Erklärung - Kunstuniversität Graz

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Erklärung - Kunstuniversität Graz
(Name in Blockbuchstaben)
(Matrikelnummer)
Erklärung
Hiermit bestätige ich, dass mir der Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG
bekannt ist und ich diese Richtlinien eingehalten habe.
Graz, den ……………………………………….
…………………………………………………….
Unterschrift der Verfasserin / des Verfassers
Leitfaden für schriftliche Arbeiten an der KUG (laut Beschluss des Senats vom 18. Juni 2013)
von 1
Seite
1
Masterarbeit
André Jolivet und die Idee der
französischen Musik im 20.
Jahrhundert – Der Orient und
die Antike
Am Beispiel von André Jolivets „Chant de Linos― und „Cinq
Incantations―
Ivona Radivojevic, BA
Kunstuniversität Graz, 2014/2015
Matrikelnummer: 0973033
Betreuerin: Ao.Univ.Prof. Dr.phil. Renate Bozic
2014/2015
Radivojevic Ivona
Alle Rechte vorbehalten
Abstract
Zu Beginn dieser Arbeit lernen wir Frankreich Ende des 19. und Anfang des 20.
Jahrhunderts kennen. Vorgestellt wird auch die Faszination des Orients, welche die
Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und die Kolonialausstellung (1931) mit allen
Künsten nach Frankreich gebracht haben. Frankreich, als ein Land, das Kolonien in allen
Ecken der Welt besaß, hatte auch einen Zugang zu den Informationen und Beispielen, wie
sich das Leben am letzten Ende der Welt abspielte und wie die Kunst und Kultur dort
aussahen. Einen Teil dieser Kultur haben sie nach Hause gebracht.
Die Antike war für ganz Europa sowohl im 17. und 18. als auch im 19. und 20. Jahrhundert
interessant. Was diese antike Idee in Frankreich im 19./20. Jahrhundert interessant machte,
war genau die Kombination des Orientalischen und Antiken. Die Grundthemen in der
Literatur, Malerei, Musik, der Rückblick auf das Griechische Theater wurden überall
verwendet. Jenes mit dem exotischen Klang der ungewöhnlichen polynesischen Tonleiter,
oder mit dem Rhythmus einer afrikanischen Trommel, oder ein Bild mit den Elementen
indischer Kultur, oder ein Gedicht in der Form typisch für Nordasien kombiniert, war der
entscheidende Punkt, dass man es ein französisches Phänomen nennen konnte. Frankreich
war zurzeit eine Wiege der Vielfalt. Nirgendwo in Europa ist es zu so einem
Orientinteresse gekommen wie in Frankreich und sicher auch nicht zu so einer
Kombination.
In dieser Wiege gab es viele Künstler, die Glück hatten, diese Periode ihre
„Schaffensperiode― nennen zu dürfen. Ich habe André Jolivet ausgewählt. Seine Idee, die
Musik zu ihren Anfängen - primitiven Anfängen, als sie mit ihrer Einfachheit noch
verzaubert hat - zu bringen, finde ich faszinierend. Damals, aber auch heutzutage, wenn es
zu viele Neuigkeiten gibt, und wenn die Komponisten einen Drang, alles auf einmal
verwenden zu müssen, fühlen, ist es entspannend und erleichternd, einmal etwas Einfaches
zu hören. Etwas, was alle neuen Elemente in sich beinhaltet, aber trotzdem Raum zum
Atmen lässt. Jolivet hat das geschafft. Ich werde durch die Analyse zwei seiner Werke für
Flöte die Verbindung zwischen Orient und Antike, Alt und Neu, Westen und Osten, zeigen.
Abstract
At the very beginning of my Thesis I would like to bring France at the turn of the century
(19th/20th) closer to you. I am also going to talk about the fascination with Orient, that was
triggered by the Universal Exhibits in the 19th century and the Colonial Exhibit in 1931
and that left a trace in all arts in France of that time. France was a country with colonies in
each corner of the world, so it is absolutely no surprise that they had access to the
information about the cultures and traditions of the exotic lands. The fact they brought
those experiences and cultural excerpts home is the fascinating part of the story, to watch
how the new becomes a part of the old and then they both make the new new.
Ancient Greece, the theatre, the beginnings of the cultural civilization: artists always went
back to that in all periods of time. The interesting part about going „back to basics― now in
the 19th/20th century, is exactly the exotic, oriental element that is new here and that makes
the whole story interesting. Imagine the exotic Sound of a Polynesian scale combined with
European traditional text, or the same song with the rhythm given by an African bongo or a
painting with more Indian traditional elements combined with the Greek goddess image.
This mixture of the impossible elements was enchanting and it was all French. Nowhere in
the world has something like that had happened, only on France, so we can name it the
French phenomena.
Many artists have embraced the new order of things, but only a few knew exactly what to
do with the new resources. I chose André Jolivet as the one worthy writing about. His idea
as a composer was to bring music back to her primitive basics. To the level where it was
still so simple that it had an incantating effect on the listener. At that time, as well as today,
there are composers who don‘t have control over themselves and they had to use everything
that is served to them on the plate of possibilities as an artist. Well, Jolivet knew the exact
dose of the modern, of the old, of east and west and of Oriental and ancient so that his
music serves as an example for young composers of our time as well. I am going to show
that by analyzing two pieces for flute written by him.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ............................................................................................................................... 1
1. Die Musik in Frankreich .................................................................................................. 2
1.1. Jahrhundertwende ......................................................................................................... 2
1.2. Vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg............................................................. 4
1.2.1.
Les Six ...................................................................................................................... 6
1.2.2.
Jeune France ............................................................................................................. 7
1.3. Französische Musik und der Zweite Weltkrieg ............................................................ 7
1.4. The aftermath of the war .............................................................................................. 8
2. André Jolivet ..................................................................................................................... 9
2.1. Das Leben ..................................................................................................................... 9
2.2. Der Hexenmeister und seine musikalische Sprache ................................................... 12
2.3. Réponse à une enquete ............................................................................................... 15
3. Die Antike, der Orient und das 19./20. Jahrhundert ................................................. 18
4. Chant de Linos ............................................................................................................... 20
4.1. Understanding Caplin ................................................................................................. 21
4.2. Bailey Shea‘s Contributions ....................................................................................... 22
4.3. Chant de Linos – Analyse basiert auf Caplan und Bailey Shea ................................. 24
4.4. Metrum und Tempo .................................................................................................... 40
5. Cinq Incantations pour flûte seule ............................................................................... 44
5.1. Stilistische Einflüsse ................................................................................................... 44
5.2. Spieltechnische und konnotative Analyse der CINQ INCANTATIONS .................. 46
5.2.1.
Pour accueillir les négociateurs – et que l‘entrevue soit pacifique......................... 49
5.2.2.
Pour que l‘enfant qui va naître soit un fils ............................................................. 52
5.2.3.
Pour que la moisson soit riche qui nâitra des sillons qui le laboureur trace ........... 56
5.2.4.
Pour une communion sereine de l‘être avec le monde ........................................... 58
5.2.5.
Aux funérailles du chef - pour obtenir la protection de son âme ........................... 63
5.3. Wiederholung und ihre Macht .................................................................................... 66
6. Persönliche Ansicht, Aufführung und spieltechnische Schwierigkeiten in Jolivets
„Chant de Linos“ und „Cinq incantations pour flûte“.................... ........................... 71
Zusammenfassung ................................................................................................................ 82
Literaturverzeichnis .............................................................................................................. 84
Einleitung
Dass ich als Flötistin eine Faszination für Französische Musik entwickelt habe, ist kein
Wunder. Die schönsten Werke des 19. und 20. Jahrhunderts für Querflöte wurden - meiner
Meinung nach - bereits in Frankreich komponiert. Die Komponisten wollten die Musik
befreien. Die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert verbinden den Westen mit der
restlichen Welt. Komponisten erfassen es langsam, dass es mehr als nur Italien und
Deutschland gibt. Die Verwendung der exotischen Melodien (Maurice Ravel, Olivier
Messiaen), das Experimentieren mit der Harmonie (Claude Debussy) und mit dem
Rhythmus (André Jolivet), war ein großer Teil des 19. und 20. Jahrhunderts in Frankreich.
Neben Ansichtsverbreiterungen gab es Komponisten, die es als sehr wichtig hielten,
zurückzugreifen: in die Antike, die Wiege der Kunst. In der Antike kann man auch viele
nicht westliche Elemente erkennen, deshalb ist nur eins daraus zu schliessen: Das Ziel war
bei allen gleich, nur die Mittel waren unterschiedlich.
Die Idee war: weg vom Westlichen, weg von (einem Europäer) schon Bekanntem zu
kommen. In dieser Arbeit werde ich den Schwerpunkt auf André Jolivet setzen. Seine
Musik ist diese, welche sich auf die Musik der Antike richtet, mit allen Elementen wie
Mystik, Mythos, Ritual, Magie und Symbolik. Als Flötistin werde ich mich auf zwei Werke
von André Jolivet konzentrieren, und zwar auf Cinq Incantations für Flöte solo und auf
Chant de Linos, ein Werk für Flöte und Klavier, wobei es eine Ensemble-Ausgabe (Flöte,
Violine, Viola, Violoncello und Harfe) auch gibt (beide vom Komponisten geschrieben).
Das Ziel der neuen Musik ist, eine Atmosphäre zu erschaffen, den Menschen in einen
gewissen Zustand zu bringen, ohne ihn berühren zu müssen. Vibrationen, Tonhöhen,
Lautstärke und Geschwindigkeit der Musik machen die ganze Arbeit. Nicht viel anders ist
das Ziel der Musik, die man in einem Ritual verwendet, wovon hier auch die Rede sein
wird. In dieser Arbeit werde ich mich mit der Beziehung der Musik der Jahrhundertwende
(19. auf 20. Jahrhundert) und der Antike beschäftigen, mit dem Alten in der neuen Musik
des 20. Jahrhunderts in Frankreich, und dies am Beispiel der zwei Werke, die ich oben
erwähnt habe.
1
1. Die Musik in Frankreich
1.1.
Jahrhundertwende
„The death of Hector Berlioz in 1896 marked a significant turning point in the history of
French music.‖1 Die Französische Musik im 19. Jahrhundert war unterdrückt von der
Deutschen und Italienischen Musik.
Die Grand Opéra, die als eine Kombination aus ernsten und komischen Opernelementen
entstand, obwohl in Frankreich geboren, wurde immer öfter von Komponisten aus
Deutschland und Italien komponiert. In Frankreich war das Interesse für die fremden
Komponisten immer größer. Die aufgeführten Opern waren meistens von Rossini
(Guillaume Tell), Donizetti (Lucia di Lammermoor), Meyerbeer (L‟Africaine), die
französischen Komponisten und ihre Werke kamen fast nie auf die Bühne. Die einzigen
französischen Komponisten, die ihren Platz neben Rossini und Donizetti gefunden haben,
waren Daniel-François Auber (La muette de Portici) und Jacques Halévy (La Juive).
Mittlerweile befanden sich in den Konzertsälen wieder viele Werke der Deutschen
Komponisten der Romantik. Ob das Publikum in Paris es so verlangte, oder ob dies das
Pflichtprogramm an den Conservatoires war und der InstrumentalistInnen, die meinten, nur
mit diesem Repertoire Konzerte spielen zu können, ist jetzt die Frage. Aber Tatsache ist,
dass man die Werke von Beethoven, Schumann, Chopin, Weber usw. immer wieder gehört
hat, aber die französischen Komponisten waren dort nicht zu finden, als ob sie die
Instrumentalmusik zu komponieren vergessen hätten.
Das Ende des Deutsch-Französischen Krieges (1871), die Geburt der Dritten Republik,
und die Niederlage der Franzosen waren Grund genug, um den Nationalstolz bei den
Franzosen wiederzuerwecken. Die negativen Gefühle gegen die Deutschen haben den
Franzosen die Augen geöffnet, die Musiker haben es endlich begriffen, dass sie all diese
1
Donnellon, Déirdre, French Music Since Berlioz: Issues and Debates, in: French Music Since Berlioz, hg.
von Richard Langham Smith and Caroline Potter, Ashgate Publishing Ltd, Farnham, 2006, S. 1.
2
Jahre die Musik und Kultur insgesamt vernachlässigt haben und dass es wieder an der Zeit
ist, französische Musik nach Frankreich zu bringen.
Wagner als Opernkomponist wurde stark boykottiert, die französischen Komponisten
wie Bizet (Carmen) und Massenet (Manon, Le Cid, Le roi de Lahore) haben zur Grande
Opéra gegriffen, was beim Publikum gut angekommen ist. Die Opéra-Comique ist dank
Saint-Saens (La princesse jaune), Bizet (Djamileh), Emile Paladilhe2 (Le passant) wieder
zum Leben erweckt worden.
Das Ziel war, die Französische Musik auf französische Bühnen zurückzubringen und
dort zu bewahren. Komponisten haben für dieses Ziel unterschiedlich gekämpft. Viel
komponieren war eine Weise, eine andere war, Organisationen zu gründen, die junge
Künstler (InstrumentalistInnen und KomponistInnen) unterstützten. So hat Camile SaintSaens schon im Jahr 1871, nach dem Krieg, die Société nationale gegründet. Das Hauptziel
dieser Organisation war die Aufführung der Französischen Musik. Nach dieser waren es
Organisationen wie: Société des concerts du Conservatoire, Concerts Lamoureux, Concert
Colonne, Concerts Sechiari, Concerts Rouge und Société Philharmonique de Paris, die
nationale Musik pflegten. All diese haben unglaublich viel zum Bekanntmachen der Musik
von Vincent d‘Indy, Alfred Bruneau, Geynaldo Hahn, André Messager, Jules Massenet,
César Franck, Gabriel Fauré, Claude Debussy, u.a. auf der Konzertbühnen in Paris
beigetragen.
Obwohl Wagner 1883 starb, ist sein Einfluss geblieben, und obwohl die französischen
Komponisten alle versucht haben, gegen Wagner zu sprechen, sein Genie hat es nicht
wirklich erlaubt. Claude Debussy ist einer der Komponisten, bei dem wir einen Einfluss
Wagners sofort bemerken können, z. B. in seiner Oper Pelléas et Mélisande (1902). Trotz
dieser Ähnlichkeiten waren Debussys Partitur und Klang einzigartig. Seine Werke waren
von der Symbolik in der Literatur beeinflusst. Ravel und Debussy haben beide
2
Émile Paladilhe (* 3. Juni 1844 in Montpellier; † 6. Januar 1926 in Rouen) war ein französischer Komponist
und Pianist.
3
wegweisende Anregungen in der modernen Dichtung gefunden. Die Grundidee seiner
Musik ist die Vagheit, das Unwohlsein und die Dekadenz der Dichtung in der Musik zu
zeigen. Jüngere Komponisten waren davon fasziniert, wie Debussy das Unbeschreibliche
mit der Musik ausdrückt. Neben der Verinnerlichung, die in der Musik Debussys zu hören
ist, was bei den älteren Kollegen eine negative Reaktion hervorgerufen hat, spielt die
Harmonik eine wichtige Rolle. Debussy war inspiriert von der Musik, welche er bei der
Weltausstellung (1889) gehört hatte. Neuer Orchesterklang, pentatonische Tonreihe,
modale Harmonien, die von der russischen Musiktradition stammen, exotische Javanese
Gamelan Tonfarben und orientalische Harmonie und orientalischer Rhythmus waren die
neuintegrierten Elemente bei Debussy. Fasziniert von der russischen Tradition, deren Bote
Stravinsky war, war nicht nur Debussy, sondern auch Dukas, d‗ Indy, Ravel und so hat das
Experimentieren und Einführen von seltsamsten und unterschiedlichsten Elementen in die
Französische Musik begonnen, was zur Erneuerung der Französischen Musik wesentlich
beigetragen hat. Dieser gezielte Bruch mit der Tradition ist das markanteste Merkmal dieser
Übergangsphase.3
1.2.
Vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg
Die Tätigkeiten der Komponisten wie Debussy, Ravel, d‘Indy, Dukas u.a. gehen weiter.
Frankreich blühte auf mit all diesen exotischen Ideen und das Publikum akzeptierte sie
langsam. Alle Neuerungen stabilisieren sich und werden zum Alltag. Was alles verändert
wurde, sehen wir in dieser Tabelle:
Melodik
Durch Pentatonik, Kirchentonarten,
Ganztonleitern und exotische Skalen
gefärbt.
3
Donnellon, Déirdre, French Music Since Berlioz: Issues and Debates, in: French Music Since Berlioz, hg.
von Langham Smith, Richard and Potter, Caroline, Ashgate Publishing Ltd, Farnham, 2006, S.2.
4
Harmonik
Auflösung der Kadenz als strukturbildendes
Merkmal,
Übergang zu Bitonalität und Polytonalität,
kein Zwang mehr zur Auflösung von
dissonanten Akkorden.
Rhythmik
Tendenz zur Taktverschleierung bis hin zur
Aufhebung von Taktschemata,
Metrik wird unwichtig,
häufiger Taktwechsel.
Instrumentation
Differenzierung von Farbnuancen,
Suche nach neuen Klangwirkungen mit
Vorliebe für Verschmelzungsklänge,
verschwimmende Klangflächen mit reicher
innerer Bewegung,
differenzierte Pedalwirkungen in der
Klaviermusik
Form
Auflockerung und Verlassen traditioneller
Formen.
4
4
Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Musik#Moderne_.281900.E2.80.931933.29, Stand vom
22.07.2014.
5
Auch der Krieg und die Unterbrechung verschiedener künstlerischer Tätigkeiten durch den
Krieg bedeutete für keine musikalische Strömung ein jähes Ende.5
„Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges kam es in Frankreich und besonders in Paris zu
einer außerordentlichen Blüte des musikalischen Lebens.― 6 Die Orchester, die bis jetzt tätig
waren, konnten das Verlangen des Publikum nach Musik, nicht befriedigen. Neben der
Société nationale werden noch Konzertgesellschaften wie: les Nouveaux Jeunes, Sérénade,
Schule von Arcueil (Freunde von Erik Satie), Triton und Jeune France (später wichtig, weil
André Jolivet ein Mitglied war) gegründet. Eine weitere sehr wichtige Gruppe war die
Groupe des Six oder nur kurz Les Six, wo Georges Auric (1899–1983), Louis Durey
(1888–1979), Arthur Honegger (1892–1955), Darius Milhaud (1892–1974), Francis
Poulenc (1899–1963), Germaine Tailleferre (1892–1983) Mitglieder waren.
1.2.1. Les Six
Die Gruppe bildete sich im Jahre 1918 um den Schriftsteller Jean Cocteau, ihr
musikalischer Mentor war Erik Satie. Den Namen erhielt sie 1920 durch einen
Zeitungsartikel des der Gruppe nahestehenden Kritikers Henri Collet. Er ist eine
Anspielung auf die russische Gruppe der Fünf. Die Mitglieder verband weniger ein
ästhetisches Programm, sondern vielmehr die gemeinsame Ablehnung der romantischen
(namentlich
Wagnerianischen)
Musik,
die
Abwendung
vom
musikalischen
Impressionismus Claude Debussys und die Hinwendung zu zeitgenössischen Formen der
Unterhaltungsmusik, z. B. Jazz, Varieté- und Zirkusmusik. Einige ihrer Werke lassen sich
dem Neoklassizismus zuordnen.
5
Boyer, Jean, Kurzgefasste Geschichte der französischen Musik, Breitkopf und Härtel, Wiesbaden, 1953, S.
188.
6
Ebd., S. 197
6
Die Gruppe als produktive Einheit hatte nur in den ersten der 1920er Jahre Bestand, danach
verfolgte jeder Komponist seine eigene Entwicklung und übrig blieb eine Art
Freundeskreis.7
1.2.2. Jeune France
Jeune France wurde im 1936 gegründet. André Jolivet zusammen mit Olivier Messiaen,
Jean-Yves Daniel-Lesur, Pierre Schaeffer and Yves Baudrier wollten einen realistischen
Zugang zum Komponieren. Jeune France hat sich aus La spirale entwickelt, was eine
avantgardistische Kammermusik-Gesellschaft war und ebenso von Jolivet, Messiaen und
Lesur nur ein Jahr vor Jeune France gegründet wurde. La Jeune France Komponisten
werden oft mit der Mystik in der Musik in Zusammenhang gebracht. Orientalische und
religiöse Elemente sind auch in der Musik inbegriffen, die diese Gruppe komponiert hat.8
1.3.
Französische Musik und der Zweite Weltkrieg
Während des Zweiten Weltkrieges arbeiteten viele Musiker und Komponisten unter
Zensur. Viele Künstler und ihre Kunstwerke waren verboten. Wie auch immer, es gab eine
sehr aktive Szene, nur in Paris zwar, weil manche Landesteile okkupiert waren und manche
nicht.
Es war entschieden, dass Paris das Zentrum des Musiklebens bleibt, und das
Programm dieser Szene war reich. Natürlich war die Zensur immer wieder vorhanden, aber
die Künstler haben damit zu leben gelernt. Der Komponist, der immer aktiv geblieben ist,
ist Arthur Honegger. Milhaud, Schönberg, Dukas und auch Werke Mendelssohns waren
vom Programm gestrichen. Milhaud floh mit vielen anderen Künstlern dieser Zeit in die
USA. Wie es aussah, durften alle Institutionen in Frankreich offen bleiben und „ungestört―
weiter arbeiten, in der Realität war es aber nicht so und viele Radiostationen, Zeitschriften
7
Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Groupe_des_Six, Stand vom 22.07.2014
8
Wikipedia, http://en.wikipedia.org/wiki/La_jeune_France, Stand vom 22.7.2014
7
und Organisationen haben ihre Türen für immer oder nur, bis der Krieg vorbei war, einfach
geschlossen.
Einmal ist in der Revue musicale die Frage aufgetaucht: Wird es Kriegsmusik geben?
Francois Poulenc hat gleich geantwortet, dass er hofft, dass der Krieg nicht lange genug
dauern wird, damit sich keine Musik solcher Art festsetzt. Trotz der schwierigen Umstände,
hat er zusammen mit Dutilleux und Messiaen ein paar bedeutende Stücke in dieser Zeit
komponiert. (Poulenc: Figure humaine, Dutilleux: La geole, Messiaen: Quatuor pour la fin
du temps)9
1.4.
The aftermath of the war – Die Bilanz Des Krieges10
Nach jedem Krieg gab es so viel zu reparieren. Manche wollten es wieder, wie es vor
dem Krieg war (Schaeffer), manche sahen eine Möglichkeit, etwas Neues, Besseres zu
erschaffen (Pierre Boulez). Diese zwei Strömungen müssen zusammen funktionieren und
beide ihre Energien auf eins richten und das ist, das Land wieder aufzubauen.
MusikerInnen taten es mit dem Spielen: das erste Konzert nach dem Krieg wurde von
den Société des concerts du Conservatoire aufgeführt. Im Programm waren Werke von
Jacques Ibert Ouverture de fet und Arthur Honegger Chant de libération (komischerweise
im Jahre 1942 komponiert).
Die Komponisten waren begeistert und wollten immer mehr von der Musik Schönbergs
und Weberns erfahren.
9
Potter, Caroline, French Music and the Second World War , in: French Music Since Berlioz, hg. von
Langham Smith, Richard and Potter, Caroline, Published by Ashgate Publishing LTD, Farnham, 2006, S.
281-301.
10
Ebd. S. 281-301.
8
2. André Jolivet
2.1.
Das Leben 11
André Jolivet war ein französischer Komponist. Er wurde am 8. August 1905 in Paris in
einer künstlerischen Familie geboren. Sein Vater, ein Maler, und die Mutter, eine Pianistin,
wollten, dass ihr Sohn ein Lehrer wird, obwohl er musikalische Talente und das Interesse
für Musik bereits in den frühen Jahren gezeigt hat.
Jolivet erhielt im Alter von 14 Jahren Cellounterricht, seine ersten Vertonungen der eigenen
Dichtungen stammen von dieser Periode. Zu dieser Zeit komponierte er auch Musik für
einige Ballettstücke.
Die Musik Debussys, Dukas‗ und Ravels hat André Jolivet sehr beeinflusst. Er besuchte die
Pasdeloups Konzerte (1919), wo er der Musik dieser großen Komponisten begegnete.
Im Jahre 1920 bekam er eine Chorsänger Stelle beim maître de chapelle of Notre Dame de
Clignancourt in Paris. Jolivet wurde vom Abbé Théodas entdeckt. Bei ihm erhielt er seinen
ersten Harmonie- und Orgelunterricht. Sehr bald verließ er die Schule und nach der
11
Den Ausführungen dieses Kapitels liegen folgende Quellen zugrunde:
- Oxford Music Online, Grove Music Online, L. Kelly, Barbara, Jolivet, Andre, Stand vom 23.7.2014,
http://han.kug.ac.at/han/OXFORDMUSICONLINE/www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/mu
sic/14433?q=andre+jolivet&search=quick&pos=1&_start=1#firsthit
- Wikipedia, Stand vom 23.07.2014, http://en.wikipedia.org/wiki/Andr%C3%A9_Jolivet,
- Priest Kjar, Danielle, Researching the Recital, Stand vom 23.7.2014,
http://daniellekjarpriest.weebly.com/uploads/1/9/6/0/19605317/researching_the_recital.pdf,
- Association "Les amis d'André Jolivet", http://www.jolivet.asso.fr/, Stand vom 23.07.2014
- Blume, Friedrich, Die Musik in Geschichte und Gegenwart : Allgemeine Enzyklopädie der Musik ; 21
Bände in zwei Teilen Kassel [u.a.]: Bärenreiter [u.a.], Band 9, S. 1143-1147
9
Lehrbefähigung hat er einige Jahre in Paris als Lehrer gearbeitet. Manche frühen Werke
stammen aus dieser Zeit, z. B.: Romance Barbare (1920) und Sarabande sur le nom d‟Eric
Satie (1925). Im Jahre 1928 wird er Schüler Paul le Flems. Paul Le Flem war zu dieser Zeit
Direktor der Schola Cantorum de Paris. Seine strengen Methoden und sein rigoroses
Training in Polyphonie, Harmonie, Kontrapunkt und der klassischen Formenlehre machten
aus André Jolivet einen großen Komponisten.
Nach einem Konzert der Société Musicale Indépendante12, 1927, wo er zum ersten Mal die
Werke Arnold Schönbergs gehört hatte, erwachte bei ihm ein großes Interesse für atonale
Musik. Auf Le Flems Empfehlung wird Jolivet Student Edgar Varèses. Von ihm lernte
Jolivet über Akustik, atonale (aber NICHT dodekaphone) Musik, Klangmassen und
Orchestration.
Jolivets Geschmack für Musik und Kompositionsstil haben sich durch die Jahre geändert.
Am Anfang wollte er nur Theatermusik schreiben, was man an den ersten Ballett Werken,
sehr gut sehen kann. Danach kam der Einfluss Ravels, Debussys und Dukas‗, wie schon
erwähnt. Die bedeutenden Werke, von Varèse und Schönberg beinflusst, stammen aus dem
Jahre 1930: Air pour bercer für Geige und Klavier und Trois temps eine Suite für
Streichtrio. Mana (1935) für Klavier, ist ein Stück, welches in die sogenannte
―Zauberphase― von Jolivets Schaffen gehört. Varèse hat ihm, als er nach Amerika zog
(1933), 6 Objekte überlassen – Fetischobjekte, wie er sie nannte, Jolivet komponierte 6
Sätze (für jedes Objekt einen). Ein Weiterführen der Zauberperiode hört man in Cinq
incantations (1936) für Flöte solo und Cinq danses rituelles (1939) für Klavier solo oder
für Orchester. Diese Werke haben mit dem Lebenskreis und der Ernte zu tun. Hier
konzentrierte er sich auf die Rituale, Beschwörungsformeln und Initiationsrituale
(Einführung, Einleitungsrituale) Afrikas und Ost-Asiens.
12
Société Musicale Indépendante (SMI) in 1909 von Gabriel Fauré , Maurice Ravel , Charles Koechlin and
Florent Schmitt gegründet. SMI ist eine Gesellschaft in Paris, die zur Promotion und Aufbewarung der
Französischen Musik dient.
10
Im Jahre 1936 gründeten Jolivet, Olivier Messiaen, Daniel Lesur und Yves Baudrier Le
jeune France. Jolivet und La jeune France waren gegen Neoklassizismus und das
mechanische Komponieren und stark für eine spirituelle und esoterische Behandlung der
Musik.
Während des Zweiten Weltkriegs entfernt sich Jolivet von der Atonalität, schreibt eher
einfache, melodische Werke (Oper Dolorès, ou le miracle de la femme laide [1942] und
Ballett Guignol et Pandore [1943]) und trifft einen Kompromiss mit sich selbst und seinem
früheren Stil. Diese Kombination von Experiment und Musikalischen Standards ist in
seiner Ersten Sonate für Klavier (1945) zu sehen und zu hören.
Im Jahre 1945 kehrte Jolivet zurück zu seiner Anfangsidee, Theatermusik zu schreiben. Er
wurde Musikdirektor des Theaters Comédie Française, eine Funktion, die er bis 1959
behalten hat. In der Zwischenzeit hat er Theaterstücke von Molière, Racine, Sophocles,
Shakespeare und Claudel vertont und auch für den Konzertsaal weiter komponiert, woraus
einige Solokonzerte für Flöte, Trompete, Harfe, Fagott, Schlagzeug, Cello, Violine usw.
resultierten. Nachdem er seinen Posten als Direktor der Comédie Française im Jahre 1959
verlassen hat, war Jolivet weiter bei der Direction Générale des Arts et Lettres ( Ministère
de la Culture Francaise) (1959-62). Er hat auch das Centre Française d‟Humanisme
Musical in Aix-en-Provence im Jahre 1959 gegründet und war als Präsident der Concerts
Lamoureux (1963-68) tätig.
Von 1961 bis 1970 wirkte er als Lehrer am Pariser Conservatoire. Dies kann man als
wunderbare Leistung betrachten, weil Jolivet keine Conservatoire-Ausbildung erhalten
hatte, sondern nur durch Privatunterricht zum Komponisten geworden ist, aber trotzdem die
Professur bekommen hat.
Jolivet war eine zentrale Persönlichkeit in vielen Organisationen Frankreichs und im
Ausland: Comité National de la Musique, Congres International de la Musique d‟U.R.S.S.,
Comités de la Musique de la Radio-Télévisione Française, Jury du Concours de Roma und
viele mehr.
11
Seine Werke wurden von vielen großen Künstlern aufgeführt: Jean-Pierre Rampal,
Mstislav Rostropovich, Maurice André, Heinz Hollinger, Colette Herzog und trotzdem ist
er heutzutage der am wenigsten erwähnte, gespielte und recherchierte Komponist. Weitere
Untersuchungen zu Jolivets musikalischer Entwicklung und seinem Einfluss werden
helfen, seine Musik besser zu verstehen. Nachdem seine Conservatoire-Tätigkeit im Jahre
1970 beendet war, zog Jolivet nach Venedig, wo er am 20. Dezember 1974 gestorben ist.
2.2.
Der Hexenmeister und seine musikalische Sprache
―I had defined the canon of my aesthetic since 1935 in affirming that I was seeking to
restore to music its original sense, at a time when it was the magical and incantatory
expression of the religiosity of human societies.―13
Das exotische Interesse bei Jolivet wurde schon früh erweckt. Als er noch klein war, teilte
sein Cousin, Lous Tauxier, der in Madagascar arbeitete, seine Erfahrungen mit dem jungen
Jolivet. Spätere Ausstellungen (Weltausstellung 1889 und Kolonialausstellung 1931)
unterstützten und förderten das Interesse und am Ende konnten Jolivets Reisen seine
früheren Fantasien bestätigen und sie ermöglichten ihm, neue Erlebnisse zu erschaffen, die
sich in seinen Werken widerspiegeln.14
Seine ständige nicht-westliche Inspiration stammt auch aus dem Schaffen von Claude
Debussy, Albert Roussel, Maurice Ravel und Olivier Messiaen, die Denkweise des
Archaischen auch von Igor Stravinskys Le Sacre du printemps (1913) und Darius Milhauds
La création du monde (1913). Außer bei den Komponisten kann man ein solches
13
Jolivet, André, ou la Magie expérimentale, Contrepoints 1, Paris, 1946 , zitiert von: Mawer, Deborah,
Jolivet‟s Search for a New French Voice in: L. Kelly, Barbara , French Music, Cluture and National Identity,
1870-1939, University of Rochester Press, Rochester, 2008, S. 173.
14
Mawer, Deborah, Jolivet‟s Search for a New French Voice, in: L. Kelly, Barbara , French Music, Cluture
and National Identity, 1870-1939, University of Rochester Press, Rochester, 2008, S.173.
12
„primitives― und Fetisch-Objekt-orientiertes Denken auch bei André Derian und Pablo
Picasso sehen. 15
Was Jolivet und Messiaen gemeinsam haben? Jolivet war genau wie Messiaen davon
überzeugt, dass die musikalische Erschaffung ein geistiger Prozess mit einem geistigeren
Zweck sein sollte. Allerdings war Jolivets Weise nicht wie die Messiaens, christlich,
sondern eher an Ur-Riten orientiert, übernatürlich, magisch und „primitiv―. (Primitiv als
„am Anfang der Entwicklung―, „einfach― gemeint)
André Jolivet war vom Spirituellen motiviert, Helden seines Lebens durch musikalische
Rituale unsterblich zu machen. Incantations – Beschwörungen, funktionierten ohne dass
man ihre Worte hört. Jolivet war von Mathematik, kosmischer Musik und „harmonie
universelle― fasziniert. „Mathematik und Musik sind...die göttliche Sprache.― – äusert in
diesem Sinne auch der Gesellschaftstheoretiker , Charles Fourier (1768-1830).
In der Zeit der Dritten Republik (République française, 1870-1940), war das Bedürfnis oder
der Wunsch nach Helden auf seinem Höhepunkt. Diese Helden sind dann durch ein Bild,
Musikstück, Gedicht usw. unsterblich gemacht. Das Ganze erinnert an die nicht-westliche
Tradition, die Art und Weise ist nur anders, denn die nicht-westlichen Zivilisationen führen
ein Ritual durch. Diese Rituale in der modernen Zeit versucht Jolivet durch Cinq
Incantations für Flöte solo zu zeigen. In Aux funérailles du chef (Incantation für seine
Mutter, nach ihrem Tod geschrieben) versucht er, seine Mutter als „Heldin― unsterblich zu
machen.
Seine Behauptungen vom Exotischen und nicht-Westlichen waren gut unterstützt durch
Daten und Fakten aus philosophischen, anthropologischen und sozialen Untersuchungen,
die er durchgeführt hat. Jolivets Idee war, das nicht-westliche, kulturelle Konzept eher zu
internalisieren als durch Mimikry zu externalisieren. Seine Untersuchungen waren
besonders auf Mystik, Beschörungen und Ritual gerichtet.
15
Mawer, Deborah, Jolivet‟s Search for a New French Voice, in: L. Kelly, Barbara , French Music, Cluture
and National Identity, 1870-1939, University of Rochester Press, Rochester, 2008, S.173.
13
Durch die Philosophie und die Untersuchungen der nicht-westlichen Zivilisationen erhielt
er die Grundlage der musikalischen Sprache, Modalität und Rhythmus, die man in der
Antike benutzte, in Kombination mit unterschiedlichen melodische Grundlagen der ganzen
Welt (Tonleitern: Gregorianische, Griechische, Hindu und Polynesische).16
„Jolivet too favors melody over harmony and Pythagorean tuning over equal
temperament, affording primacy to the human voice―17
―Essentially, Jolivet saw his mission, and that of his contemporaries, as being ‗to restore to
music its original ancient sense‘, while also seeking ‗to renew the millennial French
tradition‘18 Thus anticipating rather neatly Diamond‘s discussion of the ‗Primitive in Time
and Place,‘19 Jolivet advocates a conflation of East/West and present/past.‖20
16
Mawer, Deborah, Jolivet‟s Search for a New French Voice, in: L. Kelly, Barbara , French Music, Cluture
and National Identity, 1870-1939, University of Rochester Press, Rochester, 2008, S.173.
17
Godwin, Jocelyn, Music and the Occult, French Musical Philosophies, 1750-1950, University of Rochester
Press, Rochester, 1995, S. 215.
18
Jolivet, André, ou la Magie expérimentale, Contrepoints 1, Paris ,1946, S. 33 – 37.
19
Diamond, Stanley, In Search of the Primitive: A Critique of Civilization, New Brunswick, New Jersey,
1974, S. 190.
20
Mawer, Deborah, Jolivet‟s Search for a New French Voice, in L. Kelly, Barbara , French Music, Cluture
and National Identity, 1870-1939, University of Rochester Press, Rochester, 2008, S. 188.
14
Réponse à une enquete21
2.3.
Im Jahre 1946 publizierte Jolivet einen Artikel, der „Réponse à une enquete― (Reply to
an Inquiry) hieß. In diesem Artikel beschrieb er seine, in einer typisch metaphorischen
Weise, fünf Prinzipien, die ihn durch Harmonie, Melodie und Rhythmus geführt haben.
Jolivet behauptet, dass er diese Prinzipien im Jahre 1935 formuliert hat und dass sie sich in
Mana für Klavier klar zeigen. Viele haben versucht, seine Worte zu übersetzen, um ein
Schema zu konstruieren oder ein System zu entdecken und Jolivets Schaffen zu erklären,
keiner hat es geschafft. Warum dies so schwer ist, versteht man erst, wenn man den Text
liest, deshalb hier ein Beispiel der ersten zwei Prinzipien - vom Komponisten selbst erklärt:
―... new procedures of modulation, made ambiguous by double basses, resonance
inferieure. The double basse consists of two low notes disposed in such a way as to
generate two harmonic series complimenting each other without harming one
another, permitting the inscribing on the sonorous background chords of remote
tonalities reinforced according to their mode by one of the two notes of the bass.
Reciprocally, these chords cause the harmonic mode of each of the basses to stand
out one by one.”22
Die Erklärung dieser Prinzipien ist die Farbe, die Harmonie, die durch die Farbe entsteht.
Während die zwei Bassnoten entstehen viele Obertöne und genau diese Obertöne formen
die gewünschte Harmonie.
Das Resonanz Prinzip erkennt man wieder in Bassnoten und Obertönen, die erklingen. Es
geht hier wieder um die Farbe, es ist hier nur wichtig, welche Noten in welchem Moment
vorrangig klingen. Obwohl wir ständig versuchen, eine Systematik zu finden, scheint es
keine zu geben.
21
Scott Tucker, Benjamin, Atonality, Modality, and Incantation in Two Works for Trumpet by Andre Jolivet,
With a Discussion of His Technical and Aesthetic Principles, Doctoral Thesis, The University of Arizona,
1994, S. 25-39.
22
Jolivet, Andre, Reponse it une enquete, Contrepoints 1, Paris, 1946, S. 34
15
Wenn es um harmonische Prinzipien geht, wählt Jolivet die ersten 15 Obertöne, wobei er
den 13. Gis statt A nennt. Das ist nicht so unlogisch, wenn man weiß, dass der 13. Oberton
dem temperierten G näher ist als einem temperierten A. Das muss auch keinen Sinn
machen, weil die temperierten Töne mit den natürlichen Tönen überhaupt nicht
übereinstimmen. Die zweite Frage wäre, warum entscheidet sich Jolivet für nur 15
Obertöne und nicht 20 oder 10? Die einzige Antwort, die sich anbietet, ist, dass dies seine
kompositorische Idee ist und die Grundlagen seiner Ästhetik.
Notenbeispiel 1, Obertonreihe:
Das nächste Prinzip zeigt klar den Einfluss Varéses auf Jolivet. Es geht hier um
Klangmassen und die Harmonie der Klangmassen.
"...abandoning the habitual principles of harmonic writing in four parts, focusing on a
dynamic of sonorousness by transmutations de la masse sonore and employing le sens de
projection du son. [...] The transmutations of the sonorous matter are from abrupt
modifications of volume (hense of intensity and timbre) obtained by the addition to a
melodic line of harmonic elements which are already potentially existent within it. In a
way, an ‚ionization„ of harmonic fluid is created from melody, the premiere element of
music.“23
23
Jolivet, Andre, Reponse it une enquete, Contrepoints 1, Paris, 1946, S. 35
16
Dieses Prinzip ist relativ leicht zu erklären, es geht hier darum, oft und plötzlich die
Melodierichtung, -höhe, -dynamik zu ändern. Das kann man bei Jolivet als
Kompositionsprinzip erkennen. Dieses Prinzip ist aber nicht klar in dem Sinne, dass nach
dieser Erklärung doch noch viele Fragen unbeantwortet sind. Zum Beispiel: welche
Qualität der Überraschung muss sein, um genug „plötzlich― wahrgenommen zu werden?
Warum ist dieses Prinzip Jolivets Prinzip und was ist der Unterschied zwischen seinen und
den Prinzipien der anderen Komponisten? Das nächste Prinzip aber, le sens de projection
du son, wurde von den anderen Komponisten als Kompositionstechnik Jolivets bezeichnet.
Jolivet erklärt es so:
„sonorous flux“ to „a river where you have changes in volume of water per unit
time“24
Hier spricht Jolivet von Änderungen der Dichte im Rhythmus und in der Textur der Musik.
Alle diese Prinzipien helfen nicht viel, Jolivet besser zu verstehen, weil, wie es aussieht,
alle ohne Systematik oder Konsequenz benutzt sind. Um sie und ihn besser zu verstehen,
sei wieder ein Zitat vom Beginn dieses Themas erwähnt:
―I had defined the „canon of my aesthetic― since 1935 in affirming that I was
seeking to restore to music its original sense, at a time when it was the magical and
incantatory expression of the religiosity of human societies.―25
Was darunter zu verstehen ist, wäre, dass die Prinzipien vielleicht kompliziert aussehen,
aber das Ziel ist, zurück zum Anfang zu kommen, wo alles noch unkompliziert war. Mehr
über seine Rückkehr auf den nächsten Seiten.
24
Jolivet, Andre, Reponse it une enquete, Contrepoints 1, Paris, 1946, S. 36
25
Ebd., S. 33.
17
3. Die Antike, der Orient und das 19./20. Jahrhundert
In der französischen Musik begegnen wir am Ende des 19. Jahrhunderts einer Phase der
Erneuerung mit Stoffen, die aus der Antike stammen. Werke wie ―Prélude à l‘aprés-midi
d‘un faune‖ und ―Siréne‖ von Debussy sowie ―Daphnis et Chloé‖ von Ravel sind die
bekanntesten Beispiele. Bei näherer Betrachtung zeigt es sich, dass viele französische
Komponisten antike Stoffe aufgriffen. Dabei wurden allerdings völlig unterschiedliche
Sujets gewählt, sodass die Antikenrezeption in der französischen Musik und die Formen
ihrer musikalischen Umsetzung und Interpretation nur schwer fassbar sind.
Während die antiken Sujets in den Barockopern oft verwendet wurden (Monteverdi,
Lully, Rameau, Purcell, Händel, Gluck und Mozart), waren im musikalischen Ausdruck des
19. Jahrhunderts Sujets nicht nur auf die Oper bezogen, sondern, fanden Eingang, auch in
der Instrumentalmusik.
Die Wahl antiker Themen vermittelt der französischen Musik dieser Zeit wichtige
Impulse und bedeutete darüber hinaus, wie auch im gesamten Bereich der Kunst, die
Wiedergewinnung des verlorenen Paradieses.26
Folgende Sujets wurden am meisten benutzt:
1. Mythische Gestalten als Inkarnation der Natur (Prélude à l‟aprés-midi d‟un faune
und Syrinx von Debussy)
2. Mythische Gestalten aus der antiken Literatur (Penelope von Gabriel Fauré) und
3. Antike Hymnen, die oft als Ode und Madrigal bezeichnet wurden (Dubois, Faure,
Roussel...).27
26
Schneider – Seidel, Kerstin Mira, Antike Sujets und moderne Musik, Untersuchung zur französischen Musik
um 1900, J.B. Metzler, Stuttgart, 2002, S. 11-13.
27
Ebd., S. 102, 149, 170.
18
Die künstlerische Darstellung des Orients bildete eine Gegenwelt zum europäischen
Leben. Dem Europäer erschien die orientalische Welt als wenig zivilisiert und archaisch,
gleichsam als seine gegenwärtige antike Welt. 28
Für eine an das Vorbild der orientalischen Musik angelehnte Interpretation der Antike
wurden in Kompositionen dieser Zeit oft Sujets gewählt, die eine erotische, mediterran
gefärbte Atmosphäre vermitteln sollen. In manchen Fällen stehen diese Sujets auch in der
direkten Tradition historischer Texte und sie können durchaus typische Merkmale der
modernen Dekadenz widerspiegeln.29
Der größte Unterschied zwischen Europäischer Musik und der Musik der Antike und des
Orients ist, dass diese Musik keine Harmonien kennt wie unsere, sondern nur Melodik und
Rhythmik. Jolivet hat viel mehr Wert auf die Melodie als auf Harmonie gelegt, besonders
auf die gesungene Stimme, die das natürlichste Instrument ist.
28
Stoll, Andre, Die Entführung des Eremiten in die Wüste, in: Flaubert, Gustave, Reise in den Orient, hg.
von Andre Stoll, Nordhagen, 1996, S. 110.
29
Schneider – Seidel, Kerstin Mira, Antike Sujets und moderne Musik, Untersuchung zur französischen Musik
um 1900, J.B. Metzler, Stuttgart, 2002, S. 219.
19
4. Chant de Linos
Linos (griechisch Λίνος) ist eine Person der griechischen Mythologie.
Er ist ein Sohn des Apollon, gilt als Sohn der Kalliope und fungierte als Musiklehrer des
Herakles. Anderen Quellen zufolge galt er als der Erfinder der Buchstaben und brachte
Herakles das Schreiben bei. Als er diesen einmal zu Unrecht bestrafte, erschlug ihn
Herakles im Zorn.30
Jolivet komponierte Chant de Linos als ein Wettbewerbsstück für das Paris Conservatoire
im Jahre 1944. 1945 ersetzte er die originale Flöte-Klavier-Version mit einer Zweiten für
Flöte, Harfe und ein Streichtrio. Jolivet hat sich stark auf das Wachrufen des Rituals in
seiner Musik konzentriert, es scheint, dass Chant de linos ein griechisches Trauerlied mit
Klagen und Tanzen ist.
―The Song of Linos was, in Greek antiquity, a threnody: a funeral lamentation, a lament
intersected with cries and dances. The aesthetic function of each section is clear: the
laments are depicted with slow tempi and the dances are accordingly faster.―31
Die Musik basiert auf einer sechstönigen Tonleiter und sie deutet die Antike an (G, As,
B, Cis, D, F und G). Andere ungewöhnliche Modi sind ebenfalls darin zu hören.
Die Einleitung ist als recitativo-improvisatorische Kadenz zu betrachten. Danach
kommen die Klagelieder, die polyphon geschrieben sind. Die Schrei- und Tanzteile
unterbrechen die polyphonen Flächen, welche die Klagelieder formen. Wilde Tänze sind im
7/8 Takt geschrieben.
„...kretische Musik ist wild und ungebändigt. Im komplizierten 7/8- oder 9/8-Takt quirlen
endlose Melodiefolgen, manchmal monoton und archaisch, manchmal fast ekstatisch. Der
30
Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/Linos_(Mythologie), Stand vom 30.07.2014
31
Caplin, William, Classical Form: A Theory of Formal Function for the Instrumental Music of Haydn,
Mozart and Beethoven, Oxford press, New York, 2001.
20
orientale Einfluß ist nicht zu überhören. Die Hauptrolle spielt die Lyra, das traditionelle
dreisaitige Streichinstrument aus Maulbeerholz.“32
Alle diese Elemente erkennt man im Chant de Linos. Der Rhythmus ist sehr
charakteristisch, der orientale Einfluss ist nicht zu übersehen und das Instrument Lyra war
eins der Instrumente, das Linos gespielt hatte.
4.1.
Understanding Caplin33
Caplin defines two basic phrase types: the sentence and period. The sentence, credited to
Arnold Schoenberg, is perhaps the most common phrase type in the Classical repertory, and
that is certainly the case in Chant de Linos. The sentence generally possesses the following
elements: first, the eight-measure unit is divided into two four-measure groups. The initial
four measures, labeled the presentation phrase, introduce the melodic material. The last four
measures, known as the continuation phrase, are often made up of fragments of the basic
idea. In the above example, the basic idea contains two motives, the second of which is
repeated in the continuation. The continuation function often breaks down the two-measure
units (established in the presentation) into smaller segments. This process of shortening the
units is called „fragmentation.‖34 A related process is known as liquidation: an elimination
of characteristic elements until only uncharacteristic material is left.35 (Characteristic
32
33
Sonnleithner, Roland, Griechische Musik, http://www.rokinn.com/Ueberuns.php, Stand vom 30.07.2014
Caplin, William, Classical Form: A Theory of Formal Function for the Instrumental Music of Haydn,
Mozart and Beethoven, Oxford Press, New York, 2001, zitiert nach: Guarnuccio, Bryan Arthur, ANDRÉ
JOLIVET'S CHANT DE LINOS (1944): A SENTENTIAL ANALYSIS , A Thesis Submitted to the Graduate
College of Bowling Green State University in partial fulfillment of the requirements for the degree of Master
of Music, 2006.
34
Caplin, William, Classical Form: A Theory of Formal Function for the Instrumental Music of Haydn,
Mozart and Beethoven, Oxford Press, New York, 2001. S. 170.
35
Ebd. S. 117.
21
material is motivically unique to the piece.) Another commonality is acceleration in
harmonic rhythm, which concludes with a cadence. With the sentence, the strength of this
cadence varies: half cadence, imperfect, and perfect cadences are all plausible. These
cadential characteristics are idiomatic to the Classical style, but they are not essential for
the identification of sentences in other music.
The period is also an eight-measure unit. The initial four-measure unit, the antecedent
phrase, contains a basic idea and a contrasting idea. The degree of contrast varies, but the
motive is not sensed as a repetition of the basic idea. The consequent is, in most simple
form, an additional pairing of the basic idea and contrasting idea. The second phrase ends
on a stronger cadence. Often, a half-cadence may be followed by an authentic cadence or a
perfect authentic cadence may follow an imperfect authentic cadence. However, the basic
principle is independent from tonal progression.
4.2.
Bailey Shea’s Contributions
In his ―The Wagnerian Satz,‖ Matthew Bailey Shea expanded the theory of the sentence
to the music of Wagner. As Wagner pressed the limits of tonality, Bailey Shea‘s analyses
highlight the motivic connections between the sections of a phrase. For example, his
expansion of the sentence theory presents Wagnerian sentences with the following
characteristics: Wave-Like Contour, Pedal Point, Sentences with a Second Repetition,
Continuation as Apotheosis, and Satzkette. The first and last of these ideas are closely
related in that the Satzketten or chains of sentences present ―wave-like impulses that push
through the balanced divisions of small ternary form. It is as if each sentence creates a build
up of energy that cannot help but spill over into the next sentence.‖36 In a subsequent
36
Zitiert nach: Bailey Shea, Matthew, The Wagnerian Satz: The Rhetoric of the Sentence in Wagner‟s Post-
Lohengrin Operas, Ph.D diss., Yale, 2004, S. 198.
22
article, ―Beyond the Beethoven Model: Sentence Types and Limits,‖ he states, ―The
Sentence is an extraordinarily malleable form; its very nature defies strict definition.‖37
However, he attempts to further define the characteristic of the sentence. First, all sentences
require a presentation phrase. Second, Bailey Shea divides the continuation phrase into four
common
types:
Dissolving
Third
Statement,
Sentential,
AABA
Design,
and
Fortspinnungstypus. His first continuation type is the dissolving third statement. In this
case, the continuation begins as if another basic idea is present before the material becomes
fragmented or liquidated.
The second continuation type is sentential within itself. That is, it contains a small-scale
sentence with a short-short-long proportion. An ―AABA Design‖ describes the third type of
continuation. Bailey Shea makes note of the sentences that contain a basic idea, its
repetition, a contrasting idea, and a return to the basic idea as it reaches the cadence. The
familiar ―Happy Birthday‖ is constructed in this fashion.
The final type of continuation, suited to many continuation extensions is the
Fortspinnungstypus. This involves a Vordersatz, Fortspinnung, and Epilog. The
continuation begins with a spinning out of material and is extended by an ―epilog―. The
previous studies on sentences are directly applicable to music outside of tonal contexts.
Bailey Shea allows for this as well. However, when departing from tonal harmony, these
cadential distinctions become less clear. In the case of Jolivet‘s post-impressionistic music,
cadences must be defined by other means. The initiating function of his melodic material is
clear: a basic idea is presented and then repeated. The continuation phrase makes use of
fragmentation and continues a sense of forward motion. Because the cadence at the end of
a sentence in the Classical period may vary from half,
deceptive, authentic, perfect
authentic, etc., a range of options exists in music of later eras as well. Thus, inserting
melodic or rhythmic pauses helps to articulate the phrases when the harmony is not tonally
oriented.
37
Bailey Shea, Matthew , Beyond the Beethoven Model: Sentence Types and Limits, Current Musicology no.
77, Yale, 2004, S. 7.
23
4.3.
Chant de Linos – Analyse basierend auf Caplin und Bailey Shea
Vor der Klassik waren die formalen Funktionen der musikalischen Phrase weniger
konventionell, weil die Formen noch nicht ganz entwickelt und reif waren. Als Gegenteil
sind die späteren Werke zu betrachten, die oft
von der Balance und Symmetrie der
klassischen Phrase abweichen. Chant de Linos (1944) jedoch beinhaltet viele formale
Merkmale, die im Zusammenhang mit der klassischen Phrasierung stehen.
Jolivet eröffnet das Werk mit einer Serie von Schreien in der Flötenstimme (siehe
Notenbeispiel 2).
Notenbeispiel 2, Jolivet, Chant de Linos
In diesen Schreien versteckt sich der Standard der Phrasenform, das Aussehen des Satzes.
Die dreitaktige Idee wird durch eine steigende Sequenz um einen Tritonus höher
wiederholt. Beide weiteren Hälften der Phrase kommen gleich an, mit der Fortsetzung der
weiteren Idee im Klavier. Die Fortsetzung beginnt in Takt 8, am Anfang hören wir noch
einmal die Grundidee auf einem höheren Ton. Diese Tonhöhenänderung steigert die
24
Spannung und erschafft die wellenförmige Kontur im Stück. Diese Idee wird dann zerlegt,
zersplittert und vor einer Codetta augmentiert. Das ist ein typisches Beispiel von
„dissolving third statement―.38
„As in Classical music, this codetta is technically unnecessary.― 39
Caplin sagte: ―A codetta follows a perfect authentic cadence and resides on a hierarchical
level comparable to that of basic, contrasting, and cadential ideas. The phrase at this point
has reached the final cadence; in an atonal context, this material prolongs the primary tones
of the section in place of a tonal harmony.‖40
In diesem Moment bleibt
das Klavier auf einem g liegen, und damit bleibt die
harmonische Bewegung auch stehen. Eine weitere Argumentation der Grundidee beruhigt
die Schreie und bereitet alles für die kommende Klage vor. Obwohl die Form und Funktion
der Einleitung klar ist und getrennt von dem A Teil, dient die Einleitungscodetta als der
Übergang zum kommenden Material.
Das musikalische Stoppen und Bewegen ist durch eigentliche Pausen in der Musik
erreicht. Die schwächste Kadenz ist als ein Atemzeichen zu verstehen. Dieses Zeichen
erschafft eine kurze Pause vor dem nächsten Lauf. Die Noten, die vor diesen Pausen stehen,
sind mindestens Viertelnoten, und diese Notenlänge stoppt die Fortbewegung. Die
stärkeren Kadenzen (die fast wie eine echte Tonartbestätigung dienen) in diesem Abschnitt
sind durch die Pause verstärkt und als ein voller musikalischer Punkt. Das Material vor dem
Atemzeichen formt die Vorgeschichte (Grundidee + die kontrastierende Idee), welche von
zwei zu drei Takten zwischen den Phrasen variiert (siehe Notenbeispiel 3).
38
Bailey Shea, Matthew , Beyond the Beethoven Model: Sentence Types and Limits, Current Musicology no.
77, 2004, Yale, S. 11.
39
Caplin, William, Classical Form: A Theory of Formal Function for the Instrumental Music of Haydn,
Mozart, and Beethoven, Oxford Press, New York, 2001, S. 179.
40
Ebd. S. 179.
25
Notenbeispiel 3, Jolivet, Chant de Linos (A Teil)
Mit der weiteren Analyse etablieren wir, dass das Grundidee-kontrastierende Ideeprinzip
weiter funktioniert.
Nennen wir diesen Teil „Teil A―. Im Teil A sehen wir auch die Steigerung des tonalen
Zentrums. Die erste Phase beginnt auf einem G und beendet auf einem As, die zweite
Phrase fängt mit einem As an und kommt auf ein B und die Letzte steigt hoch bis zum Es,
bevor sie zurück zum G kommt. Dies erschafft eine Wellenbewegung, die für die ganze
Einleitung kennzeichnend ist. Dieses Prinzip, wiederholt über mehrere Phrasen, ist analog
zu Bailey Sheas (Matthew Bailey Shea, Musik Theorie Professor, University of Rochester)
Satzketten-Konzept. Damit im Blickwinkel können wir Caplins Aussage, dass die Codetta
unnötig ist, widerlegen. Die Codetta dient als Materialvorstellung und damit wird die
Codetta eine wichtige Verbindung zwischen der Einleitung und dem A Teil.
Das aufsteigende Konzept sehen wir nicht nur in der Tonhöhe, sondern ebenso in der
Dynamik. Die Dynamik steigert vom mf zu piu f, zu f. Als Ergebnis haben wir drei
Einheiten. Obwohl man es auch falsch verstehen und als drei Teile bezeichnen (A-B-A‗)
könnte, ist dies hier nicht der Fall, weil alle drei Einheiten einem Teil gehören und einen
Teil bauen und das ist Teil A. Noch etwas, was dafür spricht, ist, dass die dritte Phrase sich
26
eher nach vorne bewegt und uns das Gefühl des Fortschreitens gibt, eher als Beruhigung
und Rückkehrung. Als die Melodie zurück zum Grundton kommt, endet dieser Teil mit
einer Codetta im Klavier, was eigentlich nichts mehr als eine Wiederholung wichtigen
musikalischen Materials das als Ostinato konzipiert ist.
Der nächste Teil, A‗, (Takt 47-58) kontrastiert dem A Teil mit dem Motivmaterial. (siehe
Notenbeispiel 4)
Notenbeispiel 4, Jolivet, Chant de Linos) (A‗ und A‗‗ Teile)
27
Jedoch bleibt das Verwenden der Satzform des A Teils, wie auch Tempo und Metrum
bleiben. Die dreitaktige Grundidee ist in der Oktave wiederholt.
Die Fortsetzung beginnt mit dem Eröffnungsmotiv, das augmentiert ist im Rhythmus und
der Tonhöhe. Im Original steigert sich dieses Motiv um zwei Halbtonschritte auf und um
drei ab. Dieses Mal steigert es sich um drei Halbtonschritte auf und um fünf Halbtonschritte
ab. Weil das als ein perfekter Punkt für die Fortsetzung gilt, ist der nächste melodische
Einwurf nur als ein formloser Einwurf zu betrachten. So sehen wir, dass das Standard-SatzVerhältnis wie im ersten Teil vorhanden ist: die fünftaktige Fortsetzung und der eintaktige
Einwurf. Während dieser Teil schließt, bricht der Satz zusammen und die melodische Pause
in der Flötenstimme stellt uns eine Kadenz bereit.
Im weiteren Laufe des Stückes sehen wir die typische Wellenbewegung. Relativ
regelmäßige Sequenzierung der Sätze steigen nach oben und fallen wieder nach unten. Die
Rückkehr des A Teil-Materials passiert in den T. 176-187. Im nächsten Teil, A‗‗, was wir
zuerst merken, ist, dass er kurz ist. Die vorher vorgestellten Ideen benötigen nicht mehr so
viel Raum, um sich bekannt zu machen, weil der Zuhörer sie schon kennt.
Jolivet
verwendet in diesem Teil den Satz auch als Form. Eine Art und Weise, um diesen A‗‗ Teil
zu analysieren, ist, die Grundidee von den Takten 177-180 zu betrachten. Diese Idee wird
in den T. 181-183 wiederholt. Die nächste Phrase vervollständigt den A‗‗ Teil in den
Takten 183-187. Die Pause in der Mitte des Satzes bewirkt ein Kadenzgefühl. Eine weitere
Kadenz, ein Atemzeichen, bereitet die Reprise der Grundidee vor.
Dem Teil A‗‗ fehlt die Bogenform (Wellen). Die Sub-Phrasen verspüren öfters eine aufund absteigende Bewegung. Diese Wellen benötigen also eine kleinere Tonleiter als die
früheren Teile (A und A‗). Wenn das Material mehrmals benutzt wird, muss man es immer
anders vorstellen. In diesem Teil entscheidet sich Jolivet für einen intimeren Zugang.
Neues Material kommt mit dem nächsten Formalteil. (Takte 34-36) (Notenbeispiel 5)
28
Notenbeispiel 5, Jolivet, Chant de Linos (B Teil)
Dazu stellt uns Jolivet noch einen neuen Phrasentyp vor. Statt dem Satz verwendet er in
diesem Teil gerne die Periode. Die Vorstellungsphrase (T. 34-38) beinhaltet eine
dreitaktige Grundidee und eine zweitaktige kontrastierende Idee. Weil der erste Takt jeder
Hälfte des Satzes als eine Einleitung von sich selbst klingt, ist es auch so bezeichnet. Die
Phrase (T. 39-44) funktioniert gleich, mit einer Takterweiterung der kontrastierenden Idee.
Die letzten zwei Takte des B Teils kann man als Codetta wegen zu wenig melodischer und
harmonischer Bewegung betrachten.
Die Rückkehr des B Teils ist mehr dem Satz ähnlich. Dreizehntaktiger Satz besteht aus
einer sechstaktigen Vorstellung
und einer siebentaktigen Weiterleitung. In der
Weiterleitung merkt man das Grundideenmaterial. Traditionell wäre es, die Wiederholung
der Grundidee an den Beginn der Weiterleitung noch einmal zu stellen, aber in diesem Fall
(T 68-70) kommt ein kontrastierendes Material, das einen Satz mit dem AABA-Design
formt. Auch der B‗ Teil hat wegen zu wenig melodischer und harmonischer Bewegung eine
zweitaktige Codetta. Jedoch bewegt die aufsteigende Bewegung in der Weiterleitung, auch
29
wie die aktive Synkopierung, diese Phrase nach vorne. In diesem Fall führt diese Phrase in
den nächsten Teil, die Überleitung. (für B‗ Teil siehe Notenbeispiel 6)
Notenbeispiel 6, Jolivet, Chant de Linos (B‗ Teil)
Überleitungen sollen strukturell weniger stabil sein. Im Takt 73 ist ein neuer Satz
entwickelt (siehe Notenbeispiel 7). Die dreitaktige Präsentation ist aus einer eintaktigen
Idee entwickelt und sie wird danach wiederholt und ausgedehnt. Die Weiterleitung ist auch
in Satzform. Hier ist die eintaktige Grundidee wiederholt und die zweitaktige
kontrastierente Idee verschwindet in den nächsten Abschnitt.
Die letzte Wiederholung des B Materials findet in den Takten 188-196 statt. Sehr ähnlich
dem letzten A Teil ist B‘ der Kürzeste von allen drei. (siehe Notenbeispiel 8). Die
einleitende Phrase ist eine zweitaktige Präsentation, die Grundidee und die kontrastierende
Idee des B Materials. Die zweite Phase ist eigentlich die frühere Überleitung zwischen B
und C. Die Kadenz, die zwischen diesen zwei Phrasen kommt, könnte man als Ganzschluss
verstehen, diesem widerspricht aber das Klavier, das die Melodie weiter führt. Die erste
starke Kadenz kommt nach der zweiten Phase und führt in den C Teil.
Das Material, das einen Tanz repräsentiert, ist als C bezeichnet. Hier beginnt ein klarer
Satz. Die Grundidee (T. 85-86) ist um einen Halbtonschritt wiederholt (T. 87-88). Die
30
Weiterleitung beginnt ähnlich, nur eine Oktave höher. Die Weiterleitung fragmentiert die
Grundidee, sodass es weniger wiederholte Töne gibt, und die Richtung wird öfters
verändert. Das alles führt in den Teil D.
Notenbeispiel 7, Jolivet, Chant de Linos, Übergang
Notenbeispiel 8, Jolivet, Chant de Linos (B‗‗ Teil)
31
Die folgende Phrase ist etwas problematisch zu analysieren. Der Klavierpart ist
bemerkenswert, er
alteriert die Grundidee mit der Flöte, aber es unterbricht die
Satzstruktur nicht. Die Takte 93-96 sind am besten eine Verbindung zwischen den Sätzen.
Die einleitende Phrase ist von einer eintaktigen Grundidee und einer kontrastierenden Idee
erschaffen. Die Weiterleitung basiert auf der Grundidee und leitet weiter nach oben. Die
ganze Phrase führt weiter nach vorne, bevor ein Kollapsgefühl geschaffen wird.
Obwohl der Satz im ganzen Stück dominiert, ist auch eine Periode in T. 97-105 zu finden.
Die Grundidee und die kontrastierenden Ideen sind sehr ähnlich, aber der zweite Takt der
beiden unterscheidet sich genug. In diesem Fall kommt es nicht zu einem Satzkollaps,
sondern der Anfangston der Phrase wird in einer anderen Oktave erreicht. Wegen dem
Tonalzentrum-Mangel kann man schwer die Kadenzen bestimmen. Trotzdem sind die
aufsteigende Tritonusbewegung und die Rückkehr ins Zentrum G sehr wichtig. Wie mit
den früheren Teilen ist es auch hier möglich, das Material von den Takten 85-105 als eine
Phrase zu gruppieren. In diesem Fall wird die vorige Weiterleitung zur leicht veränderten
Grundidee. Die folgende Periode, die mit der Grundidee Materialähnlichkeiten hat, wird
zur Weiterführung, in welcher das Material von vorher weiter bearbeitet wird. Obwohl es
sehr ungewöhnlich ist, eine symmetrische Weiterleitung zu haben, haben wir hier einen
klaren Bruch in der Melodie (T. 96 und 97). Das beweist, dass es hier um achttaktige
Gruppen geht und nicht um nur eine lange Phrase.
32
Notenbeispiel 9, Jolivet, Chant de Linos (Teil C)
33
Notenbeispiel 10, Jolivet, Chant de Linos (C Teil, Fortsetzung)
Das Zwischenspiel lässt das D und E Teil-Material erahnen. Das Klavier wird zum Solist
für drei Takte, dem folgt die Flöte mit dem ähnlichen Material – obwohl um einen Tritonus
höher. Ähnlich zur letzten Phase des vorigen Teils ist eine periodische Struktur zu sehen.
Der ganze Prozess wiederholt sich mit einer stärkeren Kadenz am Ende. Vor der Rückkehr
zum C-Material komponiert Jolivet eine Atempause in der Form einer Achtelpause, wo
auch das Klavier mit der Flöte stoppt. Diese Atempause macht die Rückkehr
offensichtlicher und danach kommt das C Teil-Material.
34
Wenn der tänzerische Teil wieder erklingt, ist jetzt das tonale Zentrum um eine große Terz
höher (Fis). An diesem Punkt ist die Phrase gleich strukturiert wie im C Teil original. Die
Takte 112-119 formieren einen Satz (obwohl es in diesem Fall zu keiner Rückkehr auf das
Fis kommt, sondern zu einer Fortsetzung zwei Oktaven höher). Die Takte 120-125
korrespondieren die Melodie in T. 93-96. Die Weiterleitung ist länger. Stattdessen ist die
Bewegung weiter nach oben zu leiten, der Rest dieses Teils kollabiert nach unten und in
dem Moment fängt der nächste Teil an. Bevor ich mehr über die letzte C Teil-Erscheinung
schreibe, werde ich zuerst den D Teil erläutern.
Der D Teil ist von T 126-175 zu betrachten, inclusive einer viertaktigen Einleitung.
Notenbeispiel 11, Jolivet, Chant de Linos, (D Teil)
Die a-b-a‗ Form ist stark zu sehen. Wenn wir das große Bild betrachten, können wir den
ganzen Teil als D-E-D‗ betrachten. Die äußeren Teile sind melodisch und lyrisch in Flöte
und Klavier. Die erste melodische Phrase ist ohne Zweifel ein Satz. Die Vorstellungsphrase
beginnt mit der Grundidee (T 130-131) und sie wird dann höher wiederholt (T 132-133). In
der Weiterleitung (T 136-139) hören wir die Grundidee, bevor sie kadenziert. Obwohl die
Flöte die längste Note hat, leitet das Klavier die ganze Melodie nach unten, was die
35
selbstzerstörerische Natur dieses Satzes zeigt. Die nächste Phrase dient als ein Übergang
und das Material wird verändert. Genau wie mit dem vorigen Übergang verwendet Jolivet
eine schmalere Phrasenstruktur, um das kontrastierende Material einzusetzen. In diesem
Fall sind T. 140 und 141 die Grundidee und T. 142-144 die Fortsetzung. Wenn man das
größere Bild ansieht, könnte man das Material von T. 130-135 als die Vorstellung sehen,
der die Weiterleitung (T. 136-144) folgt. Der Nachteil dieser Theorie ist, dass der Übergang
nicht mehr so qualitativ ist. In beiden Fälle sind die Phrasen nicht gleich lang, aber die
Funktionen sind gut definiert.
Der zweite Teil des D Teils, ebenso der E-Teil, beginnt mit einer Periode (siehe
Notenbeispiel 12). Das Klavier ist hier wesentlich für die Phrase. Die Grundideen sind in
der Klavierstimme in T. 145 und 148, die kontrastierenden Ideen in T. 146 und 149. Der
Rest fließt weiter mit allen periodischen Charakteristiken (siehe Notenbeispiel 13). Hier
beinhaltet die Grundidee zwei Takte mit dem ähnlichen Material (T. 153-154). Die
kontrastierende Idee (T. 155-156), obwohl ähnlich, bewegt sich in einer anderen Richtung.
Der Teil E ist als eine neuntaktige Periode formiert.
Notenbeispiel 12, Jolivet, Chant de Linos, (Teil E)
36
Notenbeispiel 13, Jolivet, Chant de Linos, (E Teil, Fortsetzung)
Die Rückkehr der ostinatoähnlichen Figur im Klavier ist das a‗ des D Teils, oder das D‗.
(siehe Notenbeispiel 14). Obwohl es ein Gefühl der Grundidee gibt (T. 162-166), beginnt
die Wiederholung (T. 167-171) und Weiterleitung in Takt 172, die Weiterleitungsphrase ist
kürzer als die Grundidee. Bailey Shea würde das als „failed sentence― (versagter Satz)
bezeichnen. Die Erklärung ist, dass in diesem Satz die Voraussetzungen eines Satzes da
sind, aber der Satz selber nicht vorhanden ist.
Der letzte Teil des Stückes, in welchem wir das Material des C Teils hören können, dient
als Coda. (siehe Notenbeispiel 15). Obwohl das Stück nicht in Rondoform geschrieben ist,
werden die Hauptteile in der Regel wiederholt. Zu dieser Rondoform hat Caplin gesagt:
„The final return of the rondo refrain usually brings back the original structure of the main
theme, although an abridged or incomplete version occasionally appears instead.‖41
41
Caplin, William, Classical Form: A Theory of Formal Function for the Instrumental Music of Haydn,
Mozart, and Beethoven, Oxford Pree, New York, 2001, S. 180.
37
Das Material in diesem Teil wird extrem reduziert. Die Klaviereinleitung ist auf drei Takte
reduziert, der tonale Umfang zum D eolischen Modus, bis zur letzten Weiterleitung ist die
Musik auf der D pentatonischen Tonleiter begründet.
Wenn wir die Phrasen analysieren wollen, sind die ersten acht Takte (200-207) ein 4 plus
4 Satz. Nach diesem Punkt ist die primäre Funktion die Tonika und das ganze Material
steht auf ihr. Die Satzform ist aber doch zu sehen: T. 210-219 formen einen Satz. Obwohl
die Weiterleitung etwas verlängert ist, ist das Gefühl der Grundidee und kontrastierenden
Idee, Wiederholung und Weiterleitung, klar vorhanden. Es ist auch unmissverständlich,
dass das Klavier und die Flöte das Material alterierend in den letzten Takten anstimmen.
Das, was als ein Satz in der Flöte aussieht, ist eigentlich eine Kette der Motive. In Takt 226
beginnt eine Codetta aus nicht-motivisches Material. Die Coda ist als ein Satz konzipiert
und hat eine starke Kadenz am Ende.
Notenbeispiel 14, Jolivet, Chant de Linos, (D‗ Teil)
38
Notenbeispiel 15, Jolivet, Chant de Linos, (C‗ und Coda)
39
4.4.
Metrum und Tempo
Nach der improvisatorischen Einleitung ist das Stück aus vier Teilen, die sich im Tempo
und Metrum unterscheiden, gebaut. A Teil – langsam, 5/4, B Teil – moderato ¾, C Teil –
schnell, 7/8 und D Teil – moderato 7/8, eigentlich ABA‘B‘CDA‗‗B‗‗C‗ (Tabelle)
Teil
Takt
Intro
1-16
A
17-33
B
34-46
A‗
47-58
B‗
59-80
C
81-125
D
126-175
A‗‗
176-187
B‗‗
188-196
C‗
197-229
Pause
Jolivet hat nicht nur das Tempo und Metrum oft gewechselt, er hat die Pause als ein
Trennungsmittel eingesetzt. Vor jeder größeren Änderung des musikalischen Materials oder
des Charakters kommt entweder eine Zäesur, eine Pause oder eine Fermate. In dieser
Tabelle ist ersichtlich, wie er größere Teile getrennt hat:
40
Teile
Klavier
Einleitung
Intro
A
Antwort
zum Klavier
Melodische
Pause
X
X
X
Codetta
X
X
X
B
X
X
A‗
X
B‗
X
Schließende
Fermate
oder Zäsur
X
C
X
D
X
X
X
A‗‗
X
X
X
B‗‗
C‗
X
X
Einleitendes und abschließendes Material
Noch ein weiteres Trennungsmittel zwischen den Teilen ist das Benützen einer kleinen
Einleitung. Zum Beispiel am Anfang des A Teils (T. 17), C (T. 81) usw. Eine ähnliche
Methode ist der Ruf und die Antwort, wie am Anfang des Stückes, dann Takt 59 (B‗) und
188 (B‗‗).
Tonhöhe
Die Einleitung braucht eine siebentönige Tonleiter, basierend auf dem G. Bei der modalen
Analyse sehen die Stufen dieser Tonleiter so aus: 1, 2b, 3, #4, 5, 7b. Die lineare Analyse
zeigt uns viele dissonante Intervalle, die eine einzigartige Tonfarbe formen. Der A Teil,
getrennt von dem Intro, beinhaltet ein Es als zusätzlichen Ton zur vorigen Tonleiter.
41
Der B Teil ist in vier Sechs-Noten Gruppen geteilt. Das ist ein Gegensatz zum A‗. Genau
wie die Einleitung und der A Teil oder der A‗ Teil modal. Weil das Gisis zum Ais führt,
linear öfter als vertikal, kann man ahnen, dass dies das neue tonale Zentrum ist, obwohl die
Töne eine harmonische Moll Tonleiter mit erniedrigter fünfter Stufe formen.
B‖ stellt uns die Töne in Sieben-Noten Gruppen, sehr ähnlich dem B‗ Teil. Die
Abwesenheit des Ais in diesem Teil erschafft einen Kontrast.
Der Teil C beginnt mit einer Version der eröffnenden modalen Tonleiter, die auf dem D
basiert. In Takt 97 betont Jolivet das G, obwohl die anderen Töne das Fis für den
Anfangston dieser Modi zeigen. Diese modale Tonleiter ist als ein Link zwischen Teilen
benützt, das Tonmaterial ist überhaupt nicht ähnlich.
Der D Teil ist langsamer im Tempo, aber eine weitere Besonderheit ist die Modusänderung.
In T. 145 passiert diese Materialänderung und zwar so, dass wir wieder in dem Modus sind,
in welchem wir zu Beginn des C Teils waren. Der folgende A‗‗ Teil bringt den A Teil
wörtlich wieder. Außer Fermate, Pause oder Tempoänderung hilft eine Tonhöhenänderung,
um einen neuen Teil zu bezeichnen.
Der letzte, C Teil, beginnt mit dem natürlichen D moll. Der letzte Lauf (T. 214 – 229) lässt
das E und B aus und was übrig bleibt, ist die D pentatonische Tonleiter.
Dieser kurze Überblick zwischen den Teilen zeigt den maximalen Kontrast durch die
Tonmaterialänderung. Genau wie früher wird gezeigt, wie diese Teile durch
Pausen,
Tempo und Metrumänderungen getrennt sind.
Kammermusik Ausgabe
Die Ausgabe für Flöte, Streichtrio und Harfe, die zu Beginn dieser Arbeit erwähnt wurde,
unterscheidet sich nur in der Besetzung. Die Form und führende Stimme sind ungeändert.
Die Begleitung ist um einige Instrumente reicher, aber die Grundmelodie und Harmonie
bleiben gleich. Die Teile der Ruhe und Klage sind natürlich mit wenigen Instrumenten
42
begleitet, während der Todestanz immer in voller Besetzung aufgeführt wird. Es bleibt eine
Sache des persönlichen Geschmacks, wem was gefällt, aber beide Instrumentationen haben
Eigenschaften, die für sie sprechen.
43
5. Cinq Incantations pour flûte seule
Jolivets Ziel als Komponist war, die psychologischen Impulse des Zuhörers zu erwecken.
Durch seine charakteristische Kompositionstechnik schafft er, genau dies zu tun. Die
Wiederholung der Motive war eine Weise, um sich der Stammesmusik zu nähern, die ihn
immer fasziniert hat. Wenn wir die musikalischen Elemente in diesem Stück vergleichen,
können wir etablieren, dass es eine Vielfalt von musikalischen Ideen in sich versteckt und
durch diese Vielfalt imitiert er die wechselhafte Natur unserer Innenerfahrung, was seiner
Musik eine Kommunikationsfähigkeit mit unseren Sinnen gibt. In diesem Stück gelingt es
Jolivet auch, in jeder Incantation einen Moment des Lebens zu fangen (einer Person, einer
Gesellschaft, Geburt, Spiritualität und Tod) und auf einem höheren Niveau diese zu
projektieren und dem Zuhörer diese Erfahrung so nahe zu bringen, dass er sie als seine
Eigene aufnimmt.
5.1.
Stilistische Einflüsse
Cinq incantations pour flûte seule (1936) stellen uns, was Jolivets Biograf Serge Gut als
seine „revolutionäre Periode― (1934-1939) bezeichnet, dar. Viele Stücke, die Jolivet in
diesem Zeitraum komponiert hat, zeichnen sich durch die Spiritualität und mutige tonale
Sprache aus. Jolivet‘s later compositional periods, as named by Gut, are the ‗traditionalist
period‘ (1939-1945), Characterized by a simpler, more accessible musical language, and
the third style period, which spans the remainder of the composer‘s life (1945-1974). The
music written in this final era was a synthesis of the disparate languages of the previous
periods.42
Sein Ziel, wie schon früher erwähnt, war die Musik zurück zu den Anfängen zu bringen, als
sie noch Ausdruck der Magie und Zauberei war.
42
Gut, Serge, Le Groupe Jeune France, hg. von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris, 1977,
S. 50-51.
44
Drei Einflüsse haben ihm geholfen, seine früheren Ideen über Musik und musikalische
Philosophie zu gestalten: Seine Faszination für die Musik anderer Kulturen, die Ethnologie
Studie und sein Lesen über die Spiritualität der früheren Zivilisationen. Es ist einfach, zu
sehen, wie ein Interesse zu dem anderen führte. Seine jugendliche Faszination für die
anderen, nicht westlichen,
Kulturen, führte zum Studium der Ethnologie und die
offensichtliche Beziehung zwischen Musik und Religion, die er durch seine Recherche
entdeckt hat, musste sein Interesse für Spiritualität in der Musik erweckt haben.
Dass er durch einen Cousin, der in Afrika gearbeitet hat, Kontakt mit dem afrikanischen
Kontinent hatte, habe ich schon erwähnt. Durch ihn lernte Jolivet die afrikanische Kultur
kennen (Musik und Musikinstrumente). Sein Cousin erzählte ihm, wie diese Instrumente
verwendet wurden, wie die Musik in Ritualen geklungen hat und wir können es heute
hören, wie er diese Erfahrungen verwendet hat.
Die Ethnologie, als zweiter großer Punkt in dem Erschaffungsprozess Jolivets, ist nach
der Heirat mit Hilda Ghuighui so wichtig geworden, die an der Sorbonne das Studium für
Philosophie abschließen wollte. Das Thema ihrer Recherche war die Soziologie der antiken
Kulturen. Jolivet ist oft in den Vorlesungen gesessen, er hat Hildas Notizen regelmäßig
durchgelesen, alles, um über dieses Thema mehr zu erfahren.
Jolivet zitierte La Musique et la Magie des Ethnologen Jules Combarieu als einen der
Texte, der seine musikalische Philosophie am meisten inspirierte. Combarieu hat geglaubt,
dass Religion, Musik und Magie sehr nahe auf einander bezogen waren, sowohl im Alltag
als auch im Ritual. Er sagte, dass die Musik durch praktische Rituale eine Magie erschaffen
konnte, die den Willen der Natur verändern konnte und gegen ihre Macht als würdiger
Gegner kämpfen konnte. Die Idee dieser früheren Zivilisationen war, dass durch die Musik
alles möglich ist.
Der dritte Einfluss auf Jolivets frühe Musik war sein Lesen im Feld von Geistigkeit.
Nach den Untersuchungen unterschiedlicher Weltreligionen etablierte Édouard Schuré,
dass die Grundidee aller Religionen ist, durch die Religion einen transzendenten Zustand zu
45
erreichen, und Jolivet glaubte, dass dieser nur durch die Musik zu erreichen wäre. Er sah
sich selbst als den Komponisten des 20. Jahrhunderts und seine Aufgabe war, die Musik als
Medium zwischen Gott und Erde zu erstellen. Die Magie in seiner Musik war solche,
welche die Vereinigung von der Person, der Natur und dem Göttlichen erlaubt. Diese
Magie war magisch in dem Sinn, dass die Wissenschaft es nicht erklären kann. Natürlich
kann die Wissenschaft den Klang erklären, aber den Effekt, den dieser Klang auf den
Zuhörer und seine Psyche hat, kann sie nicht begründen. Jolivet erschafft das alles durch
sorgsam ausgewählte Harmonien, Resonanzen, Rhythmen, Melodien und Tonfarben.
Wie Moindrot schreibt: ―The secret of the magic of sounds consists of an ingenious
utilization of musical material.‖43
5.2.
Spieltechnische und konnotative Analyse der CINQ INCANTATIONS
Cinq incantations stellen uns, was Jolivets Biograf Serge Gut als seine „revolutionäre
Periode― (1934-1939) bezeichnet, dar. Jolivets spätere Kompositionsperiode (1939-1945)
ist eine sogenannte „traditionelle Periode―, welcher eine „Periode der Reminiszenz― folgt
(1945-1974). In diesem Zeitraum schreibt Jolivet Musik, die von der musikalischen
Sprache her eine Zusammenfassung von allen vorigen Perioden ist.
In diesem Jahr gründete er zusammen mit Olivier Messiaen, Yves Baudrier und Daniel
Lesur die Gruppe der ,,Jeune France". Sie richtete sich gegen den französischen
Neoklassizismus und den mitteleuropäischen Expressionismus. Man empfand, dass die
Kunst zu abstrakt geworden sei und forderte Rückkehr zur Menschlichkeit. In einem
Manifest werden die Ziele der Gruppe genannt: Aufrichtigkeit, Großzügigkeit,
Verantwortungsbewusstsein, Menschlichkeit - ein unmittelbares Verhältnis zum Hörer.
Kunst wird verstanden als ,,un moyen d'exprimer une vision du monde, que est une foi".
43
Moindrot, Gérard, Approches symboliques de la musique d‟André Jolivet: Musique et expression du sacré,
hg. von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris, 1999, S. 51.
46
Sie wollen einen neuen Lyrismus schaffen, die spirituellen Werte der Musik erhöhen und
die Menschlichkeit betonen.44
Der Zweck dieser fünf Stücke ist, sagte der Komponist selbst: „den Zustrom der
musikalischen Emotionen, und bei empfindsameren Zuhörern, die Emotionen, mit dem
instinktiven Impuls und den körperlichen Reaktionen des primitiven Stammesangehörigen
in eine enge Beziehung zu bringen.“45
“Um die Unterhändler willkommen zu heißen, mit dem Wunsch daß das Treffen friedlich
wird”, „Daß das erwartre Kind ein Sohn werden möge“, ,,Daß die Ernte, die aus den vom
Arbeiter gepflügten Furchen wachsen soll, reich werde” , „Für eine erhabene
Gemeinschaft mit der Welt“ und ,,Bei der Beerdigung des Häuptlings, zum Schutze seiner
Seele".
Bereits diese Titel zeigen, dass es sich um eine ursprüngliche und primitiv rituelle
Beschwörungszeremonie handelt. Die Stücke sind konzipiert in einer freien Atonalität, also
ohne Bindung an eine Tonart oder Zwölftonreihe. Häufig werden kleine, meist vier bis
sechs Töne umfassende Floskeln verwendet. Sie bilden Melodiemodelle, in der Art etwa
eines Maquam. (Das aus der orientalischen Musik stammende Maquam ist ein melodisches
Modell, nicht im Sinne eines Themas als etwas Gegebenem oder Gesetztem, sondern als
Verkörperung melodischer, tonaler und rhythmischer Eigenschaften.) Diese Modelle
kehren in veränderter Rhythmisierung ständig wieder und werden dabei durch
,,modellfremde", oft auch deutlich im Register abgesetzte Töne ausgeziert. Das
vorherrschende Konstruktionsprinzip im melodischen Bereich ist die Wiederholung; auch
44
Wentorf, Ruth, Werkstatt Berichte, Andre Jolivet, ,,Cinq lncantations, (Nr. 4), Laaber, 2009, S. 262 – 263.
45
The purpose of these five pieces was to cause, in Jolivet‘s words, ―the influx of musical emotion and, in
more sensitive (or ‗uninitiated‘) listeners, emotion akin to the ‗instinctive impulses‘ of primitive tribesmen.‖
Zitiert nach: Jolivet, Hilda, Avec… André Jolivet, hg. von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley,
Flammarion, 1978, S. 134.
47
Einzeltöne, vollständige Melodiemodelle und ganze Abschnitte werden zum Teil
wiederholt. Die Anzahl der Wiederholung ganzer Kompositionsabschnitte ist manchmal
freigestellt, dadurch entsteht eine litaneihafte Wirkung. Das Melos in dieser Musik ist somit
nicht expressiv, sondern magisch, beschwörend.
Schon der Titel ,,Incantations" verweist auf eine starke Affinität Jolivets zum Sprachklang.
Als
sprachimitatorische
Elemente
finden
sich
langgezogene
Einzelnoten
und
Rezitationstöne, so z. B. in der dritten Incantation über mehrere Takte hinweg, die an
Intensität durch sprachähnliche Rhythmen, durch Vorschläge und durch dynamische
Differenzierung gewinnen. Auch die menschliche Stimme wird in rufartigen Floskeln
nachgeahmt, so z. B. in der zweiten Incantation, die Spielanweisung dort lautet „plus
scand". Übrigens fordert Jolivet in einigen Spielanweisungen eine durchaus expressive
Tongebung: „sifflant" (erste Incantation), ,,comme une grande respiration", ,,plus scandé",
,,quasi Tromba" (zweite Incantation), ,,trés cuivrés" (fünfte Incantation).
Die Töne d-es-h-c werden wie ein Cantus firmus in primitiven rhythmischen Wechseln
wiederholt. Jeder der folgenden Sätze betont einen oder mehrere dieser Töne. So wird das
tonale Zentrum des zweiten Satzes es, das des dritten d und des vierten h. Der erste Satz
basiert auf dem tiefen c, das im zweiten Satz fast nie erscheint. Das dritte Stück beginnt mit
d, bewegt sich dann aber um einen Tritonus hinauf zum as, das als gis das tonale Zentrum
des letzten Satzes wird. Der vierte Satz windet sich um den Ton h, und das fünfte Stück
kehrt zum gis zurück, während in Zwischenteilen ein neuer Tritonus h-f erscheint.46
Jolivet schrieb diese Stücke im Jahre 1936, nur ein paar Monate nach dem Tod seiner
Mutter. In jeder Incantation hört mein sein Weinen, sein Beten, sein Erinnern. In ihrem
Buch schrieb Jolivets Frau:
„Jolivet…poured his pain into his music, and it is his mother that is
present in each instant of the Incantations…He cried and the flute repeats his
46
Wentorf, Ruth, Werkstatt Berichte, Andre Jolivet, ,,Cinq lncantations, (Nr. 4), Laaber, 2009, S. 263.
48
long cries; he relives his childhood with her and the flute sings his unspeakable
nostalgia. He places himself under the protection of the flute‘s soul in a serene
communion…The titles of the Cinq incantations are a magic spell: it is as if the
thoughts of the musician were expressed in words and followed by sounds.―47
Dass er jede Incantation als ein Gebet benannt hat, gibt uns klare Anweisungen, was er
mit dieser Musik schaffen wollte. Das ist keine absolute Musik, noch Unterhaltungsmusik,
sondern die Musik, die zwischen den Mitgliedern der Gemeinde, zwischen Mann und Gott
und zwischen Mann und seinem inneren Selbst kommuniziert. Diese Musik wurde nicht
von den früheren Zivilisationen ausgeliehen oder kopiert, diese Musik wurde erschaffen
von dem Komponisten selbst, um die Verbindungsrolle zu spielen, die Musik in einem
Ritual auch früher gespielt hat.
5.2.1 Pour accueillir les négociateurs – et que l’entrevue soit pacifique
“Um die Unterhändler willkommen zu heißen, mit dem Wunsch daß das
Treffen friedlich wird”
In der ersten Incantation handelt es sich um Dualität. Zwei unterschiedliche Stimmen
differieren in Registerhöhe, Tonumfang, Tonfarbe und Metrum. Gérard Moindrot,
Musikologe und Jolivets Biograf, schrieb über dieses Stück:
„Pour accueillir les négociateurs—et que l‘entrevue soit pacifique‖ expresses
the duality archetype. Two opposing parts are put together: two groups of notes,
two registers, alternating of static and dynamic. Symbolically, it is conception,
the logical goal of duality. It is, as well, a request of the invisible forces to, on
one hand, leave the meetings untroubled because they are for the vital interest of
47
Jolivet Hilda, Avec… André Jolivet, übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris,
1978, S. 133.
49
the social group, and on the other hand, to give inspiration.―48
Gérard Michel deutet uns in seinem Artikel ―André Jolivet: essai sur en système esthétique
musical‖ an, dass der Komponist durch dieses Werk die Inspiration und Kreativität
erwecken möchte, um ein erfolgreiches Kunstwerk erschaffen zu können.49
Flötistin Katherine Kemler ist der Meinung, dass dieser Satz ein Präludium des ganzen
Stückes ist, in dem der Komponist die Art des Dialogs (Verhandlung) zwischen den
Geistern (Verhandlungsführer) und ihm selbst bestimmt und in diese Richtung komponierte
er alle weitere Incantationen.50
Die Partitur beinhaltet Beweise, die alle diese Theorien unterstützen können. Die zwei
kontrastierenden Stimmen werden uns gleich in den ersten zwei Takten vorgestellt. Das
hohe D erklärt den Anfang mit einem Schrei. Die zweite Hauptnote ist das C, drei Oktaven
unter der ersten Note, und genau dieses C stellt uns die zweite Stimme vor.
Notenbeispiel 16, Jolivet, Cinq Incantations, 1.
Diese Ungleichheit zwischen den Registern bleibt bis zum Ende des Satzes erhalten.
48
Moindrot, Gérard, Approches symboliques de la musique d‟André Jolivet: Musique et expression du sacré,
übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris, 1999, S.71.
49
Michel, Gérard, André Jolivet: essai sur un système esthétique musical, La revue musical, Paris, 1947: S.
14.
50
Kemler, Katherine, Is There Magic in Jolivet‟s Music?, The Music Review 44, 1983, S. 126.
50
Die zwei Stimmen unterscheiden sich, unter anderem, im Tonumfang. Die tiefere
Stimme beinhaltet nur vier Töne: B, C, D und Es. Diese vier Noten sind in
unterschiedlichen Registern und verschiedenen Reihenfolgen vorgestellt, aber im
Allgemeinen bleibt die tiefere Stimme statisch. Die obere Stimme besteht aus den
restlichen acht Tönen und ist chromatisch. In der Coda, wenn beide Stimmen endlich
vereint sind, formen sie eine komplette Zwölfton Reihe.
Die rhythmische Unterscheidung ist noch eine Ebene, mit welcher sich diese zwei
Stimmen auseinandersetzen. Beide, 9/8 und 3/4 Takte, sind uns am Anfang des Satzes
vorgestellt. Der 9/8 ist über dem ¾, um die Korrelation der Taktart mit der Tonhöhe zu
zeigen (oberes Metrum - obere Stimme, unteres Metrum - untere Stimme). In Takt 5 und
weiter setzt sich das Metrum beider Stimmen fest. Die obere Stimme läuft in einem
Komplex Dreier-Metrum, während sich die untere in einem einfachen Dreier-Metrum
fortsetzt. Genau wie die Melodie ist der Rhythmus der oberen Stimme dynamisch, während
jener der unteren Stimme eher regelmäßig und wiederholend ist.
Jolivet setzt Flatterzunge (Frullato) ein und gibt die Anweisung, dass der Ton eher
„sifflant― (pfeifend, zischend) klingen soll, was der oberen Stimme noch mehr
Selbstständigkeit gibt. Das hohe Register und die Zungentechnik geben dieser Stimme eine
gewisse Jenseitigkeit, besonders im Paar mit der Chromatik der unteren Stimme.
Jolivet war der erste Komponist, der sich wirklich damit beschäftigt hat, die Techniken der
Flöte zu untersuchen, die Alte zu verbessern und Neue einzuführen. Er hat die SoloLiteratur für Querflöte verbreitert und neue Spieltechniken eingeführt. Durch diese
Recherchen hat er entdeckt, wie er die Klänge aus seinem Kopf durch die Flöte ausdrücken
kann und damit hat er die Ausdrucksmöglichkeiten des Instruments verbreitert.
Die Coda dieser Incantation ist besonders wichtig. Hier treffen sich die zwei Stimmen, es
kommt zu einer Vereinigung der bis jetzt immer getrennten zwei Stimmen. In Takt 13
passiert etwas, was noch nie im ganzen Stück passiert ist, und zwar, dass sich alle Töne von
beiden Stimmen und allen Registern hier kreuzen.
51
Notenbeispiel 17, Jolivet, Cinq Incantations, 1.
Diese Vereinigung der gegensätzlichen Register und des Tonmaterials symbolisiert den
Erfolg von „Dialog und Verhandlung―. Die letzte Terz, als ein konsonantes Intervall, stellt
den Frieden dar, den man im Titel gewünscht hat. Das letzte D ist aber drei Oktaven tiefer
als das Eröffnungs-D, und seine Stille unterstreicht die friedliche Schließung der
Verhandlung.
5.2.2 Pour que l’enfant qui va naître soit un fils
„Daß das erwartete Kind ein Sohn werden möge“
Die zweite Incantation ist eine Erweiterung des Dualitätprinzips. Gérard Moindrot deutet
darauf hin, dass die zwei entgegengesetzten Motive sich in den Tönen Es und D spiegeln.
Die bewegende Energie des Satzes haben wir in dem Rhythmus und noch ein
betrachtungswerteres Objekt sehen wir in der letzten Note, B.
Katherine Kemler ist der Meinung, dass der ganze Satz die Geburt darstellt. Sie schrieb:
―…Jolivet has created a convincing musical simulation of the process of
child-birth: the heartbeats of the mother and child (quintuplets on E-flat and D), the
repetitive but
52
unpredictable contractions of early labour (melodic figure with varied rhythms) becoming
more and more frequent and intense until the ultimate birth of the child.―51
Sie interpretiert den Satz als ein Gebet und Hoffnung, dass das Kind auf diese Welt
kommt. Das erste von zwei Motiven, die in diesem Stück dominieren, Motiv A, ist das
Wiederholen von einem Ton in einer parlando-Stil-Passage. Diese Passagen (T. 1-3, 7-9, 14
und 33-43) repräsentieren den Sprachrhythmus des skandierten Gebets. Die Pausen tragen
der atemlosen Ernsthaftigkeit dieses Gebets bei.
Notenbeispiel 18, Jolivet, Cinq Incantations, 2. Motiv A
In der Mitte des Satzes, Takt 33, merken wir eine verbreitete Variation an das A Motiv.
D wird zu dem dominanten Ton anstatt des Tons Es, der vom Anfang bis zu dieser Stelle
dominiert hat. Diese Tonänderung ist eine Darstellung der zwei Mächte, die für die
Erschaffung des Lebens verantwortlich sind, in diesem Teil übernimmt das die Zweite.52
Der rhythmische Charakter ändert sich auch. Das Tempo ist langsamer und die Passage
schreitet fort, der Schlag ist auf kleinere Werte unterteilt, was für verschärfte Intensität
sorgt.
Die letzte parlando-Passage kommt vor der Coda vor. Die wiederholte Viertelnote Des, der
ein C (Vorschlagsnote) vorangeht, erinnert an die Passage, die im T 33 anfängt. Diese sind
aber langsamere und schwerere Gebete, welche die Tiefe der Seele berühren. Die Musik
intensiviert, als die Geburt sich nähert.
Motiv B ist das zweite wiederholende Motiv, das in diesem Stück dominiert und die ganze
Incantation vereinigt. Dieses Motiv zeigt die Vereinigung dieser Gesellschaft, in welcher
das Baby geboren wird. Sie sind alle vereinigt in der Hoffnung, dass sie alles tun werden,
51
Kemler, Kaherine, Is There Magic in Jolivet‟s Music?, The Music Review 44, 1983, S. 128.
52
Moindrot, Gérard, Approches symboliques de la musique d‟André Jolivet: Musique et expression du sacré,
übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris, 1999, S. 71.
53
damit das Kind gesund und sicher zur Welt kommt. Dieses Motiv hören wir zum ersten
Mal in Takt 3. Die aufsteigende Form kontrastiert dem statischen, wiederholenden
Charakter des Motivs A. In dieser einfachen Form besteht dieses Motiv B aus den Tönen:
Es, Des, Fes und D. Es wird drei Mal in drei Takten wiederholt. Diese Wiederholungen
wirken mit dem leidenschaftlichen Ton des Eröffnungsgebets mit.
Notenbeispiel 19, Jolivet, Cinq Incantations, 2. Motiv B
Der folgende Teil, Takte 9 – 24, beinhaltet sieben aufeinanderfolgende Wiederholungen
des Motivs B. Jede Wiederholung variiert rhythmisch, aber alle beinhalten die vier Töne
und alle enden mit der übermäßigen Sechsten vom Fes zum D. Die dritte Wiederholung
(Takt 12 – 15) ist um einen Takt verlängert, in diesem Takt fängt das inbrünstige Gebet
wieder an und die parlando-Passage folgt auf dem D (Takt 14).
Die vierte Wiederholung ist um eine chromatische Wiederholung des D, Des und Dis, drei,
von vier Motivnoten erweitert. Die Aufführungsanweisung „comme une grande
respiration― (wie ein großes Ausatmen), genau wie das Glissandozeichen über Takte 18 –
19, machen diese Passage zum Zeichen des Seufzen und Sorgens.
Notenbeispiel 20, Jolivet, Cinq Incantations, 2.
54
Die darauffolgenden Motiv B-Figuren sind durch lautere Dynamik, mehr Intensität im
Rhythmus und Akzente intensiviert.
Die Takte 23 – 25 sind eine abgestumpfte Variation des Motivs B. Es, die Note, um welche
sich der ganze erste Teil dreht, ist in diesem Moment auffällig abwesend. Der zentrale Ton
ist jetzt der Ton D. Diese musikalische Aussage ist auch der Anfang der Sequenz: Die
aufsteigende übermäßige Sechste am Ende des Motivs ist in Takt 25 zur kleinen Septime
erweitert, in Takt 26 zur aufsteigenden kleinen None und in Takt 27 zur aufsteigenden
große None.
Notenbeispiel 21, Jolivet, Cinq Incantations, 2.
Jede Stufe der Sequenzierung vergrößert die Spannung und die Erwartung des Moments
der Geburt.
In der zweiten Hälfte der Incantation kommt das Motiv B wieder in Takt 46, nach der
erweiterten parlando-Passage (stammend aus Motiv A) auf der Note D, das jetzt als
Zentraler Ton dient. Es kommen fünf aufeinanderfolgende Wiederholungen des Motivs B
in Takt 46 – 55. Der erste motivische Satz beginnt mit einem Des, verziert mit einem C
Vorschlag. Diese Figur ist am Anfang des dritten motivischen Satzes wieder zu hören (Takt
48 – 49). Das vierte Mal wird das verzierte Des schon bedeutend länger und die fremden
rhythmischen Figuren über den Taktstrich hinaus dienen dem Zerstören des Metrums, das
früher etabliert war. Diese Elimination des Metrums trägt zum aufsteigenden
Aufregungsgefühl, das der Geburt vorgeht, bei.
55
Das Material des letzten Teils, der sehr chromatisch ist, ist mit dem Motiv B verwandt.
Wie am Ende des ersten Teils der Incantation wird das aufsteigende Intervall am Ende des
Motivs wieder sequenziert: In Takt 54 die übermäßige Sechste, in Takt 55 die kleine
Septime, in Takt 57 hören wir eine Oktave und reine Quint und die Oktave plus eine große
Septime am Ende des Taktes. Nach der rapiden absteigenden chromatischen Tonleiter kehrt
das Motiv zu seiner Grundform zurück. Jetzt erscheint er als Rekapitulation des dritten und
vierten Taktes des Stückes, wo das Motiv zuerst vorgestellt war. Die Verbreiterung des
Motivs folgt in einer aufsteigenden Kurve (Takt 61 – 63) und wird sehr dicht im Rhythmus
und hohen Register. Bis die zweite Incantation zum Ende kommt, hat die Musik ein hohes
Niveau der Intensität erreicht. Takte 64 und 65 sind eine Wiederholung des Motivs B (ohne
Fes), in welcher die wichtigsten Töne des Stückes, Es und D, vorkommen. Der Satz endet
am hohen H3 (Der Ton, der immer wieder in beiden harmonien der zentrale Noten
auftaucht). Musikalisch stellt dieses H ein neues Wesen dar, das zur Welt gekommen ist.
5.2.3 Pour que la moisson soit riche qui nâitra des sillons qui le laboureur
trace
,,Daß die Ernte, die aus den vom Arbeiter gepflügten Furchen wachsen soll,
reich werde”
Die Musik der dritten Incantation ist sehr wiederholend, bewusst und willentlich. Die
ganze Incantation besteht aus nur neun Takten, im 8/2 Takt geschrieben. So wie ein
Landarbeiter seine Aufgabe endlos wiederholt, so wiederholt Jolivet diese kleine Menge
vom musikalischen Material, als ob er durch die Musik die unaufhörliche Natur der Arbeit
und am Ende die Transzendenz und die Zufriedenheit, das die Leistung bietet, versucht zu
zeigen. In jedem Aspekt der Musik erkennt man Bilder von Hartnäckigkeit und
Zielstrebigkeit, die für das Fortschreiten notwendig sind. Die regelmäßige und stapfende
Natur der Tempo-Bezeichnung „Très régulier, non sans lourdeur, mais sans brutalité― (sehr
regelmäßig, nicht ohne Schwere, aber ohne Brutalität) schafft die richtige Stimmung von
56
Anfang an. Das motivische Material dieser Incantation ist limitiert. Wie die zweite
Incantation, in welcher zwei Motiv-Gruppen erkennbar sind, inkorporiert diese Incantation
zwei Motive. Im Wesentlichen stammt das ganze Material vom Motiv C, drei aufsteigende
Halbtonschritte und das Motiv D, eine längere, melodischere Figur.
Notenbeispiel 22, Jolivet, Cinq Incantations, 3. Motiv C
Notenbeispiel 23, Jolivet, Cinq Incantations, 3. Motiv D
Das Motiv C ist im ersten Takt vier Mal wiederholt und erklingt dann in Takt fünf, acht
und neun wieder. Motiv D ist in Takt drei, sechs und sieben wiederholt. Hinzu der
Wiederhervorrufung des ähnlichen Materials, welches durch das Stück erklingt, werden
manche Abschnitte wortwörtlich wiederholt. Takt 2 ist mit einem Wiederholungszeichen
markiert, T. 2 – 5 sind mehrmals zu wiederholen (wie bezeichnend in der Partitur), und
Takt 6 ist drei Mal nacheinander zu spielen. Diese Wiederholung des Materials resultiert in
der Gleichmäßigkeit der Struktur, was andere Incantationen nicht haben.53
Rhythmisch, der Puls ist konsistent durch den ganzen Satz. Wenn es eine Pause gibt, ist
sie kurz und die Musik macht weiter mit der Arbeit. Gerard Michel schreibt, dass die
rhythmische Bewegung dieses Stückes durch das langsame Tempo und die Monotonie in
der Melodie den Bauer, als er die Furchen legt, zeigt.54
53
Kemler, Katherine, ―Is There Magic in Jolivet‘s Music?,‖ The Music Review 44 (1983). S. 129.
54
Michel, Gérard, André Jolivet: essai sur un système esthétique musical, La revue musical, Paris, 1947, S.
14.
57
Der Tonumfang des Satzes bleibt gänzlich konstant. Da sind Momente, wo die Melodie
aufsteigt. Der Oberton in Takt 3 und am Ende der Incantation drückt eine Ruhe aus, die
nach dem Absolvieren einer Aufgabe kommt. Die letzten zwei Noten des Satzes sind eine
Reminiszenz an die Noten in Takt 3, dieses Mal aber um einen Schritt höher. Diese
Transposition des Materials stellt die endlose Arbeit dar, genau wie einen aufsteigenden
Schritt nach oben, Richtung Transzendenz. Wie Gerard Moindrot schreibt:
„It is the third symbolic benchmark: Work becomes a sacred act, a tool of evolution.‖
5.2.4 Pour une communion sereine de l’être avec le monde
„Für eine erhabene Gemeinschaft mit der Welt“
„Pour une communion sereine de l‟être avec le monde“ remains one of
the essential pages of my work, as much by the output of its lyricism as through the
philosophy it expresses, which approaches the philosophy of Teilhard de Chardin when he
states, ‗There is a communion with God, and a communion
with the earth, and a
communion with God through the earth.―55
Diese Incantation ist deutlich komplexer als alle Vorherigen im Sinne der Form, obwohl,
wie bei den anderen, ihr musikalisches Material sehr eng gewebt ist. Wie in der Zweiten
und Dritten bestimmen zwei wichtige Motive, hier als E und F genannt, die ganze
Architektur des Satzes. Diese Incantation können wir auf fünf Hauptteile unterteilen. Die
Form der Incantation ist durch die Verwendung der Motive E und F bestimmt.
55
Moindrot, Gérard, Approches symboliques de la musique d‟André Jolivet: Musique et expression du sacré,
übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris, 1999, S. 140-143.
58
Teil A
Teil B
Teil C
T. 1 – 11
T. 12 – 15
T. 16 - 19
Motiv E
Motiv F
Motiv E
Motiv F
Link
T. 26 – 29
Teil A1
T. 30 – 35
Motiv E
Motiv F
Tabelle zeigt die Form der Pour une communion sereine de l‘être avec le monde. From Cinq
incantations pour flûte seule.
Teil A (T. 1 – 11) beinhaltet das motivische Material, aus welchem sich der Rest des
Werkes entwickelt. Diese zwei Motive erscheinen als ein Teil der Achtelnmelodie,
präsentiert in Takt 1. Die ersten drei Noten dieser Melodie, drei absteigende
Halbtonschritte, formen die Grundlage des Motivs E; Motiv F ist eine augmentierte Oktave,
die am Ende der selben Melodie erklingt.
Notenbeispiel 24, Jolivet, Cinq Incantations, 4. Motiv E
Notenbeispiel 25, Jolivet, Cinq Incantations, 4. Motiv F
Die Nebeneinanderstellung von zwei verschiedenen melodischen Einheiten, wie diese zwei,
ist sehr üblich für Jolivets schaffen.
„It is the tension between two types of melodic ideas, one stabilizing force and one
dynamic force, which propels the music.― (Moindrot) Motiv E ist im ersten, dritten und
letzten Teil des Werkes präsentiert. Dieses Motiv erscheint immer ohne größere
59
Veränderungen (obwohl es im Teil C umgekehrt, retrograd, vorkommt) und bietet dem
Zuhörer etwas zum Anlehnen, eine Referenz. Dieses Motiv ist der Stellvertreter der
stabilisierenden Macht, von der Natur, der Göttlichen.
Motiv F, die augmentierte Oktave und ihre Varianten der Intervalle, dienen als eine
konterkarierende Macht. Dieses Motiv ist auch schon im ersten Takt vorgestellt und taucht
wieder im Teil B und D auf. Es ist von Natur aus dynamischer als das absteigende,
halbtonschreitende Motiv und erscheint in viel mehr Variationen: als beide verminderte und
übermäßige Oktave, große und kleine Septime und als große/kleine None. Im Teil B (T. 12
– 15) werden ein neues Tempo und eine neue Farbe vorgestellt; die Musik bewegt sich
nach vorne und die Flatterzunge wird eingeführt. Das Tonmaterial dieser vier Takte ist das
Ausnutzen des Motivs F, durch ständige Wiederholung der augmentierten Oktave
manifestiert. Dieses bestimmte Intervall kommt unglaubliche zwanzig Mal in diesen vier
Takten vor.
Die Begrenzungen des Motivs F werden im Teil D, der Höhepunkt der vierten Incantation,
untersucht. Dieser Teil ist mit dem Teil B verwandt, durch die Benutzung des F Motivs und
dessen Varianten. Bis Takt 24 hat sich das tonale Zentrum vom H zum E verändert. Der
Ton E hatte früher überhaupt keine Bedeutung, eigentlich ist das E bis jetzt nur zwei Mal
in der ganzen Incantation aufgetaucht, beide Male als eine Durchgangsnote (T. 17 und 19).
Hier wird der Ton E das neue tonale Zentrum wegen seiner häufigen Wiederholung. Das E
ist auch der höchste Ton des Satzes, somit auch der Zenit der ganzen Incantation.
Wie der Satz zum Teil A1 kommt, sehen wir, dass die Motive einen geschlossenen Kreis
bauen. Die Musik in diesem Teil ist beides, eine Erinnerung an das Eröffnungsmaterial
genau wie die Abweichung von dem Original und die Transposition um eine kleine
Sekunde nach oben. Diese aufsteigende Transposition am Ende des Stückes kann man nur
als Symbol der Transzendenz betrachten: Symbol der Vereinigung der Person, Natur und
dem Göttlichen – was so sehr vom Komponisten gesucht war.
Eines der Kompositionsprinzipen Jolivets, welches besonders in diesem Stück zu hören ist,
ist die psychologische Manipulation des Zuhörers. Er hat gehofft, eine messbare
emotionelle Wirkung mit der Musik zu verursachen. Der Effekt der Musik an den Zuhörer
60
war von uralten Zeiten erkannt. Frühe Gesellschaften verehrten die Klänge und Melodien
wegen ihrer Zauberkraft. Aristoteles und Plato dachten, dass die Musik eine Macht hätte,
beide, den menschlichen Charakter und das Benehmen, zu beeinflussen. Im Barock dachten
Leute, dass ein Musiker das Publikum mit dem richtigen Stück und der richtigen Weise der
Aufführung dieses Stückes berühren könnte. Also, Jolivets Idee für Kommunikation durch
Musik ist nichts Neues, obwohl die heutige Einstellung eher unwillig ist, der Kunst so ein
Attribut zu geben.
Jolivets Musik kann so einen mächtigen Effekt haben, weil sie in ihrer Melodie, in
Rhythmus und Dynamik das Innenleben nachahmt. Im Allgemeinen fängt Musik die
emotionelle Erfahrung in einer Weise, in der es die Sprache nicht kann, und Jolivets Musik
schafft es besonders gut.
Die zwei Aspekte dieses Satzes, die am meisten diese Imitation der inneren Gefühle
spiegeln, sind der rhythmische und dynamische Strom im ganzen Satz. Er gibt genaue
dynamische Angaben durch das ganze Stück. Am Anfang, in Takt 1 steht très Interieur
(Obwohl das nicht nur auf Dynamik bezogen sein muss, versteht man, dass es in dem Fall
genau so ist). Wenn man aufmerksam dies verfolgt, ist die Dynamik immer im Abnehmen
des Flusses der Energie und Intensität. Wie Jean-Pierre Rampal über die Incantationen
notierte: „Wenn Sie die Noten spielen so wie sie geschrieben sind, sie können nicht falsch
sein.― (Moindrot, Approches symboliques, 166)
Der rhythmische Fluss macht Jolivets Musik lebendig. Auch in Teilen, wo das Tempo
konsequent bleibt, gibt die Unterteilung der Schläge jeder Phrase eine Richtung. Die ganze
Incantation bewegt sich nach vorne, bis zum Höhepunkt in Takt 24, das einen sogenannten
Goldenen Schnitt darstellt.
Als Goldenen Schnitt (lateinisch: sectio aurea, proportio divina) bezeichnet man das
Teilungsverhältnis einer Strecke oder anderen Größe, bei dem das Verhältnis des Ganzen
zu seinem größeren Teil (auch Major genannt) dem Verhältnis des größeren zum kleineren
Teil (dem Minor) entspricht. Als Formel ausgedrückt (mit a als Major und b als Minor) gilt:
61
Das mittels Division dieser Größen als Zahl berechnete Teilungsverhältnis des Goldenen
Schnittes ist eine irrationale Zahl, das heißt eine Zahl, die sich nicht als Bruch ganzer
Zahlen darstellen lässt. Diese wird ebenfalls als Goldener Schnitt oder auch als Goldene
Zahl bezeichnet. Als mathematisches Symbol für diese Zahl wird meist der griechische
Buchstabe Phi (Φ, φ), seltener auch Tau (Τ, τ) oder einfach g verwendet:
Die Kenntnis des Goldenen Schnittes ist in der mathematischen Literatur seit der Zeit der
griechischen Antike (Euklid von Alexandria) nachgewiesen. Vereinzelt schon im
Spätmittelalter (Campanus von Novara) und besonders dann in der Renaissance (Luca
Pacioli, Johannes Kepler) wurde er auch in philosophische und theologische
Zusammenhänge gestellt. Seit dem 19. Jahrhundert wurde er zunächst in der ästhetischen
Theorie (Adolf Zeising) und dann auch in künstlerischer, architektonischer und
kunsthandwerklicher Praxis als ein ideales Prinzip ästhetischer Proportionierung bewertet.
Die wahrnehmungspsychologische Frage der Nachweisbarkeit einer derart besonderen
ästhetischen Wirkung ist in der Forschung allerdings umstritten, desgleichen die historische
Frage, ob der Goldene Schnitt auch schon bei der Proportionierung von Kunst- und
Bauwerken älterer Epochen eine Rolle gespielt hat. Der Goldene Schnitt wird gelegentlich
auch in Strukturkonzepten von Musikstücken vermutet. So hat der ungarische
Musikwissenschaftler Ernö Lendvai versucht, den Goldenen Schnitt als wesentliches
Gestaltungsprinzip der Werke Béla Bartóks nachzuweisen. Seiner Ansicht nach hat Bartók
den Aufbau seiner Kompositionen so gestaltet, dass die Anzahl der Takte in einzelnen
Formabschnitten Verhältnisse bilden, die den Goldenen Schnitt approximieren würden.
Allerdings sind seine Berechnungen umstritten.
62
In der Musik nach 1945 finden sich Beispiele für die bewusste Proportionierung nach
den Zahlen der Fibonacci-Reihe, etwa im Klavierstück IX von Karlheinz Stockhausen oder
in der Spektralmusik von Gérard Grisey.56
Obwohl Jolivet an diesem wahrscheinlich nur rein mathematisch interessiert war, hat der
Symbolismus, den dieser Goldene Schnitt mitbringt, auch etwas damit zu tun gehabt.
Gerard Moindrot interpretiert die Verwendung des Goldenen Schnitts bei Jolivet so:
„Like all symbols of this type, the spiral suggests the deliverance from restrictive
forms of existence and an orientation towards the growth of consciousness. But
the spiral can also operate in an inverse sense, as a convergence towards a
central point. It symbolizes, in this case, the integration of the suppressed
unconscious into the conscious; this integration drives the being towards the
realization of the Self, a condition necessary to psychic equilibrium.―57
Obwohl nicht leicht bewusst wahrzunehmen, kommt das Verhältnis dem Zuhörer im Stück
natürlich vor und der fühlt sich entspannt und unbewusst beruhigt.
5.2.5 Aux funérailles du chef- pour obtenir la protection de son âme
„Bei der Beerdigung des Häuptlings, zum Schutze seiner Seele“
Der Sommer 1936,
als Jolivet diese Sätze skizziert hat, war sicher eine Zeit der
Besinnung des jungen Komponisten. In Zusammenhang mit dem Tod seiner Mutter ist
diese Incantation rührend und beeinflussend.
Während nur ein neues Motiv in dieser Incantation eingeführt ist, stammt das restliche
musikalische Material von früheren Incantationen. So wird die fünfte Incantation eine
56
Wikipedia, Goldener Schnitt, http://de.wikipedia.org/wiki/Goldener_Schnitt, Stand vom 14.08.2014.
57
Moindrot, Gérard, Approches symboliques de la musique d‟André Jolivet: Musique et expression du sacré,
übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris, 1999, S. 67.
63
Aufsummierung von allem, was bis jetzt schon vorgekommen ist. Es ist ein passendes Ende
zu dem Stück, ein Versuch, alle fünf Incantationen in eine Ganze zu verbinden. Die
Trennung der zwei Stimmen, das die erste Incantation charakterisiert, kann man in Aux
funérailles du chef auch sehen, und zwar in Takt 69 – 75 erkennen.
Notenbeispiel 26, Jolivet, Cinq Incantations, 5.
Wie in der ersten Incantation unterscheiden sich in diesem Teil (T. 68 – 75) die Stimmen
im Umfang, Tonhöhe und Tonfarbe. Die kleine Terz, welche die obere Stimme bezeichnet,
stammt aus einem ähnlichen Motiv auf D – H, das in der unteren Stimme der ersten
Incantation vorkommt.
Das Schnellfeuer auf dem Gis wiederholt, welches durch die ganze fünfte Incantation
vorkommt und ist von der zweiten Incantation ausgeborgt. Wenn man sich noch an das
parlando-Motiv A von Beginn der zweiten Incantation erinnert, sieht man, dass dieses
Motiv genau dem entspricht. Der gebetähnliche
Charakter der zweiten Incantation
(Notenbeispiel 18) wird zu einem intensiven Schrei im schnelleren Tempo und im höheren
Register in der fünften Incantation.
Notenbeispiel 27, Jolivet, Cinq Incantations, 5.
Das Tonmaterial der zweiten Incantation (T. 30-41) stammt aus dem Tritonus und ist mit
der dritten Incantation direkt verwandt, weil diese auf den zentralen Noten As und D
64
gerichtet ist und die zwei Formen eine Tritonusbeziehung sind. Eine weitere Andeutung an
die dritte Incantation ist die Tempoänderung zum subitement très lent, geschehen im Takt
30 und Takt 56. Der absteigende Halbtonschritt – Motiv E (Notenbeispiel 24) aus der
vierten Incantation kommt in dem Letzten mehrmals vor. Das erste Mal zum Beispiel in
Takt 15, wo das Motiv E am gleichen Ton wie in der Vierten erscheint: H, B und A. Später
erklingt im gleichen Takt das Motiv um eine Quartet nach oben transponiert.
Notenbeispiel 28, Jolivet, Cinq Incantations 5.
Ab diesem Punkt kommt dieses Motiv rhythmisch und tonal variiert mehrmals vor. Das
Motiv erscheint meistens auf den Tönen: E, Es und D, obwohl ebenso andere
Transpositionen vorkommen.
Das wichtige neue Material, Motiv G, ist auch in der letzten Incantation vorgestellt.
Notenbeispiel 29, Jolivet, Cinq Incantations, 5. Motiv G
Dieses selbstständige Thema liefert eine neue Idee in diesem Satz, der schon voll mit
Ideen und Motiven aus anderen Sätzen ist. Aux funérailles du chef . . . als das Ganze ist
eine symbolische musikalische Illustration von dem Übergang von dieser Welt zur
anderen.
Moindrot schreibt: ―This last rite does not seem to express death, but the symbolic passage
towards a new state.‖58
58
Moindrot, Gérard, Approches symboliques de la musique d‟André Jolivet: Musique et expression du sacré,
übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley,Paris, 1999, S. 72.
65
Alles über diese Musik Gesagte, unterstützt diese Idee. Die Musik ist ein zurückhaltender
Schrei, ein Lamento, aber auf keinen Fall ein Klagelied. Es ist hoch energisch durchaus bis
zur letzten Note. Die Lebensmacht endet nie. Es gibt hier keine Endgültigkeit – kein Ende
des Energiezuflusses, eher eine hartnäckige Kontinuität. Das ist die lebensbejahende
Botschaft des finalen Satzes.59
5.3.
Wiederholung und ihre Macht
Die Wiederholungen bereiten den Zuhörer darauf vor, was kommen wird. In den
Incantationen verlängert und intensiviert Jolivet den Zauberspruch. Das schafft er - außer
mit dem Wiederholen - auch mit der plötzlichen Änderung der Dynamik, Struktur oder
Dichte, was für Jolivet sehr charakteristisch ist.
Die Wiederholung wurde als eine Art und Weise verwendet, um seit dem Anfang der Welt
einen ekstatischen Zustand zu erreichen. Das ständige erneute Vortragen eines Motivs
hilft, um den Geist zu klären und erlaubt, einen Focus zu entwickeln.
„In religions that practice spirit possession, such as Haitian voodoo, the practitioners are
brought to a receptive state by the incessant repetition of short melodic or rhythmic
phrases. In Christian liturgy, prayers are often quite repetitive. It is the repetition of
Gregorian chant that results in the creation of a spiritual atmosphere. Eastern meditation
often involves the recital of a mantra in order to empty and focus the mind.―60
Jolivets Verwendung der Wiederholung ist sehr reif im Sinne des Rituals und kann in
Kategorien verteilt sein: Wiederholung der großen Teile und Wiederholung der kürzeren
Motive. Beide Arten der Wiederholung sind hier mit einer Aufgabe - Spannung 59
Parker – Harley, Jennifer Carol, Magic and Evocation In the Cinq Incantations pour flûte seule by Andre
Jolivet, Thesis for a degree Doctor of Musical Arts, University of Cincinnati, 2005, S. 24.
60
Schneider, Marius, On Gregorian Chant and the Human Voice,‖, The World of Music 24, 1982 zitiert nach:
Parker – Harley, Jennifer Carol, Magic and Evocation In the Cinq Incantations pour flûte seule by Andre
Jolivet, Thesis for a degree Doctor of Musical Arts, University of Cincinnati, 2005, S. 24.
66
aufzubauen. Der Zuhörer erlebt eine gewisse Freisetzung, wenn die Musik die
Wiederholungsbarriere durchbricht und ein neues Material vorkommt. Außerdem kann die
Note oder musikalische Idee, die als Refrain dient, genau wie das Mantra in manchen
meditativen Formen auch hypnotisierend wirken.
Die erste Incantation beinhaltet nur 17 Takte, obwohl, die Säule des Werkes (T. 3 12) drei
Mal wiederholt wird. Diese Wiederholung erschafft dadurch eine musikalische Dynamik,
die dann am Ende des Satzes mit der Einführung des neuen Materials (Coda T. 13)
durchgebrochen wird. In diesem Moment ist der Zuhörer aus den Handschellen der
Wiederholung freigelassen. Im programmatischen Sinn betrachtet findet der Konflikt
zwischen zwei sozialen Gruppen, dargestellt in dem zentralen Teil des Werkes, eine
Lösung in der Coda, wo die Wiederholung endet.
Die Zweite, Pour que l‟enfant qui va naître soit un fils, beginnt mit einer
zweieinhalbtaktigen Wiederholung auf einem Ton. Das ist der Zauberspruch in seiner
einfachsten Form, der Gesang ist durch Musik angereichert. (Dieses sprechähnliche,
parlando, Material ist im Stück noch vier Mal zu hören).
Nach dem parlando Gesang (T. 3) wird das Motiv wiederholt. Eigentlich erweitert. Mit
jeder Wiederholung ist dem Motiv ein zusätzlicher Ton zugeschrieben, bis die Phrase in
Takt 6 einen Höhepunkt erreicht. Diese Technik dient dazu, um das Gefühl der
Leidenschaft zu erwecken, während es ein Element zum Folgen der Zuhörer gibt. Das
viernötige Motiv B (Notenbeispiel 19) wird vorgestellt und dann in diesen
Eröffnungstakten erweitert und kommt immer wieder durch das ganze Werk vor. Von
Anfang an bis zum Takt 24 erscheint das Motiv zwölf Mal im unterschiedlichen Rhythmus.
Wegen seiner unregelmäßigen Wiederholung wirkt dieses Motiv heilmagnetisierend und
agitiert den Zuhörer.
Die Wiederholung in der dritten Incantation, Pour que la moisson soit riche qui naîtra
des sillons que le laboureur trace, wird für verschiedene Zwecke benutzt. Im vorigen Satz
hat es Energie und Spannung aufgebaut, hier sollte sie das Publikum hypnotisch
beeinflussen. Der Satz beinhaltet nur neun Takte Musik, aber durch die Wiederholungen
wird er drei Mal so lang, wenn man ihn aufführt. Das stampfende Tempo hilft der
67
Atmosphäre, zusammen mit den Anweisungen, dass die Musik sehr regelmäßig sein sollte,
Jolivet erschafft eine musikalische Illustration der Monotonie der Handarbeit.
In der vierten Incantation, Pour une communion sereine de l‟être avec le monde, sind
beide Hauptmotive wiederholend engagiert. Das Anfangsmotiv, Motiv E, das drei
absteigende Halbtonschritte umfasst, kommt im ersten Teil (T. 1 - 11) des Stückes vor
(Notenbeispiel 24). Wegen der introspektiven Atmosphäre des Werkes und Subtilität, mit
welcher Jolivet dieses Motiv in der melodischen Linie einarbeitet, dient es dazu, den
Zuhörer zu erden und ihm einen Orientierungspunkt zu geben.
In der letzten Incantation, Aux funérailles du chef_pour obtenir la protection de son âme,
sind zwei große Teile des Satzes drei Mal wiederholt. Die eröffnenden vier Takte sind der
erste von mehreren Teilen, die wiederholt werden. Jedes Mal, wenn dieser Teil gespielt
wird, hat er eine andere Endung. (Musikbeispiel 28) Diese Endungen inkludieren,
zunehmend, mehr und mehr Noten, was am Ende in hoher Spannung und Wahnsinn
resultiert, genau wie eine Beerdigung die Emotionen mischen kann. Die gleiche
Wiederholungstechnik kann man in den anschließenden Takten des Satzes hören. Jolivet
schreibt:
―…the repetition, three times, of the introductory phrase and the concluding statement
presents a specific character: in these repetitions, added sounds show an augmentation of
energy. What results is an acceleration of the psycho-physiological influx of the listener.‖61
In diesem Satz können wir auch einige gute Beispiele der motivischen Wiederholung
sehen. Der Satz ist um die Note Gis3 orientiert und dieser Ton ist hier als Höhepunkt der
Melodie. Dieser Einzelton ist auch in der gesangsähnlichen Wiederholung benutzt, ähnlich
dem Anfang des Satzes. Wie wir schon gesehen haben, kommt das dreitönige, absteigende,
chromatische Motiv E der vierten Incantation (H, B, A) auch hier vor, transponiert um eine
Quarte nach oben zu E, Es, D. Genau wie in der Vierten gibt dieses Motiv in diesem Satz
61
Jolivet, Hilda, ―Avec… André Jolivet‖, übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris,
1978, S. 134.
68
auch einen Impuls. Es ist, wenn man das große Bild ansieht, genau das Motiv E, das, was
dieser Incantation dieses Gefühl von ekstatischer Besessenheit gibt.
Die zweite musikalische Technik, die hier vom Jolivet eingesetzt wird und der Musik die
„Zaubernote― gibt, ist ein Konzept, das er „la transmutation de la masse sonore― genannt
hat. Er erklärte diese Idee als plötzliche Änderung in der Dynamik, Intensität, Tonfarbe und
noch dazu die Melodieveränderung durch Einsetzen von Elementen, die man schon gehört
hat. Es ist sehr wichtig zu erwähnen, dass Jolivet ein Bewunderer Beethovens war, diese
Idee stammt eigentlich von ihm und seinen Symphonien.62
Beispiele dieser Technik, „le transmutations de la masse sonore‖, gibt es in den
Incantationen genug. Exempel 15 zeigt einen Fall. Die Noten der ersten zwei Takte der
ersten Incantation ändern das Register sehr schnell und plötzlich und sind durch die
dynamischen Änderungen intensiviert (forte-piano-fortissimo).
In der zweiten Incantation passieren die dynamischen Änderungen oft und auf einmal durch
das ganze viertönige Motiv, das ich früher erwähnt habe. Die Musik steigt die ganze Zeit
auf und ab und stellt den Zuhörer zwischen Ausbrüche der Emotionen und zartem Flüstern
des Pianos.
Die dritte Incantation zeigt nicht so viel von diesen plötzlichen Änderungen, obwohl es
scheint, eintönig und regelmäßig zu sein. Obwohl manche Ausbrüche in T. 8 – 9
geschehen, hat der Spieler die Möglichkeit, hier was zu tun. Hier sind die Töne höher als
bis jetzt, das Vibrato einführen ist empfohlen, die Monotonie ist hier sicher aus und der
Moment am Ende des Stückes, wo die Dynamik einen Sprung macht. Durch die ganze
Incantation ist der Bereich um mezzoforte, in diesem Moment springt sie bis zum
dreifachen Forte and dem Es.
Eins der besten Beispiele von plötzlichen Änderungen ist die Tonfarbenänderung in der
vierten Incantation. Takt 12 – 15 zeigen das Motiv F (augmentierte Octave), die am Anfang
zuerst kommt. Das Motiv ist hier ausgesetzt und in Isolation vorgestellt, mit Flatterzunge
ornamentiert und die Aufführungsanweisung ist „sehr nervös―. Dieses Beispiel der
62
Jolivet, Hilda, Avec… André Jolivet, übersetzt von Françoise Minnich and Jennifer Parker-Harley, Paris,
1978, S. 229.
69
Tonfarbenänderung ist auch das längste, das Flatterzunge in allen fünf Incantationen
benutzt.
Im fünften Satz benutzt Jolivet die kontrastierenden Elemente, um den Zuhörer aus dem
Gleichgewicht zu bringen. Dramatische Registeränderungen sind durch den ganzen Satz
vorzufinden, am besten in dem ersten und letzten Teil der Incantation zu bemerken. Die
Takte 11 und 74 dienen als beste Beispiele dieser Technik. Extreme dynamische
Änderungen sind durch die ganze Incantation zu hören, genau wie in allen vorigen
Incantationen. Und endlich, genauso wichtig und wirksam wie die vorigen zwei Techniken,
reduziert Jolivet den Komplex. Oft ist dies das asymmetrische Unterteilen des Schlages.
Natürlich spielt die Form in diesem Spiel der Kontraste ebenso eine Rolle. Jolivet spielt
zwischen dieser langsameren, hartnäckigen Musik und der wahnsinnigen, wie dieser, die
den Satz eröffnet und abschließt.
„André Jolivet felt that music was a necessary part of life—a means of learning about the
world and people around us, ourselves and, most importantly, the divine. He wanted those
who heard his music to be changed in a real sense: both psychologically and
physiologically. The flute, he thought, was one of the instruments best suited to produce
these tangible effects in the listener because of its simplicity, the proximity of the sound to
that of the human voice, and the fact that a sound is produced using the breath—the life
force—of the player.― 63
63
Michel, Gérard, André Jolivet: essai sur un système esthétique musical, La revue musical , Paris, 1947.
70
6. Persönliche Ansicht, Aufführung und spieltechnische Schwierigkeiten
in Jolivets „Chant de Linos“ und „Cinq incantations pour flûte“
Ich würde in diesem Kapitel gerne mehr über praktische Erfahrungen mit Jolivets Musik
schreiben. Jolivet, wie schon erwähnt, hat als Erster begonnen, mit dem Flötenklang zu
experimentieren. Ihm war nicht genug, dass die Flöte schön und singend in den oberen
Registern und dunkel und brüchig in den unteren klingt, was bei den meisten FlötistInnen
seiner Zeit übrig war. Heutzutage kennen wir viele Effekte wie Flatterzunge, Tongue slap,
Vierteltöne, Luft statt Ton, Glissandi usw. Alle diese Effekte sind bei Jolivet noch nicht zu
finden, aber er ist immer noch revolutionär, warum? Die französische Flötenmusik verlangt
von dem/der FlötistInnen eine Tonfeinheit. Eine Feinheit, die sich in der Tonflexibilität
spiegelt. Das bedeutet, dass der/die FlötistIn mehrere Tonnuancen mit der Flöte schafft,
abhängig von der Atmosphäre, die vom Komponisten gewünscht ist. Das Schreien oder
zartes Singen, alles in einem kleinen Raum und in kurzer Zeit zu schaffen, ist nicht immer
einfach. Die Schwierigkeit liegt nicht immer in den Fingern. Wenn das Zwerchfell nicht in
der richtigen Position und die Luft nicht schnell genug ist oder das Mundloch nicht der
passenden Größe entspricht, sind diese Änderungen der Charaktere und Tonfarbe
unmöglich.
Betrachten wir es anhand eines einfachen Beispiels. Nehmen wir den Ton G2. Das G2 kann
sanft und leise klingen, das gleiche G2 kann scharf und sehr laut klingen und es kann auch
mittellaut sein mit ein bisschen Vibrato. Das sind, also, drei verschiedene, gleiche Töne.
Wie schafft man so was? Für das G2 braucht man nicht zu viel Luft, das heißt, dass die
Luftmenge unter Kontrolle sein muss. Die Geschwindigkeit der Luft sollte auch gut
kontrolliert sein, weil die Lage des G2 nicht zu hoch ist (Je höher, desto schnellere Luft).
Die Luftgeschwindigkeit und die Mengenkontrolle steuert das Zwerchfell und die ganze
Bauch-/Rückenmuskulatur. Wenn wir dies unter Kontrolle haben, erreicht die Luft unsere
Lippen. Der Ansatz muss für die Luftmenge genau vorbereitet sein. Das bedeutet, dass das
Loch proportional der Luftmenge sein muss. In diesem Fall ist die Menge nicht zu groß,
71
was bedeutet, dass wir mit dem Loch nicht besonders viel machen müssen. Was mit einer
kontrollierten Menge Luft, mit einem stabilen Ansatz und dem richtigen Griff erklingen
wird, ist das G2 in einer mittellauten Dynamik. Um den Ton sanfter zu machen, muss die
Luftmenge kleiner werden, was gleich mehr Stütze von dem Zwerchfell braucht, um die
Intonation zu halten. Die Luftmenge wird kleiner, die Geschwindigkeit bleibt. Weil die
Menge jetzt kleiner ist, muss das Mundloch auch kleiner werden. Es klingt einfacher als es
ist. Das Loch kleiner zu machen ist keine leichte Aufgabe, wenn wir wollen, dass der Ton obwohl sanft - immer noch schön, rund und kernig klingt. Um das zu erschaffen, müssen
wir das Loch rund und klein machen O –> o und nicht das O zusammenpressen, sodass das
Loch eng wird. Wir sehen, dass es sich hier um kontrollierte Stütze wegen kleinerer
Luftmenge, aber immer noch um die gleiche Geschwindigkeit handelt und die komplizierte
Lippenbewegung um nur ein G2 sanft erklingen zu lassen. Und was, wenn wir nach dem
sanften G2 gleich zum Schreienden kommen müssen? Jetzt kommt es zur umgekehrten
Lippenbewegung. Beim Lautspielen wird die Luftmenge größer. Das bedeutet ein größeres
Mundloch, wieder rund wie das O. Die Stütze kontrolliert wieder die Menge und die
Geschwindigkeit, obwohl der Ton laut ist, muss er immer noch kultiviert klingen und unter
Kontrolle sein. Das mittellaute G2 mit dem Vibrato ist wieder eine Geschichte für sich
selbst. Am Anfang habe ich erklärt, wie alles für das G2 gut vorbereitet ist. Davon
behalten wir den Ansatz und mit dem Zwerchfell machen wir bewusste Luftwellen, sodass
die Wellen immer im Rahmen schwingen, damit es nicht zum Intonationschwingen kommt.
Also die Luftmenge und Geschwindigkeit dürfen nicht zu plötzlich verändert werden, weil
man es dann als Tonhöhenänderung hört. Wenn diese unter Kontrolle gemacht ist, hört man
nur ein Schweben im Ton, das den Ton lebendiger und interessanter macht. Warum ich das
alles erzählt habe? Das sind nur Grundlagen, wie man unterschiedliche tontechnische
Probleme erklären kann, bei Jolivet handelt es sich um schwerere Höhen und
Charakteränderungen, aber die Grundlagen sind überall gleich.
Neben diesen tontechnischen Schwierigkeiten kommen die fingertechnischen. Die
Komponisten sind meistens Instrumentalisten, aber wie wir wissen, spielen auch sehr gute
InstrumentalistInnen nur ein Instrument, eventuell zwei. Ebenso ist es bei den
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KomponistInnen. Sie verlassen sich dann auf das Gehör. Sie hören eine Melodie, einen
Effekt, einen musikalischen Moment und schreiben das auf, ohne Nachzudenken, ob es
spielbar ist oder nicht. Wenig Erfahrung? Kann sein. ... Hartnäckigkeit? Eher. Im Endeffekt
ist es für uns InstrumentalistInnen schwer, weil wir dann noch ein Problem, das wir
koordinieren müssen, haben. Erst dann, wenn wir diese Probleme, oder nennen wir sie
besser Herausforderungen, unter Kontrolle gebracht haben, kommt das Nachdenken
darüber, was der Komponist empfunden hat, welche Emotionen dieses Stück Musik in uns
erweckt und was wir an das Publikum übertragen wollen? Diesen Moment möchte ich
meistens für die Bühne aufbehalten, aber manchmal hilft es mir, wenn das Werk nicht so
offensichtlich ist, es besser zu verstehen, wenn ich mich auch damit gleich zu Beginn
beschäftige. Es ist ein langer Prozess vom Übungszimmer zur Bühne. Weiter würde ich
meinen Übe- und Nachdenkprozess bei den Cinq Incantationen und Chant de Linos
beschreiben. Auf welche Herausforderungen bin ich gestoßen? Wie bin ich damit
umgegangen? In welchem Moment habe ich was empfunden und wie wollte ich diese
Emotionen übertragen? Ich werde durch eine praktische Erklärung zeigen, warum Jolivet
ein Genie ist.
Chant de Linos
Meine erste Begegnung mit Jolivet war auf einem Konzert im Jahre 2005. Schon damals
habe ich gewusst, dass sein Chant de Linos ein Teil meines Repertoires sein muss. Es hat
ein bisschen gedauert, bis ich gewagt habe, dieses Stück zu lernen, aber jetzt ist es eines der
Vielen, wo ich mich während des Spielens ganz wohl und zuhause fühle. Wie alle jungen
FlötistInnen war ich keine Ausnahme, und ich habe gleich die schnellen Teile begonnen zu
üben. Die Anfangspassagen, die improvisatorischen Charakter haben und die eher wie eine
Kadenz klingen, waren eine fingertechnische Herausforderung, und ich mag solche, weil sobald ich die schwere Passage zu Stande bringe, fühle ich mich unbesiegbar. Kaum habe
ich gewusst, dass nach dieser Kadenz ein schönes Duett zwischen Flöte und Klavier
kommt. Ein Duett, wo zwei Stimmen öfter auseinanderkommen als zueinander passen, aber
trotzdem ohne einander nicht funktionieren. Die großen Viertel-Triolen im Klavier gegen
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Achtelnoten in der Flötenstimme. Oder Synkopen, die den Rhythmus und das Tempo
sowieso schon aus dem Gleichgewicht bringen, das alles so kombiniert, dass es - obwohl
für die beide Spieler sehr verwirrend - für den Zuhörer extrem gut passend und interessant
klingt. Die Halbtonschritte (im ersten Klagelied das g-as) seufzen, in einem Moment die
umgekehrte Bewegung as-g und dann wieder ein Seufzen, dieses Mal nach unten. Das
ganze erste Klagelied ist so aufgebaut. Zuerst geht die ganze Melodie nach oben, sobald sie
kulminiert, fällt alles gleich nach unten. Dynamische Angaben zeigen auch, dass man von
einem mezzoforte über dem piu forte zum forte kommen soll und dann wieder schrittweise
zum piano mit dem diminuendo am letzten Ton. Die großen Bögen, die in den Noten
stehen, sind keine Artikulationsbögen, eher Phrasierung. Lange Phrasen mit einem
bestimmten Ziel und Rückweg. In diesem Lied war die Schwierigkeit die Luftführung,
eigentlich die Bindung der Töne, aber ohne gute Luftführung gibt es auch keine Bindung,
deswegen sage ich, das Grundproblem war die Luftführung. Das ist noch der Anfang des
Stückes. Nach der aufregenden Kadenz zu Beginn des Stückes muss man sich in nur sechs
Schlägen (Klaviervorspiel) umstellen. Das Klagelied spielen, mit Ruhe, sehr ernsthaft,
dunkel, aber mit Hoffnung und dann plötzlich nach einer Fermate beginnt das Schreien. Ich
habe mir immer einige mythische Wesen vorgestellt, die während dem Klagelied in der
Luft schweben. Sie tragen weiße Kleider, die auf der Brise schweben. Plötzlich wird diese
Brise zum Unwetter und die Wesen von nett und in weißen Kleidern Teufeln, Kreaturen
mit Reißzähnen, aber das ist dann gleich vorbei und die Ruhe kommt wieder. Es gibt
fingertechnische Probleme, schon, aber mit langsamem, rhythmisiertem und geduldigem
Üben schafft es jeder. Die Atmosphäre zu bestimmen und dann trotzdem bewusst zu
bleiben, war für mich ein großes Problem. Meine Fantasie ist ohne Ende. Ich kann mich in
jede Situation versetzen, aber was ich schwer machen kann, ist zurückzukommen. Bei
Jolivet ist dieses Element der Überraschung sehr wichtig. Schnelle Änderungen in der
Atmosphäre. Das sehen wir gleich nach dem zweiten Klagelied, es kommen wieder die
Schreie, die uns in den ersten, tänzerischen Teil führen. Der 7/8 Takt erinnert mich an
meine Heimat. Ich bin aus Serbien und manche der schönsten Volkslieder sind in diesem
Takt geschrieben. Natürlich haben wir diese gemischten Taktarten aus Mazedonien und
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Bulgarien ausgeborgt, aber das macht sie nicht weniger schön und exotisch. Dazu kommt
die interessante Melodie, wo die chromatischen Bewegungen zu übermäßigen Intervallen
führen, das ist ein organisiertes Chaos. Wenn man in die Noten schaut, sieht man eine
Menge Sechzehntel-Noten mit vielen Kreuzen und B. Jolivet hat damit alles in Einem
verbunden und einen genialen Teufeltanz geschrieben. Der 7/8 Takt war natürlich in der
Antike Griechenlands, benutzt, was meine Theorie, dass Jolivet in die Antike immer gerne
gegriffen hat, auch unterstützt, zusammen mit der Tatsache, dass der Linos auch eine Figur
aus der antiken Mythologie ist. Das flötistische Problem in diesem Teil wäre, die tiefen
Töne laut, aber nicht zu stumpf zu spielen. Mir hat es immer geholfen, viel Raum im Mund
zu machen, nicht viel Luft, aber die Luft, die kommt, sehr präzis auszublasen, nicht zu viel
Zunge, eher Zwerchfellstütze und Zwerchfellstakkato und natürlich die klare Idee von dem
gewünschten Klang. Der Rhythmus kann für viele, die nicht so aufgewachsen sind,
kompliziert sein. Da bin ich immer der Meinung, dass man sich nicht zu viel mit Details
beschäftigen soll, sondern mehr Zuhören und weniger Nachdenken. Natürlich ist es jedem
klar, dass es sieben Achteln in einem Takt gibt, aber das sind nie sieben Achtelnoten, das
sind meistens dreizehn oder vierzehn verschiedene Noten, die noch dazu unterschiedlich
gruppiert sind. Der Grundbeat ist meistens (in Achteln)
3+2+2 oder 2+2+3, die
Unterteilungen sind dann natürlich noch möglich. Wie gesagt, den Schwung finden und
daraus nicht herausfallen. In diesem Teil gibt es eine Gefahr, schneller zu werden. Man
muss die Sechzehntel-Noten sehr streng halten und immer mit dem Gefühl, dass man nach
hinten zieht, spielen, dann wird es der richtige Charakter sein. Wie ich schon gesagt habe,
bedeutet organisiertes Chaos: Streng halten und das Chaos kommt von selbst durch den
Rhythmus und die Melodie. Durch den ganzen Teil unterstützt uns FlötistInnen das
Klavier. Das Klavier hat unglaubliche rhythmische Figuren, die uns auf dem richtigen Weg
halten und noch dazu die klangliche Macht, uns mit der armen Flöte so zu unterstützen,
dass das ganze einen mächtigen Klang bekommt. Im ―Meno mosso‖ Teil hört der
Teufeltanz auf. Der Rhythmus bleibt, die Orient-Intervalle sind immer noch da, aber die
offensichtlich größere Menge an Bögen bringt eine singendere Atmosphäre in das ganze
Stück. Hier ist jeder/jede FlötistIn schon wegen dem ersten Teil des Tanzes im Schwung.
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Jetzt wäre ein guter Moment, etwas zu bremsen. Sie müssen sich eine Diva auf der Bühne,
die als griechisches Theater inszeniert ist, vorstellen und sie singt eine energievolle,
orientale Melodie, die uns zu einem Sturz und Bruch bringt, wo die Melodie wieder in eine
Spritzige, Tänzerische geworden ist (Teil N). In diesem sogenannten Teil N (Notenbeispiel
12, S.37) kommen ein paar virtuose Stellen vor. Technisch (Ton und Finger) sehr schwer,
aber nicht unmöglich. Inzwischen sind wir schon voll mit dieser Energie, die das Stück hat
und nichts ist unmöglich, diese Passagen auch nicht. Ich habe mich an dieser Stelle (6 vor
P) oft wie ein Rockstar gefühlt, obwohl die Stelle vor dem P nicht weniger spannend ist.
Das Geheimnis ist, eine Denkweise für sich und für die Finger zu finden. Ein Moment zum
Wiederstarten, ein Moment für die mentale Pause, sich immer Zeit lassen. Das letzte
Klagelied ist meine Lieblingsphrase. In allen Vorigen habe ich das Gefühl gehabt, dass ich
nicht ruhig genug bin, dass meine Linien nicht singend genug klingen, aber nach dem
ganzen Chaos, durch welches wir gekommen sind, kommt dieses Klagelied als ein wohl
gebrauchter Ruhepunkt an der richtigen Stelle. Ein kurzes Schreien noch einmal vor dem
letzten Teufelstanz, der uns in den Wirbel am Ende des Stückes einbringt und jeder ist
glücklich, wer daraus lebendig rauskommt. Noch ein Geheimnis, das ich bis zum Ende
aufbewahrt habe: Den Triller am Anfang (G-As) muss man nicht mit dem kleinen Finger
spielen. Wir (Flötisten und Flötistinnen) wissen es alle und die anderen können es
vermuten, wie beweglich der kleine Finger der linken Hand ist, deswegen können wir
freilich den Zeigefinger der rechten Hand für diese Gelegenheit ausnutzen.
Ich mag der Musik immer instinktiv mich nahen. Natürlich muss man manchmal ganz
bewusst planen und nicht immer alles dem Moment überlassen, aber bei dieser Musik wie
der Jolivets, die hinter sich eine offenbare Geschichte hat und sie gerne erzählt, dem der
zuhören will, hier braucht man nicht viel im Voraus planen. Außerdem, Jolivet ist dafür
bekannt, dass er alles in die Noten schrieb, klanglich oder wörtlich, aber seine Partituren
waren immer klar bezeichnet und kein/e InstrumentalistIn oder DirigentIn war jemals
verwirrt und mit einem Fragezeichen über dem Kopf mit dem Gedanken: ―Was wollte der
Komponist damit sagen?―
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Cinq Incantations
Incantation – Beschwörung – Zauberspruch. Der allgemeine Titel sagt einem alles und
wenn die Untertitel jeder Incantation dazukommen, dann ist einem wirklich alles klar, was
der Komponist wollte. Jetzt bleibt die Frage: Wie schaffe ich, das zu interpretieren, was
Jolivet so genau aufgeschrieben hat, aber trotzdem genug Freiheit gelassen hat, dass sich
einer verlieren kann? Ich habe mich zuerst mit diesem Stück sehr früh beschäftigt und zwar
zu Beginn meines Studiums. Ich sage „früh―, weil ich der Meinung bin, dass man eine
gewisse Reife braucht, um fähig zu sein, diese Musik zu verstehen oder wenigstens eine
Idee zu bekommen, was darunter gemeint ist. Das Okkulte ist mit uns Menschen - seit dem
Anfang. Die erste Zivilisationen
haben Tänze und Lieder für Regen, reiche Ernte,
Gesundheit usw gehabt. Warum wollen wir heutzutage davon weglaufen? Wir kehren alle
zurück zur Natur, wenn es uns nicht gut geht als moderne Menschen. Jolivet war keine
Ausnahme. Er hat diese Incantationen geschrieben, als seine Mutter gestorben ist. Durch
die Musik hört man das Klagen und das Schreien des Komponisten, und auch die Tatsache,
dass er Zaubersprüche schreibt, sagt uns, dass er jemanden ―dort oben‖ kontaktieren will.
Vielleicht können wir es so interpretieren, dass er direkt mit seiner Mutter kommunizieren
wollte. Aber das ist jetzt nicht hilfreich für unsere Interpretation. Wie gesagt, meine erste
Begegnung mit den Incantationen war zu früh, aber ich habe mich trotzdem mit dem Stück
beschäftigt. Ich habe alle Noten gelesen, alle Titel übersetzt, sodass ich wenigstens da ein
klares Bild erhielt, wie diese Stücke klingen sollen, alles in allem, es war mir gar nichts
klar. Vier Jahre später habe ich das Stück wieder in die Hände genommen. Sofort habe ich
andere Dinge bemerkt. Die Titel waren für mich jetzt interessanter, weil ich nicht gleich
gedacht habe: ―Wie schaffe ich das?‖, sondern ―Was passiert, wenn ich diesen Jungen
wirklich auf die Welt bringe?‖ Die Musik war nicht nur in dem Titel, ich konnte sie Leben.
Dann sind die Herausforderungen eingetreten. Ich darf jetzt auch Probleme sagen, weil
solche technischen
Anforderungen selten zu sehen sind. Eher tontechnisch als
fingertechnisch.
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Wenn wir die erste Incantation ―Um die Unterhändler willkommen zu heißen, mit dem
Wunsch, daß das Treffen friedlich wird‖ betrachten, rein flötistisch, ist das erste, was wir
sehen, der D3-D4 Sprung und das Diminuendo. Ich habe früher erklärt, dass für ein
Diminuendo eine kleinere Menge Luft und die gleiche Geschwindigkeit nötig ist, aber für
die Höhenänderung muss die Menge und die Geschwindigkeit größer werden. Wie? Da
muss man mit dem Instrument experimentieren, bis man die richtige Menge und
Geschwindigkeit findet. Es gibt kein Rezept, es ist einfach Zeit und Arbeit. Aber wenn man
wenigstens eine Idee hat, worauf man arbeiten muss, ist es zum Teil einfacher. Als ob der
Sprung D3-D4 nicht schlimm genug wäre, schreibt er gleich im nächsten Takt einen Sprung
zum C1. Diese Eskapaden verlangen einen großen Ton und fingertechnische Fähigkeit.
Nach der technischen Schwierigkeit schreibt Jolivet eine zweistimmige Melodie. Die
Gliederung ist ziemlich klar, also nicht wie in Barock, wo man nicht immer 100 % sicher
ist, welche Stimme wo hingehört, aber da kommt man zu einem Wiederholungszeichen.
Als Anweisung steht es geschrieben: ―Mindestens drei Mal wiederholen und das letzte Mal
ohne atmen weiter spielen‖. Es stellt sich die Frage: Drei Mal eine halbe Seite wiederholen
ist langweilig. Wie mache ich diese interessant? Ich habe schon gesagt, dass Jolivet immer
alles aufgeschrieben hat, hier sehen wir wenig dynamische Bezeichnungen. Das ist eine von
diesen Freiheiten, die ich früher erwähnt habe. Also, um diese Wiederholungen
interessanter zu machen, können wir die dynamischen Verläufe ändern, wie es uns gefällt.
Die zweite Variante wäre, die Stimmung zu ändern. Worauf wir hier aufpassen müssen, ist
der Titel. Der Charakter muss freundlich und friedlich bleiben, alles andere ist erlaubt. Man
kann auch die Rollen der Stimmen umtauschen. Es gibt also Begrenzungen und Freiheiten,
die man ausnutzen soll. Zum Abschließen kommt decrescendo vom C1-D4 mit kleineren
dynamischen Wellen dazwischen. Die ganze Incantation endet und bleibt gleichzeitig offen.
Dies ist meiner Meinung nach absichtlich so geschrieben, deswegen sollte der Interpret das
absichtlich zeigen.
Die zweite Incantation, „Daß das erwartete Kind ein Sohn werden möge― oder wie ich sie
gerne nenne: „die Es Incantation―, ist eine sehr Rhythmische, immer eine Es-orientierte
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Incantation. In dieser Incantation ist es wichtig, das zu erkennen und dieses Es immer als
Zuhause zu zeigen. Alle Passagen und Ausweichungen enden wieder Zuhause. Außer wenn
sich das Zuhause entscheidet, nicht mehr so hoch zu sein und zum D wandelt, auch Des.
Das dauert aber nicht lange, Es wird bald wieder unser Zuhause und bleibt das bis zum
Ende. Die rhythmischen Quintolen sind eine Figur und die zerlegten Akkorde die andere
charakteristische Figur in dieser Incantation. Technisch ist diese Incantation nicht
besonders anspruchsvoll, aber aufführungspraktisch sehr wohl. Jede Welle, die die
Akkordzerlegung macht, bestimmen die Hoffnung, dass das Kind kommt, und dass es
gesund kommt und es kommt aber nicht, und durch die ganze Incantation sehen wir zuerst
die Konstanten, im Rhythmus und Tonhöhe, dann Wellen, dann wieder Konstanten, um am
Ende Transzendenz durch das hohe pfeifende H3 zu erreichen, das wahrscheinlich genau
das neugeborene Kind bezeichnet, als der höchste Ton im ganzen Satz durch eine
aufsteigende Bewegung.
Die dritte Incantation, ,,Daß die Ernte, die aus den vom Arbeiter gepflügten Furchen
wachsen soll, reich werde‖, ist unsere Rückkehr in die nicht so weite Vergangenheit, wenn
die Technologie noch nicht so entwickelt war und der Sinn unserer Vorfahren sich mehr auf
die Natur verlassen hat. Hiermit beten wir für das Leben. In diesem Stück ist es eine Frage
von Leben und Tod. Trotzdem ein mit Ruhe ausgefülltes Bauernleben und hier liegt alles
an uns FlötistenInnen, dies zu zeigen. Dieses Stück ist herausfordernd in dem Sinn, dass es
wenige Noten gibt, ein paar Anweisungen und trotzdem eine so große Geschichte zu
erzählen ist. Während des Spielens mag ich mich in diesen Bauern einleben. Ich mag mich
dieser Situation stellen: ―Wenn die Ernte nicht reich wird, werden wir hungrig sein‖. Das
ist so eine einfache Situation, dies einzusehen, vielleicht ist die Partitur genau deswegen so
einfach, die Komplikationen kommen von innen, was wir zum Ausdrücken genug Raum
haben. Kleine musikalische Phrasen, die mindestens drei Mal wiederholt sind, müssen sich
unterscheiden. Hier hat man wieder eine Freiheit. Ich habe mir am Anfang, als ich das
Stück gelernt habe, überlegt, was ich so alles machen kann und dann, ohne nachzudenken,
spiele ich in dem Konzert, (wo ich die Incantationen spiele), einfach die Variante, die mit
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meinem emotionellen Zustand in dem Moment am besten passt. Das ist die instinktive Art
des Musizierens, die ich früher erwähnt habe. In diesem Beispiel passt es gut, nicht immer
alles 100 % vorgeplant zu haben.
Die vierte Incantation, „Für eine erhabene Gemeinschaft mit der Welt―, bringt den/die
SpielerIn und das Publikum in einen Zustand der Ruhe, die nicht einmal durch die
Ausbrüche von hohen Tönen zerstört sein kann. Unter „erhabene Gemeinschaft mit der
Welt― ist auch eine erhabene Gemeinschaft mit dem Gott gemeint. In dieser Incantation
spürt man besonders den Wunsch des Komponisten, näher seiner Mutter zu sein. Man kann
diese Incantation so betrachten, dass, sobald wir das ganze Leben zu so einem gemütlichen
Tempo runterbringen werden, wir diese „erhabene Gemeinschaft― mit der Welt, mit dem
Gott oder miteinander realisieren. Spielerisch schwer ist genau diese Ruhe zu bewahren.
Das Tempo nicht zu drängen, sondern zurückbleiben und sich gut fühlen, was oft sehr
schwer ist. Auch die aufregenderen Teile, wenn in der Tonhöhe höher, sind im Tempo
breiter. Rhythmisch ist diese Incantation sehr interessant. Viele kleine Noten, Vorschläge,
Nachschläge, Verzierungen, Noten, die einen aus der Ruhe bringen können, dürfen es aber
nicht. Wenn es um technische Bedienungen geht, liegt die Schwierigkeit in der
Luftführung. Lange, langsame Phrasen mit der Luft auszuhalten und dann noch
ausgeglichen zu binden, sind die Hauptherausforderungen hier. Wenn man durch dieses
Stück die Ruhe bewahrt, hat man gewonnen. Das Publikum wird verstehen, was mit der
Musik gemeint ist und wir können endlich mal die Ruhe, die wir längst verloren haben,
wiederentdecken.
Die fünfte Incantation, ,,Bei der Beerdigung des Häuptlings, zum Schutze seiner Seele", ist
meine Lieblingsincantation. Warum? Wenn man das ganze Material etwas durchschaut,
sieht man Elemente aus der ersten Incantation, die Tonflächen (Gis3) aus der zweiten,
Hoffnung aus der dritten und den ganzen „subitement tres lent― als eine Reminiszenz an die
vierte Incantation. Der Rhythmus in dieser Incantation ist sehr interessant, Grundnoten
wären nicht so schlimm, aber die kleinen Vorschlagsnoten schmeißen einen gleich aus dem
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Tempo raus. Das Tempo ist ziemlich bewegend. Die Schwierigkeit dieser Incantation wäre,
meiner Meinung nach, genau die Verbindung aller Incantationen zu erstellen. Wenn man
die Noten lernt, muss man sich wirklich damit beschäftigen, Teile zu finden und zu zeigen,
wo was passiert.
Cinq Incantations sind solche Werke, die man bis zum Ende seines Lebens immer wieder
aufführen kann, es wird nie langweilig und klingt auch nie gleich. Früher diente Musik dem
Ritual, das Ritual dem Leben. Ohne Musik war kein Leben. Genau das wollte Jolivet
zeigen. Einfach wie sie ist, sie ist ein Teil unserer Seele. Die Frage ist nur, wer sie
erwecken will und seine Musik versucht es bei jedem.
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Zusammenfassung
Am Anfang habe ich geschrieben: „Die Idee war: weg vom Westlichen, weg von (einem
Europäer) schon Bekanntem zu kommen. In dieser Arbeit werde ich einen Schwerpunkt auf
André Jolivet setzen. Seine Musik ist diese, die sich auf die Musik der Antike richtet, mit
allen Elementen wie Mystik, Mythos, Ritual, Magie und Symbolik.―
Diese Reise durch Frankreich in der Zeit der Jahrhundertwende und des 20. Jahrhunderts,
wie auch die Recherche über den Repräsentant dieser Zeit, Andre Jolivet, ist zu Ende.
Daraus kann ich schließen, dass die Zeit, obwohl Kriege alles ausgelöst haben, sehr
fruchtbar war. Musik, genau wie die bildenden Künste, war in Blüte.
Andre Jolivet, als einer der Verantwortlichen für dieses Blühen, ist einer der am wenigsten
erwähnten Künstler dieser Zeit. Deswegen habe ich mich entschieden, über ihn zu
schreiben und zu beweisen, warum ich der Meinung bin, dass es unfair ist, dass sein Name
nicht öfter erwähnt wird, wenn man über das 20. Jahrhundert spricht.
Seine Musik ist auf viel Forschung und viel Ausdruck von innen gegründet. Ich werde so
frei sein und ihn einen Pionier der modernen Flötenmusik nennen. Als erster hat er neue
Spielweisen auf der Flöte erforscht und eingesetzt. Er war, wie alle, vom Orient, der Antike
und der Magie fasziniert, aber die Weise, durch welche er seine Faszination geäußert hat,
war das, was sein Genie noch genialer macht. Dass er genau gewusst hat, was er will, sehen
wir, wie in der Arbeit schon beschrieben, in der Partitur, wo alles aufgeschrieben ist, so
sind wir als InterpretInnen nie verzweifelt. Unsere Aufgabe ist allerdings überhaupt nicht
einfach wegen der freien Teile, wo wir die Aufgabe haben, diese Musik lebendig zu halten.
Das ist unsere Pflicht gegenüber dem Publikum und dem Komponisten selbst.
Durch die zwei Analysen (Chant de Linos und Cinq Incantation) ist die Beziehung zur
Antike, dem Orient und der Magie bewiesen. Genau diese drei Elemente sind die Basis
dieser zwei Werke. Wie Chant de Linos von dem Titel bis zum Inhalt der Antike und durch
musikalische Eigenschaften dem Orient gehört, so bestätigen die Incantationen zu 100 %
mit den magischen Elementen meine Aussage. Ich würde diese Arbeit mit den Worten des
Komponisten gerne abschließen:
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„Music should not solely be heard. It should be inhaled. It must reach
the sympathetic nervous system and act on the rhythm of the heart, on the
equilibrium of the internal organs, and on all the muscles of the body. Of
course, it must not act under the effect of a false sensitivity, but by the effect of
its vibrations; it must modify, direct, and intensify the reaction of the spirit.―64
64
Kayas, Lucie und Chassain-Dolliou, Laetitia, André Jolivet: Portraits, Paris, 1994, S. 119.
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