Materialsammlung - Theater Marburg
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Materialsammlung - Theater Marburg
Don Juan Materialsammlung Spielzeit 2010/11 Hessisches Landestheater Marburg, 2011 »Don Juan« Dramaturgie: Alexander Leiffheidt Diese Materialsammlung wurde erstellt von Studenten des Seminars »Text und Theater« (Seminarleitung Margarete Fuchs, MA). Philipps-Universität Marburg, Sommersemester 2011 Dominic Petkowitsch Isabell Weißkirchen Jens Wetekam Im Don-Juan Gebirge Zur Einführung Ein junger Mann aus gehobenem Hause (oder ist er gar nicht mehr so jung?) lebt das »wilde Leben« – la vida loca. Regeln sind zum Brechen da. Moral ist Geschwätz. Frauen sind Beute. Egal ob verheiratet oder frei, reich oder arm, verliebt oder nicht – er muss sie alle haben, und zwar am besten sofort, noch heute Nacht. Um sein Ziel zu erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Halsbrecherische Fluchten, Betrügereien und sogar Mord gehören mit zu dem Spiel, das der junge Mann spielt. Grenzen setzt ihm niemand. Diejenigen, die es versuchen – die gehörnten Ehemänner, zornentbrannten Väter, betrogenen Frauen und Vertreter der Moral – ziehen immer den Kürzeren. Niemand scheint dem Abenteurer und seiner Intelligenz, seinem Einfluss und Charisma gewachsen. Warum sollte er sich auch ändern? Die Welt verlangt danach, genossen und weggeworfen zu werden. Bis eines Tages etwas Unerhörtes geschieht: Voller Spott lädt der Abenteurer die Statue eines seiner Opfer zum Abendessen ein. Der Mann, den die Statue darstellt, ist ja tot und begraben – was soll also geschehen? Über die Warnungen seines Handlangers setzt er sich hinweg. Umso größer ist das Erstaunen, als zur verabredeten Stunde tatsächlich die Statue erscheint. Wie es die Höflichkeit gebietet, spricht sie eine Gegeneinladung aus: zum Abendessen im Jenseits. Der Abenteurer (der alles war, aber nie ein Feigling) schlägt ein. Und fährt zur Hölle. Eine kleine, einfache Geschichte. Etwa 400 Jahre alt, vielleicht etwas älter. Und zugleich viel mehr: ein Berg von Geschichten. Ein ganzes Gebirge gar, ein Gebirgsmassiv. 3.081 individuelle Versionen der obigen Handlung listet die bis 1964 annähernd vollständige Bibliographie des amerikanischen Romanisten Armand E. Singer auf. Dazu kommt noch das außer-künstlerische Leben ihres Protagonisten als Schmäh- oder Bewunderungsausdruck, Markenname und Alltagswort: Die Rede ist, natürlich, von Don Juan. Während uns aus der Antike ganze Götterhimmel und Heldenwelten voller Mythen überliefert worden sind, hat die Neuzeit – zumindest die europäisch geprägte – nur zwei mythische Stoffe hervorgebracht: Faust der eine, Don Juan der andere. Zwei Stoffe, zwei Gebirge der Bedeutung. Wer sich also, wie wir, dem »Don Juan«-Stoff annähern will, sieht sich augenblicklich einer prekären Situation gegenüber: Don Juan gibt es nicht. Oder vielmehr, es gibt zu viele Don Juans. In der Alltagssprache meinen wir, wenn wir von ›Don Juan‹ sprechen, einen erotisch überaktiven Herzensbrecher; einen Casanova mithin. (Übrigens haben diese beiden – der eine Fiktion, der andere sowohl Fiktion als Geschichte – außer vielleicht einem gesteigerten Interesse für das Weibliche kaum etwas gemein.) In der Literatur, Kunst und Philosophie wird es schon komplizierter. Die ersten überlieferten Don Juans – auch der allererste im 1613 uraufgeführten Stück Tirso de Molinas – hatten vor allem eines im Kopf: Sex. Schnelle Eroberung und rasche Flucht, am Ende die Strafe Gottes. Im Laufe der Jahrhunderte sollte sich dies allerdings gehörig ändern. E.T.A. Hoffmann, ein wichtiger »Don Juan«-Vermittler und Neuerfinder, sah in ihm einen idealistischen Suchenden, dessen unaufhörliche Jagd nach den Weibern letztlich nur immer dem einen, ewigen Ideal der Weiblichkeit gilt. Für Albert Camus war Don Juan das Paradebeispiel des absurden Menschen, der sich im Wissen seiner Vergänglichkeit der Welt der Sinnlichkeit hingibt. Bert Brecht sah in ihm den parasitären Vertreter der Herrschaftsklasse, der sein sexuelles Kapital rücksichtslos ausnutzt, George Bernhard Shaw dagegen im Gegenteil ein Opfer der Frauen, die ihn zur Erfüllung ihres Lebenstriebs missbrauchten. Søren Kierkegaard schließlich, der sich über den Don Giovanni (also die italienische Variante des Don Juan) nach eigener Aussage »jungmädchenhaft« und unsterblich in Mozart verliebte, deutete den Helden der Oper aus dem Wesen der Mozart’schen Musik heraus als die Inkarnation sinnlicher erotischer Genialität, also die idealhafte Verkörperung des ästhetischen Menschen in seiner Reflektiertheit, Heiterkeit und universalen Amoralität. Wäre unser Ziel eine akademisch-analytische Annäherung an den »Don Juan«-Stoff, dann würde sich uns diese Fülle an unterschiedlichen Don Juans vermutlich als Last darstellen. Wir müssten das »Don Juan«-Gebirge zunächst vom Scheitel bis zur Talsohle vermessen, bevor wir auch nur den ersten eigenen Schritt setzen könnten. Da es aber um eine künstlerische Aneignung geht, können wir uns freuen: Wir dürfen uns auf seine höchsten Gipfel stellen und in die tiefsten Bergwerkstunnel bohren, wir können die Fülle des Stoffes der Länge und Breite nach durchschreiten und uns von ihr inspirieren lassen, ohne dabei den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit beherzigen zu müssen. Bereits im »Don Juan« Molières, obwohl dieser ja noch relativ am Anfang der Tradition steht, kreuzen sich die unterschiedlichsten Überlieferungsstränge: der Rationalismus Descartes mit dem Eifer der Gegenreformation, das respektlose Spiel der Commedia dell‘arte mit dem Prunk des absolutistischen Hoftheaters, das Renaissancebild des starken Individuums mit dem Schauerbild der sprechenden Geisterstatue. Auswahl darf natürlich nicht zur Beliebigkeit verleiten. Daher haben wir in der vorliegenden Materialsammlung versucht, in sechs Kapiteln verschiedene Aspekte des »Don-Juan«-Stoffs zu beleuchten, die uns bei dem konkreten Vorhaben eines »DonJuan«-Spektakels auf dem Marburger Marktplatz von Nutzen sein und das freie ›Springen‹ von Gipfel zu Gipfel des Stoffgebirges mit fundierten Einblicken in die Primär- und Sekundärliteratur unterstützen könnten. Im ersten Kapitel beschäftigen wir uns mit der ›subkulturellen‹ Überlieferung des »Don Juan«-Stoffs im öffentlichen Raum als Teil der Commedia dell‘arte und der europäischen Jahrmarkt- und Figurentheatertradition. Im zweiten Kapitel loten wir die philosophischen Aspekte der Figur mit Verweis auf Kierkegaard, Nietzsche und Camus aus – im Hinblick auf die Entstehungszeit von Molières Stück steht dem eine kurze Einführung in Descartes‘ Gedankenwelt voraus. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem ›gezähmten Don Juan‹ als einer Art heuristischem Kontrastmittel: Wenn wir dem Abenteurer sein sexuelles Freibeutertum nehmen, was bleibt dann übrig – welche vorher unbemerkten Aspekte treten aus dem Hintergrund der Figur hervor? Im vierten Kapitel schlagen wir schließlich den Bogen zur Gegenwart, während wir im fünften unter dem klinischen Begriff des ›Don Juanismus‹ die psycho-pathologischen Aspekte der Don-Juan‘schen Obsession ansprechen. Rilke schließlich bringt im sechsten Kapitel mit seinem Gedicht »Der Abenteurer« vieles, wenn auch nicht alles auf den poetischen Punkt. Eine Materialsammlung ist niemals abgeschlossen – schon gar nicht, wenn das Thema, zu dem Material gesammelt werden soll, nun einmal »Don Juan« heißt. Wenn sie aber ihren Stoff schon nicht erschöpfen kann, so doch zumindest ihren Zweck: der ist, Anlass zum Gespräch zu bieten, fortlaufende Auseinandersetzungen im inhaltlichen wie künstlerischen Bereich mit Informationen zu unterbauen und die Fantasien und Ideen aller Beteiligten zu beflügeln. Wir hoffen, dies zumindest in Ansätzen erreichen können – und freuen uns auf die gemeinsame Arbeit sowie eine spannende Neugeburt dieses alten Stoffes am 17. Juni 2011 vor dem Marburger Rathaus. AL 1. Don Juan auf dem Marktplatz Von der Commedia dell'arte zum Kasperlespiel 6 Don Juan auf dem Jahrmarkt: »Die übernatürliche Größe« Wie bekannt, hat Don Juan nämlich weit zurück in der Zeit als Jahrmarktsposse existiert, ja dies ist eigentlich wohl seine erste Existenz. Aber hier ist die Idee komisch genommen, wie es denn überhaupt bemerkenswert ist, dass das Mittelalter, welches so geschickt war in der Ausrüstung von Idealen, ebenso sicher darin gewesen ist, das Komische zu sehen, das in der übernatürlichen Größe des Ideals liegt. Don J u a n zu einem Prahlhans machen, der sich einbildet, alle Mädchen verführt zu haben, L e p o r e l l o Don Juans Lügen glauben lassen, das dürfte wohl eine nicht durchaus unglückliche komische Anlage sein. Und wäre dies auch nicht der Fall, wäre dies auch nicht die Auffassung gewesen, so könnte die komische Wirkung dennoch nie ausbleiben, da sie in dem Widerspruch liegt zwischen dem Helden und dem Theater, auf dem er sich bewegt. So kann man das Mittelalter auch von Helden erzählen lassen mit einem so mächtigen Körperbau, dass sie eine halbe Elle zwischen den Augen mäßen, würde aber ein gewöhnlicher Mensch auf der Bühne erscheinen und sich die Miene geben, als mäße er eine halbe Elle zwischen den Augen, so ist das Komische in vollem Gange. Aus: Kierkegaard, »Entweder – Oder« 7 Commedia dell'arte Die Commedia dell'arte ist eine im Italien des 16. Jahrhunderts erfundene Stegreifkomödie, die den Berufsschauspielern keinen feststehenden Text vorgab, sondern nur Typen und stereotype Handlungsabläufe sowie Verwicklungen, die spontan auf der Bühne variiert und sprachlich ausgestaltet wurden. Es gibt folglich keine überlieferten Stücke, sondern nur Modellbücher zur Improvisation bestimmter Szenen. Die Typen der Commedia dell'arte sind in Italien fast sprichwörtlich geworden: der Dottore, ein schwatzhafter, gelehrter Pedant aus Bologna, oder Pantalone, der einfältige Vater, der vornehme Kaufmann und der geprellte Ehemann aus Venedig. Aber nicht nur für die Italiener erlangte die Commedia dell'arte Bedeutung, sie übte auch Einfluss auf die Theaterentwicklung anderer europäischer Länder aus, indem Wandertruppen durch ganz Europa reisten. Noch Gottsched versuchte mit seinen Reformen in Leipzig den Einfluss der Commedia dell'arte mit ihren eingestreuten Slapstickszenen (lazzi), Tanz-, Musik- und Zaubereinlagen, ihrer Akrobatik und ihren mimischen Scherzen zurückzudrängen. Selbst in unserem Jahrhundert ist die Commedia dell'arte noch von Bedeutung. Nach 1947 wurde sie z.B. von Giorgio Strehler, einem führenden italienischen Regisseur und Theaterleiter, wiederbelebt. Sekundärliteratur: R Larivaille: Commedia dell'arte, in: M. Branneck/ G. Schneilin (Hg.): Theaterlexikon. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Reinbek bei Hamburg 1986. W. Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die italienische Komödie, Stuttgart 1965. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 2. Don Juan als Philosoph Descartes, Kierkegaard, Nietzsche, Camus 17 Einleitung Die Gestalt des Don Juan hat über die Jahrhunderte auch das Interesse der Philosophie geweckt. Die jeweiligen Autoren sahen (wie sollte es auch anders sein) zumeist die jeweils eigenen philosophischen Anschauungen in diesem Typus reflektiert. Dieses intensive Interesse von Seiten der Philosophie verwundert auch nicht weiter, weil ein direkter Bezug Don Juans zur Philosophie ja offen zu Tage liegt: Don Juan ist eine Figur, die – zumindest seit Molière – auch philosophisch argumentiert und die wir infolgedessen ruhigen Gewissens als Philosoph betrachten dürfen. Wenn wir so verfahren, ergeben sich weitere Fragen: Was für eine Art von Philosophie könnte Don Juan zu den unterschiedlichsten Zeiten vertreten haben? Auf welche Weise hat sich der Typus in philosophischer Hinsicht entwickelt? Das nachfolgende Kapitel der Materialsammlung soll dem Leser einige Aspekte dieser philosophischen Metamorphosen der Don Juan-Figur vermitteln. Dabei geht es im Wesentlichen um die Veränderungen der Gestalt, die seit Molières antireligiösem Libertin mit kartesianisch-rationaler Denkweise eingetreten sind. Schon seit den ersten französischen Fassungen aus der Zeit Molières tritt Don Juan als Vertreter einer antagonistisch geprägten, hedonistischen Naturphilosophie auf. Bei Molière wird diese Opposition erweitert zu einem rationalistisch geprägten Skeptizismus. Anders als bei Decartes steht bei Don Juan aber der radikale Zweifel nicht am Anfang, sondern am Ende der philosopischen Idee. Sören Kierkegaard (der sich in erster Linie auf Mozarts Don Giovanni bezieht) sieht in ihm beispielsweise einen »sinnlich-genialen« Verführer – die ideale Verkörperung des ästhetischen Menschen – während er bei Albert Camus zum Sinnbild des »absurden Helden« wird. In Nietzsches nihilistischer Vorstellung wird Don Juan zum Intellektuellen, der nicht mehr nach Lust und Sinnlichkeit jagt, sondern nach Erkenntnis, womit ein Bogen zur Faustgestalt Goethes gezogen wird. Zum Schluss bleibt noch die Frage, welche philosophische Richtung Don Juan wohl heutzutage vertreten könnte und wie er dann argumentieren würde. DP 18 Zu Descartes Rationalismus, Dualismus Descartes ist der Begründer der rationalistischen Richtung der neueren Philosophie und des neueren Dualismus. Im Gegensatz zu F. Bacon u. a. betont er nicht die induktive, sondern die deduktive Methode und stützt er die Erkenntnis nicht auf sinnliche Wahrnehmung, sondern auf die Gewißheit klarer und deutlicher Vernunfteinsichten und Anschauungen, wobei ihm die Mathematik mit ihrer Evidenz zum Vorbild dient. Anstatt Autoritäten zu folgen und sich begrifflichen, nichtssagenden Spielereien hinzugeben, will Descartes selbständig denken, nichts auf Treu und Glauben hinnehmen, ohne Voraussetzungen philosophieren, nur der Stimme der Vernunft gehorchen, nur dem logisch Festgestellten, aus unumstößlichen Tatsachen Deduzierten trauen. Ohne eine einheitliche, zuverlässige Methode kann kein sicheres Wissen zustande kommen. Die Methode besteht formal in der Ordnung und Disposition des Wissensstoffes. Stufenweise ist vom Einfacheren zum Zusammengesetzten fortzuschreiten. Vier Grundregeln haben sich bewährt, welche viel wichtiger sind als die Sätze der formalistischen Logik 1. Nichts für wahr zu halten, was nicht sicher und mit Evidenz als wahr erscheint, was nicht so klar und deutlich ist, daß es auf keine Weise zu bezweifeln ist. 2. Jede Schwierigkeit in Teile zu zerlegen, um ihrer besser Herr zu werden. 3. Nach einer bestimmten Ordnung vom Einfachsten und Leichtesten zum Schwierigeren und Zusammengesetzteren sich zu erheben. 4. Sich der Vollständigkeit der Untersuchung zu vergewissern (De la méthode II). Das Muster aller Demonstration ist die Mathematik. Die größere Sicherheit der Arithmetik und Geometrie beruht darauf, »daß sie gar nichts voraussetzen, was die Erfahrung unsicher zu machen imstande wäre, sondern gänzlich in verstandesmäßig abzuleitenden Folgerungen bestehen« (Regeln zur Leitung d. Geistes, II). Nur was wir durch »klare und evidente Intuition oder durch sichere Deduktion« feststellen können, dürfen wir untersuchen (l. c. III). Die Fähigkeit, die Wahrheit zu erfassen, eignet nur dem Verstande (Denken), doch muß er von den Sinnen, dem Gedächtnis und der Einbildungskraft unterstützt werden (l. c. XII). In uns ist ein »natürliches Licht« (lumen 19 naturale), eine angeborene Fähigkeit des Geistes, das Sichere und Wahre als das Denknotwendige und Evidente zu erfassen, auch unabhängig von der Erfahrung (also a priori). Diesem Lichte der Vernunft, welches uns durch die Existenz Gottes verbürgt, müssen wir vertrauen, es ist uns von Gott selbst gegeben. Gott, Substanz, Attribute An der Spitze der systematischen Philosophie Descartes (seiner Metaphysik und Naturphilosophie) steht der Begriff Gottes, den Descartes im Sinne des Theismus auffasst. Gott ist ewig, allmächtig, allwissend usw., er ist Geist, eine allgegenwärtige Substanz und ist nur durch die Vernunft erfassbar (mit dem Kirchenglauben sucht Descartes möglichst in Übereinstimmung zu bleiben, wie er auch - wenigstens nach außen hin - die Kopernikanische Theorie ablehnt). Daß Gott existiert, geht aus der uns eingeborenen Idee vom göttlichen Unendlichen hervor, die als Unendlichkeitsidee nicht von uns endlichen Wesen erzeugt sein kann (vgl. schon Campanella). Die in der Gottesidee enthaltene »objektive« (d.h. vorgestellte) Realität weist, da sie die Realität alles Endlichen überragt, auf Gott selbst als Urheber der Idee hin. Ich selbst könnte ohne Gott nicht existieren, da ich mich nicht selbst erzeugt habe und die Reihe meiner Erzeuger schließlich zu einer letzten Ursache führt, die alles im Dasein enthält. Außerdem bedient sich Descartes des ontologischen Gottesbeweises, wonach im Begriffe Gottes als des vollkommensten Wesens auch die Existenz, das notwendige Sein liegt, welches von Gott untrennbar ist (Princip. philos. I, 14). Nur Gott ist im strengsten Sinne des Wortes Substanz, die endlichen Dinge sind, als von Gott geschaffen und in ihrem Sein abhängig, nur relative Substanzen (Ausgangspunkt Spinozas). Substanz ist das Selbständige, in seinem Sein Unabhängige, für sich Bestehende. »Per substantiam nihil aliud intelligere possumus, quam rem quae nulla plane re indigeat ad existendum. Et quidem substantia quae nulla plane re indigeat, unica tantum potest intelligi, nempe Deus.« Die endlichen Substanzen existieren nur durch den »concursus Dei« (Princ. philos. l, 51), durch göttliche Assistenz. Erschlossen wird die Substanz aus ihren Attributen, ihren konstanten Eigenschaften, wie Ausdehnung und Denken. Bestimmtheiten der Attribute sind die wechselnden Modi, wie Figur, Empfindung usw. Es gibt zwei Arten von Substanzen: Geist und Körper (Dualismus), die einander schroff gegenüberstehen und völlig verschiedene Eigenschaften haben. (»Substantia corporea« - »substantia cogitans«, »mens«). Der Unterschied zwischen Körper und 20 Geist ist ein evidenter, klarer und deutlicher und daher realer. »Itemque ex hoc solo, quod unusqiusque intelligat se esse rem cogitantem et possit cogitatione excludere a se ipso omnem aliam substantiam, tam cogitantem quam extensam, certum est unumquemque sic spectatum, ab omni alia substantia cogitante atque ab omni substantia corporea realiter distingui« (Princ. philos. I, 60). Descartes. Porträt nach Frans Hals, 1648 21 Sinnliche Genialität, bestimmt als Verführung Søren Kierkegaard Mit Mozart steht es nun ebenfalls so, dass es nur ein Werk von ihm ist, welches ihn zu einem klassischen Komponisten und schlechthin unsterblich macht. Dies Werk ist Don Juan. Was er sonst geschaffen hat, mag erfreuen und erquicken, unsre Bewunderung wecken, die Seele bereichern, das Ohr sättigen, das Herz ergötzen; man tut jedoch ihm und seiner Unsterblichkeit durchaus keinen Dienst, wenn man alles über einen Kamm schert und alles gleich groß macht. Don Juan ist sein Meisterstück. Mit Don Juan tritt er in jene Ewigkeit ein, welche nicht außerhalb der Zeit, sondern mitten in ihr liegt, in jene Ewigkeit, die sich durch keinerlei Vorhang vor der Menschen Augen verbirgt, in welche die Unsterblichen nicht ein für allemal aufgenommen sind, sondern fort und fort aufgenommen werden, indem das Geschlecht vorüberzieht und den Blick auf sie richtet, in ihrer Beschauung glücklich ist, ins Grab sinkt, und nunmehr wandert das folgende Geschlecht wieder an ihnen vorüber und verklärt sich in ihrer Beschauung; mit seinem Don Juan tritt er ein in die Reihe jener Unsterblichen, jener sichtbar Verklärten, die keine Wolke vor den Augen der Menschen hinwegnimmt; mit Don Juan steht er unter ihnen an der obersten Stelle. Dies Letzte nun wollte ich, wie oben gesagt, zu beweisen suchen. [...] Nun macht Don Juan nicht allein sein Glück bei den Mädchen, sondern er macht die Mädchen glücklich und – unglücklich, jedoch sonderbar genug, gerade so wollen sie es haben, und das wäre ein kümmerliches Mädchen, das sich nicht wünschte unglücklich zu werden, weil sie einmal glücklich gewesen mit Don J u a n . Verharre ich nun auch dabei, Don Juan einen Verführer zu nennen, so denke ich ihn mir doch keineswegs heimtückisch seine Pläne entwerfen, verschlagen die Wirkung seiner Intriguen berechnen; er betrügt allein mit der Genialität der Sinnlichkeit, deren Inkarnation er gleichsam ist. An verständiger Besonnenheit fehlt es ihm; sein Leben schäumt über gleich dem Weine, an dem er sich stärkt, sein Leben ist bewegt den Tönen gleich, die sein frohes Mahl begleiten, stets ist er triumphierend. Er hat keine Vorbereitung nötig, keinen Plan, keine Zeit; denn er ist immer fertig, die Kraft ist nämlich stets in ihm und das Begehren desgleichen, und nur wenn er begehrt, ist er so recht in seinem Element. Er sitzt zu Tische, froh wie ein Gott schwingt er den Pokal – er erhebt sich noch mit der Serviette in der Hand, fertig zum Angriff. Und weckte L e-p o r e l l o ihn auch mitten in der Nacht, stets wacht er seines Sieges sicher auf. Doch diese Kraft, 22 diese Gewalt kann das Wort nicht ausdrücken, lediglich die Musik vermag uns davon eine Vorstellung zu geben; sie sind nämlich unaussagbar für die Reflexion und den Gedanken. Die Arglist eines ethisch bestimmten Verführers kann ich deutlich mit Worten darstellen, und die Musik würde sich vergeblich an die Lösung dieser Aufgabe wagen. Mit Don Juan verhält es sich umgekehrt. [...] Wann die Idee des Don J u a n entstanden ist, weiß man nicht, nur so viel ist gewiss, dass sie dem Christentum zugehört, und durch das Christentum wieder dem Mittelalter zugehört. Könnte man die Idee nicht mit einiger Sicherheit im menschlichen Bewusstsein bis zu diesem weltgeschichtlichen Abschnitt zurückverfolgen, so würde eine Betrachtung der inneren Beschaffenheit der Idee unverzüglich jeden Zweifel beheben. Das Mittelalter ist überhaupt die Idee der Repräsentation, teils bewusst, teils unbewusst; das Ganze wird repräsentiert in einem einzelnen Individuum, jedoch dergestalt, dass es lediglich eine einzelne Seite ist, die als Ganzheit bestimmt ist, und nun in einem einzelnen Individuum in Erscheinung tritt, und die daher sowohl mehr wie weniger ist als ein einzelnes Individuum. Neben diesem Individuum steht also ein andres Individuum, welches ebenso total eine andre Seite von des Lebens Inhalt repräsentiert, so z. B. der Ritter und der Scholastiker, der Geistliche und der Laie. Des Lebens großartige Dialektik wird hier ständig in repräsentierenden Individuen veranschaulicht, welche im Allgemeinen einander paarweise gegenüberstehen, das Leben ist stets nur unter einerlei Gestalt (sub una specie) vorhanden, und die große dialektische Einheit, welche das Leben unter beiderlei Gestalt (sub utraque specie) in Einheit besitzt, wird nicht geahnt. Die Gegensätze stehen daher meist gleichgiltig außerhalb voneinander. Davon weiß das Mittelalter nichts. So verwirklicht es denn seinerseits die Idee der Repräsentation ohne Bewusstsein, und erst eine spätere Betrachtung sieht darin die Idee. Setzt das Mittelalter für sein eignes Bewusstsein ein Individuum als Repräsentanten einer Idee, so stellt es neben dasselbe gerne ein anderes, welches zum ersten eine Beziehung hat; diese Beziehung ist dann im allgemeinen komischer Natur, in dem das zweite Individuum die unverhältnismäßige Größe, die das erste im Vergleich mit dem wirklichen Leben hat, gleichsam wiedergutmacht. So hat z. B. der K ö n i g den N a r r e n neben sich, F a u s t den Wagner, Don Quichote den Sancho Pansa, Don Juan den Leporello. Diese Formation gehört ebenfalls wesentlich dem Mittelalter zu. Die Idee des Don Juan gehört somit dem Mittelalter, im Mittelalter wieder gehört sie nicht einem einzelnen Dichter, sie ist eine jener urkräftigen Ideen, welche mit der Ursprünglichkeit des Autochthonen aus der Bewusstseinswelt des volklichen Lebens hervorbrechen. Den Zwiespalt von Fleisch und 23 Geist, den das Christentum in die Welt gebracht hat, musste das Mittelalter zum Gegenstande seiner Betrachtung machen, und zu diesem Behuf die streitenden Kräfte jede für sich zu einem Gegenstande der Anschauung erheben. Don Juan ist nun, wenn ich so sagen darf, die Inkarnation (Einfleischung) des Fleisches oder die Begeisterung des Fleisches aus des Fleisches eignem Geist. [...] Don Juan ist mithin der Ausdruck für das Dämonische, das als das Sinnliche bestimmt ist, F a u s t ist der Ausdruck für das Dämonische, das als jenes Geistige bestimmt ist, welches der christliche Geist ausschließt. [...] Don J u a n hingegen ist ein Verführer von grund auf. Seine Liebe ist nicht seelisch sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist nach seinen Begriffen nicht treu sondern schlechthin treulos, sie liebt nicht eine sondern alle, will heißen, sie verführt alle. Sie ist nämlich allein im Augenblick da, aber der Augenblick ist, begrifflich gedacht, Summe von Augenblicken, und damit haben wir den Verführer. [...] Welch eine Kraft ist es denn aber dann, mit der Don Juan verführt? Es ist des Begehrens, des sinnlichen Begehrens Energie. Er begehrt in jeglichem Weibe das Weibliche insgesamt, und darin liegt die sinnlich idealisierende Gewalt, mit der er seine Beute zugleich verschönt und besiegt. Der Reflex dieser gigantischen Leidenschaft verschönt und entfaltet das Begehrte, es rötet sich in erhöhter Schönheit durch deren Widerschein. Gleich wie das Feuer des Begeisterten mit verführerischem Glanz auch die Unbetroffenen anleuchtet, die zu ihm in Beziehung stehen, ebenso verklärt Don Juan in einem weit tieferen Sinne ein jedes Mädchen, da sein Verhältnis zu ihr ein wesentliches ist. Deshalb vergehen für ihn alle endlichen Unterschiede im Vergleich mit dem, was die Hauptsache ist: Weib sein. Die Älteren verjüngt er zur schönen Mitte des Weiblichen, die, welche beinahe noch Kind sind, bringt er in einem Nu zur Reife; alles, was Weib ist, ist seine Beute, (pur che porti la gonella, voi sapete quel que fa). [...] Mag das hier Dargelegte nun auch ganz in der Ordnung sein, daraus folgt doch keineswegs, dass nicht eine einzelne begabte Natur sich daran versucht haben könnte, Don Juan auch noch auf andre Weise aufzufassen. Dass es sich so verhält, weiß jeder, aber vielleicht nicht ein jeder hat beachtet, dass der Typus für alle andern Auffassungen im wesentlichen 24 M o l i è r e s Don Juan ist; dieser aber ist ja wiederum weit älter als der Mozarts, und zugleich komisch; er verhält sich zu M o z a r t s Don Juan wie ein Märchen in der Fassung des Musäus zu einer Bearbeitung von Ludwig Tieck sich verhält. Insofern kann ich mich eigentlich darauf beschränken, den Don J u a n Molières zu besprechen, und indem ich ihn aesthetisch zu würdigen suche, mittelbar zugleich die andern Auffassungen zu würdigen. Doch möchte ich eine Ausnahme machen mit Joh. Ludw. H e i b e r g s Don Juan. Er erklärt auf dem Titel selber, dass er »teilweise nach« verfasst ist. Dies ist nun auch außer Zweifel, gleichwohl hat H e i b e r g s Stück vor dem M o l i è r e s einen großen Vorzug. Seinen Grund hat dies freilich in dem sicheren aesthetischen Blick, mit dem Heiberg stets seine Aufgabe erfasst, in dem Geschmack, mit dem er zu unterscheiden weiß; es ist indes nicht unmöglich, dass im gegenwärtigen Fall Prof. H e i b e r g mittelbar von M o z a r t s Auffassung beeinflusst gewesen ist, in der Einsicht nämlich, wie D o n J u a n aufgefasst werden muss, - sobald man die Musik nicht den eigentlichen Ausdruck sein lässt und ihn nicht unter ganz andre aesthetische Kategorien stellen will. Prof. C. H a u c h hat ebenfalls einen D o n J u a n geliefert, welcher nahe daran ist, unter die Bestimmung des Interessanten zu fallen. Indem ich denn nunmehr dazu übergehe, die zweite Gruppe von Bearbeitungen des D o n J u a n zu besprechen, brauche ich den Leser wohl nicht erst daran zu erinnern, dass dies in gegenwärtiger kleiner Untersuchung nicht um jener Arbeiten selber willen geschieht, sondern lediglich, um die Bedeutung der musikalischen Auffassung vollständiger zu beleuchten als es im Vorhergehenden möglich gewesen ist. Der Wendepunkt in der Auffassung D o n J u a n s ist bereits oben folgendermaßen gekennzeichnet: sobald ihm die Erwiderung gegeben wird, ist alles anders geworden. Jene Reflexion nämlich, welche die Erwiderung motiviert, spiegelt ihn aus der Dunkelheit heraus, in der er allein musikalisch vernehmbar ist. [...] Der musikalische Don Juan genießt die Befriedigung, der reflektierte Don Juan genießt den Betrug, genießt die List. Der unmittelbare Genuss ist vorbei, und genossen wird rein eine Reflexion über den Genuss. Hierüber findet sich in' s Auffassung ein vereinzelter Wink, nur dass dieser überhaupt nicht zu seinem Rechte kommen kann, weil die gesamte übrige Auffassung stört. Das Begehren bei D o n J u a n wacht auf, weil er das eine Mädchen in dem Verhältnis zu ihrem Geliebten glücklich werden sieht, er beginnt mit Eifersucht. Dies ist ein Interesse, welches uns in der Oper schlechterdings nicht beschäftigen würde, eben weil D o n J u a n kein reflektiertes Individuum ist. Sobald Don Juan als ein reflektiertes Individuum aufgefasst wird, kann 25 man eine Idealität, welche der musikalischen entspricht, nur erreichen, wenn man die Sache in den Bereich des Psychologischen überführt. Was man alsdann erreicht, wird die Idealität der Intensität sein. Deshalb muss B y r o n s D o n J u a n als verfehlt gelten, sintemal er sich episch ausbreitet. Der unmittelbare D o n Juan muss 1003 verführen, der reflektierte braucht nur eine einzige zu verführen, und was uns beschäftigt, ist, wie er es tut. 26 Don Juan als Libertin: Darf man den Moliere'schen „Dom Juan" in die Nähe eines Kierkegaard'schen reflektierten Verführers rücken? In komischer Hilflosigkeit stolpert Sganarelle über die sophistische Brillanz Dom Juans, d.h. zugespitzt formuliert: die Kritik des Dieners dient an diesem Punkt dramaturgisch der glanzvollen Selbstdarstellung Dom Juans, der im Kontrast zu der hilflosen Sprachlosigkeit Sganarelles in dem Redegefecht als überlegener Sieger hervorgeht. ES fragt sich, ob man den Molièreschen 'Dom Juan' in die Nähe eines Kierkegaardschen reflektierten Verführers zu rücken hat, ob dieser Don Juan die Mittel seiner Verführung reflektiert und gerade aus dieser Reflexion seinen subtilen Genuß zieht. Nun verrät schon die rhythmische Struktur dieser Rede Dom Juans über die Liebe so viel an dynamischem Temperament, an subjektiver Bewegung, daß das reflektorische Moment, geprägt von Distanz, vom. zündenden Pathos eines subjektiven Sprachgestus aufgesogen wird. Dom Juan verficht sein Lebensprinzip, Wechsel als Prinzip einer sensualistischen Existenz, er argumentiert, doch seine Argumente entspringen weder einer distanzierten Selbstbetrachtung, noch zeugen sie von einer das Erotische steigernden Reflektiertheit; sie sind Ausdruck einer als objektiv gesetzten subjektiven Lebensform, die er nicht eigentlich verteidigt, die er lebt. Lebensmaxime dieses Don Juan ist Libertinage in ihrem doppelten Wortsinn: er ist Freigeist und Genußmensch. Erotischen Genuß zieht er aber nicht aus der Intensität einer Liebesbeziehung, die eine gewisse Dauer voraussetzte, sondern aus dem Wechselspiel von erwachender Leidenschaft und dem Widerstand, den die begehrte Schöne ihm zunächst entgegenbringt. Nicht Neuheit und Wechsel allein stimulieren das erotische Verlangen dieses Don Juan, sondern auch das Gefühl, daß er Skrupel überwinden, das Feuer der Leidenschaft in der Frau erst entfachen muß. Die libertine Frau, die Don Juan Avancen machte, wäre sie auch noch so schön, verlöre jeden Reiz für ihn. Auch der wechselseitige coup de foudre entbehrte für ihn das Moment der Verführung. Dieser Don Juan bedarf der Schranken der Moral, um sie zu durchbrechen, vor allem einer Moral, die die sexuelle Freiheit der Frau rigide einschränkt. Don Juan ist nicht einfach Sensualist und Libertin, der gegen eine enge Sexualmoral revoltierte, er braucht gerade den weiblichen Ehrenpunkt und Tu27 gendrigorismus zur Steigerung seiner sexuellen Lust. Molieres Dom Juan ist dennoch kein Vorläufer von Choderlos de Laclos' Valmont aus den „Liaisons dangereuses", der die Strategie seiner Verführung mehr als den sinnlichen Genuß selbst goutiert. Zwar preist er die Wonnen allmählicher, raffinierter Eroberung, und das rückt ihn in die Nähe eines Valmont, doch Moliere führt ihn realiter eher als einen Draufgänger vor, der so schnell wie möglich ans Ziel seiner sexuellen Wünsche kommen möchte. Hier zeigt sich eine Inkonsequenz in der Konzeption der Figur, eine Diskrepanz zwischen Dom Juans Selbstdarstellung im Wort und dem Handlungsverlauf. 28 F. Nietzsche: Eine Fabel 327. Eine Fabel. — Der Don Juan der Erkenntnis: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntnis — bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf! — bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle, — es ist die letzte Erkenntnis, die ihn verfiihrt. Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntnis, die ihm nie mehr zu Teil wird! — denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen. Aus: Friedrich Nietzsche-Morgenröte Gedanken über die moralischen Vorurteile(1881) http://www.textlog.de/20009.html Zugriff: 26. 4. 2011 29 Albert Camus: Don Juan und der Don-Juanismus Genügte es einfach, zu lieben, dann wären die Dinge zu simpel. Je mehr man liebt, um so mehr festigt sich das Absurde. Nicht aus Mangel an Liebe geht Don Juan von Frau zu Frau. Es ist lächerlich, ihn als einen Trunkenen auf der Suche nach der allumfassenden Liebe darzustellen. Aber weil er alle gleich stürmisch und jedesmal mit Einsatz seiner ganzen Person liebt, muß er diese Gabe und diese Vertiefung wiederholen. Daher hofft jede ihm. zu geben, was ihm bis dahin keine gegeben hat. Sie alle täuschen sich jedesmal völlig, und es gelingt ihnen nur, ihn die Notwendigkeit dieser Wiederholung empfinden zu lassen. »Endlich«, ruft eine, »habe ich dir die Liebe geschenkt!« Ist es verwunderlich, wenn Don Juan darüber lacht: »Endlich? Nein, nur einmal mehr! «Warum sollte man selten lieben, um stark zu lieben? Ist Don Juan traurig? Das ist nicht wahrscheinlich. Ich brauche an die Fabel kaum zu erinnern. Dieses Lachen, die sieghafte Frechheit, das Sprunghafte und die Freude am Theatralischen - alles das ist hell und fröhlich. Jedes gesunde Wesen ist darauf aus, sich zu vermehren. So auch Don Juan. Darüber hinaus aber haben die Traurigen zwei Gründe für ihre Trauer: sie leben in Unwissenheit, oder sie hoffen. Don Juan weiß und hofft nicht. Er erinnert an jene Artisten, die die Grenzen ihrer Möglichkeiten kennen, sie nie überschreiten und in diesem unsicheren Spielraum, auf den ihr Geist sich einstellt, über alle wunderbare, meisterliche Leichtigkeit verfügen. Und eben das kennzeichnet das Genie: die Klugheit, die ihre Grenzen kennt. Bis zur Grenze des physischen Todes weiß Don Juan nichts von der Traurigkeit. Sobald er weiß, erschallt sein Gelächter und entschuldigt alles. Er war traurig, solange er hoffte. Jetzt findet er auf den Lippen dieser Frau den bitteren und stärkenden Geschmack des einzigartigen Wissens. Bitter? Kaum: es ist diese notwendige Unvollkommenheit, die das Glück spürbar macht! Es wäre eine große Torheit, wollte man in Don Juan einen Menschen sehen, dessen geistige Nahrung aus dem Prediger Salomonis stammte. Denn nichts ist für ihn so eitel wie die Hoffnung auf ein anderes Leben. Er beweist das, da er sie gegen den Himmel selber ausspielt. Das Bedauern darüber, im Genuß die Sehnsucht verloren zu haben dieser Gemeinplatz der Ohnmacht liegt ihm fern. Der gilt wohl für Faust, der stark genug an Gott glaubt, um sich dem Teufel zu verschreiben. Bei Don Juan liegt die Sache einfacher. Der »Burlador« Molinas antwortet auf alle Drohungen der Hölle: »Oh, daß du mir eine lange Frist gewährtest!« Was nach dem Tode kommt, ist belanglos und wie lang ist die Reihe der Tage für den, der zu leben weiß! Faust begehrte die 30 Güter dieser Welt: der Unglückliche brauchte nur die Hand auszustrecken. Es hieße schon, seine Seele verkaufen, wenn man sie nicht zu erfreuen wüßte. Don Juan dagegen lenkt den Überdruß. Wenn er eine Frau verläßt, so tut er das absolut nicht, weil er sie nicht mehr begehrt. Eine schöne Frau ist immer begehrenswert. Aber er begehrt eine andere, und das ist — wahrlich! - nicht dasselbe. Dieses Leben füllt ihn ganz aus, und das Schlimmste wäre, es zu verlieren. Dieser Narr ist ein großer Weiser. Die Menschen aber, die von der Hoffnung leben, richten sich sdilecht ein in dieser Welt, in der die Güte der Freigebigkeit weicht, die Zärtlichkeit dem männlichen Schweigen, die Gemeinschaft dem einsamen Mut. Und dann sagen alle: »Er war ein Schwächling, ein Idealist oder ein Heiliger.« Eine beleidigende Größe muß man wohl herabsetzen. Man entrüste sich, so viel man will (oder mit diesem Komplizen-Lächeln, das den Gegenstand seiner Bewunderung herabsetzt) über die Reden Don Juans und über diese ewig gleiche Phrase, deren er sich bei allen Frauen bedient. Aber für den, der die Quantität der Freuden sucht, zählt allein die Wirkung. Sollte er bewährte Paßworte komplizieren? Niemand, weder Frau noch Mann, hören auf sie; viel stärker vernehmen sie die Stimme, die sie ausspricht. Sie sind die Regel, sind Konvention und Höflichkeit. Man sagt sie, danach bleibt das Wichtigste noch zu tun. Don Juan bereitet sich schon darauf vor. Warum sollte er sich ein moralisches Problem stellen? Er verurteilt sich nicht wie Milocz Mannara, weil er ein Heiliger sein möchte. Die Hölle ist für ihn etwas, das man herausfordert. Für den göttlichen Zorn kennt er nur eine Antwort: die männliche Ehre. »Ich habe Ehre im Leib«, sagt er zum Komtur, »und ich halte mein Wort, weil ich ein Edelmann bin.« Aber ebenso groß wäre der Irrtum, wollte man aus ihm einen Immoralisten machen. Er ist in dieser Hinsicht »wie jedermann«: er hat die Moral von Sympathie und Antipathie. Man versteht Don Juan nur dann richtig, wenn man sich auf das bezieht, was er gemeinhin symbolisiert: den gewöhnlichen Verführer und Weiberhelden. Er ist ein gewöhnlicher Verführer20. Nur daß er bewußt und infolgedessen absurd ist. Ein hellsichtig gewordener Verführer wird sich nicht so sehr ändern. Verführen ist sein Element. Nur in den Romanen ändert man seine Haltung, oder man wird besser. Man kann jedoch behaupten, daß nichts geändert und gleichzeitig alles verwandelt ist. Was Don Juan in Tätigkeit versetzt, ist eine Ethik der Quantität - im Gegensatz zum Heiligen, der zur Qualität neigt. An den tiefen Sinn der Dinge nicht glauben - das ist die Eigentümlichkeit des absurden Menschen. Er überprüft rasch diese warmen oder erstaunten Gesichter, bringt sie in die Scheuer und eilt ohne Aufenthalt weiter. Die Zeit geht mit ihm. Der absurde Mensch trennt sich nicht von der Zeit. Don Juan denkt nicht daran, die Frauen zu »sammeln«. Er verbraucht 31 viele und damit auch seine Lebens-Chancen. Sammeln heißt: von seiner Vergangenheit leben können. Er aber weist das Bedauern zurück, diese andere Form der Hoffnung. Er kann nicht Bildnisse betrachten. Ist er deswegen egoistisch? Auf seine Art zweifellos. Aber darüber müssen wir uns noch verständigen. Die einen sind fürs Leben geschaffen, die anderen fürs Lieben. Don Juan wenigstens würde das gerne behaupten. Aber das hieße einen Seitenweg wählen. Denn die Liebe, von der hier gesprochen wird, ist vor den Illusionen des Ewigen geschützt. Alle Kenner dieser Leidenschaft lehren uns das. Ewige Liebe ist stets widerspruchsvoll. Es gibt auch kaum Leidenschaft ohne Kampf. Eine solche Liebe findet ihr Ende nur im letzten Widerspruch, dem Tod. Man muß Werther sein oder nichts. Auch da gibt es noch mehrere Arten, Selbstmord zu begehen; eine davon ist die völlige Hingabe und Selbstaufgabe. Don Juan weiß wie jeder andere, daß das erregend sein kann. Er weiß aber auch fast als einziger, daß das nicht die Hauptsache ist. Er weiß es sehr gut, daß diejenigen, die eine große Liebe von all ihrem persönlichen Leben ablenkt, möglicherweise reicher werden, daß aber diejenigen, die ihre Liebe auserwählt hat, ebenso gewiß ärmer werden. Eine Mutter, eine leidenschaftliche Frau haben notwendigerweise ein nüchternes Herz, denn es ist von der Welt abgewandt. Ein einziges Gefühl, ein einziges Wesen, ein einziges Gesicht — aber alles wird verschlungen. Eine andere Liebe erschüttert Don Juan, und die macht frei. Sie bringt alle Gesichter der Welt mit sich, und ihr Schauder kommt aus dem Wissen, daß sie vergänglich ist. Don Juan hat gewählt, nichts zu sein. Für ihn handelt sich's darum, klar zu sehen. Liebe nennen wir das, was uns an bestimmte Wesen bindet, nur in bezug auf eine kollektive Sehweise, für die die Bücher und die Märchen verantwortlich sind. Ich verstehe indessen unter Liebe nur die Mischung von Verlangen, Zärtlichkeit und Klugheit, die mich an irgendein Wesen bindet. Diese Zusammensetzung ist nicht bei jedem gleich. Ich habe nicht das Recht, alle diese Erfahrungen mit demselben Namen zu belegen. Das entbindet davon, sie aus denselben Heldenliedern abzuleiten. Der absurde Mensch vervielfacht auch hier, was er nicht vereinfachen kann. So hatte er eine neue Art des Seins entdeckt, die ihn mindestens ebenso befreit, wie sie diejenigen befreit, die sich ihm nähern. Großmütig ist die Liebe nur, wenn sie sich zugleich vergänglich und einzigartig weiß. Alle diese Tode und alle diese Wiedergeburten sind für Don Juan die Ernte seines Lebens. Darin besteht seine Art zu geben und Leben zu spenden. Ich stelle anheim, ob man da von 32 Egoismus reden kann. Ich denke hier an alle, die Don Juan durchaus bestraft wissen wollen, nicht erst in einem anderen Leben, sondern noch in diesem. Ich denke an alle Erzählungen, Legenden und an das Gelächter über den alten Don Juan. Aber Don Juan ist schon darauf gefaßt. Für einen bewußten Menschen sind das Alter und die Dinge, die es ankündigt, keine Überraschungen. Er ist nur genau in dem Maße bewußt, wie er sich das, was daran schrecklich ist, nicht verschleiert. In Athen gab es einen Tempel, der dem Alter geweiht war. Dorthin wurden die Kinder geführt. Bei Don Juan ist es so: je mehr man über ihn lacht, um so deutlicher verrät sich seine Gestalt. Damit wehrt er sich gegen die Gestalt, die die Romantiker ihm gaben. Über diesen gemarterten und bejammernswerten Don Juan will keiner lachen. Man bedauert ihn. Der Himmel selber wird ihn entschädigen? Aber das ist es nicht. In dem Universum, das Don Juan ahnt, ist auch der Lächerliche mitenthalten. Er fände es nur richtig, gezüchtigt zu werden. Die Spielregel verlangt das so. Und das ist ja gerade seine Großmut, daß er die ganze Spielregel angenommen hat. Er weiß aber, daß er recht hat und daß es sich nicht um Züchtigung handeln kann. Ein Schicksal ist keine Strafe. Das ist sein Verbrechen, und wie verständlich ist es, daß die Anhänger der Ewigkeit seine Bestrafung fordern. Er erreicht ein illusionsloses Wissen, das alles leugnet, was sie bekennen. Lieben und Besitzen, Erobern und Ausschöpfen das ist seine Art, zu erkennen. (Dieses Lieblingswort der Heiligen Schrift, die unter »erkennen« den physischen Akt versteht, hat schon einen Sinn.) Er ist der schlimmste Feind jener Frommen, und um so mehr, da er sie nicht kennt. Ein Chronist erzählt, der wahre »Burlador« sei von Franziskanern ermordet worden, weil sie »den Exzessen und der Ruchlosigkeit Don Juans, dem seine vornehme Geburt Straflosigkeit zusicherte, ein Ende machen wollten«. Sie verkündeten dann, der Himmel hätte ihn mit einem Blitz erschlagen. Niemand hat dieses merkwürdige Ende nachgeprüft. Niemand hat das Gegenteil bewiesen. Aber ohne mich zu fragen, ob es wahrscheinlich sei, kann ich behaupten, daß es logisch ist. Ich will mich hier nur an den Begriff »Geburt« halten und mit den Worten spielen: das Leben selber sicherte seine Unschuld. Nur vom Tode her hat er eine jetzt legendäre Schuld bekommen. Was anderes bedeutet jener steinerne Gast, diese kalte Statue, die da in Gang gesetzt wird, um das Blut und den Mut zu rächen, die zu denken wagten? Alle Mächte der ewigen Vernunft, der Ordnung, der allgemeinen Moral, die ganz seltsame Größe eines dem Zorne zugänglichen Gottes vereinigen sich in ihm. Dieser gigantische und 33 seelenlose Stein symbolisiert nur die Mächte, die Don Juan für immer geleugnet hat. Und da hört die Mission des Komturs auf. Blitz und Donner können wieder in den fiktiven Himmel eingehen, aus dem man sie gerufen hat. Die wahre Tragödie spielt sich fern von ihnen ab. Nein, nicht von einer steinernen Hand ist Don Juan gestorben. Ich glaube gern an den legendären Hohn, an das unsinnige Gelächter des gesunden Mannes, der einen nicht existierenden Gott herausfordert. Aber ich glaube vor allem, daß der Komtur an jenem Abend, an dem Don Juan bei Anna wartete, nicht kam, und daß der Gottlose, als die Mitternacht vorüber war, die furchtbare Bitterkeit derer fühlen sollte, die Recht hatten. Noch lieber akzeptiere ich die Erzählung seines Lebens, nach der er sich schließlich in ein Kloster vergräbt. Nicht daß man die erbauliche Seite der Geschichte für wahrscheinlich halten könnte. Was für eine Zuflucht, Gott anzubeten? Dies stellt vielmehr den logischen Abschluß eines vom Absurden ganz und gar durchdrungenen Lebens symbolisch dar, die verwegene Auflösung einer Existenz, die ganz auf Freuden ohne ein Morgen eingestellt war. Der Genuß vollendet sich hier in der Askese. Man muß begreifen, daß das gleichsam die beiden Gesichter ein und derselben Not sein können. Was für ein schrecklicheres Bild könnte man sich wünschen: ein Mensch, den sein Körper verrät und der es versäumte, rechtzeitig zu sterben, vollendet die Komödie, indem er Aug’ in Auge mit dem Gott, an den er nicht glaubt, das Ende erwartet, ihm dient, wie er dem Leben gedient hat, kniend vor der Lehre und die Arme zu einem stummen Himmel ausgestreckt, der für ihn auch keine Tiefe hat. Ich sehe Don Juan in einer Zelle jener spanischen Klöster, die einsam auf einer Höhe liegen. Und wenn er etwas anschaut, so sind es nicht die Phantome verflüditigter Liebschaften, sondern vielleicht, durch einen glühenden Spalt, irgendeine schweigende Ebene Spaniens, die großartige und seelenlose Erde, in der er sich wiedererkennt. Ja, bei diesem melancholischen und strahlenden Bilde müssen wir verweilen. Was zuletzt kommt, das Ende, erwartet, aber nie gewünscht, das endgültig Letzte ist verächtlich. 34 3. Der gezähmte Don Juan 35 Einleitung Don Juan, der Freidenker, der Hedonist, der Mörder und Vergewaltiger. Don Juan, der sich nimmt was er will, ohne zu fragen oder über die Konsequenzen nachzudenken. Don Juan, der seinen Degen an der Kehle der moralischen Gesellschaft hat. Don Juan, der Mythos von einer unbezähmbaren Männlichkeit, die immer nach neuen und neuen Eroberungen strebt. Unbezähmbar? Betrachtet man die weitläufige Rezeptionsgeschichte, können daran durchaus Zweifel aufkommen. Gibt es eine Zähmung? Welche Dimensionen hat diese Zähmung? Verliert Don Juan etwas, wenn er gezähmt wird? Seine verführerische Kraft? Seine kritische Macht? Ist ein gezähmter Don Juan noch ein Don Juan? An diesen Gesichtspunkten orientiert sich das folgende Kapitel der Materialsammlung, die jedoch keinesfalls zufriedenstellende Antworten auf all jene Fragen geben kann. Dazu kommt natürlich, dass der Begriff der Zähmung bereits voraussetzt, dass vorher so etwas wie eine Wildheit vorlag, eine Vitalität, die in bestimmten Auffassungen von Don Juan verloren ist. Auch heute gibt es in den verbliebenen Adelshäusern der Welt noch Don Juans. Wenn man dem Berliner Kurier Glauben schenken möchte, werden diese sogar gezähmt. Von einer Frau, man höre und staune. Der Titel des Zeitungsartikels passt nahtlos zum Thema und bietet einen interessanten aktuellen Bezug dazu, was Journalisten heutzutage mit Don Juan und seiner Zähmung in Verbindung bringen. »Er wird sich selbst zur Last«, schreibt Beatrix Müller-Kampel, »und stirbt an der Zähmung seiner selbst«. Damit spricht sie einerseits den Trend an, die Figur zu psychologisieren und verstärkt reflektieren zu lassen. Dahin sind Lebens- und Genussdrang, an ihre Stelle treten Skrupel und »Selbstekel«. Andererseits trifft man Don Juan nicht mehr als wilden Schürzenjäger sondern als grübelnden Intellektuellen (Frisch) oder zivilisierten Jüngling, der seine Triebe kontrolliert, bezähmt, unterdrückt. Ein solcher Don Juan benötigt keinen steinernen Gast mehr, der ihn in die Hölle verdammt. Das erledigt er nun selber. In Gustave Flauberts Textfragment haben wir es wieder mit einem anderen Don Juan zu tun. Sehnsucht bestimmt diesen, die vielen Frauen, die er eroberte, sind keinesfalls vergessen, stets sieht er ihr Gesicht vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Er sucht etwas, so geht es aus dem Gespräch mit seinem Diener hervor. Vielleicht sucht er die Wahrheit, ein Ideal oder Erlösung. Was auch immer er sucht, er scheint kaum der sorglose Schürzenjäger, der in den Tag lebt und von Bett zu Bett vagabundiert, zwischendurch auf der Flucht vor gehörnten Ehemännern. 36 Als Idealsucher wird Don Juan von E.T.A. Hoffmann verstanden. Dabei geht es weniger um Vitalität und augenblicksbezogene Genussfreudigkeit, wie Hiltrud Gnüg es umschreibt, als um das erlangen eines überirdischen Ideals, durch den reichen Genuss von Frauen zu erreichen sucht. Durch die Idealisierung der Figur wird ihr auch etwas der Vitalität genommen. Dieser Don Juan ist nicht wertverneinend aus Sinneslust, er verführt aus »Verachtung der gemeinen Ansichten des Lebens.« Den Gipfel der Zähmung erreicht Jose Zorrilla y Moral mit seinem Don Juan Tenorio. In diesem fährt Don Juan nicht etwa verdienterweise in die Hölle, sondern wird errettet und im Sinne christlicher Vergebung ins Himmelreich aufgenommen. Dieser Don Juan bereut am Ende seine Schandtaten und beugt sich der steinernen Statue. Ein Don Juan, der das Freidenken im Angesicht der Strafe aufgibt und sich auf die Moral und Werte der Gesellschaft zurückbesinnt. Kann dieser Don Juan noch als kritisch gesehen werden, kann er ernstgenommen werden? Oder ist er zahm wie ein Schaf? JW 37 Don Juan wird sich selber zur Last... Dem Signifikanten wohlbekannten Ursprungs und eines (zumindest bis in die 1810er und 1820er Jahre) ziemlich fest umrissenen Bedeutungsprofils kommen sowohl in „Hoch-" als auch „Trivialliterarur" nach und nach immer zahlreichere und widersprüchlichere literarische Signifikate zu. Bereits dem 19. Jahrhundert scheint ein selbstzufriedener Frauenschänder und Seelentöter fremd geworden zu sein, beinah ridikül auch eine redende Statue, die den Wüstling mit Feuer- und Teufelsbrimborium zur Hölle schickt. Als sinnlich-genialischen Dämon sah ihn demzufolge bereits E. T. A. Hoffmann, der den Wüst- und Lüstling Don Giovanni zum innerlich gespaltenen bürgerlichen Helden wie auch die rachedürstende Entehrte, Donna Anna, zum göttlichen und göttlich liebenden Weib veredelte. „Auf alles war ich gefasst", lamentiert Don Juan in Max Frischs Don Juan oder die Liebe zur Geometrie, „aber nicht auf Langeweile. Ihre verzückten Münder, ihre Augen dazu, ihre wässerigen Augen, von Wollust schmal, ich kann sie nicht mehr sehen!"35 Derlei Sensationen hatten bereits ein Jahrhundert zuvor den Don Juan von Lenau beschlichen. Ödnis und Trauer treiben ihn fortan im Tränental getäuschter Lust voran; müde und voller Ekel, ein „Fremdgeborener" und „Qualbestimmter",36 irrt Don Juan seit Mitte des 19. Jahrhunderts seinem ersehnten Ende entgegen . (Georg Trakl, Rainer Maria Rilke, Gottfried Beim). Sein „Talent" kommt ihm selber „oft genug lästig und ungesund"37 vor. Wenn auch träge geworden, von Skrupeln geplagt und gezeichnet vom Kainsmal des Intellekts, haftet ihm nach wie vor ein Duft aus Mythos und Männlichkeit an -der die Frauen betört und den einstigen Jäger zur Beute werden lässt (Ödön von Horväth, Max Frisch), der Feuilletonisten zu Phänomenologisierungen hinreißt (Peter Altenberg, Franz Blei), und die Psychoanalytiker zum Befund, dass man es bei Don Juan mit einem verkappten Homosexuellen oder einem' Sadisten oder vielleicht doch mit einem polymorph-. perversen Typus zu tun habe.3 ...und stirbt an der Zähmung seiner selbst. Nun zum übergreifenden Vorhaben, alle im Verlauf der deutschsprachigen Stoffgeschichte mit dem Namen Don Juan, Don Giovanni, Don Miguel de Manara belegten Figuren als zivilisationshistorische Entwicklungsstadien einer einzigen Gestalt zu begreifen. Diese gleichsam synthesisierte Figur wird wiederum nur fassbar in Gegenüberstellung mit den anderen Akteuren: der Gruppe der Frauen und dem Steinernen Gast. 38 Am Beginn der deutschsprachigen Themengeschichte steht mit den HanswurstDonjuaniaden der Wanderbühne .ein „Sünder hartgesottenster Sorte" : ein Herausforderer Gottes, ein Räuber, Vergewaltiger, Totschläger, Vater- und Brudermörder, ein Erzbösewicht, der seine Missetaten skrupellos, ohne an Zukunft, Himmel und Hölle zu denken, ausführt, unbändige Freude daran findet, und so grässlich zu Tode kommt, wie er lustvoll gelebt hat. Seit den 1950er Jahren tritt uns unter dem Namen Don Juan entweder ein grübelnder Intellektueller (wie in Max Frischs Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie), ein erbarmungswürdiger Hanswurst seiner Hormone (wie jn Julian Schuttings „Theater-Libretto" Gralslicht) oder ein kultivierter .Frauenliebling entgegen, dessen Hang zum schönen Geschlecht sich schon längst nicht mehr in körperlicher Gewalt Bahn bricht, sondern der alle seine erotischen und aggressiven Regungen beobachtet, analysiert, sie zu zähmen, zu verbergen, abzudrängen sucht. Don Juan ist friedlicher geworden, Verhalten und Charakter haben sich verfeinert, er beginnt, auf die Wünschender begehrten Frauen und der Nebenbuhler Rücksicht zu nehmen, und befindet sich ständig in irgendwelchen Gewissensnöten. In die Begrifflichkeit der Kulturtheorie von Norbert Elias übersetzt, hieße dies, dass an Don Juan offenbar zivilisatorische Prozesse wirksam geworden sein müssen, Prozesse, die auf die Zähmung und Dämpfung von Trieben, auf Rationalisierung und Psychologisierung von Affekten abzielen. Der im ursprünglichen Don-Juan-Stoff fix veranschlagte Konflikt zwischen Burlador und Komtur erwächst vornehmlich aus der Überkreuzung von zwei patriarchalen Machtsphären, in deren Brennpunkt die „Ehre" der unverheirateten Frau steht, über die Vater und Mutter zu wachen haben, Eben dieses System droht im Don Juan der Tradition auseinander zu brechen: Keine mütterliche Figur hält Wache über die gefährdete mannbare Tochter, und dem Vater misslingt der Versuch,' Don Juans Verstoß gegen die geforderte Sexualnorm zu bestrafen, Die Gestalt des Steinernen Gastes, der am Ende doch noch die aus den Fugen geratene normative Ordnung ins Lot rückt, belegt den sozialen Anspruch der Geschädigten, dass sich in diesem System der Verhaltensregulierung ein göttlicher Plan abbilden solle / müsse, zugleich aber auch, dass der Verbotekanon in all seiner Strenge nur unter schicht- und machtgleichen Gruppen wirkt - ein gehörnter Bauer, Lakai, Proletarier ist als rächende Reiterstatue weder sozial noch normpoetologisch .vorstellbar und taucht , während der gesamten Themengeschichte allenfalls dann auf, wenn sich damit ein komischer Effekt erzielen lässt. Don Juan und seine Antagonisten verändern sich bis in die 1810er Jahre kaum 39 merklich, danach jedoch immer schneller und tiefgreifender. Don Juans Begehren bleibt insgesamt besehen immer seltener auf die unmittelbare Befriedigung elementarer Bedürfnisse beschränkt, es weitet sich vielmehr nach und nach zur Sehnsucht aus - Sehnsucht nach der vollkommenen Frau, nach endgültiger Erlösung aus dem Jammertal von Existenz und Sexus, nach Zufriedenheit, Liebestreue, Kindesliebe, Freundschaft,' Freiheit, Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Don Juans Verhalten hat sich in dem Maße rationalisiert, wie sich sein psychischer Habitus differenziert und dynamisiert hat. Die Folgen des von Elias beschriebenen Zivilisationsprozesses für das Individuum bestehen u. a. in einer dreifachen psychischen Distanzierung von der Natur, vom Mitmenschen und vom eigenen Selbst, wobei letztere sich wiederum darin äußert, dass das Ich sich selbst gegenübertritt - prüfend und urteilend, abwägend und planend. Don Juan pflegt nunmehr sich selbst zu kommentieren und seine Handlungen vor sich selbst, seinen Mitfiguren und dem Publikum zu rechtfertigen (Nikolaus Lenau, Carl Sternheim, Ödön von Horväth, Max Frisch) - diese in der deutschen Stoffgeschichte erst seit den 1840er Jahren zu beobachtende Tendenz der Figurenkonzipierung setzte in Frankreich weitaus früher - mit Molieres Stück Dom Juan ou Le Festin de Pierre - ein, in dem ein rationalistischer, atheistischer, rhetorisch überaus begabter Verführer bei der Durchführung ausschließlich intellektuell-verbaler Missetaten gezeigt wird. Die gleichsam „verspätete" Zivilisierung Don Juans im deutschsprachigen Raum mag sich aus der Zeit erklären, in welcher der Stoff in den deutschsprachigen Raum gelangt war, sowie aus Organisationsform und Status jener Institutionen, welche für seine Verbreitung verantwortlich zeichnen: Wandertheater und Oper. Dem nunmehr mit Seele Gewissen Intellekt und allerlei spirituellen Sehnsüchten begabten deutschen "Don Juan des 19. Jahrhunderts gesellen sich Gefährtinnen und Gespielinnen bei, welche nur noch entfernt an die Frauenfiguren bei Tirso, Da Ponte und den anonymen Donjuaniaden der Wandertruppen erinnern. Sittsamkeit, Selbstaufopferung, normgemäße Gefühlswelt; Diese Eigenschaften zeichneten einstmals die hintergangenen und verführten Geschöpfe aus. Doch auch , hier verschieben sich nach- und nach die charakterlichen Schattierungen. Verhalten und Empfinden kreisen nicht mehr ausschließlich um die eigene Ehre bzw. die Ehrbarkeit der Beziehungen zu Don Juan. Stattdessen fordern die Frauenfiguren mehr und mehr die - mitunter, naturrechtlich begründete - Freiheit ein, sich selbst für einen Liebespartner entscheiden zu können, d. h. gegebenenfalls auch gegen Konvention und Familie. Der Schutz ihrer Ehre ist nicht mehr ausschließlich in die Hand männlicher Familienmitglieder gegeben, sondern fällt zusehends- in ihre eigene Verantwortlichkeit. Dies drückt sich etwa darin aus, dass der Liebeskonflikt nunmehr meist direkt 40 zwischen männlichem Täter(-Opfer) und weiblichem Opfer(-Täter) ausgetragen wird, dass die Betrogenen zuweilen auch wohl Selbstjustiz üben und. die vormaligen Vormündfiguren ,'an Macht und dramatischem Gewicht verlieren (Stefan Zweig, ;Ödön. von: Horväth, Hermann Broch). Dass in dem Maße, wie der Freiheitsraum der Mächtigen (hier Don Juan) eingeschränkt wird,, sich auch jener der Machtlosen (hier der von Don Juan begehrten Frauen) ausweitet- beschreibt Elias als eines der bedeutsamsten Phänomene zivilisatorischer Prozesse. Fremdzwang und Außenkontrolle sind zu Selbstzwang und Selbstkontrolle geworden. Diesem Vorgang entsprechen textintern die veränderten Funktionen oder überhaupt das Verschwinden des Steinernen Gastes, dieser ins Himmlisch-Ewige verlängerten Instanz patriarchaler Macht. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat Don Juan vollends jede Freude an der selbstgenügsamen Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse verloren. Don Juan kämpft immer seltener mit äußeren Feinden wie gehörnten Ehemännern oder beleidigten Vätern und immer stärker gegen die eigene donjuaneske „Natur" an. Er liegt in Fehde mit sich selbst. Don Juan, die feudale sexuelle Großmacht von einst,41 liegt in den Ketten bürgerlicher Moralvorstellungen, ohne jedoch seine Faszination eingebüßt zu haben (für die Autoren ebenso wie für die vorgeführten Frauen). Was besagt nun diese Analogie von literarischer Figurengeschichte und Zivilisationsgeschichte? Zum einen, dass sich die zivilisationstheoretischen Relevanzbereiche Menschheitsgeschichte, Geschichte einer einzelnen Gesellschaft und Sozialisation des Individuums um die Geschichte der Literatur bzw. ihrer Inhalte erweitern ließen. In ähnlicher Weise wie die von Elias herangezogenen literarischen Beispiele ein bestimmtes zivilisationsgeschichtliches Stadium dokumentieren sollen (synchrone Perspektive), fasst die kurze Geschichte des auf deutschsprachiges Gebiet verpflanzten spanischen Hidalgo Don Juan gleichsam in Zeitraffertempo zusammen, wozu aus der Sicht von Elias die europäischen Gesellschaften fast ein Jahrtausend brauchten (diachrone Perspektive). Dass die Wirkung zivilisatorischer Prozesse gerade an der Geschichte einer literarischen Figur so außergewöhnlich sinnfällig wird, ergibt sich wohl aus dem spezifisch stoffhistorischen Gegenstandsbereich als einer Schnittstelle zwischen übergreifender Sozial- und individueller Psychohistorie im Medium der Fiktion, d.h. zwischen dem Textcorpus in seiner kommunikationsgeschichtlichen Dimension und der imaginären Biografie der jeweils dargestellten Don-Juan-Figur. Von den zivilisationsgeschichtlichen Standards des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus betrachtet, zeichnet die literarische Entwicklung Don Juans historisch bereits Vollzogenes nach. Insofern kann Don Juans fiktive 41 Sozialisation als verdichtete und aufweite Strecken hin verspätete Zivilisationsgeschichte gelesen werden. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob die Metamorphosen auch anderer literarischer Figuren oder Typen, etwa von Faust, Ahasver, Herakles, Odysseus, Ödipus, Orest, Prometheus u. a. denselben, einen ähnlichen oder davon abweichenden Verlauf nehmen, ja letztlich auch, welche literarischen Geschehens- und Geschichtskonstellationen überhaupt makrosoziologische Prozesse verdichtend rekapitulieren. Damit drängte sich auch die Frage nach der tendenziellen sozial- und ideologiegeschichtlichen Rückwärtsgewandtheit bzw. Rückständigkeit bestimmter literarischer Genres auf. Ihrer Beantwortung könnte eine umfassende Auswertung und methodische Aktualisierung einer einst beliebten und seit den 1960er Jahren viel geschmähten literaturwissenschaftlichen Disziplin, nämlich der Stoffgeschichtsschreibung, dienlich sein. Ohne sie hätte auch das ideenhistorisch folgenreichste Fazit aus der deutschsprachigen Literaturgeschichte des Burlador aus Sevilla nicht gezogen werden können - dass nämlich Don Juan sein eigener Steinerner Gast geworden ist. In den Worten von Peter Altenberg: „Don Juan fährt stets zur Hölle! Zur eigenen nämlich!" 42 Der errettete Don Juan José Zorillas »Don Juan Tenorio. Romantisches Schauspiel in fünf Akten« Jose Zorillas Drama vom Verführer Don Juan fand zwar bei seiner Uraufführung 1844 nicht die große Resonanz, die der Autor sich erhoffte, wurde jedoch bald noch zu seinen Lebzeiten ein 'Theaterhit', der zwar nicht dem Autor, wohl aber dem Verleger, dem er für eine lächerliche Summe alle Rechte abgetreten hatte, viel Geld einbrachte. Der Grund für diesen plötzlichen Erfolg: der Schauspieler Latorre hatte das Stück ein Jahr nach seiner Uraufführung als Allerseelen-Stück herausgebracht, es löste Zamorras »Steinernen Gast« ab und gehörte von Stund an zum Repertoire der Allerseelenfeiern'. Zorilla hat gegen das Stück später immer wieder heftig polemisiert, versuchte sich an einer Parodie, da er den geschäftstüchtigen Verleger im Nachhinein schädigen wollte – vergeblich; das Stück brachte volle Kassen und begründete bis in die Gegenwart das Renommee des Autors. »Don Juan Tenorio «als Allerseelen-Stück; das verweist schon auf die christliche Lösung, die nicht auf ein stolzes Nein zur Umkehr und auf Höllenfahrt, sondern auf Reue und göttliche Gnade abzielt. Natürlich muß die Peripetie groß sein, Don Juan sich zunächst als arger Wüstling und Sünder zeigen, damit die Seelenrettung in letzter Sekunde umso beeindruckender ist. Anders als Grabbe, der Don Juan mit seinem Antipoden Faust konfrontiert, erfindet Zorilla für seinen Protagonisten einen Konkurrenten der Libertinage, Don Luis Mejia. Beide haben eine Wette abgeschlossen, bei der derjenige Sieger sein soll, der mehr Frauen betrogen und mehr Männer getötet hat. Nach einem Jahr treffen sie sich zum verabredeten Zeitpunkt in einem Gasthof, geben vor einem verborgenen äußerst interessierten Publikum das Resümee ihrer Taten; und da –wie Don Juan kommentiert - »die beiden Geschichten« »so ähnlich« sind, kann nur durch exakte Überprüfung ihrer Listen der Sieger ermittelt werden. Es steht in puncto verführter Frauen 62 zu 56, in puncto getöteter Männer 32 zu 23 für Don Juan. Die ganze Wette dient Zorilla wohl dazu, die Verruchtheit seines Protagonisten zu verkünden, ohne ihn als siegreichen Verführer auf der Bühne vorführen zu müssen Während Tirso de Molina seinen Burlador noch in erotischer Aktion auf der Bühne zeigte, läßt der romantische Autor seinen Don Juan nur von seinen sexuellen Abenteuern berichten. Daß er ihn zum pedantischen Buchhalter seiner Affären macht, widerspricht letztlich der Konzeption der Figur, dem rastlosen Verführer, den es immer schon zur nächsten Eroberung zieht. Wenn Mozarts Leporello der fassungslosen Elvira genüsslich das umfangreiche Register mit den nach Ländern aufgelisteten Fraueneroberungen vorträgt, hat das seinen Sinn, spiegelt 43 sich darin doch die Faszination des Dieners ob der erotischen Vita seines Herrn. Ein Don Juan jedoch, der selbst sein Register führt, wirkt unglaubwürdig; sein archivarisches Bewußtsein widerstrebt seiner Zukunftsgerichtetheit. Zorillas christlich didaktische Zielsetzung führt auch noch zu weiteren Widersprüchen. So verkündet Don Juan in der Eingangsszene: Nichts gab es, vor dem ich mich scheute, heilig war mir nichts auf Erden, alles wollte ich niederziehn, und was gut und rein erschien, mußte meine Beute werden... und es wurde meine Beute! (S. 60 f.) So kann ein Don Juan nach seiner Bekehrung im letzten Akt sprechen, nicht aber der reuelose gegenwartsbezogene Genussmensch, dem Gott und Jenseits Schimären, Begriffe wie »heilig« oder »rein« ohne Bedeutung sind. Doch schon zu Beginn will der Autor den Zuschauern das frevelhafte Dasein seines Protagonisten verdeutlichen, will er durch die christlich wertende Moralterminologie jede mögliche verführerische Wirkung vermeiden. Obwohl Don Juans Register eine Fülle verschiedenster Frauengestalten verzeichnet, fehlt zur Vollständigkeit der Palette der verführten Frauen noch die Novizin und die Braut des Freundes. In einer zweiten Wette mit Don Luis Mejia verspricht Don Juan, innerhalb von sechs Tagen diese Lücken zu schließen 'Don Luis' Braut Dona Anna und Inez, die Tochter des Komtur Don Gonzales, sind das Ziel seiner Attacken. Hatten der Vater Don Juans und Don Gonzales auch zunächst die Heirat ihrer beiden Kinder beschlossen, geben sie diesen Plan – nachdem sie Zeugen der Wettergebnisse wurden – entsetzt auf. In Inez, die Don Gonzales zum Klosterleben bestimmt, findet sich also die Novizin, die im Register noch fehlt. Don Luis schlägt in die Wette mit den Worten ein »Es gilt! Doch bezahlt muß dies mit dem Leben und der Seele sein«, und Don Juan antwortet: »Das Leben ist der Preis! Ich bin bereit!«. In der Auslassung »Und der Seele« bekundet sich sein Atheismus, der eine unsterbliche Seele, Jenseits und Jüngstes Gericht negiert. Es folgt eine Szenenreihe dynamischer Aktion. Don Luis trifft Vorsorge, Dona Annas Unschuld und seine Ehre vor Don Juan zu schützen; Don Juan dagegen wendet alle Listen an, dem entgegenzuwirken. Schließlich gelingt es ihm, den Freund in sicheren Gewahrsam zu nehmen, sich den Schlüssel zu Dona Annas Zimmer zu erkaufen und ... Der Phantasie des Zuschauers bleibt es überlassen, sich den Ausgang der Geschichte vorzustellen. Auf der Bühne findet keine Begegnung zwischen Don Juan und Dona Anna 44 statt! Gleichzeitig hat Don Juan auch schon seine Fäden geknüpft, um Dona Inez aus dem Kloster zu entführen. Ein emphatischer Liebesbrief, der Inez' unschuldige Seele in ihr unbekannte Verwirrung versetzt, und der Dienerin Preislied auf Don Juan und die Liebe bereiten Don Juans wirkungsvollen Auftritt im Kloster vor. Der Schock der Überraschung und die durch Brief und Rede überreizte Phantasie lassen Inez in eine tiefe Ohnmacht versinken, so daß ihre Entführung aus dem Kloster in sein Schloß Don Juan wenig Schwierigkeiten bereitet. Hier ereignet sich die erste dramatische Peripetie: Don Juan ist von Inez' Reinheit so bezaubert, daß er seine Wette vergisst; Inez erscheint ihm als der vom Himmel gesandte Engel: Nicht von Satan bist du entzündet und nicht die Hölle wirkt in mir, Gott selber ist es, der in Dir, um mich zu retten, das Werkzeug findet. Was ich heute für dich empfinde, das sind nicht die irdischen Flammen, die aus Fleisch und Blut nur stammen, das ist nicht das Feuer der Sünde. Du hast Don Juan heut überwunden, ihn, der wie ein Teufel verrucht. Was er mit wütender Sehnsucht gesucht, das hat er endlich in Dir gefunden. Vor Deinen Vater will ich treten, um Dich will ich bitten den Komtur, lassen will ich, Geliebte, Dich nur, wenn Deines Vaters Hände mich töten. Nichts deutet jedoch in den vorangehenden Szenen auf eine latente Sehnsucht nach der idealen Geliebten, der 'reinen' Frau hin! Anders als etwa Lenaus Protagonist, der im Liebesrausch eine Art pantheistischer Glückserfüllung sucht und schließlich nur die Monotonie der Wiederholung erfährt, durchläuft Zorillas Don Juan letztlich keine Gefühlsentwicklung, und Don Juans plötzliche Entdeckung der reinen, wahren Liebe zu Inez geht keineswegs das Bewußtsein der Wiederholung des Immergleichen in der schnell genossenen sexuellen Lust voraus. Sie verdankt sich allein dem Willen des Autors, seinen sündigen Helden am Schluss durch die reine Liebe einer Frau vor der Verdammnis zu erretten. Zorillas Dramaturgie, die durch die Jahresbilanz in der Wett-Szene die szenische Darstellung der erotischen Aventüren ersetzt, ist von ihrer Struktur her nicht darauf angelegt, diesen Bewusstseins- und Empfindungsprozess vorzuführen. Die Bilanz aus der ersten Wette bietet einen statischen Rechenschaftsbericht – ohne Reflexion auf einen möglichen Bewusstseinsprozess. Die zweite Wette wiederum führt zu einer raschen Folge wechselnder Schauplätze und Aktionen, die Don Juan gar keine Zeit für Reflexionsmonologe lassen, in denen er den Überdruss an seiner bisherigen Existenz äußern könnte. 45 In einem tieferen Sinne ist jeder Don Juan, dessen Begierde sich am Substrat des Weiblichen selbst entzündet, der immer wieder die Frau und nicht das weibliche Individuum sucht, frauenfeindlich, und zwar in dem Sinne, dass er in jeder indididuellen Frau ihre Individualität gerade ignoriert und er so eine jede Frau letztlich brüskieren wird, wenn sie sich wie Elvira als eine unter vielen im Catalogo-Register wiederfindet. Mozarts Don Giovanni jedoch preist in seiner berühmten Champagnerarie, die konzentrierter Ausdruck seines sinnlichen Lebensgefühls ist, die Frauen und die Liebe als sein Lebenselixier. Sein Credo, erotische Lust als Lebenselement, das in dieser Arie einen vollendeten ästhetischen Ausdruck gewinnt, prägte schon das szenische Ambiente bei Tirso de Molina und Molière. Die schnelle Entflammbarkeit für die Reize einer Frau zeugte auch von der donjuanesken Abhängigkeit von der weiblichen Gattung, von einer erotischen Faszination, die ihn für die ernsthaften Tätigkeiten männlicher Existenz untauglich macht. An diesem Punkt werden die Psychoanalytiker ihre Kritik ansetzen! Zorillas Don Juan dagegen eignet offensichtlich wenig von dieser erotischen sexuellen Reizbarkeit, er erscheint eher als ein Haudegen, der weniger aus sinnlicher Lust denn aus Renommiergründen die Frauen verführt. Sprechend sein Bericht: Als uns Rom als Beute offen lag, da hab ich dort mein Quartier bezogen, mit Männern gerauft und Weiber betrogen und immer arger mit jedem Tag. Da hab ich geschwankt nicht oder gezagt. An meiner immer offenen Pforte standen herausfordernd diese Worte: Juan Tenorio wartet, heran, wer sich wagt! Alles, was eine Szene an sexueller erotischer Ausstrahlung vermitteln könnte, reduziert sich hier auf das dürr abstrakte Diktum »Weiber betrogen«. Der Akzent hegt – im Sinne der religiös didaktischen Intention – auf dem Negativpol, dem Betrug! Ganz im Sinne des christlichen Ideenhorizonts romantischer Prägung vollzieht sich der weitere Ablauf des Geschehens. Die Unschuld hat Don Juan besiegt: Der die Gluten bisher nur entfacht, doch, ein Salamander, stets kalt nur geblieben, 46 der die Liebe verhöhnt und verlacht, Don Juan - lernt nun von Dir zu lieben I Der so plötzlich gewandelte Don Juan, der durch Inez die wahre Liebe erfahren hat, nicht mehr nur die »irdischen Flammen« empfindet, »die aus Fleisch und Blut nur stammen«, entfaltet eine Rhetorik der Liebe, die Inez' Herz ganz gefangennimmt, sie für immer an ihn bindet. »Du schenkst mir den Himmel, Don Juan«, antwortet sie seinem Heiratsgelübde. Die ideale Geliebte muss – im Sinne des romantischen Weiblichkeitsideals – auch die ferne, unberührte Geliebte bleiben. Dona Inez gesteht zwar Don Juan, daß sein Anblick und seine Worte schöner und verführerischer als Satan selbst seien, dass ihm keine Tugend widerstehen könne - »die bebenden Glieder flirren«-, doch trotz dieser sehr irdisch sinnlich-erotischen Erregung, die aus ihren Worten spricht, folgt laut Regieanweisung keine Umarmung, kein glühender Kuss. Dazu passt auch, dass der zuvor so skrupellose Don Juan die schlafende Unschuld in der Nacht nur andächtig betrachtet hat. Don Juan will also Don Gonzales – und das ist keine Strategie der Verführung – um die Hand seiner Tochter bitten. Doch zunächst tritt ein in seiner Ehre tief gekränkter Don Luis auf, der ihn zum Duell fordert, da nur Blut seine Schmach tilgen kann. Offenkundig hat Don Juan auch die zweite Wette gewonnen. Aus diesem Dialog mit Don Luis erfährt der Zuschauer, dass es ihm geglückt ist, in der Maske des Freundes bei Dona Anna zu reüssieren. Anders als bei Tirso de Molina etwa bleibt die Verführungsszene völlig ausgespart. Und während der Ausgang desGeschehens bei Mozart eine gewisse Ambivalenz bewahrt, ist hier die gelungene Verführung – wenn auch im Quidproquo – ein Fait accompli. Noch bevor Don Juan dem Racheanspruch Don Luis' genügen kann, erscheint der erboste Komtur, der nun seinerseits die Ehre seiner Tochter und seines Narnens rächen will. Eine turbulente Szene mit mehreren theatralischen Peripetien! Weder der Komtur noch Don Luis schenken der plötzlichen Läuterung Don Juans Glauben, sie sehen darin eine heuchlerische Finte, eine feige List, sich ihren legitimen Racheansprüchen zu entziehen. Don Juan auf den Knien vor dem Komtur, ihn demütig um die Hand der Tochter anflehend, Gehorsam und Läuterung versprechend – das kann ihnen nur als eine Variante seiner Skrupellosigkeit, als seiner »Erniedrigung feiges Spiel« erscheinen. Molieres Konzept wirkt hier noch nach. 47 Der Zweifel an seinem Mut verletzt seinerseits Don Juan so tief in seinem Ehrgefühl, dass er alle Gefühle der Demut, Liebe, Läuterung vergisst, mit dem Ruf »So siege denn zum Schluß die Hölle« Don Gonzales erschießt und darauf Don Luis im Duell ersticht. Obwohl er als Atheist eingeführt wird, ist er in seiner Sprache ganz dem christlichen Himmel-HölleAntagonismus verpflichtet. Das rationalistisch atheistische X Credo des Moliereschen Don Juan - »Ich glaube, daß zwei mal zwei vier sind« - steht außerhalb des gedanklichen Horizonts dieses Don Juans . Er rettet sich – ganz im Sinne der Stofftradition – vor seinen Verfolgern und überlässt die Geliebte Inez ihrem Schicksal. Das muss befremden. Zwar ließ auch Tirsos Burlador eine aufgelöste Dona Anna neben ihrem getöteten Vater zurück, doch diese war nur eine von vielen, sollte ihm nicht die Seligkeit der Liebe und des Himmels erschließen. Nicht im Sinne der Psychologie seiner Figur, sondern nur im Blick auf die christliche Botschaft des Autors ist diese Wendung zu verstehen. Nimmt man Don Juans Liebe zu Inez ernst, würde nichts einer gemeinsamen Flucht im Wege stehen, selbst wenn man von der spanischen Moral des 17. Jahrhunderts ausgeht. Die Flucht mit dem Geliebten vor erzwungener Heirat mit einem Kandidaten von Vaters Wahl z.B., ist ein beliebtes Motiv der spanischen Comedia des 17. Jahrhunderts und spielt selbst bei Tirsos Stück eine Rolle. Immerhin bittet Dona Anna de la Mota, sie vor der missliebigen Heirat durch Entführung zu retten! Doch Zorillas Dona Inez muß sterben, um als reine Seele die himmlische Gnade für Don Juan zu Ein wichtiges Detail in der ersten Begegnung Komtur – Don Juan: dieser schießt auf den steinernen Gast, der sein Memento mori verkündet und zur Umkehr und Reue mahnt. Juan dokumentiert damit seine Ungläubigkeit. Bei ihrer zweiten Begegnung im Mausoleum – Don Juan hält traditionsgemäß sein Versprechen – ist Don Juan schon tot, im Duell mit seinem Zechkumpanen gefallen, die Totenglocken läuten, sein Leichenzug zieht vorbei, und der Komtur erklärt dem verzweifelten Don Juan, der seine ganze Existenz als Anhäufung von Last und Frevel beklagt: Ungenützt ließest Du die Frist, Sandkorn um Sandkorn im Glase verrann, Gib mir Deine Hand nun, Don Juan, weil es Zeit jetzt zum Abschied ist. Zorilla greift das Motiv des »verräterischen Handschlags« auf, der Abschiedshandschlag soll ihn seiner gerechten Höllenstrafe zuführen. Aber Don Juan hofft »trotz dem Übermaß seiner Sünden« durch Reue »doch noch Gnade zu finden«. 48 Regieanweisung; Don Juan kniet nieder und streckt .die Hand, die ihm die Statue freigelassen hat, zum Himmel. Die Gespenster wollen sich über ihn stürzen, aber nun öffnet sich das Grabmal von Dona Inez und sie fasst die Hand, die Don Juan zum Himmel streckt. Während die Statue ihr lakonisches »es ist zu spät« ausspricht, verkündet Dona Inez die rettende, kettensprengende Kraft der reinen Liebe. Ihr Seelenheil hat sie für ihn eingesetzt, um ihn dem Himmel zu retten. Dieser Schluss entspricht der christlichen Gnadenlehre, daß die vollkommene Reue des schlimmsten Sünders auch im letzten Augenblick noch die göttliche Gnade erwirkt. Gleichzeitig spielt das romantische Erlösungsmotiv eine Rolle, nach dem die Hebende reine Frau den schuldig gewordenen Geliebten vor der ewigen Verdammnis rettet. E.T.A. Hoffmanns Aurelia aus den »Elixieren des Teufels« ist nur ein repräsentatives Beispiel. Jose Zorillas Stück bleibt insofern problematisch, als es die Figur des sinnlich-erotischen Verführers thematisiert, jedoch aus Angst vor seiner verführerischen Wirkung alle Verführungsszenen ausklammert. Der Autor lässt seinen ungläubigen Libertin von Beginn an eine Sprache sprechen, die von christlich-moralischen Wertungstermini nur so strotzt, so dass dessen Position eines atheistischen Genussmenschen unglaubwürdig bleibt. Gleichzeitig erscheint auch die neu erwachte reine Liebe zu Inez als plötzliche Laune, da er sie bei seiner Flucht schon wieder vergessen hat. All diese Inkonsequenzen ergeben sich aus einer außer-ästhetischen, christlich-didaktischen Zielsetzung, die einer überzeugenden Konzeption psychischer Entwicklung des Protagonisten im Wege steht. 49 JOSÉ ZORRILLA Y:MORAL Don Juan Tenorio Dritter Akt Gottes Barmherzigkeit und die Apotheose der Liebe Der Friedhof der Familie Tenorio wie im ersten Akt des zweiten Teils, mit dem Unterschied, daß die Statuen von Dona Ines und Don Gonzalo auf ihren Postamenten fehlen. 1. Szene Verhüllt und wie; zerstreut betritt Don Juan langsam die Szene. DON JUAN: Es .war nicht meine Schuld! Ein kranker, Wahn trieb meinen überhitzten Geist zur Tat; .ich brauchte Opfer; kaum sah ich sie vor mir, als sie die Beute meines Wahnsinns wurden. Ich bin es nicht gewesen, weiß der Himmel! Es war ihr Schicksal, denn sie. wußten beide, wie gut ich mit dem Degen umgehn kann, und dass mein Glück mich nie im Stiche läßt. Ein Taumel infernalischer Natur erfaßt mein Herz und wie ein dürres Blatt vom Winde fortgerafft wankt meine Seele dem Jenseits zu; ich zweifle, fürchte, schwanke; in meinem Hirn ist ein Vulkan entbrannt; mein Schritt ist zögernd, willenlos und schwach; und etwas Großes, was ich nicht erfasse, demütigt meinen Stolz und macht mir angst. einen Außenblick Pause Daß außer meinem Mut noch etwas sei, hat sich mein Hochmut niemals vorgestellt; und daß die Seele mit dem Körper stürbe hab' ich geglaubt; jetzt bin ich ungewiß. Nie hab' ich an Erscheinungen gedacht und hielt sie nur für eitle Hirngespinste; jetzt aber fühle ich wie jener Geist, die Marmorfüße lautlos fortbewegend, wo ich auch gehe, meinen Schritten folgt. 50 Unwiderstehlich zieht mich eine Kraft an diesen Ort, er erhebt den Kopf und sieht, daß die Statue Don Gonzalos nicht auf ihrem Postament steht doch was erblicke ich! Sein Steinbild ist nicht mehr vorhanden! Ha, schrecklicher Traum, laß endlich mich in Frieden, verlasse meinen faszinierten Geist; ich glaub' dir nicht, fatale Illusion, vergebens suchst du kindisch mich zu schrecken und meinen unbesiegten Mut zu lähmen. Wenn du jedoch der Wirklichkeit entspringst, ist es für mich vergebliches Bemühn, den Zorn des Himmels von mir abzuwenden. Traum oder Wirklichkeit: was ich erstrebe ist siegen oder daß man mich besiege, und wenn der Himmel mich barmherzig sucht, daß ich ihm demütig entgegenkomme, Das Steinbild dieses Grabes lud mich ein, zu ihm zukommen,; den Beweis zu finden, daß- das besteht, was ich geleugnet habe. Hier bin ich denn, Komtur Steh auf! Erwache!» Als er das Grab des Komturs in dieser Weise anruft, verwandelt es sich in. eine Tafel, die in schrecklicher Weise den Tisch Don Juans parodiert, an dem im vorigen Akt Don Juan mit Centellas und Avellaneda gegessen -haben. Je nach Geschmack des Dekora-teurs sind die.Blumenverzierungen durch Schlangen, Knochen etc. zu ersetzen. Auf dem Tisch stehen eine Schale mit Asche und ein Kelch mit einer Flamme sowie ein Stundenglas. Im gleichen Augenblick wie sich das Grab verwandelt, öffnen sich die Gräber , enen Skelettein Leichentüchern entsteigen. Der Hintergrund ist it. Gespenstern, Geistern und Erscheinungen bevölkert- Das rabmal von Dona Ines bleibt verschlossen. 2. Szene Die Vorigen; die Statue Don Gonzalos und die Erscheinungen STATUE: Hier bin ich Don Juan und außer mir siehst du die Geister :deiner Opfer hier, die deine ewige Verdammung fordern! DON JUAN: Allmächtiger! STATUE:. Warum erschrickst du so, wo dich doch niemals etwas überraschte, noch du. dich fürchtetest.aus ihren Schädeln ein Trinkgefäß .zu machen, Don Juan? DON JUAN:. Weh mir! STATUE Verläßt dich jetzt dein Mut? DON JUAN: Ich weiß; es nicht, doch muß ich jetzt erkennen, daß ich mich täuschte: es sind keine Träume, sie sind es! 51 er zeigt auf die Gespenster, Nie gekannter Schrecken packt mich, ich fühle wenn mir auch der Mut nicht fehlt, daß meine Sinne schwinden. STATUE: .Das kommt daher, daß sich dein Leben jetzt zum Ende neigt und deines Daseins Frist gekommen ist. DON JUAN: Was sagst du da? STATUE: Dasselbe was vor kurzem Dona Ines dir auch verkündet hat, was ich dir sagte und was du, Don Juan, in deinem tollen Wahn vergessen hast. Doch laß dich für dein Gastmahl jetzt bedanken und setze dich zu mir an meinen Tisch, den ich für dich hier vorbereitet habe. Komm Don Juan. DON JUAN: Was setzt du mir da vor?! STATUE: Hier Feuer und dort Asche Don Juan, zu der du selber werden wirst. DON JUAN: Das Haar will sich mir sträuben! Werde ich zu Feuer werden und zu Asche denn? STATUE: So wie die Toten die du um dich siehst. So geht der Mut, die Jugend und die Macht zu Ende. DON JUAN: Asche ja. Doch warum Feuer? STATUE: Weil du in ihm zur Strafe brennen wirst um deine Missetaten abzubüßen. DON JUAN: So gibt es also noch ein andres Leben und eine andre Welt als diese hier? So ist es also wahr was ich nie glaubte? Mir friert das Blut bei dieser Wahrheit ein der Wahrheit die mir mein Verderben kündet Und diese Uhr? STATUE: Mißt deine Zeit, Don Juan. DON JUAN: Läuft sie schon ab? STATUE: Ein jedes Kömchen .Sand verkürzt um einen Augenblick dein Leben. DON JUAN: Nur diese Körner bleiben mir noch übrig? STATUE: Nur diese noch. DON JUAN: Ha, ungerechter Gott, jetzt gibst du deine Macht mir zu erkennen und läßt mir für die Reue keine Zeit. STATUE: Auch der geringste Augenblick der Reue gibt einer Seele Anspruch auf Erlösung; und diesen Augenblick gibt man dir noch. DON JUAN: Es ist umsonst, in einem Augenblick, den Fluch von dreißig fürchterlichen Jahren verbrecherischer Taten auszulöschen. 52 STATUE: Sieh zu, dass er nicht ungenutzt verstreicht, die Totenglocke beginnt zu läuten. weil deine Frist jetzt abläuft, Don Juan. Die Totenglocke läutet schon für dich, und deine Grube wird bereits gegraben. man hört in der Ferne den Gesang der Totenmesse DON JUAN: So läutet man für mich die Totenglocke? STATUE: Ja, Don Juan. DON JUAN: Und diese Sterbechöre? STATUE: Die Psalmen die zur Buße dort erschallen, singt man für dich. man sieht zur Linken Fackeln vorüberziehen und hört Gebete murmeln DON JUAN; :Und jener Leichenzug? STATUE: Ist deiner, Don Juan. DON JUAN: So bin ich tot? STATUE:. Mit seinem Degen hat der Capitan an.deines Hauses Türe dich getötet DON JUAN: Spät dringt des Glaubens Licht in meine doch mein Verstand siebt nur die vielen Sünden, die Gottes Zorn auf mich geladen haben, Wo ich auch .war trat ich das Recht mit Füßen, ißachtete.die Tugend und Moral verspottete die irdische Justiz und habe alles um mich her vergiftet Ich stieg hinab bis zu der ärmsten Hütteich wagte mich hinauf in die Paläste, ja selbst in Klostermauern brach ich ein; und da ich solch ein schlimmes Leben führte kann es unmöglich Gnade für mich geben zu den GespensternSeid ihr noch immer da, stumm und beharrlich? Laßt mich in meinem Todeskampf allein, und friedlich sterben, grimmerfüllte Schatten. Was wollt ihr noch? Was habt ihr mit mir vor? STATUE; Sie wollen deine Seele Don Juan, und warten nur, daß du die Augen schließt, Und nun leb' wohl Dein Leben ist zu Ende. Da alles schließlich doch vergebens war, so gib mir wenigstens die Hand zum Abschied. DON JUAN: Zeigst du mir Freundschaft jetzt? STATUE: Ja, Don Juan, denn ich bin ungerecht zu dir gewesen, und Gott befiehlt mir nunmehr als dein Freund zurückzukehren in die Ewigkeit. DON JUAN: Hier Käst du meine Rechte." 53 STATUE: Nun, Don Juan,; da du den letzten Augenblick nicht nutztest, den man dir gab, komm mit mir in die Hölle! DON JUAN: Laß los du falscher Stein, laß meine Hand! In meinem Stundenglas ist noch ein Korn, das letzte Korn des Lebens mir verblieben; laß los!, denn wenn es wahr ist was du sagtest, daß auch der kleinste Augenblick der Reue in Ewigkeit die Seele retten kann, dann glaube ich an dich gerechter Gott!' Wenn meine Sünde keine Grenzen hat, ist deine Gnade gleichfalls ohne Ende: Herr, hab' Barmherzigkeit mit deinem Knecht! STATUE: Es ist zu spät. Don Juan kniet nieder und streckt die freigebliebene linke Hand zum Himmel. Die Gespenster stürzen sich auf ihn. Im gleichen Augenblick öffnet sich das Grab Dona Ines' und diese erscheint. Sie ergreift die Hand, die Don Juan zum Himmel erhoben hat. 3. Szene Don Juan, die Statue Don Gonzalos Dona Inez.Erscheinungen und Gespenster etc. DONA INES: Nein, ich bin hier, Don Juan! Und meine Hand hält deine fest umschlungen, die du, zerknirscht, zu Gott erhoben hast. Er zeigt an meinem Grabe dir Erbarmen. DON JUAN: Huldreicher Gott! Dona Ines, Geliebte! DONA INES: Verschwindet Schatten, Geister und Gespenster. Sein Glaube rettet uns; Geht, kehrt zurück in eure Gräber; Gott hat mir gestattet, Don Juan an meinem Grabe zu erlösen und ihn mit meiner Seele Bitternis von seinen schweren Sünden loszukaufen. DON JUAN: Dona Ines, Geliebte meines Herzens! DONA INES: Ich durfte meine Seele für ihn geben, und Gott hat seine zweifelhafte Rettung um meinetwillen noch geschehen lassen. Daß meine Liebe ihn erlösen durfte, ist ein Geheimnis das der Kreatur Unfassbar bleibt und der Gerechte nur im bess´ren Dasein zu versteh´n vermag. Hört auf ihr Grabgesänge! Musik und Choräle schweigen1 Totenglocke, stell dein Geläute ein! Die Glocke verstummt Ihr Schattenwesen, schließt euch in eure Gräber wieder ein! Die Skelette steigen wieder in die Gräber, die sich schließen Und ihr, belebte Marmorstatuen, 54 besteigt von neuem eure Postamente!“ die Statuen von Don Gonzalo und Dona Inés nehmen wieder ihren Platz auf den Denkmälern ein und mögen hier an unserem Sarkophag für Don Juan des Paradieses Freuden, an denen die Gerechten Anteil haben, schon ihren Anfang nehmen. Engel umgeben Don Juan und Dona Ines und streuen Blumen über sie aus und unter den Klängen einer fernen süßen Melodie erhellt sich das Theater in den Strahlen der Morgenröte. Das Grab Dona Ines' verwandelt sich in ein Bett von Blumen auf das Dona Ines niedersinkt. Letzte Szene Dona Ines, Don Juan und die Engel DON JUAN: Gott der Barmherzigkeit, Ruhm dir und Ehre! Die Sevillaner werden sich entsetzen, wenn sie hier morgen meine Leiche finden, getötet von den Händen meiner Opfer.' Es-ist gerecht. Doch sei es hier verkündet, daß, da mir nur ein Augenblick der Reue das Purgatorium geöffnet hat, der Gott der Gnade und Barmherzigkeit es ist, den Juan Tenorio verehrt. Don Juan sinkt zu Füßen von Dona Ines und beide sterben. Eine Flamme steigt aus beider Mund um anzudeuten, wie sich ihre Seelen zum Himmel erheben. Vorhang Uraufführung und Erstdruck in Madrid 1844 55 GUSTAVE FLAUBERT Eine Nacht von Don Juan In einem Teil, in einem Zug schreiben. -Bewegter Anfang als Handlung, - im Bild erscheinen ! zwei Reiter auf schnaubenden, Pferden. Landschaftsein-; druck, aber noch nicht zu genau, nur als Licht in den Bäumen, - man läßt die Pferde in den Büschen weiden, - sie verfangen sich-mit ihrem Zaumzeug, etc. -Das passiert mitten im Dialog, der ab und zu von kleinen einzelnen Handlungen unterbrochen ist. Don Juan knöpft seine Jacke auf und wirft seinen Degen, der ein wenig aus der Scheide rutscht, ins Gras. - Er hat soeben den Bruder von Donna-Elvira getötet. - Sie sind auf der Flucht. Das Gespräch beginnt voller Groll und Heftigkeit, Landschaft. - Hinter ihnen das Kloster. - Sie sitzen auf einem grünen Hang unter Orangenbäumen. - Um sie im Kreis der Wald. - Vor ihnen ein leicht abschüssiges Gelände. - Am Horizont Berge mit kahlen Gipfeln. - Sonnenuntergang. Don Juan hat alles satt und macht Leporello dafür verantwortlich. - Ist etwa das Leben, das Ihr führt und mich führen laßt, meine Schuld? - Meinst Du, ich kann etwas . für das Leben, das ich führe? .-Wie, Ihr könnt nichts dafür! –Das ist Leporellos Ansicht, denn er hat ihn oft den Vorsatz., fassen sehen, ein geordneteres Leben zu führen. -Ja, und dann will der. Zufall es anders. Beispiele. Leporello greift die Beispiele auf sein Verlangen, alle Frauen kennenzulernen, die er sieht, allgemeine Eifersucht auf das Menschengeschlecht- Ihr möchtet, daß Euch alles gehört. - Ihr sucht nach Gelegenheiten. - Ja, ich bin getrieben von einer inneren Unruhe. Ich möchte Sehnsucht - Er weiß weniger denn je, was er möchte, was er will. - Leporello begreift schon lange nichts mehr von dem, was sein Herr sagt. - Don Juan wünscht sich, rein zu sein, ein unschuldiger Jüngling. - Er war es nie, denn immer schon war er kühn, dreist, fordernd. - Er wollte sich oft das Gefühl der Unschuld geben. - In allem und überall sucht er die Frau - Aber warum verlaßt Ihr sie? - Ach! warum! -Don Juans Antwort ist der Überdruß nachdem Besitz einer Frau. Ärger, den ihr Blick weckt Versuchung, die zuschlagen, die weinen..- Wie Ihr sie wegstoßt, die armen kleinen Liebchen. - Wie Ihr 56 vergeßt. -Don Juan wundert sich selbst über das Vergessen und versinkt darüber in Gedanken, eine traurige Sache. - Ich fand Liebespfänder wieder, von denen ich nicht mehr wußte, woher ich sie hatte. - Ihr beklagt Euch über das Leben, Herr, das ist nicht recht. - Leporello hat ein diebisches Vergnügen an der Vorstellung von Don Juans Glück Die jungen Leute betrachten ihn voller Neid, ihn, Leporello; als hätte er Teil an der Poesie seines Herrn Träumerei Don Juans über die Idee, die Leporello ihm nahelegt er könne irgendwo einen Sohn haben? Und ich habe erlebt wie Ihr Buch danach gesehnt habt, die Verflossenen wiederzutreffen. - Don Juans Sehnsucht, last verblaßte Gesichter wieder klar vor sich sehen zu können - Was, würde er nicht dafür geben, wieder eine klare Vorstellung von diesen Bildern zu haben Der Wechsel ist nicht alles. Man bekömmt oft Schlimmeres. - Liebe zu häßlichen Frauen. Wart Ihr nicht im vergangenen Jahr verrückt nach dieser alten neapolitanschen Marquise Don Juan erzählt? wie er seine Unschuld verloren hat I eine alte Gouvernante, im Dunkeln, in einem Schloß. - Ja weißt Du denn nicht, was Verlangen heißt, armer Mann (er packt ihn am Arm, und wodurch es geweckt wird? - Erregung physischen Verlangens. - Verderben. -Abgrund, der das Objekt vom Subjekt trennt und dessen Begierde, in das Objekt einzudringen. - Das ist es, warum ich immer auf der Suche bin. - Schweigen Im Garten meines Vaters gab es eine Frauengestalt, eine Gallionsfigur. - Lust, sie zu besteigen. - Eines Tages kletterte er hinauf und packt ihre Brüste. - Spinnen in dem vermoderten Holz. - Erstes Gefühl einer Frau, Aufsteigen der Gefahr. - Und immer habe ich die Brust aus Holz wiedergefunden. - Wie denn, aber Ihr habt doch Euer Vergnügen daran! denn ich erlebe, wie glücklich Ihr seid. Staunen über die Lust (die Ruhe davor, die Ruhe danach), das hat mich immer vermuten lassen, es gäbe etwas, das jenseits dessen liegt. - Aber nein. - Unmöglichkeit eines vollkommenen Seelenbündnisses, wie sehr der Kuß auch haftet- Etwas stört und wird zu einer Mauer. Wortlosigkeit der Pupillen, die sich gegenseitig verzehren. Der Blick geht weiter als die Worte. Daher die stets erneuerte, stets betrogene Sehnsucht' nach einem engeren Halt. An verschiedenen Stellen anmerken: Eifersucht in der Sehnsucht = wissen, haben. Eifersucht im Besitz = schlafen sehen, von Grund auf kennen. Eifersucht in der Erinnerung = wieder besitzen, sich genau erinnern. Und doch ist es immer das gleiche, sagt Leporello. - nein! es ist nie das gleiche! Es 57 gibt ebenso viele verschiedene Frauen, wie verschiedene Begierden, verschiedene Lust und Bitterkeiten. Leporellos Gewöhnlichkeit muß Don Juans überlegenes Gebaren hervorheben und objektiv bestimmen, und doch liegt der Unterschied nur in der Intensität! Neid auf andere Männer. Alles sein wollen, was Frauen betrachten. - Jede Art von Schönheit besitzen, etc. - Aber Ihr habt doch genug Frauen. - Was nützt mir das? Was ist schon die große Zahl an Mätressen verglichen mit den übrigen? Wie viele gibt es, die mich nicht kennen und denen ich nie etwas bedeutet haben werde! Zwei Arten von Liebe. Die besitzergreifende Liebe, die einen Sog hat, wo Individualismus und Sinne vorherrschen (jedoch nicht jede Art von Wollust). Dazu gehört die Eifersucht. Die zweite ist die Liebe, die einen aus sich herauszieht. Sie ist großer, verzehrender, süßer. Sie verströmt sich, wo sich die andere verbittert nach innen kehrt. Don Juan hat zuweilen beide bei der selben Frau empfunden. Es gibt Frauen, die die erste wecken, und Frauen, die die zweite hervorrufen, manchmal beide zugleich... Auch das hängt von Augenblicken ab, von Zufällen und Stimmungen. Don Juan hat alles satt und schließlich jede Lust zu krepieren, die einen überkommt, wenn man zu lange gegrübelt hat, ohne eine Lösung zu finden. Man hört die Totenglocke. Für einen ist alles zu Ende. Was ist das nun? Und sie hoben den Kopf. II. Don Juan klettert auf die Mauer und sieht die schlafende Anna Maria.- Bild. –langes Betrachten. – Verlangen.- Erinnerung – sie erwacht. Zunächst ein paar zusammenhagslose Worte wie eine Fortsetzung ihrer Gedanken. Sie hat keine Angst vor ihm (so einheitlich wie möglich, man darf das Fantastische nicht vom Realen unterscheiden können). Ich warte schon lange auf dich. Du bist nicht gekommen. – Erzählt von ihrer Krankheit und ihrem Tod.- Sie wird immer wacher, je lebendiger das Gespräch wird.- Schweiß auf ihrem Stirnband, er hebt sich langsam, langsam, stützt erst die Ellenbogen auf, kommt zum Sitzen.- Große erstaunte Augen. Zurück zum Thema kommen.- Aber wie? Du bist es also, dessen Schritte ich im Wald gehört habe, - das Ersticken der Nächte.- Spaziergang im Kloster, Schatten der Säulen, die sich nicht regten, wie Bäume es getan hätten. Ich tauchte meine Hände in den Brunnen.- Symbolischer Vergleich mit dem dürstenden Hirsch.Sommernachmittag. Man hat uns verboten, unsere Träume zu erzählen- wegen des Kruzifixes, das über Anna Marias Bett hängt, jenem Christus, der über die Träume wacht. – Das Kruzifix rührt sich nie, während das Herz des jungen Mädchens in Erregung ist und oft blutet. Was Christus für Anna Maria ist, aber er antwortet mir nicht in meiner Liebe.- Oh! Und ich habe ihn doch so gebeten! Warum wollte er nicht, warum hat er mich nicht erhört? Hoffnung des Fleisches 58 und der wahren Liebe (die mystische Liebe ergänzend) als Parallele zu den schamlosen Hoffnungen Don Juans, der bei seinen anderen Liebeserlebnissen, besonders im Augenblick der Ermattung mystische Bedürfnisse gehabt hat. (Das bei Don Juan in seinem Gespräch mit Leporello deutlich machen.) Bewegung Anna Marias, die Don Juan mit beiden Armen umschlingt.- Die weichgepolsterten Unterarme über den Halschlagadern und die Handgelenke am Ende der erstarrten Hände, kleiner, um ihn zu erreichen; eine Locke Don Juans verfängt sich, als er sich zu ihr herabbeugt, im Knopf ihres Hemdes. Die Nacht wird lebendig,- Hirtenfeuer in den Bergen. Auch dort wird über Liebe geredet.- Die Liebe ist es, die sie beschäftigt. Du kennst das einfache Glück nicht. Es wird Tag. Anna Marias Lebenssehnsucht zur Erntezeit, Sonntagmorgens an Festtagen in der Kirche. – Die Beichtväter quälen sie.- Ich habe den Beichtstuhl sehr geliebt. Sie näherte sich ihm mit einem Gefühl wollüstiger Furcht, weil ihr Herz sich öffnen sollte. – Mysterium, dunkel. – Aber sie konnte keine Sünden nennen, sie hätte welche haben mögen. Es soll Frauen mit einem leidenschaftlichen Leben geben, - einem glücklichen Leben. Eines Tages wurde sie ganz allein in der Kirche, wohin sie Blumen gebracht hatte, (der Organist spielte ganz für sich), ohnmächtig, als sie ein Fenster betrachtete, durch das die Sonne schien. Ihr häufiger Wunsch zu beichten, Jesus im Körper haben, Gott in sich!- Bei jedem neuen Sakrament kam es ihr so vor, als würde ein Durst gestillt. – Sie tat mehr Gutes, fastete mehr, betete mehr,' etc. - Sinnlichkeit des Fastens. - Das Ziehen im Magen spüren, die Schwäche im Kopf. - Sie hat Angst, sie studiert sich selbst, bis sie Angst bekommt, etc. Kasteiung. - Sie liebte die guten Düfte so sehr. - Sie riecht an ekelhaften Dingen. Wollust der üblen Gerüche. - Sie schämt sich dessen vor Don Juan, den das begeistert. Anna Maria staunt über sein Begehren. - Was ist das? Wie kommt es, daß ich begehre und daß sie begehrt, was sie nicht kennt. Die Wollust fährt ihr überall unter die Haut (wie der Ekel bei Don Juan). - Ich habe von der Welt reden hören. - Erzähl mir erzähl mir! Die Lampe verlischt mangels Öl.' - Die Sterne erleuchten das Zimmer (kein Mond). Dann wird es hell. - Anna Maria sinkt tot zurück. Man hört die Pferde grasen und .mit dem Sattelzeug knarren. Don Juan flieht. Grundzug von Anna Marias Charakter: sanft. Nie Don Juan aus den Außen verlieren, Hauptsache (zumindest des zweiten Teils) ist die Einheit, die Gleichheit, die Zweiheit, wobei jeder Ausdruck bisher unvollkommen war und, indem er nun in dem anderen aufgeht und jeder für sich schrittweise zunimmt, sich vervollkommnen und mit dem anderen eins werden soll. Plan für eine Erzählung aus dem Jahr 1851 59 60 Don Juan als Idealsucher: E.T.A. Hoffmann – Lenau – Horvath Seit dem 19. Jahrhundert vor allem setzt eine Problematisierung der Don Juan-Figur ein. Don Juan ist nicht mehr »einfach da, ein Meteor« (Frisch), der sich allein in seinen Taten ausdrückt vor allem der romantische Don Juan reflektiert seine Existenzweise, empfindet den Riss zwischen Sein und Bewusstsein, sinnlichem Rausch und idealischem Anspruch. Wenn Don Giovanni noch als ungebrochene Persönlichkeit auftrat, die ohne Zögern ihre dem Augenblick, dem sinnlichen Genuss gewidmete Existenzweise gegenüber der metaphysischen Instanz behauptet, so verliert Don Juan jetzt viel von seiner Vitalität und augenblicksbezogenen Genussfähigkeit. Psychologisierung und Reflektiertheit kennzeichnen die neue Konzeption der Don Juan-Figur. E.T.A. Hoffmann interpretiert in seiner Erzählung von 1813 »Don Juan. Eine fabelhafte Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen« Don Juans Lust an immer neuen erotischen Abenteuern als »unendliche Sehnsucht« nach dem »Überirdischen«, das er »durch die Liebe, durch den Genuss des Weibes, schon auf Erden« zu erlangen suche. Dem Romantiker erscheint der äußere Handlungsablauf der Mozart-Oper - ein »Bonvivant, der Wein und Mädchen über die Maßen liebt, der mutwilligerweise den steinernen Mann als Repräsentanten des alten Vaters, den er bei der Verteidigung des eigenen Lebens niederstach, zu einer lustigen Tafel bittet« - als banal, ohne poetischen Reiz. Betrachtet man das Gedicht (den Don Juan), ohne ihm eine tiefere Bedeutung zu geben, so dass man nur das Geschichtliche in Anspruch nimmt: so ist kaum zu begreifende Mozart eine solche Musik dazu denken und dichten konnte. Hoffmanns Don Juan - in der Sicht des reisenden Enthusiasten - ist von einsamer Größe, die ihn über die Masse erhebt Er verachtet bourgeoises Nützlichkeitsdenken, Sicherheitsstreben, Er wird zum Revoltierenden und schließlich zum Frevler- »gegen: die Natur und den Schöpfer« gerade durch sein Streben, nach Idealität. Während Tirsos Don Juan den erotischen Augenblick genießt, er die Lust des erotischen Genusses immer wieder aufs neue auskostet, ohne in ihm nach einem außersinnlichen Ideal zu suchen, strebt Hoffmanns Don Juan bei jeder erotischen Begegnung nach dem »Ideal endlicher Befriedigung« und findet doch immer nur den flüchtigen Sinnengenuss. Sowohl der Don Juan der Tradition,, der allen Mahnungen und Drohungen zum Trotz seine Existenz, sinnlich-erotischen Genusses führt, als auch der romantische Idealsucher,, der sein »ewiges brennendes Sehnen« nach 61 vollkommenem Glück stets von neuem im kurz währenden Liebesrausch zu stillen sucht, lassen ihr Wollen als alleinigen Leitfaden ihres Lebens gelten. Damit ist der Konflikt zwischen dem donjuanesken Typ und der Gesellschaft programmiert; E TA. Hoffmann thematisiert diesen Konflikt nicht eigens',' doch seine Deutung der donjuanesken Persönlichkeit stellt .Don Juan als außergewöhnlichen Menschen dar, der sich in seinem »Streben nach dem Höchsten, worin er seine göttliche Natur ausspricht«, über die Menge erhebt. Wie die Hoffmannschen Künstlergestalten, die unter der Enge bürgerlicher Verhältnisse leiden und die der Faktizität gesellschaftlicher Setzungen die Autonomie der Kunst entgegensetzen, behauptet auch sein; Don Juan, gegen alle einengenden Normen die Autonomie seines Willens, in der Unbedingtheit seines Glücksstrebens steht er an sich schon eine Herausforderung der bürgerlichen Gesellschaft dar, die in ihrer Nützlichkeitsmoral vor allem Selbstbescheidung, Pflichterfüllung und Affektkontrolle als Werte proklamiert. Don Juan verfügt über all die Gaben, die auch Hoffmanns Künstlergestalten - wie Francesco aus »Die Elixiere des Teufels«, Traugott aus »Der Artushof« oder Berthold aus »Die Jesuitenkirche in G.« besitzen. Juan stattete die Natur, wie ihrer Schoßkinder liebstes, mit alle dem aus, was den Menschen, in näherer Verwandtschaft mit dem Göttlichen, über den' gemeinen Tross, über die Fabrikarbeiten, die als Nullen, vor die, wenn sie gelten sollen, sich erst ein Zähler stellen muß, aus der Werkstätte geschleudert werden, erhebt; was ihn bestimmt zu besiegen, zu .herrschen, Ein kräftiger, herrlicher Körper, eine Bildung, woraus der Funke hervor strahlt, der, die Ahnungen des Höchsten entzündend, in die Brust fiel; ein tiefes Gemüt, ein schnell ergreifender Verstand. Don Juan ist »Zähler«, der den Nullen, den Durchschnittsmenschen erst Wert verleiht, d.h. angesichts der »Fabrikarbeiten«, der normierten Menschen, die in ihren Funktionen aufgehen, vermittelt er in seiner glücklichen Organisation von Körper und Seele, in seinem Streben nach Idealität erst eine Vorstellung vom höheren Wesen des Menschen. Doch gerade als ein Mensch mit »tiefem Gemüt«, der sich nicht selbstgenügsam bieder im Bestehenden einrichtet, der seinen »Ahnungen des Höchsten« folgt, ist er. gefährdet, ist er gefährlich, Der Philister, der ordentlich seine Bücher führt, brav seine Bürgerpflicht erfüllt und in den Teezirkeln artige Sätze über die erbauliche Wirkung der Kunst vorzubringen weiß, könnte nie den Rang des Frevlers und großen Bösewichts erreichen. Die Greueltaten, die er begeht, geschehen immer im Namen gehorsamer Pflichterfüllung. Der Idealsucher Don Juan jedoch, der Gehorsam vor menschlichen Satzungen nicht kennt, anerkennt, wirkt gerade in seiner 62 Suche nach vollkommener Selbstverwirklichung gefährlich. Aber das ist die entsetzliche Folge des Sündenfalls, dass der Feind die Macht behielt, dem Menschen aufzulauern, und ihm selbst in dem Streben nach dem Höchsten, worin er seine göttliche Natur ausspricht, böse Fallstricke zu legen. Indem Don Juan seine Idealitätssehnsucht im Liebesrausch zu stillen sucht, er das; »was bloß als himmlische Verheißung in unserer Brust wohnt«, im erotischen Genuss zu finden hofft, täuscht er sich über die Art seiner unendlichen Sehnsucht. Er erleidet einen ähnlichen Irrtum wie viele der Künstlergestalten Hoffmanns, die - wie Traugott aus dem »Artushof« - »das Himmelsbild«, das in ihrer »Brust ein unendliches Sehnen entzündet«, das in seiner idealischen Ferne gerade die künstlerische Phantasie anregte, »in die klägliche Existenz des irdischen Augenblicks« herabziehen wollen. Hoffmanns Don Juan sucht wie Traugott in der Liebe sein Sehnsuchtsbild schöner Vollkommenheit; wie dieser trägt er ein »geistig Bild« in sich, dem als Ideal nie eine sinnliche Erscheinung entsprechen könnte. Doch anders als die tragischen Künstlergestalten, denen ihr Ideal in Gestalt einer Frau erscheint, sucht er immer wieder aufs neue in den wechselnden erotischen Begegnungen die »endliche Befriedigung« seines Unendlichkeitsstrebens. Im Sinne des romantischen Idealismus, der an der Idee eines Absoluten festhält, in dem alle Widersprüche aufgelöst waren, Natur und Geist sich zu harmonischer Einheit verbänden, glaubt Don Juan in der Liebe sein Atlantis finden zu können. Er verkennt, dass das im »Goldenen Topf« -geschworene Wunderland Atlantis, in dem der poetische Student Anselmus mit dem Schlänglein Serpentina in seliger Liebe lebt, in der Poesie angesiedelt ist. Hoffmann kritisiert durch- seine Deutung der Don Juan-Figur einen Idealismus, der das Unendliche im Endlichen zu fassen sucht. Im Sinne des Hoffmanschen Idealismus, der von dem »unauflösbaren "Widerstreit des Bedingten und des Unbedingten ausgeht, kann der Idealsucher Don Juan im Liebesgenuss keine Befriedigung finden.Ein Don Juan, der in der Liebe nichts als erotische Wollust suchte, erschiene Hoffmann banal, ein Don Juan jedoch, der seine »unendliche Sehnsucht« nach dem Ideal in der erotischen Wollust stillen will, bleibt notwendig unbefriedigt. Und konsequenterweise ist der Dualismus zwischen sinnlichem und metaphysischem Prinzip in die Existenz Don Juans selbst gelegt. Da Don Juan im Sinnlichen ein geistiges Bild erstrebt, erfährt er immer wieder die Enttäuschung in der sinnlich-erotischen Erfüllung- er erkennt aber nicht seinen grundsätzlichen Irrtum, sondern immer in der Wahl sich betrogen glaubend, immer hoffend, das Ideal endlicher 63 Befriedigung zu finden, müsste doch Juan zuletzt alles irdische Leben matt und flach finden, und indem er überhaupt den Menschen verachtete, lehnte er sich auf gegen die Erscheinung, die, ihm als das Höchste im Leben geltend, so bitter ihn getäuscht hatte. Jeder Genuss des Weibes war nun nicht mehr Befriedigung seiner Sinnlichkeit, .sondern frevelnder Hohn gegen die Natur und den Schöpfer. E.T.A. Hoffmann hat die Figur zugleich idealisiert und dämonisiert. Dieser Don Juan hat die ungebrochene erotische Vitalität des 'klassischen* Typs verloren, und da er in seinem Idealitätsstreben im Grunde nicht eine auf den Augenblick setzende Existenz lebt, erfährt er in der Vielzahl der erotischen Episoden die Monotonie der Wiederholung. Nicht Sinnenlust, sondern »tiefe Verachtung der gemeinen Ansichten des Lebens« prägt sein Verführertum. Hoffmann deutet die Gestalt der Donna Anna als Antipodin zu dem genialischen Frevler, der in ihr seine Erlösung hätte finden können. Wie, wenn Donna Anna vom Himmel dazu bestimmt gewesen, wäre, den Juan in der Liebe, die um durch des Satans Künste verdarb, die ihm innewohnende göttliche Natur erkennen zu lassen, und ihn der Verzweiflung seines nichtigen Strebens. zu entreißen? Zu spät, zur Zeit des höchsten Frevels, sah er sie, und da konnte ihn nur die teuflische Lust erfüllen, sie zu verderben. - Nicht gerettet wurde sie – Als er hinausfloh, war die Tat geschehen -. Das Feuer einer übermenschlichen Sinnlichkeit, Glut außer Hölle, durchströmte ihr Innerstes, und machte jeden Widerstand vergeblich. Nur er, nur Don Juan, konnte den wollüstigen Wahnsinn in ihr entzünden, mit dem sie ihn umfing, der mit der übermächtigen zerstörenden Wut höllischer Geister im Innern sündigte. Als er nach vollendeter Tat entfliehen wollte, da umschlang, wie ein gräßliches, giftigen Tod sprühendes Ungeheuer, sie der Gedanke ihres Verderbens mit folternden Qualen. - Ihres Vaters Fall durch Don Juans Hand, die Verbindung mit dem kalten, unmännlichen, ordinären Don Ottayio, den sie einst zu liehen glaubte - selbst die im Innersten ihres Gemüts in verzehrender Flamme wütende Liebe, die in dem Augenblick des höchsten Genusses aufloderte, und nun, gleich der Glut des vernichtenden Hasses brennt: alles dieses zerreißt ihre Brust. Sie fühlt, nur Don Juans Untergang kann der, von tödlichen Martern beängstigenden Seele Ruhe verschaffen, aber diese Ruhe ist ihr eigner irdischer Untergang. Diese Interpretation des rastlosen Verführertums Don Juans, Hoffmanns Auffassung der Donna Anna-Gestalt, die durch Don Juan die Abgründe der Leidenschaft erfahren 64 hat, ihn hebt und hasst, die Abwertung Don Ottavios zu einem gewöhnlichen Philister; - diese psychologische Deutung hat die nachfolgende Rezeption des Stoffes entscheidend mitgeprägt. So greift z.B. auch Puschkin in seiner Dramenskizze »Der steinerne Gast« von 1830 das Motiv der liebenden Donna Anna auf, die für Don Juan Erfüllung hätte bedeuten können. Anna, die Witwe des von Don Juan im Duell getöteten Komtur, kann sich ihrer Liebe zu ihm auch dann nicht erwehren, als er ihr gesteht, den Gatten getötet zu haben. Ein Happy-End wird durch den Auftritt des steinernen Gastes verhindert; offen bleibt so jedoch, ob er nicht auch bei Donna Anna bald den Überdruss der Erfüllung erfahren hätte. 65 4. Don Juan heute? 66 Kachelmanns Frauen 50.000 Euro für medienwirksame Bekenntnisse und ein blinder Feminismus: Der Mannheimer Strafprozess als gesellschaftliches Lehrstück Wenn ein Krokodil einen besonders mächtigen Brocken verschluckt, dann presst es ihm das Wasser aus den Augen – die sogenannten Krokodilstränen. Auch die Zeugin Viola S., eine der vielen Exgeliebten des Wettermoderators Jörg Kachelmann, vergießt vor dem Landgericht Mannheim Tränen. Die Diplom-Kauffrau Viola S. hatte am 29. April 2010 – nachdem ihr klar geworden war, dass der wegen angeblicher Vergewaltigung einer anderen Frau festgenommene TV-Meteorologe Kachelmann einen ganzen Harem unterhielt – die Titelseite der Illustrierten Bunte geschmückt und im Heftinnern unter dem Decknamen Isabella ihren ehemaligen Liebhaber nach Kräften schlechtgemacht. Sie habe ihm »blind vertraut«, hieß es dort und: »Er hat mein Leben zerstört.« Die Fotos des zehn Seiten umfassenden Berichts zeigten eine junge Frau, onduliert im Look der Arztromane aus den fünfziger Jahren und mit leidender Miene. Allerdings ist jetzt, zwei Tage vor ihrem Zeugenauftritt in Mannheim, herausgekommen, dass Viola S. für die Darbietung ihres Intimlebens den Brocken von 50.000 Euro geschluckt hat. Vielleicht mag deshalb kaum einer im Saal mitweinen. Auch die Richter der 5. Großen Strafkammer sehen unbeeindruckt aus, einer rügt die »Respektlosigkeit« der Frau, die – um ihre Zeugenrolle wissend – vorher noch »zur Presse marschiert« sei. Viola S. will sich herausreden, sie habe keine Erfahrung mit den Medien gehabt, sie habe noch nie zuvor ein Interview gegeben. Weder habe sie den Hintergrund der Ablichtungen ausgesucht noch die Inszenierung bestimmt. »Ja, Sie haben sich auch nicht hingesetzt und sich auch nicht fotografieren lassen«, fährt Kachelmanns Verteidiger Johann Schwenn sarkastisch dazwischen. Sie habe Kachelmann jahrelang geglaubt und vertraut, fährt die Zeugin fort, sie habe seine Söhne in Kanada gekannt und mit einer Heirat gerechnet, dann aber plötzlich Dinge erfahren müssen, »die mich umgehauen haben«. Angesichts dieser Katastrophe seien ihr »ganz, ganz viele Gedanken durch den Kopf gegangen« und »ganz, ganz viele Gefühle« auf sie eingestürzt. Die Abrechnung in der Bunten nennt sie »meine Art, mit der Sache umzugehen«. Fast ein Jahr vor ihrem öffentlichen Auftritt vor Gericht, am 1. April 2010, hat die Zeugin Viola S. eine Aussage bei der Polizei gemacht, in der sie die Beziehung zu »Jörg« deutlich weniger innig und vertrauensvoll schildert. Dort steht, sie habe »permanent versucht, in sein Leben reinzukommen«, habe aber immer draußen 67 gestanden. Er habe zwar oft geäußert, »dass er mit mir zusammen sein will, in letzter Konsequenz habe ich aber gemerkt, dass dies nicht der Fall ist«. Auch dass der mit der Logistik seiner vielen Amouren zeitweise überforderte Kachelmann zu faustdicken Lügen griff, wusste die Zeugin, die ihm laut der Bunten doch »blind vertraut« haben will. Im Dezember 2003 hatte er das gemeinsame Weihnachtsfest mit Viola S. per E-Mail abgesagt, angeblich weil er sich dringend einer Sexualtherapie in den USA unterziehen müsste. Später erfuhr Viola S. von Kachelmann selbst, dass das Humbug war. Im Sommer 2004 ersann Kachelmann kurz vor dem gemeinsamen Sommerurlaub mit Viola eine schwere genetische Erkrankung, die dringend behandelt werden müsse. Vor geplanten Ferienreisen oder Feiertagen sei Jörg oft überraschend von heftigen Übeln heimgesucht worden, berichtete Viola S. der Polizei. Um die Frau auf Abstand zu halten, machte Kachelmann ihr sogar einmal vor, er leide an Krebs, man habe etwas »in seinem Magen gefunden«, Viola solle ihn ziehen lassen, er müsse »jetzt alleine kämpfen«. Alles Unfug, erfuhr sie später. Und als er im Februar 2010 in einer EMail aus Kanada wieder einmal behauptete, eine schwere psychische Erkrankung auszubrüten, war für Frau S. auch das bloß eine weitere Ausrede, »um mich nicht sehen zu müssen«. Sieben Jahre soll die Beziehung gewährt haben inklusive einer zweijährigen Unterbrechung, nach welcher sie ihm im Januar 2007 gesagt haben will, dass sie seine Lügen satthabe. Und nun plötzlich der Vorwurf des missbrauchten Vertrauens. Viola S. ist eine intelligente Frau von 32 Jahren, die jedenfalls medienerfahren genug war, um als Einzige unter den in der Bunten lästernden Kachelmann-Geliebten beim Burda-Verlag die Rekordsumme von 50000 Euro herauszuschlagen. Soll man glauben, dass sie all die Jahre nichts von der Beschaffenheit des Mannes gemerkt hat, mit dem sie da zusammen war? Und all die anderen Frauen, die sich gegen Geld öffentlich als Kachelmann-Geschädigte vorstellten und den Wettermoderator mit Dreck bewarfen – sind sie Opfer dieses Mannes? Oder sind sie bloß ihrer eigenen Verblendung aufgesessen? Richtig ist, dass Kachelmann Frauen belogen und ausgenutzt hat. Er gaukelte ihnen große Gefühle und eine gemeinsame Zukunft vor, er erfüllte seine Schwüre nie, sondern löste Versprechen mit weiteren Versprechen ein. Solche Männer gibt es. Bleibt die Frage, warum viele dieser angeblich modernen selbstbewussten Geliebten sich so lange so behandeln ließen. Nicht wenige richteten ihr Leben nach Kachelmann aus. Einige zogen seinetwegen um. Wieder andere nahmen Geld von ihm. Warteten. Erbettelten Zusammenkünfte. Machten sich klein. Unterwarfen sich seinem Terminkalender, seinen sexuellen Wünschen. Fabulierten von der großen Liebe, 68 obwohl die meisten ihn doch bloß ein paar Mal im Jahr zu Gesicht bekamen. Manche hofften auf bessere Zeiten, manche schickten ihm scharfe Selbstporträts, andere versuchten es mit bitteren Vorwürfen. Alle wurden von dem Fernsehstar mit durchsichtigen Schwindeleien, inhaltsarmen SMS und oberflächlichen E-Mails abgespeist und fieberten vor sich hin – dem nächsten Treffen entgegen. Für keine hatte er wirklich Zeit. Keine war wirklich zufrieden. Aber die meisten spielten mit. Kachelmanns Methoden mögen verwerflich gewesen sein – undurchschaubar waren sie nicht. Deshalb verrät der Kachelmann-Prozess nicht nur viel über den Lebenswandel einer Bildschirmfigur, sondern auch über die weibliche Bereitschaft zum Selbstbetrug. Eine allerdings hat Verständnis für all das: Alice Schwarzer. Für Bild kommentiert die 69-jährige Feministin das Geschehen vor dem Landgericht Mannheim, ohne selbst in nennenswertem Umfang am Prozess teilzunehmen. Das hindert sie nicht, im Massenblatt Stimmung gegen den Angeklagten zu machen und blindlings Partei für jene Exgeliebte Claudia Simone D. zu ergreifen, die ihn im Februar 2010 wegen Vergewaltigung angezeigt hat und deren Glaubwürdigkeit von Anfang an äußerst zweifelhaft war. In privaten E-Mails hat Schwarzer dem angeblichen Opfer schon zu Prozessbeginn Mut zugesprochen (»Bleiben Sie stark!«) und es zu sich nach Köln eingeladen (»vielleicht würde Ihnen das ja sogar Spaß machen? Bitte geben Sie mir ein Zeichen...«). Dort sollte D. nach dem Prozess das Manuskript von Schwarzers geplantem Kachelmann-Buch vor der Veröffentlichung gegenlesen. In den Medien beklagt Schwarzer Kachelmanns Verlogenheit und wirft ihm vor, er habe etliche Heiratsversprechen gegeben und nicht gehalten. Wir hören richtig: Heiratsversprechen! Ist das nun übrig geblieben vom Feminismus? Ist das nun die Frauengeneration, die Alice Schwarzer sich ausgemalt hat und für die sie gekämpft haben will? Autonomie ist die zentrale Idee der Moderne. Der Mensch bestimmt sich selbst. Alles läuft darauf zu – ganz besonders im Leben der Frauen. Sie fordern Handlungsfreiheit. Sie wollen selbst entscheiden, ob und wann sie ein Kind bekommen, ob sie sich an einen Mann binden oder nicht. Sie streben in die Vorstandsetagen der Unternehmen. Sie wollen Posten. Sie wollen das Sagen haben in der Politik und den Universitäten. Sie wollen mehr Geld, ihre Meinung äußern, unabhängig sein, sich durchsetzen, die Welt der Männer umkrempeln und – sie besser machen. Und das alles völlig zu Recht. Aber Selbstbestimmung bedeutet auch, Verantwortung für das eigene Leben zu tragen – für das, was einem widerfährt, und für das, was man sich gefallen lässt. Selbstbestimmung ist das Gegenteil von Selbstbetrug. Wollen die Frauen auf der einen Seite Menschen führen und sich gleichzeitig in Liebesdingen benehmen wie die 69 kleinen Kinder, die noch das Abwegigste glauben, was man ihnen vorsetzt? Die aus allen Wolken fallen, weil einer sie anlügt, und dann zu Illustrierten laufen, um sich dort öffentlich selbst zu therapieren? Wer will solche Frauen ernst nehmen? Alice Schwarzer tut es. Aus der munteren Vorkämpferin der Frauenbewegung ist eine böse Großmutter geworden, die sich mit Personen solidarisiert, die würdelos handeln und die ihre intimsten Erlebnisse zu Geld machen. Früher wollten Feministinnen vom Schlage Schwarzers die Frau aus der Knechtschaft der Ehe befreit sehen, heute bejammern sie, dass Kachelmann sein Eheversprechen nicht hält. Aber womöglich sind die beleidigten Exgeliebten ohnehin nur die Werkzeuge ganz anderer Interessen. Das jedenfalls vermutet Kachelmanns Verteidigung. Während der vier Monate, die der Moderator 2010 in Untersuchungshaft saß, versuchte sein Teilhaber Frank-Bernhard Werner nämlich, ihn aus der gemeinsamen Wetterfirma Meteomedia zu drängen. Als Jörg Kachelmann sich weigerte, das Feld zu räumen, hat es in der Firma Überlegungen gegeben, ihn mithilfe der Presse zu erledigen. Er sollte in der Öffentlichkeit als psychisch defektes Monstrum dargestellt werden. Das legt eine E-Mail seines Geschäftspartners nahe, die dieser an weitere Firmenmitglieder geschrieben hatte und die nun in öffentlicher Hauptverhandlung verlesen wurde. Darin heißt es, man habe »sich bereits ein paar Gedanken über einen ›nuklearen Erstschlag‹« gegen Kachelmann gemacht: »Wir werden bar jeder Hemmung intern wie extern aufgrund jk’s multiplen Fehlverhaltens den Bruch der Firma mit ihm bekannt geben (vielleicht mit dem freundlichen Hinweis: ›wenn er wieder gesund ist...‹) und mit einschlägigen Artikeln in Blick, Bild, Bunte, Stern weitere unappetitliche Details seines kruden Privatlebens streuen, die auch dem treuesten jk-Anhänger die Unzumutbarkeit der weiteren Zusammenarbeit klarmachen.« Ob dieser Vernichtungsplan verwirklicht worden ist, dürfte das Landgericht demnächst beschäftigen. Werner wird womöglich als Zeuge aussagen müssen. Die aufgezählten Blätter haben jedenfalls gegen Kachelmann geschrieben. Sollte sich zuletzt herausstellen, dass tatsächlich feindliche Machenschaften in der eigenen Firma hinter der medialen Schmähkampagne gegen den Angeklagten stecken, dann hätten sich einige von Kachelmanns Frauen ein weiteres Mal zum Narren halten lassen. Jörg Kachelmann hat übrigens am 9. März geheiratet. Quelle: http://www.zeit.de/2011/15/WOS-Kachelmanns-Frauen?page=2, Zugriff: 15.04.2011 70 Das Nachspiel einer Bettgeschichte Gunnar Herrmann Er will vor »Sex-Fallen« gewarnt worden sein - und ist doch in eine getappt. So sieht das jedenfalls Julian Assange selbst. Das zu beweisen, dürfte dem wegen Vergewaltigung verhafteten Wikileaks-Gründer jedoch schwerfallen. Es hat in den vergangenen Tagen und Wochen viele Versuche gegeben, Julian Assange als Verbrecher darzustellen. Der Wikileaks-Gründer habe sich des Verrats und der Spionage schuldig gemacht, meinten einige. Andere halten ihn gar für einen Terroristen, der »Blut an den Händen hat«, wie es die US-Politikerin Sarah Palin kürzlich formulierte. Im Vergleich zu solchen Anschuldigungen sind die Vorwürfe, die nun zur Festnahme von Assange in London führten, sehr intimer Natur. Die britische Polizei verhaftete den 39-jährigen Australier am Dienstag, weil gegen ihn in Schweden wegen Vergewaltigung, Nötigung und sexueller Belästigung ermittelt wird. Die schwedische Affäre - Teil einer US-Verschwörung? Diese Vorwürfe haben mit den vieldiskutierten Enthüllungen von Wikileaks eigentlich nichts zu tun. Unterstützer der Webseite vermuten aber, dass die schwedische Affäre Teil einer von den USA gesteuerten Verschwörung ist. Julian Assange, der alle Vergewaltigungs-Vorwürfe bestreitet, hat diese Konspirationstheorien selbst genährt. Kurz nach Bekanntwerden der Verdächtigungen Ende August sagte er einmal der Zeitung Aftonbladet, er sei vor »schmutzigen Tricks« des Pentagon, insbesondere vor »Sex-Fallen«, gewarnt worden. Allerdings nahm der Wikileaks-Gründer solche Hinweise, sollte es sie wirklich gegeben haben, offenbar nicht besonders ernst. Jedenfalls ist unbestritten, dass er bei einem Stockholm-Besuch Mitte August binnen weniger Tage Sex mit zwei Frauen hatte, die er kaum kannte. Auf die Aussage dieser beiden Schwedinnen stützt sich nun der Verdacht der Staatsanwältin. Inkonsequenz der Justiz Was genau in den fraglichen Sommernächten geschehen sein soll, verschweigen die Behörden mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen. Bekannt ist, dass es in beiden Fällen erst freiwillig zum Geschlechtsverkehr kam. Dann aber soll Assange gegen den Willen seiner Partnerinnen ungeschützten Sex erzwungen haben. Als die beiden Frauen später feststellten, dass sie ähnlich schlechte Erfahrungen mit Assange gemacht hatten, gingen sie zur Polizei. Zunächst taten sie es angeblich nur, um zu fragen, ob man den Wikileaks-Chef zu einem Aids-Test zwingen könnte. Aber dann 71 entwickelte die Sache eine Eigendynamik. Man muss dazu wissen, dass in der schwedischen Öffentlichkeit seit Jahren sehr intensiv über häusliche Gewalt und einen besseren Schutz von Frauen gegen männliche Übergriffe debattiert wird. Die Gesetze sind streng, und Behörden sind für diese Art von Vergehen besonders stark sensibilisiert. Die Staatsanwaltschaft schaltete sich also in den Fall ein. Jedoch handelte sie nicht sehr konsequent. In Stockholm wurde zunächst ein Haftbefehl gegen Assange erlassen, dann nach wenigen Stunden aber wieder zurückgezogen. Es gebe keine Beweise für eine Straftat, hieß es damals. Doch in der Berufungsinstanz der Anklagebehörde in Göteborg bewertete man den Fall schließlich anders. Oberstaatsanwältin Marianne Ny zog das Verfahren an sich und nahm die Ermittlungen wegen Vergewaltigung erneut auf. Die beiden Frauen wurden zu Nebenklägerinnen und nahmen sich einen Anwalt. Sie wehrten sich anfangs noch in der Presse gegen Assanges Andeutungen, sie seien so etwas wie Sex-Agentinnen der USA. Es gehe »einzig und allein um einen Mann mit einem verschrobenen Frauenbild, der kein Nein akzeptieren kann«, sagte eine der beiden noch im August einer Zeitung. Quelle:http://www.sueddeutsche.de/politik/julian-assange-vergewaltigungs-vorwuerfedas-nachspiel-einer-bettgeschichte-1.1033335, Zugriff: 15.04.2011 72 Silvio, besorg es uns! Berlusconi soll Sex mit Minderjährigen haben. Die Öffentlichkeit stört das nicht. Als die Unterlagen der Mailänder Staatsanwaltschaft im römischen Parlament eintrafen, sagte der Abgeordnete Pierluigi Castagnetti: »Ein Glück, dass es noch ein anderes Italien gibt als jenes, das uns aus diesen Dokumenten entgegenschlägt.« Den Beweis für diese optimistische Behauptung blieb Castagnetti, der als Mitglied des oppositionellen Partito Democratico den Ausschuss für die Immunität der Abgeordneten leitet, allerdings schuldig. Denn das »andere Italien« droht zu verschwinden hinter den 389 Seiten, auf denen die Staatsanwälte ihren Antrag auf Aufhebung der Immunität von Silvio Berlusconi begründen. Ihr Verdacht gegen den Premierminister: Nötigung und Förderung der Prostitution Minderjähriger, ein extrem schwerwiegender Vorwurf gegen den 74-jährigen Ministerpräsidenten, dessen Partys und Affären seit Jahren die Öffentlichkeit in Atem halten. Im Mittelpunkt des Skandals steht eine 18-jährige Gelegenheitsprostituierte aus Marokko, die zum Zeitpunkt ihrer ersten »Kontaktaufnahme« mit dem Premier nicht älter als 16 Jahre gewesen sein soll. In abgehörten Telefonaten, deren Protokolle in allen Medien ausgebreitet werden, ist von fünf Millionen Euro »Schweigegeld« für das Mädchen die Rede, gezahlt von Silvio Berlusconi. Andere junge Frauen, die zu Partys des Ministerpräsidenten geladen waren, sollen angeblich mit Wohnungen in dem von Berlusconi erbauten Mailänder Stadtviertel Milano Due »abgefunden« worden sein. Der Skandal ist so enorm, der Verdacht so ungeheuerlich, dass der Rücktritt des Ministerpräsidenten wohl in jeder anderen europäischen Demokratie unausweichlich wäre. Nicht so in Italien. Berlusconis Gefolgsleute haben stattdessen die Losung ausgegeben, man müsse das Land von »Staatsanwälten erlösen, die unsere Freiheit bedrohen«, der Premier selbst erklärte in einer ästhetisch an die Spätphase der Sowjetunion erinnernden Videobotschaft an das italienische Fernsehvolk, er habe es nie nötig gehabt, Frauen zu bezahlen. Im Übrigen habe er eine feste Freundin, die so etwas auch gar nicht dulden würde. Prompt stürzt sich die Öffentlichkeit auf die »Neue« des mit knappster Mehrheit regierenden Illusionskünstlers. Wer ist sie? Die Kandidatinnen – allesamt ein halbes Jahrhundert jünger und Politikerinnen der Berlusconi-Partei – dementieren kokett. »Schön wär’s«, sagt in Neapel Francesca Pascale, 25. »Berlusconi ist ein faszinierender Mann«, sagt in Mailand Nicole Minetti, ebenfalls 25. Und in Turin klagt der Vater einer 26-jährigen Roberta: »Es wäre ein großes Glück für meine Tochter. Aber leider ist sie es nicht.« 73 Der Mailänder Kardinal Dionigi Tettamanzi hatte gewarnt: »Italien ist heute krank wie zur Zeit der großen Pest. Die Amoralität verbreitet sich in allen Schichten unserer Gesellschaft.« Das größte Problem hätten jene Eltern, die ihren Kindern erklären müssten, was da geschehe. »Und die vielleicht Töchter im Alter der jungen Frauen haben, deren Fotos man in allen Zeitungen sieht.« Doch die Eltern, deren Töchter den sechsfachen Großvater Berlusconi frequentieren, scheinen darüber weniger entsetzt als erfreut zu sein. Dabei hat Italien gravierende Probleme. Jeder dritte Italiener unter 30 ist arbeitslos. »So wie Sie aussehen, könnten Sie meinen Sohn heiraten«, versprach Berlusconi einmal einer arbeitssuchenden jungen Frau als Lösung ihrer Probleme. Er beherrscht Italiens Kulturindustrie – und wer es nicht schafft, in einem seiner Sender, Kinos, Theater oder Verlage einen Job zu bekommen, darf immer noch darauf hoffen, zu den privaten Festen eingeladen zu werden. Gegen fürstliche Bezahlung, wie es der Logik des Padrone entspricht. Im von Berlusconi kontrollierten Staatsfernsehen und im Radio haben die Verteidiger »persönlicher Freiheit« das Wort, neben Berlusconis bezahlten Anwälten sind das auch Zuschauer, die empört in den Talkshows anrufen und für ihn Partei ergreifen. Sie behaupten, die Ermittler in Mailand hätten die Verdachtsmomente »erfunden«, um den rechtmäßig gewählten Regierungschef zu stürzen. Deshalb auch habe das Verfassungsgericht letzte Woche ein Gesetz verworfen, das Berlusconi vor seinen laufenden Prozessen schützen sollte. Der Regierungschef sei Opfer einer parteiischen und antidemokratischen Justiz. Die wenigsten Italiener geben zu bedenken, wie ungewöhnlich es ist, dass sich ein Mann im Greisenalter mit Dutzenden junger Frauen umgibt, von denen sich einige prostituieren. Ein Regierungschef mit solcher Freizeitgestaltung wird erpressbar, von dem Imageschaden für sein Land ganz abgesehen. »Wie kann er uns anfassen und am nächsten Tag regieren?«, wunderte sich eines der Partymädchen. In diesem neuen Kampf zwischen Berlusconi und den Staatsanwälten droht das »andere Italien« wieder einmal unterzugehen. Es ist das Italien der Jungakademiker, die massenhaft ins Ausland emigrieren, weil sie zu Hause keine Zukunft sehen. Es ist auch das Land, das so viele ehrenamtlich engagierte Jugendliche hat wie kein anderes in Europa. Dieses Italien fühlt sich durch Berlusconi nicht repräsentiert, aber es ist verstummt. Verblasst neben dem grell-vulgären Spektakel des vorerst letzten Gefechts um die Macht, in dem die Bürger nur noch passives Publikum sind, unfähig, sich zu erheben und nach einer Alternative zu suchen. 74 Quelle: http://www.zeit.de/2011/04/Berlusconi-Minderjaehrige?page=1, Zugriff: 18.04.2011 Berlusconi – »33 Frauen sind zu viel für mich« Italiens Ministerpräsident hat eine neue Verteidigungstrategie in der Prostitutionsaffäre gefunden: Er sei zu alt für so viel Sex, wie ihm angelastet werde. Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat sich in einem Interview gegen Sexvorwürfe gewehrt. Der ihm kritisch gegenüberstehenden Zeitung »La Repubblica« sagte er, er sei zu alt, um all die ihm vorgeworfenen sexuellen Kontakte gehabt zu haben. Obwohl er »ein bisschen ungezogen« sei, seien 33 Mädchen in zwei Monaten selbst für einen 30-Jährigen etwas viel. Berlusconi ereifert sich in den Interview weiterhin, die Ermittler schadeten nicht nur seinem Ruf sondern auch dem der jungen Frauen, mit den er sich angeblich vergnügt habe. Diese müssten nun damit leben, dass sie öffentlich als Prostituierte dastünden. Dabei hätten sie »lediglich das Verbrechen begangen, an einem Essen mit dem Ministerpräsidenten teilzunehmen.« Gegen den 74-jährigen soll in Mailand wegen Sex mit einer Marokkanerin, die zum Tatzeitpunkt minderjährig war, der Prozess gemacht werden. Zudem wird Berlusconi vorgeworfen, sein Amt missbraucht zu haben, um den Vorfall zu vertuschen. Den Gerichtsakten zufolge sollen innerhalb von zwei Monaten 33 Frauen in seiner Villa bei Partys gewesen sein. Prozessbeginn ist am 6. April. Quelle: http://www.welt.de/politik/ausland/article12845480/Berlusconi-33-Frauen-sindzu-viel-fuer-mich.html, Zugriff: 18.04.2011 Berlusconi und das Bunga-bunga Silvio Berlusconi in der Bredouille: Eine 17-Jährige behauptet, mehrere zehntausend Euro von Gefolgsleuten des italienischen Regierungschefs dafür erhalten zu haben, dass sie dessen Partys in der Villa San Martino besuchte. Jetzt ermittelt die Mailänder Staatsanwaltschaft im Umfeld des Premiers. Rom - Ein verwirrtes Aschenputtel, 30.000 Euro in bar und jede Menge pikanter Details aus dem Leben des italienischen Premiers: Zum wiederholten Mal ist Silvio Berlusconi wegen seiner angeblichen Vorliebe für Minderjährige in die Schlagzeilen geraten - und 75 erneut fordert Italiens größte Oppositionspartei den Rücktritt des Regierungschefs: »Berlusconi kann keine weitere Minute länger in einem öffentlichen Amt bleiben, das er auf unanständige Weise verraten hat«, sagte der Vorsitzende der linken Demokratischen Partei (PD), Pier Luigi Bersani, am Samstag. »Das Land hat ein Recht auf moralische Nüchternheit.« Diesmal ist die Protagonistin des Skandals eine Bauchtänzerin, die sich Ruby Rubacuori oder auch »Herzensdiebin« nennt. »Ich habe den Ministerpräsidenten getroffen«, soll die 17-Jährige einem Sozialarbeiter anvertraut haben. »Ich habe 30.000 Euro von Silvio Berlusconi erhalten, in bar, in einem Umschlag« zitiert die regierungskritische Zeitung »Il Fatto Quotidiano« die junge Frau. Dreimal soll Ruby der »Repubblica« zufolge in Berlusconis Villa San Martino im lombardischen Arcore zu Besuch gewesen sein, außerdem wertvollen Schmuck, Designermode, ein Auto und Uhren mit der Aufschrift »Gut, dass es Silvio gibt« von ihrem Gönner geschenkt bekommen haben. Nein, sie habe keinen Sex mit dem Premier gehabt, betonte die Minderjährige. Aber sie habe einen tiefen Einblick in das Leben der Schönen und Reichen bekommen, der Escort-Damen und Politiker, die dort ein- und ausgingen. Erotisches Dessert im Separee Auch über »Bunga-bunga« sprach Ruby mit den Beamten der Staatsanwaltschaft Mailand, die sie im Zusammenhang mit Ermittlungen im Rotlichtmilieu schon vor Monaten erstmals befragt hatten. »Bunga-bunga« bezeichne eine angebliche Angewohnheit des Hausherrn von Arcore, nach dem traditionellen Abendessen schöne Frauen und interessierte Gäste zu einer Art erotischem Dessert ins Separee einzuladen. »Silvio hat mir gesagt, dass der Ausdruck Bunga-bunga von Ghaddafi kommt: Es sei ein Ritus in seinem afrikanischen Harem«, zitiert die »Repubblica« aus den Ermittlungsakten. Am 14. Februar 2010 will Ruby erstmals in Begleitung eines Vermittlers nach Arcore gekommen sein. Über einen Seiteneingang habe sie das Gebäude erreicht und sei dann »Silvio« vorgestellt worden: »Er ist sehr höflich. Da sind etwa 20 weitere Mädchen, aber nur zwei Männer« - Silvio und ein anderer Mann, so ihre Schilderung. Bei Letzterem soll es sich um einen Journalisten aus Berlusconis Mediaset-Gruppe handeln, der an der wegen mangelnder Objektivität umstrittenen Nachrichtensendung Tg4 des Privatsenders »Rete 4« mitwirkt. Wegen mutmaßlicher Begünstigung der Prostitution ermittelt die Staatsanwaltschaft Mailand jetzt gegen den Journalisten und einen weiteren Bekannten Berlusconis, 76 einen Medienunternehmer und »Talent-Scout«, der Ruby versprochen haben soll, sie im Showbusiness unterzubringen. »Ich habe keine Ahnung, wer diese Ruby ist, ich habe niemals irgendeine Art von Beziehung zu ihr gehabt«, dementierte der Journalist am Donnerstag die Meldungen. Vielleicht habe er sie »ein paar Mal beim Abendessen mit dem Premier gesehen«, sagt er dem Sender »Radio Città Futura«. Er bestritt aber, die 17-Jährige je mit dem TalentScout oder gar mit Silvio Berlusconi bekannt gemacht zu haben. Zwar erinnere er sich an einen gemeinsamen Abend in der Villa San Martino, wo man an der Bar gesessen und etwas getrunken habe. Auch Mädchen seien dort gewesen, aber es sei alles ganz normal verlaufen. Er habe zudem keinen Schimmer, was »Bunga-bunga« bedeute. In einem Interview mit dem »Corriere del Mezzogiorno« im April 2009 erinnerte sich die ebenfalls minderjährige mutmaßliche Berlusconi-Gespielin Noemi Letizia an einen Witz, den ihr »Papi« einst erzählt habe: »Zwei Minister der Regierung Prodi fahren nach Afrika und werden von einem Eingeborenenstamm entführt. Der Häuptling fragt die erste Geisel: ›Willst du sterben oder Bunga-bunga?‹ ›Bunga-bunga‹ sagte dieser und wird vergewaltigt. Der zweite entschließt sich, gleich zu sterben. Sagt der Häuptling: »Erst Bunga-bunga, dann sterben.« Hypothesen, Halbwahrheiten, Medienmüll Diese Schilderung könnte ein Beleg dafür sein, dass der Begriff im Umfeld des Präsidenten tatsächlich kursierte, und Ruby mithin zumindest in diesem Zusammenhang nicht gelogen hat. Denn: Vieles, was die 17-Jährige bisher gesagt hat, ist den Ermittlern zufolge konfus, widersprüchlich und bei weitem nicht immer glaubhaft. Trotz ihres an Erfahrungen reichen Lebens wirke Ruby noch immer sehr unreif, hieß es. Dementsprechend groß ist die Zurückhaltung bei den Behörden: Der oberste Staatsanwalt des Landes, Edmond Brut Liberati, erklärte, dass es in den kommenden Tagen keine Erklärungen zu dem Fall geben werde. Sämtliche Angaben müssten vorsichtig geprüft werden. Derzeit scheint lediglich gesichert, dass Ruby am 14. Februar tatsächlich in Arcore war, weil ihr Mobiltelefon dort geortet wurde. Außerdem sollen einige der Schmuckstücke, von denen sie sagt, es seien Geschenke Berlusconis, tatsächlich vom Premier selbst gekauft worden sein. Der 74-Jährige wischte die Kritik an seinem Lebensstil am Freitag auf gewohnt lässige Art vom Tisch. »Ich bin ein fröhlicher Mensch, ich liebe das Leben und die Frauen.« »Niemand wird mich dazu bringen, meinen Lebensstil zu ändern, ich bin stolz darauf«, sagte der Ministerpräsident in Brüssel. »Ich habe ein furchtbares Leben, ich muss 77 Übermenschliches leisten, arbeite bis halb drei Uhr morgens und stehe um sieben Uhr wieder auf.« Da brauche er ab und zu einen entspannenden Abend. Als »kolossale Übertreibung« und Zeitungsente bezeichneten Berlusconis Anwälte Niccolò Ghedini und Piero Longo den Wirbel um die Aussagen der jungen Frau. Man sei vollkommen ruhig, aber angesichts des riesigen Medienechos verständlicherweise verärgert, so die Berater des Premiers. Die Vorwürfe der Journalisten seien »komplett und total unbegründet«. Das mag sein, dennoch macht sich offenbar Unruhe breit, auch unter den Personen, die Ruby als notorische Besucher von Berlusconis Partys in Arcore nannte. Eine ellenlange Namensliste soll den Ermittlern laut »Repubblica« vorliegen - darunter Fernsehmoderatorinnen, aufsteigende Show-Größen und absteigende Starlets, aber auch einige Politikerinnen, zwei davon mit Ministeramt. Der Mailänder »Corriere della sera« zeichnete am Donnerstag die bewegte Vergangenheit der Ruby Rubacuori nach - in allen ihren trostlosen Details. Geboren am 11. November 1992, riss sie erstmals mit 14 von zu Hause aus, ließ das sizilianische Messina und ihre marokkanische Familie hinter sich. Dreimal wird sie wegen Diebstahls angezeigt, immer wieder versuchen verschiedene Behörden, sie in einer betreuten Wohnanlage für Minderjährige unterzubringen. Nach einer kurzen Liaison mit einem 33-Jährigen verdingt sie sich in Mailand eine Zeit lang als Zimmermädchen, Bauchtänzerin und Kosmetikerin. Berlusconi hilft Ruby aus der Haft Eine Weile lebt sie unbehelligt, obwohl die Behörden sie suchen und sie untergetaucht ist. Bis am 27. Mai 2010 eine lautstarke Auseinandersetzung die Polizei auf den Plan ruft, wie die »Repubblica« berichtet. Eine Frau wirft der 17-Jährigen vor, ihr 3000 Euro und wertvolle Uhren gestohlen zu haben. Der Streit eskaliert, als die Beamten vor Ort eintreffen, stellen sie fest, dass die Beschuldigte keine gültige Aufenthaltsgenehmigung hat. Bei Feststellung der Personalien auf der Wache stellen die Beamten fest, dass das Mädchen gesucht wird. Es sei bei Auffinden in eine Jugendeinrichtung zu bringen. Am 28. Mai wird sie ins Polizeipräsidium gebracht, wo sie bereits von einer Vertrauten von Silvio Berlusconi erwartet - und aus dem Polizeigewahrsam entlassen wird. Der Ministerpräsident räumte am Freitag ein, bei der Freilassung von Ruby seine Hände mit im Spiel gehabt zu haben. Er weist jedoch die Vorwürfe zurück, er habe sein Amt missbraucht. Er habe lediglich die Polizei angerufen und eine Person benannt, in deren Obhut die Beamten die Minderjährige geben konnten, aber niemanden beeinflusst. »Ich bin ein Mensch mit einem guten Herzen und immer bereit, jemandem in Not zu 78 helfen«, so Berlusconi am Donnerstag schelmisch. Quelle:http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,725945,00.html, Zugriff: 18.04.2011 79 Charlie Sheen Der Super-Chauvi Drogen, Alkohol, Frauen: Charlie Sheen spielt sich in »Two and a half Men« selbst – und kassiert eine Million Dollar pro Folge. Eigentlich ist Charlie Sheen kein Sympathieträger. Der Mann neigt zu Gewaltausbrüchen, fährt einen dicken Protz-Mercedes, hat immer wieder Drogen- und Alkoholprobleme und fällt öfter durch politisch nicht korrekte Sprüche auf. Seine bislang drei Ehen waren und sind ein einziges Chaos. Aktuell steht ihm ein Gerichtsverfahren in Colorado bevor, weil er seine derzeitige Frau Brooke Mueller vergangene Weihnachten in Aspen mit einem Messer bedroht haben soll. In der Talkshow von David Letterman antwortete Sheen auf die Frage, warum er sein Leben nicht endlich in den Griff bekomme: »Ich würde mal als einen der Hauptgründe nennen, dass ich im Grunde ein Riesenarsch bin.« Im Grunde ist auch Charlie Harper ein Riesenarsch. Die Hauptfigur der Fernsehserie »Two and a Half Men« neigt zu Zynismus und Hedonismus, hat immer wieder Drogenund Alkoholprobleme, seine Frauengeschichten sind ein einziges Chaos. Er fährt einen dicken Protz-Mercedes, trägt gerne Bowlinghemden in grellen Farben, kurze Hosen und weiße Socken in Turnschuhen – und neigt auch sonst zu Geschmacklosigkeiten. Trotzdem laufen ihm die schönsten Frauen nach. Wer könnte diesen Typen also besser spielen als Charlie Sheen? Trotz aller Eskapaden gilt Charlie Sheen als derzeit erfolgreichster FernsehserienDarsteller weltweit, und selbst die Anklage wegen »häuslicher Gewalt« konnte den Verhandlungen mit dem Sender CBS nichts anhaben. Gerade wurde Sheens Vertrag um zwei Jahre verlängert, das Honorar soll laut dem Branchenblatt Daily Variety bei einer Million Dollar pro 22-Minuten-Folge liegen. Mit »Two and a Half Men«, in Deutschland bei Pro Sieben zu sehen, hat er bereits 100 Millionen Euro verdient. Und das, obwohl Charlie Sheen vor der Kamera mehr oder weniger nur er selbst sein muss. Einige Auftritte in »Two and a Half Men« sollen dem desolaten Zustand geschuldet sein, in dem der 44-Jährige manchmal im Studio erscheint. Wenn der Hauptdarsteller so betrunken ist, dass er den Hausschlüssel nicht mehr ins Schloss bekommt und seinen Text nicht mehr weiß, wird das einfach in die Handlung eingebaut. Der Clou an der Serienfigur ist, dass der vermeintliche Vollversager in Wahrheit doch eine Sympathiefigur ist. Gerade wegen seiner Schwächen und Ausraster erscheint er manchmal liebenswürdiger und ehrlicher als die ganzen Neurotiker und Spießer um ihn herum. Der Schauspieler Jon Cryer, der in der Serie Charlies Bruder Alan spielt, sagte bei der Emmy-Verleihung 2009: »Er lässt es so 80 einfach aussehen, aber das ist es nicht.« Das ist richtig. Ohne Sheen wäre die Serie kein Welterfolg. Mittlerweile ist die siebte Staffel abgedreht. Die Aufzeichnung der Episoden war Anfang des Jahres allerdings für zwei Monate unterbrochen worden, weil der Hauptdarsteller mal wieder in einer Entzugsklinik war. Seit den neunziger Jahren kämpft Charlie Sheen immer wieder gegen seine Drogenund Alkoholsucht. 1998 hatte sein eigener Vater, Hollywood-Schauspieler Martin Sheen, den straffälligen Sohn beim Richter in Malibu abgesetzt. Martin Sheen verteidigte seinen Sohn immer wieder öffentlich gegen »unbarmherzige und primitive Angriffe der Medien auf Charlies Charakter.« Eigentlich wollte der junge Carlos Irwin Estevéz, so Charlie Sheens bürgerlicher Name, Baseballspieler werden. Seine Mutter ist die Künstlerin Janet Estévez, den Namen Sheen nahm er erst später an. Seine Schulkarriere endete kurz vor den Abschlussprüfungen der Highschool, wegen zu schlechter Noten und zu häufigen Fehlens. Als er aber seinen Vater bei den Dreharbeiten zu »Apocalypse Now« besuchte, beschloss Carlos, doch in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. In Oliver Stones Vietnamfilm »Platoon« wurde er über Nacht zum Star. Doch bald fiel er häufiger als Partylöwe mit Hang zu Alkohol, käuflichem Sex und Prügeleien auf. 1990 wurde Sheens damalige Freundin Kelly Preston mit einer Fleischwunde am Arm ins Krankenhaus eingeliefert. Sheen soll Preston mit einem Revolver bedroht haben, dabei soll sich ein Schuss gelöst und die Frau verletzt haben. An Weihnachten 1996 rief Brittany Ashland, die damals aktuelle Freundin, bei der Polizei an: Sheen habe sie bedroht und geschlagen. Die Boulevardpresse in Hollywood breitet die schönen Sheen-Skandale gerne genüsslich aus. Einmal schlich er sich, sehr schlecht verkleidet mit angeklebtem Bart und Sonnenbrille, aus dem Haus eines Luxus-Callgirls. Blöderweise wurde er dabei fotografiert und stritt den Besuch bei der Prostituierten auch noch auffallend heftig ab. Sheen war der einzige Prominente, der öffentlich als Kunde genannt wurde, als der Skandal um den Prostituierten-Ring von Heidi Fleiss bekannt wurde. Seine zweite Ehefrau, Denise Richards, bezeichnete ihn als sexsüchtig und bezichtigte ihn, stundenlang auf Pornoseiten zu surfen. Bei wichtigen Lebensfragen konsultiert Charlie Sheen seinen Stammschamanen. Derzeit muss er ihn wohl oft um Rat fragen. In Los Angeles kursieren Gerüchte, dass die Scheidung von Brooke Mueller, der Mutter der gemeinsamen Zwillinge Bob und Max, bevorstehe. Für Anfang Juli ist der Prozess wegen des Angriffs auf seine Frau angesetzt. Seit der Anklage versuchen die Anwälte des Stars, sich mit der Staatsanwaltschaft zu einigen. Sheen könnte sich eines minderschweren Vergehens für schuldig bekennen und 45 Tage hinter Gittern verbringen. Bei einer Verurteilung 81 drohen ihm bis zu zwei Jahre Haft. Gewalt gegen ein Familienmitglied - das kann in Hollywood das Ende einer Karriere bedeuten. Bei Charlie Sheen scheint das anders zu sein. Denn er gilt sowieso als »Bad Boy«, und die Öffentlichkeit liebt ihn trotz oder gerade wegen seines Verhaltens. Bei Tiger Woods, der wegen diverser Sexaffären in die Schlagzeilen kam und dadurch wichtige Werbekunden verlor, war das Problem, dass er zuvor ein Image als Saubermann hatte. Charlie Sheen galt schon immer als Riesen-Chauvi – aber wenigstens als ehrlicher, unterhaltsamer Riesen-Chauvi. Quelle: http://www.sueddeutsche.de/leben/charlie-sheen-der-super-chauvi-1.952498, Zugriff: 18.04.2011 82 Die Milliardärin, der Gigolo und geheime Videos 31.10.2008 Von S. Wimmer, C. Gasteiger und B. Kastner Susanne Klatten, reichste Frau im Land, wurde wohl wie andere Millionärinnen erpresst - von einem Sex-Syndikat. Sie ist eine der reichsten Deutschen und ein Spross der erfolgreichen Quandt-Familie. Im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht Susanne Klatten, die sympathische Großaktionärin des BMW-Konzerns, selten – nun aber findet sich ihr Name plötzlich in internationalen Medien wie La Repubblica in Italien und Evening Standard in Großbritannien. Der Grund: ein pikanter Kriminalfall. Sie ist, genauso wie einige befreundete Millionärinnen, offenbar in ein Netz italienisch-schweizerischer Erpresser geraten. Monatelang wurde die Münchnerin offenbar erpresst – 7,5 Millionen Euro flossen an einen schweizerischen Gigolo, mit dem sie wohl zu viel Tuchfühlung aufgenommen hatte. Aus Ermittlungsakten der italienischen Polizei, die mit den deutschen Kollegen aus München kooperiert, geht hervor, dass der Delinquent Helg S. die erotischen Zusammenkünfte mit ihr filmen ließ und damit drohte, das Material der deutschen Presse zu übergeben. Der Mann forderte allem Anschein nach später noch einmal eine zweistellige Millionen-Euro-Summe – doch dann stellte die 46-jährige Mutter dreier Kinder Strafanzeige gegen den Liebhaber und seinen Komplizen. Dies bestätigte eine Person aus dem Umfeld der Quandt-Familie der Süddeutschen Zeitung. Das Ergebnis: ein riesiges Medienecho. Wie die Internetausgabe der italienischen Tageszeitung La Repubblica berichtet, wurden der vielsprachige Helg S., 41, und sein Komplize Ernano B., 63, Chef einer religiösen Sekte, festgenommen. Sektenguru B. war der »Regisseur« der pikanten Filmchen. Zusammen erpressten die beiden die Gespielinnen. Wohnungen, Grundstücke und Luxusautos Bis jetzt wurde die Identität der betrogenen Unternehmerin von der Staatsanwaltschaft im Abruzzen-Ort Pescara geschützt. Aber in den vergangenen Tagen sind sowohl Ermittlungsergebnisse als auch Inhalte der Protokolle in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Oberstaatsanwalt Anton Winkler versicherte auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung, dass die Untersuchungen in dem Fall laufen. »Unsere Ermittlungen in diesem Fall sind noch nicht abgeschlossen.« Zum näheren Sachverhalt wollte er sich am 83 Freitagnachmittag nicht äußern. BMW wollte auf Anfrage keine Stellung nehmen. Aus dem Umfeld der Quandt-Familie heißt es, man wolle die italienischen Medienberichte nicht kommentieren, man könne sie aber auch nicht dementieren. Am 15. Februar 2008 kontaktierte die Münchner Staatsanwaltschaft die Kollegen aus Pescara, um nach der Festnahme von S. Rechtshilfe zu bekommen. Mit den Ermittlungen wurde Staatsanwalt Gennaro Varone beauftragt, der unter anderem Telefonabhörungen am Sitz von B.s Sekte anordnete und anschließend wertvolle Güter beschlagnahmte. Zwei Millionen Euro in bar waren unter einem Dach versteckt; man inspizierte Wohnungen, Gebäude, Grundstücke und konfiszierte Luxusautos wie Lamborghinis, Ferraris, einen Rolls-Royce und eine Limousine. All das soll laut Repubblica mit den sieben Millionen der BMW-Frau und mit weiteren zehn Millionen ihrer Freundinnen erworben worden sein. Den Ermittlern zufolge wurden weitere Millionen Euro der Ganoven schon in Sicherheit gebracht. Zwei Komplizen investierten das Geld unter anderem im ägyptischen Urlaubsort Sharm el-Sheik, in südamerikanischen Ländern und in Steuerparadiesen. Immer noch fehlen die Filmchen der geheimen Sextreffen. Nach Informationen von La Repubblica sollen die Verabredungen in Luxushotels auf der ganzen Welt, vor allem aber in München und Monte Carlo, stattgefunden haben. Dabei buchten die Komplizen S. und B. angeblich stets zwei miteinander verbundene Zimmer. In einem war das Paar zugegen – aus dem anderen, zum Regieraum umfunktionierten Hotelzimmer, filmte B. die Szenen. Die Beziehungen zwischen dem Schweizer Gigolo und den wohlhabenden Frauen brachen mit der Zeit ab. S. aber erfand mitleiderregende Geschichten – zum Beispiel, dass er von der italienisch-amerikanischen Mafia bedroht werde – und forderte wirtschaftliche Unterstützung. So wurde Susanne Klatten den Berichten zufolge dazu gebracht, 7,5 Millionen Euro zu zahlen; ihre Freundinnen entrichteten zwei oder drei Millionen pro Kopf und gaben Geschenke, heißt es in italienischen Medien. Festnahme in Monte Carlo Die beiden Gauner forderten aber immer mehr Geld und drohten, die Sexvideos zu verbreiten. Die erste Forderung bekam Susanne Klatten am 2. November 2007. Die letzte – ein Brief und eine DVD – kam am 12. Dezember. Verlangt waren 40 Millionen Euro. Anschließend wurde die Summe angeblich auf 14 Millionen verringert. Bedingung: Übergabe in einem Hotel in Monte Carlo. Klatten verabredete sich zwar mit S. für den 14. Januar 2008, informierte aber gleichzeitig die Polizei. 84 Bei dem Tête-à-tête traf S. nicht auf sein Opfer, sondern auf deutsche Polizeibeamte, die ihn wegen Betrugs und Erpressung festnahmen. Auch Klattens Freundinnen erstatteten Anzeige. Angeblich soll auch der deutsche Geheimdienst in die Affäre verwickelt sein. Susanne Klatten ist Tochter und Milliardenerbin der erfolgreichen Unternehmerfamilie Quandt, ist Großaktionärin von BMW, an deren Wertpapieren sie zusammen mit Mutter Johanna und Bruder Stephan 46 Prozent hält. Sie ist Hauptaktionärin des AltanaKonzerns. Mit einem geschätzten Vermögen von mehr als 13 Milliarden Dollar rangiert Klatten unter den bestverdienstensten und erfolgreichsten Wirtschaftsgrößen und gilt als reichste Frau Deutschlands. Quelle: http://www.sueddeutsche.de/panorama/quandt-erbin-klatten-erpresst-diemilliardaerin-der-gigolo-und-geheime-videos-1.520614, Zugriff: 29.04.2011 85 Podcast-Link radioWissen - Bayern 2 - »Mythos Verführer - Was Männer stark und Frauen schwach macht !«: http://cdn-storage.br.de/mirlive/bw1XsLzS/bLQH/bLOliLioMXZhiKT1/iLCpbHJG/uwQtsKFCuwJC/_2rc_U1S/_dS/_ANP9U1S/uLoXb69zbX06/100901_0930_radioWissen_Mythos-Verfuehrer---WasMaenner-stark-und-F.mp3 86 5. Das Don Juan-Syndrom Don|jua|nis|mus, der; [span. donjuanismo = Art u. Weise des Don Juan] (Psychoanalyse): Störung im männlichen Sexualverhalten, die sich in hemmungslosem Verlangen, dem Zwang, häufig den Partner zu wechseln, äußert (aus neurotischer Angst vor der Bindung). 87 Donjuanismus Ein Einblick in die Psychologie Don Juan, eine Gestalt der europäischen Dichtung, geht auf das spanische Drama »Der Spötter von Sevilla und der steinerne Gast« von Tirso de Molina (1630) zurück. Die Hauptfigur des Dramas, nämlich »Don Juan Tenorio«, dient als Urbild für die Figur des Don Juan und sein Name wurde Synonym für egoistische, narzisstische [1]Verführungssucht. »Donjuanismus« oder »Satyriasis«[2] bedeutet in der Psychoanalyse eine »Störung im männlichen Sexualverhalten«[3], die sich in hemmungslosem Verlangen, dem Zwang, häufig den Partner zu wechseln, äußert (aus neurotischer Angst vor der Bindung)«[4] Im Alltagsverständnis bezeichnet Donjuanismus also die völlig beziehungslose Verführungssucht eines Mannes, der immer auf der Suche nach Abenteuern ist, die Frauen aber nicht wirklich zu lieben vermag, teilweise sogar verachtet. In der Psychoanalyse wird Donjuanismus auch als eine Flucht vor der Homosexualität oder als Ausdruck eines ewigen Ödipuskomplexes gesehen. Nach Sigmund Freud versteht man unter dem Ödipuskomplex »die unterbewusste Neigung des Sohnes zur Mutter (oder auch der Tochter zum Vater), sowie den Drang, den gleichgeschlechtlichen Elternteil zu beseitigen«. Der von Freud in die Psychoanalyse eingeführte Begriff knüpft an die griech. Sage von Ödipus an[5]: Ein Mann, der am Ödipuskomplex leidet, läuft sein Leben lang einem Muttersurrogat[6] hinterher und »stiehlt« in seinem ewigen Vaterhass anderen Männern die Frauen und Töchter. Besonders Söhne alleinerziehender Mütter[7] weisen im Erwachsenenalter donjuanistische Wesensmerkmale auf. Die Ursache vermuten zahlreiche Psychologen in der problematischen Mutter-Kind-Beziehung, die sich daraus ergibt, dass die negativen Gefühle gegenüber Männern oder sich selbst von den Müttern auf das Kind übertragen werden, was bis zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Gefühlsabwehr führen kann. Aufgrund dieser höchst spannungsgeladenen Mutter-Kind-Konstellation reagieren Jungen vermehrt mit Donjuanismus, um die bodenlose Einsamkeit durch immer neue, flüchtige Liebesabenteuer zu kompensieren. Mädchen hingegen reagieren in derartigen Situationen eher mit psychosomatischen Störungen wie Essstörungen, Magendarmerkrankungen, etc. Auffällig ist jedoch bei beiden Geschlechtern, dass es zu einer Blockade der psychosexuellen Entwicklung, sowie der Moral und des Gewissens kommt.[8] Charakteristisch für den Donjuanismus sind das Fehlen jeder inneren oder auch kommunikativen Beziehung zur Partnerin und die sexuelle Unersättlichkeit, die den 88 Mann wahl- und anspruchslos von einer Frau zur nächsten treibt, ohne dass er jemals wirklich Befriedigung findet. Die Suche nach sexueller Befriedigung kann den Betreffenden völlig einnehmen, wobei sich das Spektrum der stimulierenden Reize stark vergrößert. Diese rein sexuellen Beziehungen bestätigen den Mann zwar in seiner Männlichkeit, doch verachtet er das weibliche Geschlecht dafür, dass es ihm immer wieder aufs Neue gelingt, sie zu verführen[9]. Dieses Verhalten zieht trotz vermehrter sexueller Betätigung eine Leere und Langeweile nach sich, da jeder kommunikative Aspekt einer Partnerschaft radikal ausgeklammert wird und sich der Betreffende auf der Suche nach immer neuen sexuellen Abenteuern mitunter sogar in höchst entwürdigende Situationen begibt. Ansonsten sind solche Personen oft realitätsfremd, naiv, kindlich und verträumt. Wichtig ist ihnen die Illusion ewiger Jugend und das Vermeiden von Verantwortung. Logik und Pünktlichkeit weichen Impulsivität und Improvisation. Auf »hysterische Persönlichkeiten«[10] übt das Neue einen ganz besonderen Reiz aus, worin man eine Angst vor dem Endgültigen erkennen kann. Ihr Leben wirkt sprunghaft und schillernd. Solange diese Personen im Mittelpunkt stehen, fühlen sie sich wohl. Positive Auswirkungen der Hysterie sind Unternehmungslust, Risikobereitschaft, Lebendigkeit und Elan. Ihre Aggressionsform besteht im Konkurrieren und Rivalisieren. So absurd es im ersten Moment erscheinen mag, sind hysterische Persönlichkeiten doch häufig sehr mit der Religion verbunden, weil sie der Gedanke der Schuldfreiheit (durch die Beichte) fasziniert. Biochemische Prozesse: Im Zusammenhang mit Erotomanie wurden auch die Vorgänge erforscht, die sich im Gehirn während des Orgasmus abspielen. Beim Höhepunkt werden sogenannte »körpereigene Opiate« [11] ausgestoßen, welche im limbischen System ähnliche Reaktionsmuster auslösen, wie von außen zugeführte psychotrope[12] Substanzen. Das limbische System verarbeitet innere und äußere Reize durch die Zusammenarbeit verschiedener Bereiche des Gehirns, die nicht im Großhirn liegen, welches zum Beispiel für die Persönlichkeitsstruktur verantwortlich ist. Das limbische System ist für die Steuerung des emotionalen Verhaltens zuständig und kann daher als »Zentrum der Gefühle« bezeichnet werden. Die beim Höhepunkt ausgeschütteten opioide Peptide[13] wirken angst- und schmerzlindernd. Dieselben Stoffe werden auch in Extremsituationen (z.B. schwere körperliche Verletzungen, Lebensgefahr,...) ausgeschüttet und blockieren im Gehirn 89 Rezeptoren[14], damit andere Transmitter[15] nicht abgebaut werden können. Diese biochemischen Prozesse hemmen sowohl das körperliche Schmerzempfinden, wie auch das seelische. Mit Hilfe dieser Stoffe, die beim Orgasmus ausgestoßen werden, können psychische «Schmerzen« also zumindest kurzzeitig unterdrückt werden. Durch die Erfahrung, dass diese Substanzen und/oder Verhaltensweisen zeitweise eine Erleichterung verschaffen, wird das süchtige Verhalten immer wieder ausgelebt, bis sich der Kreislauf der ,«süchtigen Schmerzlinderung« manifestiert. [1] Narzissmus ist die krankhafte Selbstliebe, ein übertriebenes In-sich-selbst-verliebt-sein. Der Begriff findet seinen Ursprung in der griechischen Mythologie. Narzissos verschmäht die ihn liebende, überaus hübsche Nymphe Echo, woraufhin Aphrodite, Göttin der Liebe und Schönheit, Narzissos mit Selbstliebe bestraft. Als Narzissos Wasser aus einer Quelle trinken will und sein Spiegelbild im Wasser sieht, verliebt er sich unsterblich in sein eigenes Abbild und wird fortan von Liebespein und Sehnsucht geplagt. Schließlich erlöst Aphrodite ihn und verwandelte ihn in eine Narzisse. [2] auch: Erotomanie, Hyperlibido oder Hypersexualität [3] weibl. Gegenstück ist die Nymphomanie [4] Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden (hg. Vom Wiss. Rat und den Mitarbeitern d. Dudenredaktion u.d. Leitung von Günther Drosdowski), Bd. 2 (1976) , S. 555. [5] Das moderne Lexikon, Band 13,12, Musi-Ors, Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, Gütersloh, 1972, S. 342 [6] Surrogat [das; lat.] (bes. minderwertiger) Ersatzstoff [7] Ob und wie sehr ein Kind unter dem Vaterverlust leidet, hängt vordergründig von dem Bild ab, das von der Mutter vermittelt wird. Es gilt einen Mittelweg zwischen Idealisierung und totaler Abwertung zu finden. [8] Zf. Petri, Horst. Das Drama der Vaterentbehrung. Chaos der Gefühle – Kräfte der Heilung. HerderSpektrum-Verlag, Freiburg Basel Wien 1999. S. 223 ff. [9] Teilweise wird ein „Don Juan“ aber auch als Opfer der Frauen gedeutet, die ihn begehren und so ist er es auch, der ihnen nicht widerstehen kann. [10] Begriff aus der Psychoanalyse/Individualpsychologie nach C.G. Jung [11] körpereigene Peptide, wie Enkephaline (natürliche Analoga der Opiate) und Endorphine (körpereigene Peptide,mit opiatähnlicher Wirkung) , die Effekte hervorrufen, die denen des Morphins ähnlich sind [12] auf die Psyche wirkend, sie verändernd [13] wirken ähnlich wie Morphium [14] Organe zur Aufnahme und Umwandlung von Reizen [15] Botenstoffe 90 Der obdachlose Milliardär Nicolas Berggruen will sich nicht festlegen, weder bei Frauen, seiner Ideologie noch beim Wohnsitz – ein Leben aus dem Koffer Nicolas Berggruen ist »embarassed«, dass die Medien ihm hier so viel Beachtung schenken. Das deutsche Wort »verlegen« fällt ihm gerade in seinem sonst so makellosen Redefluss nicht ein. Es scheint ihn selten jemand in peinliche Situationen zu bringen, zumindest nicht auf Deutsch. Es ist die Sprache seiner Eltern – des Kunstmäzens Heinz Berggruen und seiner zweiten Frau Bettina Moissi, einer Berliner Schauspielerin. Im August 1961 bekommt Bettina ihren ersten Sohn Nicolas. Die Familie lebt am Pariser Jardin du Luxembourg, die Eltern wohnen im sechsten Stock, Nicolas und sein jüngerer Bruder Olivier im fünften. Die Familie gibt Cocktailpartys für Künstler wie Joan Miró. Als kleiner Junge sitzt Nicolas auf dem Schoß von Pablo Picasso – der Vertrieb seiner Grafiken ermöglicht der Familie ein angenehmes Leben. Doch der Zwölfjährige langweilt sich in Paris. Er will Schriftsteller werden, studiert später Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre und lehnt sich gegen die bürgerliche Elite auf. Die Eltern schicken den Sohn auf das renommierte Schweizer Internat Le Rosey, das auch der US-Milliardär Winthorp Paul Rockefeller besuchte. Berggruen passt sich auch hier nicht an, rebelliert gegen die strengen Regeln und fliegt vom Institut. Dann die erste Wende: In New York studiert er Wirtschaftswissenschaften. Berggruen arbeitet diszipliniert, analytisch, klar und konzentriert. In seiner Freizeit erklimmt er Berge im Himalaya und fliegt in seinem Gulfstream-Jet um die Welt – 80 Städte in 365 Tagen. Oft geschäftlich und manchmal privat. Immer suchend und schnell gelangweilt – auch von den Frauen. Sie lieben ihn, stellen ihm nach. Nur die wenigsten bekommen seine E-Mail-Adresse, aber keine seine HandyNummer. So schön und intelligent sie auch sein mögen, nur drei konnten sich bisher länger an Berggruens Seite halten. Eine feste Beziehung komme für ihn nicht in Frage, sagt er. Und klingt dabei sehr entschieden. Wie seine Eltern empfängt er Künstler, Schauspieler und Mächtige. Seine Oscar-Partys gelten in Hollywood als ein Muss. Seine zweite Wende vollzieht Berggruen vor zwei Jahren mit Blick auf seinen 50. Geburtstag. Ihm kommen Zweifel am Sinn seines bisherigen Lebens. Er wirft materiellen Ballast über Bord, verkauft Villa, Yacht und Auto, packt die Koffer und zieht in seinen Jet. Er fühlt sich befreit, grübelt, liest und lernt. »Wir sind nur für einen kleinen Moment auf der Welt«, philosophiert der De-Luxe-Obdachlose. »Alles, was ich besitze, ist nur auf Zeit. Was wirklich zählt, ist, was wir aufbauen.« Für Generationen, für die Menschheit. Er will jetzt ein Museum für seine eigene Kunstsammlung in Berlin 91 eröffnen wie einst sein Vater. Nur ein bisschen rebellischer und jünger. 92 Da muss man sich einfach hinlegen Mit beunruhigender Zuverlässigkeit verlieben sich Frauen in windige Männer, auch «hommes à femmes» genannt. Warum? Weil sie Lust drauf haben, meine Herren. Vier Erklärungsversuche. Von Franziska K. Müller Silvie, 32 * Er fragte, ob wir am nächsten Freitag zusammen grillieren wollen, und ich antwortete – etwas irritiert –, ob ich ein Würstli mitbringen soll. Er hat nur gelacht. Als Treffpunkt nannte er den Bootssteg auf dem Bürkliplatz. Er fuhr in einer weissen Jacht vor. Es sah toll aus, das muss ich zugeben. Casanovas reagieren mit ihrem Verhalten auf gewisse weibliche Bedürfnisse. Das war schon immer so. Grundsätzlich sehe ich darin nichts Schlechtes. Dass diese Männer keine Partner für die Ewigkeit sein können, gehört sozusagen zu den Spielregeln, die halt manchmal aus dem Ruder laufen. An Bord gab es Champagner, und auf dem Kugelgrill hat er später tatsächlich Würste gegrillt. Allerdings keine normalen Exemplare, sondern irgendwelche superedlen Spezialwürste, für die er praktisch ans Ende der Welt reisen musste. Meiner Meinung nach ist dies eine typische Eigenschaft des Frauenhelden. Er legt in jeder Lebenslage Wert auf Exklusivität und Originalität. Einen Blazer mit Goldknöpfen trägt er nicht. Er protzt sozusagen auf die richtige Art und Weise und am richtigen Ort. Woher das Geld stammt, erfährt man in den wenigsten Fällen. Oft pflegt er auch ausgefallene Hobbys oder extravagante Vorlieben, die er mit einer gewissen Leidenschaft betreibt. Auf Deck hat er mich mit tausend neugierigen Fragen eingedeckt. Fragt man einen Don Juan über sein Leben aus, wird er mit ziemlicher Sicherheit wortkarg: entweder, weil es tatsächlich Geheimnisse zu verbergen gilt, oder, weil er ein Mysterium um seine Persönlichkeit kreieren will. Man kann sagen, dass es mir nicht an Erfahrung mit den Casanovas der Neuzeit fehlt. Ihre Vorgehensweisen durchschaue ich heute fast immer mit links. Trotzdem bleiben sie weiterhin interessant. Leider kann ich mit superseriösen und für mich meist langweiligen Männern nichts anfangen. Wenn man Anfang dreissig ist, stellt sich außerdem ein anderes Problem: Die meisten tollen Männer sind in festen Händen. Es bleiben die Verklemmten und jene, die nicht treu sein können. Ich hatte Geschichten mit fünf Männern, die man Frauenhelden nennen konnte. Ich nehme ihr Interesse an mir als Kompliment. In der Regel sind diese Männer subtil und raffiniert. Sie gelten als gute Lover, was nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen muss. Auf jeden Fall 93 merken sie intuitiv, wenn eine Frau den leisesten Gefallen an ihnen findet, und nehmen die Chance sofort wahr. Sie wissen, wie man die Chemie zwischen zwei Menschen provoziert und steuert. Bei einem solchen Goldjungen hast du das Gefühl, es existiere eine Seelenverwandtschaft, die die Basis einer glücklichen verbindlichen Beziehung sein könnte – und im Moment glaubt er das auch selbst. Zudem sieht er etwas in einem, das andere nicht sehen. Dieser unausgesprochenen Projektion – so verwegen sie auch sein mag – versucht man in der Folge zu entsprechen. Man fühlt sich einfach aufgewertet und supertoll. Im ungünstigsten Moment entpuppt sich ein solcher Wunderkerl dann leider als Ehrlichkeitsfanatiker. Bevor du dich möglicherweise verknallst und seine Spielregeln verletzt, klärt er dich darüber auf, dass er eigentlich kein monogamer Typ sei. Einer lud mich, nach einem ausgesprochen innigen Abend, auf eine heisse Nacht zu sich nach Hause ein. Am Kühlschrank hing die Fotografie einer anderen Frau. Nach den ersten Küssen fragte er mich zaghaft, ob ich überhaupt noch zu haben sei, was ich freudig bejahte. Natürlich drängte sich eine entsprechende Gegenfrage auf, die er mit einem zerknirschten Lächeln verneinte. Einer sagte mir am nächsten Morgen, nicht nur ich, sondern drei bis vier andere Frauen schliefen ebenfalls nackt mit ihm im Bett, und daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern. Grund? Er brauche dies für sein allgemeines Wohlbefinden. Punkt. Er nannte diese Frauen «meine Kuschelpuppen». Ich musste lachen, fand das aber doch des Guten zu viel. Beide Männer standen natürlich mit reiner Weste da, weil sie mit offenen Karten spielten. Sagst du einem Mann hingegen in den ersten drei Minuten einer Bekanntschaft, dass du eigentlich eine feste, treue Beziehung suchst, turnt das jeden ab. Auf Frauenhelden reagieren manche Frauen, indem sie Ausreden suchen: Der Typ hatte eine schwere Kindheit, eine gestörte Beziehung zur Mutter oder sonst einen Schaden. Er wird sich irgendwann ändern. Das ist natürlich Blödsinn. Ich ging auf jeden Fall von Bord der Jacht, ohne dass irgendetwas passiert wäre. Seither herrscht Funkstille. Marianne, 38 Auf dem Pausenhof gehörte ich zu denen, die am Rand blieben und jene bewunderten, die quer über den Platz gingen. Ich könnte schwören, dass Pablo schon als Bub quer ging. Pablo ging immer quer, und das extrem lässig. Es war sein natürlicher Weg. Er sah gut aus und strahlte eine so unverschämt wonnige Zufriedenheit mit seinem Körper aus, dass man sofort in seiner Nähe sein wollte. Alle Frauen wollten in seiner Nähe sein. Er hat etwas, was dich aus den Socken haut, wenn du ihn im richtigen Moment deines Lebens kennen lernst. Ich war seit kurzem 94 geschieden und nicht besonders geerdet. Mit ihm habe ich mich so beneidenswert gefühlt wie noch nie in meinem Leben. Er war der Mann, den früher immer nur die andern bekamen. Bisher hatte ich mich für einen Supernormalo gehalten. Er muss etwas anderes in mir gesehen haben. Sonst hätte er sich nicht so in Unkosten gestürzt. Er schmiss mit dem Geld um sich. Ich dachte, er gehört in eine Liga, in der Geld keine Rolle spielt. Er machte sündteure Geschenke, lud mich nach Portofino auf eine Jacht ein. Vermutlich hat es ihn das letzte Hemd gekostet. Wir lernten uns in der »Dolder«-Bar kennen. Ich war widerwillig mit einer Freundin mitgegangen. Das »Dolder« ist nicht meine Welt. Pablo und ich redeten, bis die Bar zumachte, viel über Bücher. Heute weiß ich, dass er sie nicht gelesen hatte, sondern von einem Freund erzählt bekam. Aber eigentlich ließ er mich reden. Er hatte die Gabe, die richtigen Stichwörter zu liefern. Ich fühlte mich immer besser. Dann fuhr er mich mit seinem Range Rover nach Hause. Niemand in meinem Bekanntenkreis fährt einen Range Rover. Auf dem ganzen Weg überlegte ich: »Was mache ich jetzt? Kaffee anbieten?« Ich war nicht mehr geübt im Anmachen nach den vielen Ehejahren. Er hielt vor meinem Haus und sagte: »Ich mache es dir einfach. Ich suche jetzt einen Parkplatz.« Man konnte mit ihm wilden Sex haben. Aber erst, nachdem er seine Kleider sorgfältig aufgehängt hatte. »Ich umgebe mich mit schönen Sachen«, sagte er, »denen trage ich Sorge.« Wie seinen Kleidern und seinem Range Rover trug er auch meinem Körper Sorge. Er konnte mitten im Sex sagen: »Wow, du müsstest jetzt dein Gesicht sehen.« Morgens im Badezimmer hätte ich ihm stundenlang zuschauen können. Er schaute pfeifend in den Spiegel oder strahlte sich an. Mich auch. Mit ihm bekam ich ein anderes Bild von mir. Ich hörte nicht an der Gurgel auf. Früher hatte ich unter der Dusche meinen Körper gewaschen wie ein nützliches Ding, nicht wie etwas Vergnügliches. Innerhalb von Tagen lernte ich, splitternackt vom Schlafzimmer ins Bad zu gehen. Nicht zu huschen, sondern eine kleine Drehung vor der Bettkante zu machen und dann loszustolzieren. Pablo war vielleicht ein Pfau, aber mit ihm wurde ich auch einer. Es war großartig. In guten Momenten kann ich es immer noch. Wir hatten nie einen Alltag zusammen. Wir redeten nie über die Zukunft oder über unsere Sorgen. Obwohl er in Trennung lebte und ich allein in einer viel zu großen Wohnung saß, habe ich nie gefragt, ob er einziehen will. Ich muss gewusst haben, dass es nicht dauert, oder ich suchte selber nichts, was dauert. Weder meine Familie noch meine Freunde lernten ihn kennen. Niemand hätte ihn abgelehnt, dazu war er viel zu sympathisch. Aber ich war von einem Kreis in einen anderen gehüpft, es gab 95 keine Schnittmenge. Warum er abtauchte, ist mir bis heute ein Rätsel. Er zog sich immer mehr zurück, war nicht mehr greifbar. Vielleicht überforderte ihn das Bild des vermögenden, großzügigen Mannes, das er für mich entworfen hatte und auf das ich ja durchaus auch hereingefallen war. Ich hatte Freude bekommen an dieser Plastikwelt, die er mir aufgetan hatte. Es muss für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Vielleicht hat er sich auch einfach entliebt von der Vorstellung, die er von sich hatte. Oder von mir. Auch wenn es nicht für die Ewigkeit war, hätte ich mir gewünscht, dass es länger dauert. Ich begann, Dinge zu tun, für die ich mich hasste. Ich ging mit dem Handy aufs Klo. Ich brach Telefongespräche mit andern nach einer Minute ab, damit die Leitung frei war. Ich konnte mich kaum ertragen. Dann zog ich radikal den Stecker raus. Wenn ich länger gewartet hätte, wäre ich wieder so klein geworden wie früher. Also machte ich, was ich von ihm gelernt hatte: mir Sorge tragen. Der Schmerz war heftig, aber kurz. Jedes Mal, wenn ich an einem der teuren Lokale vorbeigehe, in die er mich geführt hat, denke ich, was für ein Glücksfall, dieser Mann. Karin, 27 Eine Frau zu verführen, ist die einfachste Sache der Welt. Wir sind in dieser Hinsicht ja unglaublich bescheiden. Nur: Die meisten Männer begreifen das nicht. Zum Beispiel musste ich 26 Jahre alt werden, bis mir einer einen Blumenstrauß schenkte. Heute lebe ich in einer glücklichen Beziehung. Bis vor kurzem war es allerdings so: Wenn ich ein Date für ein Abendessen hatte, kramte der Mann – ohne Ausnahme – so lange und umständlich nach seiner Geldbörse, bis ich getrennte Rechnungen vorschlug, was natürlich freudig akzeptiert wurde. Das Gros der heutigen Männer denkt: Die ist selbständig, die ist emanzipiert, die ist sexuell befreit – warum soll ich mein sauer verdientes Geld ausgeben oder meinen Charme spielen lassen, wenn sie vielleicht auch so mit mir ins Bett springt? Es ist also kein Wunder, dass wir dahinschmelzen, wenn uns einer ein Glas Champagner offeriert, den Stuhl zurechtrückt oder die Autotüre aufhält. Weil es viel zu wenige von ihnen gibt, haben so genannte Frauenhelden heute Hochkonjunktur. Nachfrage und Angebot stimmen irgendwie nicht überein, und die Qualität ist nicht in allen Fällen gewährleistet. Andererseits sind die Geschmäcker und Ansprüche vielfältig, und meiner Meinung nach gibt es fast so viele verschiedene Sorten Casanovas, wie es Frauen gibt, die ihnen zu Füssen liegen. Der wahre Liebling der Frauen – jener, der dem Begriff »Frauenheld« Ehre verschafft – ist allerdings ein rares Exemplar. Den wollen alle. Meiner war ein Naturtalent, und er 96 liebte die Frauen wirklich. Er musste nicht schauspielern oder methodisch vorgehen. Ich behaupte, ein richtiger Frauenliebling verfügt über weibliche Züge, und ein Teil seiner Empfindungswelt ist ebenfalls weiblich. Auf der anderen Seite ist er so, wie wir uns einen richtigen Mann wünschen: sexuell energisch, selbstbewusst, originell, unabhängig und liebevoll. Er hat es nicht nötig, den Macker rauszuhängen, und ist doch meilenweit davon entfernt, ein Weichei zu sein. Kurz und gut: eine unwiderstehliche Kombination. Solche Exemplare gehen einem unter die Haut und nehmen unaufgefordert in deinem Herzen Platz. Da ist man machtlos. Ich wollte ihn unbedingt haben, und zwar mit Haut und Haaren. Tief in mir drin ahnte ich von Anfang an, dass er unerreichbar bleiben wird. Und so war es auch. Ich bin in Liebesdingen ein wenig egoistisch veranlagt. Ich will nicht teilen. In vernünftigen Minuten sagte ich mir auch: So ein Prachtskerl ist die Nadel im Heuhaufen. Irgendwie wäre es fast ungerecht, wenn ihn eine einzige Frau bekäme. Damit würde er vermutlich auch seine Strahlkraft einbüßen. Die Geschichte hätte ein schlimmes Ende genommen. Aus Liebe zu mir selbst beendete ich sie schweren Herzens im Frühstadium. Es gibt reiche, gut aussehende Männer, die eine Frau in den Stand einer Königin heben und sie nach Strich und Faden verwöhnen. In erster Linie lieben die nur sich selbst, das ist aber egal. Toll ist, dass die dir sozusagen am ersten Abend einen Brilli an den Finger stecken und tausend spannende Geschichten zu erzählen haben. Unter anderem von ihren rund um die Welt verstreuten Wohnsitzen und den Kontakten zu wichtigen Leuten. Andere kommen besonders gut an, weil sie sportlich oder beruflich supererfolgreich sind: lässige Männer, keine Angeber. Sie genießen die Bewunderung ihrer Umwelt. Das hat einen Dominoeffekt auf die Frauenwelt. Im ärgerlichen Sinn zum Totlachen sind jene, die sich verführungstechnisch etwas einfallen lassen. Aber so bescheiden wir in dieser Hinsicht vielleicht funktionieren: Jeden Mist lassen wir uns nicht bieten. Ich kannte einen, der verabredete sich mit seinen Freundinnen in spe immer im gleichen Restaurant. Dann erschien er nicht, sondern meldete sich schließlich per Telefon. Als Grund für die Verspätung gab er immer einen medizinischen Notfall an, was ihm gleichzeitig die Gelegenheit verschaffte, auf seinen Beruf hinzuweisen: Er war Arzt. Früher war der Don-Juanismus einer kultivierten Oberschicht vorbehalten. Heute kann glücklicherweise jeder ein Casanova sein. Eine gewisse Subtilität geht dabei vielleicht verloren. Ich finde das nicht weiter schlimm, weil es sich um ein Spiel handelt. Ferienklub-Animatoren, Fitness-Instruktoren, Sportlehrer und Bademeister gehören meiner Meinung nach in diese Kategorie. Die leben hauptsächlich von ihrem Ruf. Ihr Charme liegt in der kleinen Autorität, die sie während ihrer Arbeit umgibt, was ihrem 97 Selbstbewusstsein und ihrem etwas plakativen Sex-Appeal nicht abträglich ist. Solariumgebräunt, muskelbepackt, leicht geschürzt und hübsch frisiert sagen die uns ausserdem: »Frauen! Wir machen uns für euch schön. Wir wollen eure Toy-Boys sein.« Warum nicht? Das ist einmal etwas anderes und muss mit einem gewissen Goodwill belohnt werden. Frauen, die sich auf solche Sonnyboys einlassen, gehen glücklicherweise genauso kalkuliert vor wie die Männer selbst: Grundsätzlich gibt es gegen einen netten One-Night-Stand nichts einzuwenden. Sylvia, 41 Ich habe jahrelang Tisch und Bett mit einem bekennenden Casanova geteilt. Man kann lernen, dass sein Fremdgängertum nichts mit den eigenen Unzulänglichkeiten zu tun hat, sondern mit seinem unstillbaren Hunger nach Bestätigung und dem ständigen Kick, den neue Eroberungen mit sich bringen. Er hat also einen Charakterfehler und auch ein paar persönliche Probleme. Das haben andere auch. Es gibt Männer, die sind tagelang schlecht gelaunt, sprechen nicht mit ihren Frauen oder sehen in der Arbeit ihre ausschließliche Lebensaufgabe. Der gesellschaftliche Druck, einen untreuen Partner in die Wüste zu schicken, ist natürlich größer, als wenn einer die Kinder vernachlässigt oder zum tausendsten Mal die Zahnpastatube unverschlossen auf dem Lavabo liegen lässt. Ich wusste von Anfang an von seiner Veranlagung. Ich dachte, der meint das nicht so. Dann wollte ich ihn ändern. Dann wollte ich mich rächen und ebenfalls fremdgehen. Aber eigentlich wollte ich nur ihn. Normalerweise wählt ein Frauenheld keinen männermordenden Vamp als Lebenspartnerin. Sondern eher zarte, hingebungsvolle, monogam veranlagte Frauen. So viel Liebe, Fürsorge und Erotik, wie er braucht, kann ihm eine einzelne Frau aber nicht geben. Ein Frauenheld scheint den Frauen zu geben, was sie sich von einem Mann wünschen: Interesse, Leidenschaft, Freundschaft und Halt. Diese goldenen Fähigkeiten besitzt ein Casanova wirklich, und im Verlauf der Zeit setzt er sie gezielt ein. Aber so, wie er sich verhält, weist er seine Partnerin immer wieder darauf hin, dass ihr Wunsch nach einer perfekten Liebe, die die ganze Identität erfasst – den Kopf, den Körper und die Seele –, eine Illusion ist, weil er ein völlig anderes Beziehungsmodell leben will. Es könnte auch alles heimlich ablaufen, aber man will natürlich wissen, was Sache ist. Das wird in gewissen Phasen fast zwanghaft und sorgt natürlich für Dramen ohne Ende. Von der Absolution für sein Tun – etwas, das sich jeder bekennende Fremdgänger sehnlich wünscht – war ich immer meilenweit entfernt. Die Tatsache, dass man mit Nebenbuhlerinnen konkurrieren muss, steigert die Attraktivität des Partners um einiges. Und dass er immer wieder zu einem 98 zurückkommt, kann schmeichelhaft sein. Manche Frauen bleiben, weil ihnen die Aussicht auf ein Leben ohne emotionale Berg-und-Tal-Fahrten langweilig erscheint. Über einen Mangel an, ich sage mal, Leidenschaft, die unsere Beziehung über all die Jahre hinweg negativ und positiv beflügelte, kann auch ich mich nicht beklagen. Manchmal fragte ich mich, ob ich eine harmonische Liebe, bei der man am Abend Händchen haltend auf der Couch sitzt, überhaupt aushalten würde. Das Hin und Her wird allerdings ermüdend, wenn man sich zum x-ten Mal im Kreis dreht. Auch das Prinzip Hoffnung nutzt sich ab. Das Risiko ist gross, dass man irgendwann in die Rolle der Helferin, Komplizin oder Therapeutin abrutscht. Es geht dabei um die tiefer liegenden Probleme des Partners. Die Beschäftigung mit seiner Untreue wird fast zum Lebensinhalt. Um über die eigenen Ängste, Zweifel und Schwächen nachzudenken, bleibt fast keine Zeit. In diesem Verharren kann irgendwann das Gefühl aufkommen, gegen die eigenen Überzeugungen zu handeln, und damit ist die eigene Integrität, die Selbstachtung in Frage gestellt. In dieser Situation muss man entweder einen Schritt weiter gehen und die Sache künftig als persönliche Grenzerfahrung zelebrieren, oder man beendet die Geschichte. Ich wollte gehen. Es war mir ernst. Er versprach hoch und heilig, sich zu ändern. Ist ein solches Versprechen ernst gemeint, ist der Mann auch bereit, über seine Psyche nachzudenken. Wird aus einem wilden, hungrigen Prinzen plötzlich ein fauler, satter Frosch, ist die Gefahr allerdings gross, dass der Mann ein wenig an Faszination einbüsst. * Namen der Redaktion bekannt; Die abgebildeten Personen sind mit den im Text beschriebenen nicht identisch. 99 6. Epilog 100 Der Abenteuerer I Wenn er unter jene welche waren trat: der Plötzliche, der schien, war ein Glanz wie von Gefahren in dem ausgesparten Raum um ihn, den er lächelnd überschritt, um einer Herzogin den Fächer aufzuheben: diesen warmen Fächer, den er eben wollte fallen sehen. Und wenn keiner mit ihm eintrat in die Fensternische (wo die Parke gleich ins Träumerische stiegen, wenn er nur nach ihnen wies), ging er lässig an die Kartentische und gewann. Und unterließ nicht, die Blicke alle zu behalten, die ihn zweifelnd oder zärtlich trafen, und auch die in Spiegel fielen, galten. Er beschloss, auch heute nicht zu schlafen wie die letzte lange Nacht, und bog einen Blick mit seinem rücksichtslosen welcher war: als hätte er von Rosen Kinder, die man irgendwo erzog. 101 II In den Tagen - (nein, es waren keine), da die Flut sein unterstes Verlies ihm bestritt, als wär es nicht das seine, und ihn, steigend, an die Steine der daran gewöhnten Wölbung stieß, fiel ihm plötzlich einer von den Namen wieder ein, die er vor Zeiten trug. Und er wusste wieder: Leben kamen, wenn er lockte; wie im Flug kamen sie noch warme Leben Toter, die er, ungeduldiger, bedrohter, weiterlebte mitten drin; oder die nicht ausgelebten Leben. und er wusste sie hinaufzuheben, und sie hatten wieder Sinn. Oft war keine Stelle an ihm sicher, und er zitterte: Ich bin - - doch im nächsten Augenblicke glich er dem Geliebten einer Königin. Immer wieder war ein Sein zu haben: die Geschicke angefangner Knaben, die, als hätte man sie nicht gewagt, abgebrochen waren, abgesagt, nahm er auf und riss sie in sich hin; denn er musste einmal nur die Gruft solcher Aufgegebener durchschreiten, und die Düfte ihrer Möglichkeiten lagen wieder in der Luft. Rainer Maria Rilke 1907/1908, Paris 102