elemente. Deshalb hat das OLG Oldenburg in
FamRZ 2004, 1320 ff eine Betreuung für unzulässig gehalten, darauf verwiesen, es handele sich im Schwerpunkt um ein tatsächliches Problem und als Lösung notfalls auf die öffentlich-rechtliche Unterbringung, das
Einsperren des „Messis“ verwiesen.
2 Eine wirksam erteilte Vollmacht kann durch einen geschäftsunfähig bzw einwilligungsunfähig Gewordenen
nicht mehr selbst wirksam widerrufen werden, BayObLG BtPrax 2002, 214; OLG Schleswig BtPrax 2006,
191. Etwas anders gilt allerdings beim Widerruf der Patientenverfügung. Hier genügt der „freie Wille“; vgl
BGH BtPrax 2003, 123.
3 Abhängigkeit allein genügt nicht für die Anordnung einer Betreuung; BayObLG FamRZ 1999, 1306 mwN. Im
Einzelnen dazu unten Rn 115 ff.
4 BayObLG BtPrax 1994, 29.
5 BayObLG BtPrax 2002, 37.
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2
§ 2 Grundlagen
20 In den praktischen Vorgängen werden oft Mischformen vorliegen. So ist bei den im
Anhang II vorgestellten Fällen 2 bis 46 zum Teil zweifelhaft, welchem Bereich die Betroffenen jeweils zuzuordnen sind. Steht mehr die jeweilige akute Erkrankung oder
das Grundleiden, die Behinderung oder die psychische Auffälligkeit im Vordergrund?
21 Erfahrungsgemäß hilft es nicht weiter, darüber grundsätzlich zu streiten. Es sollte
vorrangig versucht werden, das konkrete Lebensproblem und seine Einbettung zu beschreiben. Dann löst sich im Alltag meist auch der Streit um Betreuungen für Abhängige auf. Die Abhängigen, die mit diesem System in Berührung kommen, haben in
der Regel bereits derart massive Folge- oder Begleitprobleme, dass es darauf ankommen wird, zu klären, ob es im Einzelfall allein um die Sucht oder nicht letztlich um
mehr geht.
22 Massive soziale Beziehungsprobleme können beispielsweise ebenso Krankheitswert
im Sinne der ICD 10 – Einstufungen haben wie Persönlichkeitsveränderungen.
23 Es gibt wenige Betreuungen, die für Betroffene angeordnet werden, die ausschließlich
körperliche Behinderungen haben. Solche Betreuungen könne nur auf eigenen Antrag
eingerichtet werden (§ 1896 Abs. 1 S. 3 BGB), es sei denn, die Betroffene kann den
Willen nicht kundtun. Im letzteren Fall wird sich in der Praxis in der Regel die Annahme überdeckend auswirken, dass dann auch die mangelnde Beeinträchtigung
nicht feststeht, im Zweifel auch eine weitere Behinderung gegeben sein wird.
24 So mag es bei einer Schlaganfallpatientin mit Sprachlähmung und fehlender Schreibmöglichkeit aus den Reaktionen nahe liegen, dass sie viel versteht, sie damit „nur“
körperlich behindert ist. Sicher ist das nicht. Wenn Regelungsbedarf besteht, wird die
Praxis, zB Angehörige, Ärzte, Dienste, sich mit ihrer Ablehnung nicht begnügen, sondern annehmen, dass wohl auch sonstige Defizite bestehen und auf eine
„Zwangs-“Betreuung drängen.
25 Wenn einmal ein Antrag durch eine ausschließlich Körperbehinderte gestellt werden
sollte, wird in der Regel zudem darauf verwiesen, dass es möglich ist, das bestehende
Problem durch selbst bestellte Vertretungen (Vollmachten) zu regeln.
26 Nach § 1896 Abs. 1 a BGB darf „gegen den freien Willen des Volljährigen“ ein Betreuer nicht bestellt werden. Diese zum 1.7.2005 eingeführte Neuregelung sollte das
durch Art. 1 Abs. 1 GG verbriefte Recht, sein Leben nach seinen eigenen Vorstellungen zu gestalten,7 sichern. Dabei ist auch die Rede vom „Recht auf die eigene
Krankheit“. Nach anfänglicher Verunsicherung über die Abgrenzung des „freien Willens“ zu der in der zivilrechtlichen Dogmatik bekannten Geschäftsfähigkeit hat sich
in der Rechtsprechung durchgesetzt, dass die freie Willensbestimmung und die Geschäftsfähigkeit , auf die § 104 Nr. 2 BGB abstellt, im Kern deckungsgleich sind.8 Es
geht um die Einsichtsfähigkeit des Betroffenen und dessen Fähigkeit, nach dieser Einsicht zu handeln, mithin die Fähigkeit, die für und wider eine Betreuerbestellung
sprechenden Gesichtspunkte zu erkennen und gegeneinander abzuwägen. Wichtig ist
dabei das Verständnis, dass ein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, der eigenständige
6 Ausführliche Fallbeispiele in der Anlage II aE des Buches.
7 Vgl dazu BVerfGE 30, 1, 25 f.
8 Vgl zum Ganzen BGH BtPrax 2011, 127.
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I. Rechtliche Voraussetzungen
2
Entscheidungen in den ihm übertragenen Aufgabenkreisen treffen kann. Denknotwendig setzt das Voraus, dass der Betroffene seine Defizite wenigstens im Wesentlichen zutreffend einschätzen kann.
Die Gefahr der Regelung in § 1896 Abs. 1 a BGB liegt auch darin, dass Entschei- 27
dungsbegründungen falsch dahin verstanden werden können, dass diese Unfähigkeit
mit der Entscheidung festgeschrieben ist. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich um
eine rein punktuelle Bewertung. Auch bei Zwangsbetreuungen gilt deshalb der im
Übrigen so oft fehlzitierte Satz: Betreuung macht nicht geschäftsunfähig. Genauso
wenig macht aber die Betreuung geschäftsfähig. Beides hat mit Betreuung allein eben
nichts zu tun.
Es zeigt sich im Alltag, dass Betreuung als rechtliches Instrument dann nutzbar ist, 28
wenn sich bei einem nicht materiell entscheidungsfähigen oder einem der Betreuung
zustimmenden9 Volljährigen ein Behinderungsproblem oder eine psychische Krankheit Bestätigung findet, sich
n daraus eine Beeinträchtigung in der Wahrnehmung eigener Rechte oder Interessen ergibt und ein
n konkretes Ziel aus dem Interessenbereich des Betroffenen beschreibbar ist, das
n ohne diese Anordnung nicht wirksam erreichbar erscheint.10
Die Betroffene muss entweder einverstanden sein oder sich nicht äußern. Wenn sie 29
eine derartige Hilfe ablehnt, kann rechtliche Betreuung dennoch eingesetzt werden,
wenn die Betroffene nicht versteht, worum es geht, weil bzw soweit sie geschäftsbzw einwilligungsunfähig ist.
Alle Elemente müssen ernst genommen werden, alle zu bejahen sein. Eine psychische 30
Erkrankung oder eine Behinderung sind kein zureichender Anordnungsgrund.
Es ist andererseits wenig glücklich, Betreuungen erst anzuregen, wenn es Probleme 31
mit dem Geld gibt.11 Das „Mitspielen“ der Ärzte usw., auf das dabei gerne verwiesen
wird, hat bei kritischer Betrachtung einen recht manipulativen Charakter.
Der weitere Einwand, es sei auch im Interesse des Betroffenen, ihm das gerichtliche 32
Verfahren zu ersparen, solange es irgendwie möglich sei, hat einen ähnlichen Hintergrund. Es gibt Betroffene, die sich mit dem Gericht schwer tun. Gibt es nicht ebenso
viele Einrichtungen, Mitarbeiter, Heime, Krankenhäuser, die genauso viele oder mehr
Probleme mit dem Verfahren haben und empört oder verstört auf den vermeintlichen
Rechtfertigungsdruck reagieren?
Es leben beispielsweise viele Personen mit erheblichen sozialen Problemen zuzüglich 33
erheblicher Schulden, ohne dass für sie Betreuungen bestehen oder erwogen werden.
9 Für die etwaige Zustimmung wird es grundsätzlich auf die Verfahrensfähigkeit ankommen, nicht die materielle Kompetenz, also nicht die Einwilligungs- bzw Geschäftsfähigkeit. Trotz Verfahrensfähigkeit nützt der
Widerspruch andererseits nichts, wenn mangels materieller Fähigkeiten rechtliche Hilfe nötig ist, die die Betroffene aber noch nicht akzeptieren kann (Zwangsbetreuung).
10 An diesem Punkt können die Diskussionen zu den Widerstandsfällen festgemacht werden. Betroffenen, die
sich wirksam wehren, wird nicht mit einer rechtlichen Betreuung zu helfen sein. Die Hilfswillige müssen damit leben, dass es Menschen gibt, die lieber selbstbestimmt schlecht aber frei leben wollen, als fremdbestimmt warm/sauber/trocken.
11 Antragsformular Anlage I, 1.
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2
§ 2 Grundlagen
Wenn sich in der Schuldnerberatung zeigt, dass ihnen so nicht zu helfen ist, gibt es
Situationen, die zu einer Betreuung für diesen engen Bereich führen können, etwa mit
dem Aufgabenkreis:12 Wahrnehmung der Rechte der Betreuten im Zusammenhang
mit einer Schuldenregulierung.
34 Es gibt solche Betreuungen. Voraussetzung ist dann, dass ein Gutachter den sozialen
Koordinationsproblemen und dem fehlenden Befähigungsgrad die Qualität einer spezifischen aber zureichenden Behinderung zuschreibt: zB: abweichendes soziales Verhalten iVm depressiven Störungen.13
35 Das Gericht muss bereit sein, den Weg zu dem erstrebten Ziel über eine Betreuung
mitzutragen. Wenn der Betroffene sich wehrt, wird der Begründungsaufwand größer,
es dennoch nicht allein deshalb aussichtslos sein, ihm diese Hilfe aufzudrängen; natürlich nicht jedem Schuldner. Zum einen ist deren Recht auf Eigenwilligkeit bis zur
Selbstschädigung zu akzeptieren, solange er weiß, was er sich damit antut. Zum anderen sind eigene Vorsorgemaßnahmen vorrangig, wenn sie wirksam geschaffen sind
und ein Handlungswilliger auf dieser Grundlage die im Interesse der Betroffenen gebotenen Dinge veranlasst.
36 In der Praxis werden Betreuungen auch für Menschen mit Anpassungs- und Umsetzungsproblemen angeordnet. Sparmaßnahmen in vielen Bereichen erzeugen einen
Verdrängungsdruck. Das führt dazu, dass das Betreuungsrecht als Auffangbecken
dient.14 Auch diese Klienten, zB sozial isolierte und mehrfach geschädigte Verschuldete, mehrfach geschädigte Abhängige, desorientierte Krankenhauspatienten sind
nach Ansicht in der Regel aller Beteiligten, Behörden, Einrichtungen betreuungsbedürftig.
II. Tatsächliche Problemfelder
37 Insgesamt gibt es im Bundesgebiet inzwischen für ca. 1.300.000 Menschen (1995:
624.695; 31.12.2007: 1.242.180; 31.12.2011: 1.319.361) rechtliche Betreuungen,15
wobei vieles dafür spricht, dass ein erhebliches „Reservoir“ an Betroffenen vorhanden ist.
38 Die Zahl der bestehenden Betreuungen hat sich seit Einführung des Betreuungsrechts
etwa vervierfacht. Die Kosten sind stärker gestiegen.
39 Ausgaben für rechtliche Betreuung aus der Staatskasse; ohne Personalkosten in den
Gerichten etc. und ohne eigene Kosten zureichend vermögender Betreuter:
12 Formular mit Auflistung der üblichen Aufgabenkreise Anlage I, 1.
13 Anforderungen an den Inhalt eines Betreuungsgutachtens im Merkblatt Anlage I, 3. – Die Nutzung eines anderweit erstellten Gutachtens ist eher theoretischer Natur, hat in der Praxis keine nachhaltige Umsetzung
erfahren.
14 Das ist kein neues Phänomen. Auch im alten Recht (vor 1992) der Gebrechlichkeitspflegschaft gab es ähnliche Wellen, vgl Gephart, Sozialpsychiatrische Beratungsstellen im Spannungsfeld von Eingriffsverwaltung
und Therapie am Beispiel der Gebrechlichkeitspflegschaft, in: Psychiatrie in Hannover, H. Haselbeck u.a.,
S. 128 ff.
15 Die Ausgangszahlen für 1992 sind wenig verlässlich. So gab es zB aus der Zeit davor auch Sammelentscheidungen für Hunderte von Bewohnern von Einrichtungen, die erst in den Jahren nach 1992 aufgearbeitet
und zureichend statistisch erfasst worden sind.
30
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II. Tatsächliche Problemfelder
n
n
n
n
2
1999: 246 Mio. EUR
2001: 338 Mio. EUR
2005: 437 Mio. EUR
2011: 743 Mio. EUR.
Die Zahlen zeigen, dass es sich auch um Vorgänge mit erheblichen wirtschaftlichen 40
Auswirkungen handelt. Sie treten mit dieser Fragestellung in der Regel aber nur aus
Sicht der Verwaltungen und Gerichte und des Gesetzgebers in den Vordergrund. Für
die Betroffenen, ihre Angehörigen und Betreuer ist jeweils ihr Schicksal, ihr Einzelfall
das zentrale Lebensthema. Sie erwarten, mit der Intensität ihrer Betroffenheit ernst
genommen zu werden, sind in der Regel wenig bereit, sich als einzelne von vielen zu
sehen oder behandeln zu lassen.
Betreuungen kommen insbesondere für drei große Gruppen von Betroffenen in Be- 41
tracht:
n für Personen, die aufgrund besonderen Altersabbaus nicht mehr in der Lage sind,
sich zureichend um die eigenen Angelegenheiten zu sorgen (seelische Behinderungen); zum anderen
n für Erwachsene mit angeborenen oder erworbenen (geistigen) Behinderungen;
schließlich
n für solche mit psychischen Krankheiten und Sucht- sowie Unfallopfer.
Die Einschätzung der Lebensprobleme und der Umgang mit den einzelnen Menschen 42
und ihren Betroffenheiten ist dabei sehr unterschiedlich, je nachdem aus welcher Beteiligung man sich dem Vorgang nähert. Um die in einem betreuungsrechtlichen Fall
enthaltenen Probleme zu erfassen, wäre denkbare Vorgehensweise für Betreuer zB:16
n Sachverhalt klären insbesondere: Inhalt des bisherigen Vorlaufs, bisheriger Problemlösungsversuche, Einschätzung der Stadien der Einsichtsfähigkeit; welche
Stellen waren bisher mit welchem Erfolg beteiligt? Was ist nötig? Wie Grenzen
bestimmen (zB: ohne welche ist nichts erreichbar)? Was passiert ohne Maßnahmen?
n Untersuchung von Alternativen (andere Hilfen; Sozialanamnese), Abgrenzungen
der Notwendigkeit der erwogenen Maßnahmen.
n (Erneuter) Versuch zur Beteiligung des Betroffenen/Strukturgespräche mit Angehörigen.
n Wer kommt als Handelnder in Betracht? Wer verfolgt dabei welche Interessen?
Interessenkollisionen?
n Beratung durch Spezialdienste, Betreuungsbehörde suchen.
n Sind ärztliche, andere soziale Fachdienste einzuschalten/möglich? Sind denkbare
Handlungsstrategien rechtlich fundiert?
n Überprüfung der Notwendigkeit einer Umsetzung eines etwaigen gerichtlichen
Beschlusses (Auswertung des Inhalts/Was hat das Gericht entschieden/Rechtsbehelfe?).
16 Formulare und weitere Beispiele, auch für die nötigen Anträge usw sind am Ende des Buches in der Anlage I
abgedruckt.
31
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II. Patientenverfügung
13
n Diese kann sich bei geringfügigen Maßnahmen aber aus den Umständen ergeben.
n Eine Einwilligung ist nicht übertragbar. Die Zuziehung weiterer Personen muss in
der Regel neu legitimiert werden.
n Die Maßnahmen dürfen nur zu dem durch die Einwilligung gedeckten Zweck
durchgeführt werden. Das gilt zB auch für Blutuntersuchungen.
n Kann die Betroffene den Vorgang nicht zureichend verstehen, ist ihre eigene Erklärung unwirksam/bedeutungslos. Eine wirksame Einwilligung oder Verweigerung kann dann nur durch einen zureichend legitimierten Vertreter, zB einen Bevollmächtigten oder rechtlichen Betreuer, nie durch einen Angehörigen allein als
solchen, erklärt werden.
n Das Handeln eines Vertreters folgt anderen Regeln als die Selbstentscheidung des
Betroffenen. Vertreter benötigen zB manchmal zusätzlich eine gerichtliche Genehmigung.
n Das Handeln von Vertretern kann nicht durch routinemäßigen Einsatz von „mutmaßlicher Einwilligung“ ersetzt werden. Eine mutmaßliche Einwilligung kommt
nur ausnahmsweise und nur dann in Betracht, wenn ein Vertreter weder erreichbar ist, noch eine Vertretung rechtzeitig geschaffen werden kann.
n Die mutmaßliche Einwilligung bestimmt sich nicht nach abstrakten Kriterien,
sondern kann immer nur aus den individuellen Vorstellungen und Wünschen dieses konkreten Patienten abgeleitet werden.
n Notwehr und Notstand haben als Alltagsrechtfertigungen seit langem ausgedient,
vermögen zB keine immer wieder eingesetzten Sicherungen zu legitimieren.
n Soll eine medizinische Maßnahme nicht durch einen Arzt vorgenommen werden,
wird es oft erforderlich sein, darauf hinzuweisen, wer handeln wird. Es ist dann
ggf eine zusätzliche Einwilligung erforderlich; wenn nichtärztliches Hilfspersonal
tätig werden soll.
n Aufklärungen, Einwilligung und Umsetzungen sind nachvollziehbar zu dokumentieren.
n Berufsrecht wie sonstige Spezialregelungen (auch zB AMG, BtMG) können
Handlungsbefugnisse begrenzen oder Abwicklungswege vorgeben. Das bindet
nur die davon Betroffenen, nicht ohne Weiteres die Patienten/Klienten. Das gilt
für alle Fachkräfte und Einrichtungen. Kein Angehöriger, Betreuer o.Ä. kann ihnen vorschreiben, wie sie zu handeln haben, wenn die berufsbezogenen verbindlichen Qualitätsstandards dem entgegenstehen. Die Standards berechtigen nicht
zum Handeln für oder gegen Dritte.
n Handlungspflichten = Aufgaben geben noch keine Umsetzungsbefugnisse. Fehlende eigene Umsetzungsbefugnisse rechtfertigen kein Nichtstun.
Diese Grundlagen geraten im Betreuungsrecht immer wieder erstaunlich schnell in
Vergessenheit.
II. Patientenverfügung
Will ein Patient sicherstellen, dass sein Wille auch umgesetzt wird, wenn er einwilli- 10
gungsunfähig wird, muss er eine Patientenverfügung errichten. Früher waren die
rechtlichen Voraussetzungen Wirkungen einer solchen Verfügung unklar, weil gesetz127
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13
§ 13 Ärztliche Maßnahmen
liche Regelungen fehlten, auch wenn nach Schätzungen der Bundesregierung 2009
bereits 8 Millionen Menschen eine Patientenverfügung errichtet hatten. Nach langer
wissenschaftlicher und politischer Diskussion hat der Gesetzgeber seit dem 1.9.2009
die Wirksamkeit und Wirkung der Patientenverfügung in §§ 1901 a f BGB geregelt.
Der Bundesgerichtshof gab mit seiner grundlegenden Entscheidung vom 17.3.2003,8
in der er eine gesetzgeberische Entscheidung anmahnte, den entscheidenden Anstoß
für das Gesetzgebungsverfahren. Da das Thema auch innerhalb der Fraktionen umstritten war, zog die Bundesregierung ihren Entwurf zurück. Dem Bundestag lagen in
der Folgezeit drei Gesetzentwürfe vor,9 die dann die Grundlage des am 18.6.2009
vom Bundestag beschlossenen Gesetzes10 bildeten.
11 Die Patientenverfügung ist nach ihrer Legaldefinition eine Willensbekundung einer
einwilligungsfähigen Person zu nicht unmittelbar bevorstehenden medizinischen und
begleitenden Maßnahmen. Die Patientenverfügung ersetzt damit die Einwilligung des
einwilligungsunfähigen Patienten. Der in der Patientenverfügung niedergelegte Wille
des Patienten wird somit dem aktuellen Willen eines einwilligungsfähigen Patienten
gleichgestellt. Dieser Wille des Patienten kann, wenn die Prüfung der Patientenverfügung deren Verbindlichkeit ergibt, nicht vom Betreuer oder Betreuungsgericht durch
einen Rückgriff auf einen mutmaßlichen Willen des Betroffenen korrigiert werden.
Der Gesetzgeber will mit dieser Regelung das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen
stärken, damit dessen eigener Wille statt der des Betreuers oder Bevollmächtigten berücksichtigt werden kann.
12 Die Patientenverfügung muss schriftlich und höchstpersönlich errichtet werden, der
Errichtende muss volljährig und einwilligungsfähig sein. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dagegen entschieden, die Wirksamkeit von der vorherigen ärztlichen Aufklärung abhängig zu machen. Dies steht genau genommen in einem Widerspruch zur
Funktion der Patientenverfügung als konkrete Einwilligung in ärztliches Handeln,
wenn man die Rechtsprechung zur Notwendigkeit der Aufklärung für eine wirksame
Einwilligung bedenkt. Die Patientenverfügung ist jederzeit frei widerrufbar.
13 Die Patientenverfügung erfasst nur ärztliche Maßnahmen, also nicht die ärztliche Basisversorgung. Sie ist aber nicht – wie im Gesetzgebungsverfahren diskutiert wurde –
auf Maßnahmen am Lebensende beschränkt. Vielmehr stellt § 1901 a Abs. 3 BGB
ausdrücklich klar, dass jede Krankheit und jedes Lebensstadium erfasst ist.
14 Ist kein Betreuer bestellt, stellt der Arzt allein fest, ob die Maßnahme dem Willen des
Patienten entspricht. Dies war nach Erlass des Gesetzes zunächst umstritten,11 wurde
aber vom Gesetzgeber später klargestellt.12 Ist ein Betreuer bestellt, schreibt § 1901 b
BGB vor, dass weder der Arzt noch der Betreuer allein die Entscheidung treffen soll,
die Entscheidung vielmehr zwischen Arzt, Betreuer und weiteren Beteiligten, wie etwa Angehörigen, erörtert werden soll. Dabei sollen die Beteiligten auch Einigkeit er-
8
9
10
11
12
128
BGH BtPrax 2003, 123, 126.
BT-Drucks. 16/8442, 16/11360 und 16/11493.
BT-Drucks. 16/13314.
Vgl Olzen/Lilius-Karakaya, BtPrax 2013, 127, 130.
BT-Drucks. 17/10488 S. 54 f.
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III. Vertretung bei Einwilligungen
13
zielen, ob die anstehende Maßnahme von der Patientenverfügung gedeckt ist oder
nicht.
Ist ein erwachsener Patient nicht in der, Lage, eine wirksame Einwilligung zu erklä- 15
ren und hat er seinen Willen auch nicht zuvor mit einer Patientenverfügung niedergelegt, bedarf es einer Fremdentscheidung, die durch einen ausreichend ermächtigten
Vertreter oder das Betreuungsgericht, aber nicht durch Angehörige als solche erklärt
werden kann. Nach § 1901 a Abs. 2 und 3 BGB sollen die Beteiligten versuchen, den
mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu ermitteln. Anders als bei dem Vorgehen
nach § 1901 a Abs. 1 BGB muss nunmehr aber ein ggf zu bestellender Betreuer die
Willenserklärung abgeben.
III. Vertretung bei Einwilligungen
Der Betreuer kann im Gesundheitsbereich nur dann entscheiden, wenn der Betreute 16
einwilligungsunfähig ist und dem Betreuer dieser Aufgabenkreis zugewiesen ist. Die
Zuweisung des Aufgabenkreises allein genügt nicht. Es gibt hier keine Bereiche mit
Doppelzuständigkeit. Nur wenn der Betreute einwilligungsunfähig ist, können in diesem Bereich Entscheidungen für ihn getroffen werden.13
In diesem Bereich gibt es noch große Verständnisdefizite im Alltag, auch viel literari- 17
schen Streit.14 Die Grundauseinandersetzung zu der Natur betreuungsrechtlicher
Fremdentscheidungen schlägt hier voll durch. Wenn man, wie der BGH zu Recht,
den fürsorglichen, hoheitlichen Übergriff auf den Betreuten betont,15 muss seine Abwehr sehr lange ertragen werden, bleibt er allein befugt, so lange er (wirksam) widerspricht, möglicher Weise sogar noch danach (vgl dazu § 15 Rn 12 ff).
Gelegentlich versucht man „vorsichtshalber“, möglichst beide, den Betreuten und 18
den Betreuer unterschreiben zu lassen, in der Hoffnung, dann liege jedenfalls eine
wirksame Einwilligung vor. Das ist vom Ansatz nicht unzutreffend, hilft allerdings
nur, solange man sich unproblematisch außerhalb des Umfeldes von § 1904 BGB bewegt. In dem Augenblick, wo dessen Anwendung in Betracht kommt, gibt es ein Dilemma. Der Betreute benötigt für eine eigene wirksame Einwilligung nie eine Genehmigung, der Betreuer in diesem Bereich schon. Wenn die vorgesehene Maßnahme
§ 1904 BGB unterfällt, nützen also auch beide Unterschriften allein noch nichts. Das
wird dann leicht übersehen.
Es können also drei Vorgaben zu erfüllen sein, bevor eine wirksame Einwilligung des 19
Betreuers vorliegt. Zum einen die Einwilligungsunfähigkeit der Betreuten. Dann die
Übertragung dieses Aufgabenkreises. Und gegebenenfalls noch die etwa nach § 1904
BGB notwendigen Genehmigung des Gerichts.
13 Das ist, entgegen seinem Wortlaut, nicht mit § 1903 BGB (Einwilligungsvorbehalt) korrigierbar.
14 JurisPK-BGB, Bieg/Jaschinski, § 1904 BGB Rn 13 ff mwN.
15 BGH NJW 2006, 1277 ff.
129
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13
§ 13 Ärztliche Maßnahmen
IV. Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen (§ 1904 BGB)
20 Hat der Betreuer oder wirksam Bevollmächtigte anstelle des einwilligungsunfähigen
Betroffenen zu entscheiden, bedarf er ggf noch der betreuungsgerichtlichen Genehmigung nach § 1904 BGB. Das ist eine zusätzliche Wirksamkeitsvoraussetzung. Nicht
die Behandlung oder der Mediziner bedarf der Genehmigung, sondern der Betreuer
oder Bevollmächtigte für seine Einwilligung.
21 Die Genehmigung ist nur erforderlich, wenn die ärztliche Maßnahme (Untersuchung,
Heilbehandlung und ärztlicher Eingriff) die Gefahr des Todes oder eines schweren
und länger dauernden gesundheitlichen Schadens in sich birgt.
22 Ob eine gerichtliche Genehmigung erforderlich ist, ergibt sich aus einer Abschätzung
der Folgen der Maßnahme, der der Betreuer zustimmen will. „Standard“-Risiken,
wie sie zB bei jeder Vollnarkose eintreten, sollen noch nicht als Gefahren angesehen
werden, die ein Genehmigungserfordernis auslösen; erst darüber hinausgehende. Oft
wird dabei der Blick auf die unerwünschten Nebenfolgen der Maßnahmen gerichtet,
nicht die erstrebten. Das Gesetz gibt diesen Blickwinkel nicht vor, geht im Gegenteil
auch davon aus, dass gewollte schwere Folgen, wie zB bei einer Amputation, Genehmigungsgrund sein können. Die Auflösung der Bewertungsschwierigkeiten zu § 1904
BGB wird nicht über die Erarbeitung von Listen möglich sein, wie nach den vereinzelten gegenteiligen Versuchen Anfang der 1990er Jahre nunmehr wohl allgemein anerkannt ist.
23 Das Problem bei Eingriffen wie Medikationen liegt in der oft nur schwer quantifizierbaren konkreten Risikobestimmung. Für eine wirksame Einwilligung der Betreuer
wäre stets eine Aufklärung erforderlich, die auf Risiken wie Alternativen eingeht.
Wenn sich die Betreuer darauf bewusst einlassen, sich nicht von Ärzten und/oder Einrichtungsmitarbeitern überspielen lassen, dürfte es eigentlich nicht so schwer sein, die
Fälle zu finden, die „anders“ sind, die einen Kontakt mit dem Gericht gebieten.
24 Das Genehmigungserfordernis hängt nicht davon ab, ob „der riskantere Weg“ gewählt werden soll, sondern es wird allein an das Risiko der beabsichtigten Maßnahmen, nur ihr spezifisches Moment, angeknüpft. Auf die Frage, ob der risikoärmere
Weg gewählt werden soll, kommt es erst für das Gericht an, wenn es prüft, ob die
Genehmigung zu erteilen ist.
25 Ein Patient mit einem schwer geschädigten Bein soll allein dann eine Chance haben,
wenn amputiert wird.
Der Arzt sagt dann leicht, die Voraussetzungen des § 1904 BGB seien nicht ersichtlich, weil die einzige Chance, der „bessere“ Weg, in dem Eingriff liegt.
Der Jurist sagt:
Die Operation ist genehmigungsbedürftig, weil es sich um einen entsprechend erheblichen Eingriff handelt. Sie ist genehmigungsfähig, weil zum Überleben geboten.
26 Dass niemand den Betroffenen durch eine Behandlungsverweigerung sterben lassen
dürfte, ist eine mit der Genehmigungsbedürftigkeit nicht identische Frage.
130
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IV. Genehmigung des Betreuungsgerichts bei ärztlichen Maßnahmen (§ 1904 BGB)
13
Nach § 1904 Abs. 4 BGB ist eine gerichtliche Genehmigung nicht notwendig, wenn 27
Arzt und Betreuer feststellen, dass die beabsichtigte Maßnahme dem in der Patientenverfügung niedergelegten Willen entspricht. Hier wird deutlich, dass der Gesetzgeber
die Patientenverfügung aufwerten will.
Der Patient ist dabei im Übrigen nicht Arzt und Betreuer hilflos ausgeliefert: es genü- 28
gen schon Zweifel eines der beiden, um die Genehmigungsbedürftigkeit zu rechtfertigen. Außerdem kann jeder Dritte ein betreuungsrechtliches Verfahren anregen. Und
schließlich ist die Fernwirkung des Strafrechts nicht zu unterschätzen.16
Gibt es keine Patientenverfügung oder sind sich Arzt und Betreuer uneins, dann muss 29
das Betreuungsgericht darüber entscheiden, ob der Betreuer einwilligen darf. Dabei
soll das Gericht den Inhalt der Patientenverfügung und Behandlungswünsche oder
den mutmaßlichen Willen des Betreuten berücksichtigen. Bleiben Zweifel, ist dem
Schutz auf Leben Vorrang einzuräumen.
Das Problem stellt sich bei vielen Psychopharmaka. Ausgangspunkt der Betrachtung 30
zu § 1904 ist der Patient ohne Mittel. Es geht ihm angeblich oder vermutlich
schlecht. Deshalb soll er etwas erhalten. Für die Bewertung nach § 1904 BGB ist weiter zu fragen: Kann das Medikament die Krankheit heilen oder lindern? Ist das unproblematisch oder riskant? Abstrakt bei jedem Menschen oder trotz generell geringen Risikos hier jedenfalls mit besonderem individuellen Gefahrpotential?
Selbst wenn eine gerichtliche Genehmigung oder Ermächtigung vorliegt, bedeutet das 31
nur, dass die Betreuer nunmehr entsprechend handeln und entscheiden können, dagegen nicht, dass die von der Entscheidung unterrichteten Ärzte/Einrichtungen irgendwelche eigenen Kompetenzen erhalten. Sie haben immer nur eine abgeleitete Kompetenz, verantwortet von dem Betreuer.
Auch für den Arzt gibt es keinen Gutglaubensschutz bzgl des Vorliegens einer wirk- 32
samen Einwilligung. Er allein trägt im Streitfall die Beweislast dafür, dass der Richtige korrekt und vollständig aufgeklärt worden ist und danach wirksam zugestimmt
hat. Zu Letzterem gehört ggf auch das (zusätzliche) Vorliegen einer gerichtlichen Genehmigung.
In § 1904 Abs. 5 BGB hat der Gesetzgeber nunmehr klargestellt, dass diese Regelun- 33
gen auch für Vorsorgevollmachten gelten. Raum für eine mutmaßliche Einwilligung
ist daher nicht mehr gegeben.
Im Alltag machen diese Konstellationen viele Schwierigkeiten, weil die inhaltlichen 34
Anforderungen an eine wirksame Bevollmächtigung recht hoch sind. Die generelle
Zuweisung von Entscheidungen im gesundheitlichen Bereich genügt nicht, auch
nicht, wenn sie in einer beurkundeten Generalvollmacht steht. Die ausdrückliche Bevollmächtigung, „alles, was rechtlich möglich sei, könne entschieden werden“, ist unzureichend. Das BGB verlangt hier, das konkret benannt, was mit „alles“ gemeint ist.
Die Bereiche aus § 1904 BGB müssen ausdrücklich erwähnt sein. Ziel ist Warnung.
Dem Vollmachtgeber soll deutlich vor Augen geführt werden, was er für sich damit
16 Auf letzteres verweist der BGH in BtPrax 2005, 190.
131
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13
§ 13 Ärztliche Maßnahmen
auslösen kann. Erst wenn er das ausdrücklich ausgesprochen hat, kommt überhaupt
eine Zuständigkeit des Bevollmächtigten in Betracht.
35 Nur wenn das alles neben den Grundanforderungen an eine Vollmacht beachtet erscheint, kann hier die Vollmacht eine Betreuung ersetzen. Andernfalls ist eine Betreuung dafür einzurichten, selbst wenn es eine Vollmacht zu geben scheint, die sich nach
dem alltagssprachlichen Verständnis auch auf diesen Komplex bezieht.
36 Der zureichend ausdrücklich und wirksam Bevollmächtigte benötigt dann aber immer noch zusätzlich eine gerichtlichen Genehmigung, widrigenfalls seine Erklärungen
ohne Wert sind.
37 War die äußerlich perfekte Vollmacht nicht wirksam, weil der Vollmachtgeber bei
Erteilung doch schon geschäftsunfähig bzw einwilligungsunfähig war, ist trotz gerichtlicher Genehmigung die Einwilligung unwirksam, weil nicht zureichend auf bestehende Vertretungsmacht gestützt. Das verwirrt juristische Laien. Deshalb haben
viele Einrichtungen und Krankenhäuser lieber mit Betreuern zu tun, als mit Bevollmächtigten.
V. Dokumentationen
38 Es gibt im Bürgerlichen Recht keine Regelung für Dokumentationspflichten. Sie sind
für den ärztlichen Sektor weitgehend von der Rechtsprechung entwickelt worden.17
39 Für Heime im Sinne des Heimgesetzes gibt es eine Regelung in § 13 HeimG. Das
HeimG regelt insoweit die Anforderungen des Staates (der Heimaufsicht) an Heime,
nicht aber zB die Frage, wer was entscheiden oder regeln darf. Der Text in § 13
HeimG ist für die Klärung von Entscheidungsbefugnissen eher irreführend. Gedacht
haben die Gesetzesverfasser wohl an den Arzt, der ja aber gerade keine (bürgerlichrechtlichen) Entscheidungsbefugnisse hat. Die komplexe Thematik betreffend wirksame Einwilligungen wird darin nicht einmal angerissen.
40 Ein ähnliches Problem ergibt sich zu Nr. 5 „Verabreichung“. Im Heimbereich wird
das wohl überwiegend dahin verstanden, dass die Hingabe an den Betroffenen dokumentiert werden muss. Das wird im bürgerlich-rechtlichen Bereich als unzureichend
angesehen, wenn die Einnahme nicht sicher gestellt ist.
§ 13 HeimG (Aufzeichnungs- und Aufbewahrungspflicht)
(1) Der Träger hat nach den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Buch- und Aktenführung Aufzeichnungen über den Betrieb zu machen und die Qualitätssicherungsmaßnahmen und deren Ergebnisse so zu dokumentieren, dass sich aus ihnen der ordnungsgemäße Betrieb des Heims ergibt.
Insbesondere muss ersichtlich werden:
1. bis 4....
5. Erhalt, die Aufbewahrung und die Verabreichung von Arzneimitteln einschließlich der pharmazeutischen Überprüfung der Arzneimittelvorräte und der Unterweisung der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter über den sachgerechten Umgang mit Arzneimitteln,
6. Pflegeplanungen und die Pflegeverläufe für pflegebedürftige Bewohnerinnen und Bewohner, ...
7. bis 10....
17 Vgl etwa BGH NJW 1989, 2330.
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II. Zwangsmedikation
15
Es ist daher Sache der Betreuerin und des Umfeldes der Betroffenen, auf diese mit
den zulässigen Mitteln einzuwirken und für ein entsprechendes Bewusstsein einer
Gefährdung zu sorgen.“
Das wird von der Praxis so eher mit Unverständnis aufgenommen, zumal die Anrufung des Gerichts erfolgt, wenn bzw weil eine derartige Einwirkung nicht möglich
war oder sich als fruchtlos erwiesen hat. Auch an dieser Stelle bleibt dann wieder nur
der Diskurs der Beteiligten, um zu klären, was ggf mitgetragen werden wird.
II. Zwangsmedikation
Bis vor kurzem war die ärztliche Zwangsbehandlung, also die Behandlung auch ge- 12
gen den natürlichen Willen des Patienten, gesetzlich nicht geregelt. Es fehlte an einer
klar definierten Ermächtigungsgrundlage. Der Bundesgerichtshof ließ dennoch in
ständiger Rechtsprechung bis 2012 für eine solche Zwangsbehandlung § 1906 Abs. 1
Nr. 2 BGB genügen: wenn man schon unterbringen durfte, durfte man – so der BGH
– erforderlichenfalls auch zwangsweise behandeln.7 Das Gericht musste nur das Medikament benennen,8 den – unangenehmen – Rest hatte der Arzt zu erledigen.
Man muss sich vor Augen führen, was das in der tatsächlichen Umsetzung bedeuten 13
kann: der Patient wird mit Gewalt (Ärzte berichten oft davon, dass mehrere Pfleger
notwendig sind) fixiert, dh auf ein Bett festgeschnallt. Dann wird dem Patienten die
Spritze gesetzt mit einem Medikament, das der Patient ablehnt. Ein solche Behandlung kann ohne Weiteres zusätzlich traumatisieren, so dass einige Patienten schon
aus Angst vor dieser Behandlung die Tabletten „freiwillig“ schlucken. Andererseits
gibt es für die heutige Medizin bislang keine anerkannten alternativen Behandlungskonzepte.
Diese Rechtslage hat niemanden befriedigt.9 Es war nur eine Frage der Zeit, bis das 14
Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen ab 2011 zu Maßregelvollzugsgesetzen,10 Unterbringungsgesetzen11 und – in einem obiter dictum – dann auch zur
Unterbringung nach § 1906 BGB12 entschied, dass die – dürftige – Regelung der Ermächtigungsgrundlage bei einem so schwerwiegenden Eingriff verfassungsrechtlich
nicht genügte. Daraufhin gab auch der Bundesgerichtshof im Jahre 2012 seine Rechtsprechung auf und erklärte die Zwangsbehandlung im Rahmen einer geschlossenen
Unterbringung für unzulässig.13
Der Gesetzgeber schuf dann mit dem Gesetz vom 18.2.2013 die erforderliche Er- 15
mächtigungsgrundlage für die ärztliche Zwangsbehandlung in § 1906 Abs. 3, 3 a
BGB, mit dem die bis 2012 geltende Rechtslage möglichst nahe abgebildet werden
7
8
9
10
11
12
13
Zuletzt BGH BtPrax 2011, 38.
BGH NJW 2006, 1277.
Vgl etwa Pardey, 4. Aufl., § 13 Rn 51 ff.
BVerfGE 128, 282 = BtPrax 2011, 112.
BVerfGE 129, 269 = BtPrax 2011, 253; BtPrax 2013, 61.
BVerfG BtPrax 2012, 61.
BGH BtPrax 2012, 156; BtPrax 2012, 253.
159
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§ 15 Weitere Zwangsmaßnahmen
sollte.14 Es ist jetzt also alles wie bisher, nur von einer eingehenden gesetzlichen
Grundlage gedeckt.
16 Ist der Patient nicht einsichtsfähig, wurde vorher versucht, ernsthaft mit ihm zu sprechen, droht ein erheblicher gesundheitlicher Schaden, stellt die Maßnahme die ultima
ratio dar und überwiegt der zu erwartende Nutzen, dann darf der Patient jetzt wieder
gegen den natürlichen Willen behandelt werden.
17 Auch weiterhin ist das Gericht verpflichtet, das Arzneimittel oder den Wirkstoff im
Beschluss anzugeben. Letzteres war schon vor der Gesetzesänderung umstritten, weil
gerade im psychiatrischen Bereich unpraktikabel,15 entspricht aber nach wie vor der
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs.
18 Die Zwangsbehandlung darf nur im Rahmen einer Unterbringung erfolgen, wie der
Verweis von § 1906 BGB auf § 1906 Abs. 1 Nr. 2 BGB zeigt. Nach wie vor unzulässig bleibt die ambulante Zwangsbehandlung, also das zwangsweise Verbringen des
Patienten nur für die eine Spritze. Letzteres ist aus Gründen der Verhältnismäßigkeit
durchaus zu erwägen, da den Patienten häufig sog. Depotspritzen verabreicht werden, die nur alle drei bis vier Wochen notwendig sind. Der Bundesgerichtshof hatte
schon nach altem Recht die Zulässigkeit dieser Maßnahme mangels Ermächtigungsgrundlage verneint;16 da der Gesetzgeber die ambulante Zwangsbehandlung nicht regelte, ist sie weiterhin unzulässig.
19 Die materiellen Hürden für eine stationäre Zwangsbehandlung werden flankiert
durch prozessuale Anforderungen: eine langfristige Zwangsbehandlung setzt ein Gutachten eines externen Sachverständigen voraus (§ 321 Abs. 3 FamFG); die einstweilige Anordnung wirkt nur zwei Wochen (§ 333 Abs. 2 FamFG). Letztere Regelung ist
wohl zu viel des Guten: da psychiatrische Medikamente manchmal bis zu zwei Wochen brauchen, bevor sie beginnen zu wirken, führen die kurzfristigen Entscheidungen (meist kumulativ von Amtsgericht und Beschwerdegericht) dazu, dass der Patient
nicht zur Ruhe kommen kann und der Heilungsprozess noch später einsetzt. Das
führt dann dazu, dass die Ärzte die Patienten bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache ohne Behandlung nur verwahren. Dann stellt sich natürlich wieder die Frage,
ob das überhaupt zulässig, weil von der Ermächtigungsgrundlage gedeckt, ist.
III. Zugriffe auf Wohnungen
20 Folge des grundsätzlichen Streites ist, dass auch vertreten wird, Betreuer dürften nie17
zwangsweise in eine Wohnung eindringen.18
14 BT Drucks. 17/11513, S. 6.
15 Vgl etwa OLG Karlsruhe FGPrax 2007, 263.
16 BGH BtPrax 2001, 32; BtPrax 2008, 115. Diese Entscheidung verunsicherte die Instanzgerichte, die in der
Folgezeit teilweise dann auch die stationäre Zwangsbehandlung für unzulässig erklärten; vgl etwa OLG
Celle BtPrax 2006, 78. Dem stellte sich der BGH (BtPrax 2006, 145) dann aber entgegen.
17 Sonderregelungen für Vorführungen zB in §§ 283, 322 FamFG, die auch den Zugriff auf Wohnungen decken mögen, müssen dabei außer Betracht beleiben.
18 Das hält das OLG Oldenburg FamRZ 2004, 1320 ff, betr. eine Vermüllung, für so unproblematisch, dass
als Lösung auf die öffentlich-rechtliche Unterbringung, das Einsperren des „Messies“ verwiesen wird. Recht
grundsätzlich in der Verweigerung auch OLG Schleswig BtPrax 2008, 36.
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