Materialsammlung - Theater Marburg

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Materialsammlung - Theater Marburg
Don Juan
Materialsammlung
Spielzeit 2010/11
Hessisches Landestheater Marburg, 2011
»Don Juan«
Dramaturgie: Alexander Leiffheidt
Diese Materialsammlung wurde erstellt von Studenten des Seminars »Text und Theater« (Seminarleitung Margarete
Fuchs, MA).
Philipps-Universität Marburg, Sommersemester 2011
Dominic Petkowitsch
Isabell Weißkirchen
Jens Wetekam
Im Don-Juan Gebirge
Zur Einführung
Ein junger Mann aus gehobenem Hause (oder ist er gar nicht mehr so jung?) lebt das
»wilde Leben« – la vida loca. Regeln sind zum Brechen da. Moral ist Geschwätz.
Frauen sind Beute. Egal ob verheiratet oder frei, reich oder arm, verliebt oder nicht –
er muss sie alle haben, und zwar am besten sofort, noch heute Nacht. Um sein Ziel zu
erreichen, ist ihm jedes Mittel recht. Halsbrecherische Fluchten, Betrügereien und
sogar Mord gehören mit zu dem Spiel, das der junge Mann spielt. Grenzen setzt ihm
niemand. Diejenigen, die es versuchen – die gehörnten Ehemänner, zornentbrannten
Väter, betrogenen Frauen und Vertreter der Moral – ziehen immer den Kürzeren.
Niemand scheint dem Abenteurer und seiner Intelligenz, seinem Einfluss und
Charisma gewachsen. Warum sollte er sich auch ändern? Die Welt verlangt danach,
genossen und weggeworfen zu werden.
Bis eines Tages etwas Unerhörtes geschieht: Voller Spott lädt der Abenteurer die
Statue eines seiner Opfer zum Abendessen ein. Der Mann, den die Statue darstellt, ist
ja tot und begraben – was soll also geschehen? Über die Warnungen seines
Handlangers setzt er sich hinweg. Umso größer ist das Erstaunen, als zur
verabredeten Stunde tatsächlich die Statue erscheint. Wie es die Höflichkeit gebietet,
spricht sie eine Gegeneinladung aus: zum Abendessen im Jenseits. Der Abenteurer
(der alles war, aber nie ein Feigling) schlägt ein. Und fährt zur Hölle.
Eine kleine, einfache Geschichte. Etwa 400 Jahre alt, vielleicht etwas älter. Und
zugleich viel mehr: ein Berg von Geschichten. Ein ganzes Gebirge gar, ein
Gebirgsmassiv. 3.081 individuelle Versionen der obigen Handlung listet die bis 1964
annähernd vollständige Bibliographie des amerikanischen Romanisten Armand E.
Singer auf. Dazu kommt noch das außer-künstlerische Leben ihres Protagonisten als
Schmäh- oder Bewunderungsausdruck, Markenname und Alltagswort: Die Rede ist,
natürlich, von Don Juan.
Während uns aus der Antike ganze Götterhimmel und Heldenwelten voller Mythen
überliefert worden sind, hat die Neuzeit – zumindest die europäisch geprägte – nur
zwei mythische Stoffe hervorgebracht: Faust der eine, Don Juan der andere. Zwei
Stoffe, zwei Gebirge der Bedeutung. Wer sich also, wie wir, dem »Don Juan«-Stoff
annähern will, sieht sich augenblicklich einer prekären Situation gegenüber: Don Juan
gibt es nicht. Oder vielmehr, es gibt zu viele Don Juans.
In der Alltagssprache meinen wir, wenn wir von ›Don Juan‹ sprechen, einen erotisch
überaktiven Herzensbrecher; einen Casanova mithin. (Übrigens haben diese beiden –
der eine Fiktion, der andere sowohl Fiktion als Geschichte – außer vielleicht einem
gesteigerten Interesse für das Weibliche kaum etwas gemein.) In der Literatur, Kunst
und Philosophie wird es schon komplizierter. Die ersten überlieferten Don Juans –
auch der allererste im 1613 uraufgeführten Stück Tirso de Molinas – hatten vor allem
eines im Kopf: Sex. Schnelle Eroberung und rasche Flucht, am Ende die Strafe
Gottes. Im Laufe der Jahrhunderte sollte sich dies allerdings gehörig ändern. E.T.A.
Hoffmann, ein wichtiger »Don Juan«-Vermittler und Neuerfinder, sah in ihm einen
idealistischen Suchenden, dessen unaufhörliche Jagd nach den Weibern letztlich nur
immer dem einen, ewigen Ideal der Weiblichkeit gilt. Für Albert Camus war Don Juan
das Paradebeispiel des absurden Menschen, der sich im Wissen seiner
Vergänglichkeit der Welt der Sinnlichkeit hingibt. Bert Brecht sah in ihm den
parasitären Vertreter der Herrschaftsklasse, der sein sexuelles Kapital rücksichtslos
ausnutzt, George Bernhard Shaw dagegen im Gegenteil ein Opfer der Frauen, die ihn
zur Erfüllung ihres Lebenstriebs missbrauchten. Søren Kierkegaard schließlich, der
sich über den Don Giovanni (also die italienische Variante des Don Juan) nach eigener
Aussage »jungmädchenhaft« und unsterblich in Mozart verliebte, deutete den Helden
der Oper aus dem Wesen der Mozart’schen Musik heraus als die Inkarnation sinnlicher
erotischer Genialität, also die idealhafte Verkörperung des ästhetischen Menschen in
seiner Reflektiertheit, Heiterkeit und universalen Amoralität.
Wäre unser Ziel eine akademisch-analytische Annäherung an den »Don Juan«-Stoff,
dann würde sich uns diese Fülle an unterschiedlichen Don Juans vermutlich als Last
darstellen. Wir müssten das »Don Juan«-Gebirge zunächst vom Scheitel bis zur
Talsohle vermessen, bevor wir auch nur den ersten eigenen Schritt setzen könnten. Da
es aber um eine künstlerische Aneignung geht, können wir uns freuen: Wir dürfen uns
auf seine höchsten Gipfel stellen und in die tiefsten Bergwerkstunnel bohren, wir
können die Fülle des Stoffes der Länge und Breite nach durchschreiten und uns von
ihr inspirieren lassen, ohne dabei den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit
beherzigen zu müssen. Bereits im »Don Juan« Molières, obwohl dieser ja noch relativ
am Anfang der Tradition steht, kreuzen sich die unterschiedlichsten
Überlieferungsstränge: der Rationalismus Descartes mit dem Eifer der
Gegenreformation, das respektlose Spiel der Commedia dell‘arte mit dem Prunk des
absolutistischen Hoftheaters, das Renaissancebild des starken Individuums mit dem
Schauerbild der sprechenden Geisterstatue.
Auswahl darf natürlich nicht zur Beliebigkeit verleiten. Daher haben wir in der
vorliegenden Materialsammlung versucht, in sechs Kapiteln verschiedene Aspekte des
»Don-Juan«-Stoffs zu beleuchten, die uns bei dem konkreten Vorhaben eines »DonJuan«-Spektakels auf dem Marburger Marktplatz von Nutzen sein und das freie
›Springen‹ von Gipfel zu Gipfel des Stoffgebirges mit fundierten Einblicken in die
Primär- und Sekundärliteratur unterstützen könnten. Im ersten Kapitel beschäftigen wir
uns mit der ›subkulturellen‹ Überlieferung des »Don Juan«-Stoffs im öffentlichen Raum
als Teil der Commedia dell‘arte und der europäischen Jahrmarkt- und
Figurentheatertradition. Im zweiten Kapitel loten wir die philosophischen Aspekte der
Figur mit Verweis auf Kierkegaard, Nietzsche und Camus aus – im Hinblick auf die
Entstehungszeit von Molières Stück steht dem eine kurze Einführung in Descartes‘
Gedankenwelt voraus. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem ›gezähmten Don
Juan‹ als einer Art heuristischem Kontrastmittel: Wenn wir dem Abenteurer sein
sexuelles Freibeutertum nehmen, was bleibt dann übrig – welche vorher unbemerkten
Aspekte treten aus dem Hintergrund der Figur hervor? Im vierten Kapitel schlagen wir
schließlich den Bogen zur Gegenwart, während wir im fünften unter dem klinischen
Begriff des ›Don Juanismus‹ die psycho-pathologischen Aspekte der Don-Juan‘schen
Obsession ansprechen. Rilke schließlich bringt im sechsten Kapitel mit seinem
Gedicht »Der Abenteurer« vieles, wenn auch nicht alles auf den poetischen Punkt.
Eine Materialsammlung ist niemals abgeschlossen – schon gar nicht, wenn das
Thema, zu dem Material gesammelt werden soll, nun einmal »Don Juan« heißt. Wenn
sie aber ihren Stoff schon nicht erschöpfen kann, so doch zumindest ihren Zweck: der
ist, Anlass zum Gespräch zu bieten, fortlaufende Auseinandersetzungen im
inhaltlichen wie künstlerischen Bereich mit Informationen zu unterbauen und die
Fantasien und Ideen aller Beteiligten zu beflügeln. Wir hoffen, dies zumindest in
Ansätzen erreichen können – und freuen uns auf die gemeinsame Arbeit sowie eine
spannende Neugeburt dieses alten Stoffes am 17. Juni 2011 vor dem Marburger
Rathaus.
AL
1. Don Juan auf dem Marktplatz
Von der Commedia dell'arte zum Kasperlespiel
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Don Juan auf dem Jahrmarkt: »Die übernatürliche Größe«
Wie bekannt, hat Don Juan nämlich weit zurück in der Zeit als Jahrmarktsposse
existiert, ja dies ist eigentlich wohl seine erste Existenz. Aber hier ist die Idee komisch
genommen, wie es denn überhaupt bemerkenswert ist, dass das Mittelalter, welches
so geschickt war in der Ausrüstung von Idealen, ebenso sicher darin gewesen ist, das
Komische zu sehen, das in der übernatürlichen Größe des Ideals liegt. Don J u a n zu
einem Prahlhans machen, der sich einbildet, alle Mädchen verführt zu haben,
L e p o r e l l o Don Juans Lügen glauben lassen, das dürfte wohl eine nicht durchaus
unglückliche komische Anlage sein.
Und wäre dies auch nicht der Fall, wäre dies auch nicht die Auffassung gewesen, so
könnte die komische Wirkung dennoch nie ausbleiben, da sie in dem Widerspruch liegt
zwischen dem Helden und dem Theater, auf dem er sich bewegt. So kann man das
Mittelalter auch von Helden erzählen lassen mit einem so mächtigen Körperbau, dass
sie eine halbe Elle zwischen den Augen mäßen, würde aber ein gewöhnlicher Mensch
auf der Bühne erscheinen und sich die Miene geben, als mäße er eine halbe Elle
zwischen den Augen, so ist das Komische in vollem Gange.
Aus: Kierkegaard, »Entweder – Oder«
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Commedia dell'arte
Die Commedia dell'arte ist eine im Italien des 16. Jahrhunderts erfundene Stegreifkomödie,
die den Berufsschauspielern keinen feststehenden Text vorgab, sondern nur Typen und
stereotype Handlungsabläufe sowie Verwicklungen, die spontan auf der Bühne variiert und
sprachlich ausgestaltet wurden. Es gibt folglich keine überlieferten Stücke, sondern nur
Modellbücher zur Improvisation bestimmter Szenen. Die Typen der Commedia dell'arte sind
in Italien fast sprichwörtlich geworden: der Dottore, ein schwatzhafter, gelehrter Pedant aus
Bologna, oder Pantalone, der einfältige Vater, der vornehme Kaufmann und der geprellte
Ehemann aus Venedig. Aber nicht nur für die Italiener erlangte die Commedia dell'arte
Bedeutung, sie übte auch Einfluss auf die Theaterentwicklung anderer europäischer Länder
aus, indem Wandertruppen durch ganz Europa reisten. Noch Gottsched versuchte mit seinen
Reformen in Leipzig den Einfluss der Commedia dell'arte mit ihren eingestreuten
Slapstickszenen (lazzi), Tanz-, Musik- und Zaubereinlagen, ihrer Akrobatik und ihren
mimischen Scherzen zurückzudrängen. Selbst in unserem Jahrhundert ist die Commedia
dell'arte noch von Bedeutung. Nach 1947 wurde sie z.B. von Giorgio Strehler, einem
führenden italienischen Regisseur und Theaterleiter, wiederbelebt.
Sekundärliteratur:
R Larivaille: Commedia dell'arte, in: M. Branneck/ G. Schneilin (Hg.): Theaterlexikon.
Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles, Reinbek bei Hamburg 1986.
W. Hinck: Das deutsche Lustspiel des 17. und 18. Jahrhunderts und die
italienische Komödie, Stuttgart 1965.
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2. Don Juan als Philosoph
Descartes, Kierkegaard, Nietzsche, Camus
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Einleitung
Die Gestalt des Don Juan hat über die Jahrhunderte auch das Interesse der Philosophie
geweckt. Die jeweiligen Autoren sahen (wie sollte es auch anders sein) zumeist die jeweils
eigenen philosophischen Anschauungen in diesem Typus reflektiert. Dieses intensive
Interesse von Seiten der Philosophie verwundert auch nicht weiter, weil ein direkter Bezug Don
Juans zur Philosophie ja offen zu Tage liegt:
Don Juan ist eine Figur, die – zumindest seit Molière – auch philosophisch argumentiert und
die wir infolgedessen ruhigen Gewissens als Philosoph betrachten dürfen. Wenn wir so
verfahren, ergeben sich weitere Fragen: Was für eine Art von Philosophie könnte Don Juan zu
den unterschiedlichsten Zeiten vertreten haben? Auf welche Weise hat sich der Typus in
philosophischer Hinsicht entwickelt?
Das nachfolgende Kapitel der Materialsammlung soll dem Leser einige Aspekte dieser
philosophischen Metamorphosen der Don Juan-Figur vermitteln. Dabei geht es im
Wesentlichen um die Veränderungen der Gestalt, die seit Molières antireligiösem Libertin mit
kartesianisch-rationaler Denkweise eingetreten sind.
Schon seit den ersten französischen Fassungen aus der Zeit Molières tritt Don Juan
als Vertreter einer antagonistisch geprägten, hedonistischen Naturphilosophie auf. Bei
Molière wird diese Opposition erweitert zu einem rationalistisch geprägten
Skeptizismus. Anders als bei Decartes steht bei Don Juan aber der radikale Zweifel
nicht am Anfang, sondern am Ende der philosopischen Idee.
Sören Kierkegaard (der sich in erster Linie auf Mozarts Don Giovanni bezieht) sieht in ihm
beispielsweise einen »sinnlich-genialen« Verführer – die ideale Verkörperung des
ästhetischen Menschen – während er bei Albert Camus zum Sinnbild des »absurden Helden«
wird. In Nietzsches nihilistischer Vorstellung wird Don Juan zum Intellektuellen, der nicht
mehr nach Lust und Sinnlichkeit jagt, sondern nach Erkenntnis, womit ein Bogen zur
Faustgestalt Goethes gezogen wird.
Zum Schluss bleibt noch die Frage, welche philosophische Richtung Don Juan wohl
heutzutage vertreten könnte und wie er dann argumentieren würde.
DP
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Zu Descartes
Rationalismus, Dualismus
Descartes ist der Begründer der rationalistischen Richtung der neueren Philosophie
und des neueren Dualismus. Im Gegensatz zu F. Bacon u. a. betont er nicht die
induktive, sondern die deduktive Methode und stützt er die Erkenntnis nicht auf
sinnliche Wahrnehmung, sondern auf die Gewißheit klarer und deutlicher
Vernunfteinsichten und Anschauungen, wobei ihm die Mathematik mit ihrer Evidenz
zum Vorbild dient.
Anstatt Autoritäten zu folgen und sich begrifflichen, nichtssagenden Spielereien
hinzugeben, will Descartes selbständig denken, nichts auf Treu und Glauben
hinnehmen, ohne Voraussetzungen philosophieren, nur der Stimme der Vernunft
gehorchen, nur dem logisch Festgestellten, aus unumstößlichen Tatsachen
Deduzierten trauen.
Ohne eine einheitliche, zuverlässige Methode kann kein sicheres Wissen zustande
kommen. Die Methode besteht formal in der Ordnung und Disposition des
Wissensstoffes. Stufenweise ist vom Einfacheren zum Zusammengesetzten
fortzuschreiten.
Vier Grundregeln haben sich bewährt, welche viel wichtiger sind als die Sätze der
formalistischen Logik
1. Nichts für wahr zu halten, was nicht sicher und mit Evidenz als wahr erscheint,
was nicht so klar und deutlich ist, daß es auf keine Weise zu bezweifeln ist.
2. Jede Schwierigkeit in Teile zu zerlegen, um ihrer besser Herr zu werden.
3. Nach einer bestimmten Ordnung vom Einfachsten und Leichtesten zum
Schwierigeren und Zusammengesetzteren sich zu erheben.
4. Sich der Vollständigkeit der Untersuchung zu vergewissern (De la méthode II).
Das Muster aller Demonstration ist die Mathematik. Die größere Sicherheit der
Arithmetik und Geometrie beruht darauf, »daß sie gar nichts voraussetzen, was die
Erfahrung unsicher zu machen imstande wäre, sondern gänzlich in verstandesmäßig
abzuleitenden Folgerungen bestehen« (Regeln zur Leitung d. Geistes, II). Nur was wir
durch »klare und evidente Intuition oder durch sichere Deduktion« feststellen können,
dürfen wir untersuchen (l. c. III). Die Fähigkeit, die Wahrheit zu erfassen, eignet nur
dem Verstande (Denken), doch muß er von den Sinnen, dem Gedächtnis und der
Einbildungskraft unterstützt werden (l. c. XII). In uns ist ein »natürliches Licht« (lumen
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naturale), eine angeborene Fähigkeit des Geistes, das Sichere und Wahre als das
Denknotwendige und Evidente zu erfassen, auch unabhängig von der Erfahrung (also
a priori).
Diesem Lichte der Vernunft, welches uns durch die Existenz Gottes verbürgt, müssen
wir vertrauen, es ist uns von Gott selbst gegeben.
Gott, Substanz, Attribute
An der Spitze der systematischen Philosophie Descartes (seiner Metaphysik und
Naturphilosophie) steht der Begriff Gottes, den Descartes im Sinne des Theismus
auffasst. Gott ist ewig, allmächtig, allwissend usw., er ist Geist, eine allgegenwärtige
Substanz und ist nur durch die Vernunft erfassbar (mit dem Kirchenglauben sucht
Descartes möglichst in Übereinstimmung zu bleiben, wie er auch - wenigstens nach
außen hin - die Kopernikanische Theorie ablehnt).
Daß Gott existiert, geht aus der uns eingeborenen Idee vom göttlichen Unendlichen
hervor, die als Unendlichkeitsidee nicht von uns endlichen Wesen erzeugt sein kann
(vgl. schon Campanella). Die in der Gottesidee enthaltene »objektive« (d.h.
vorgestellte) Realität weist, da sie die Realität alles Endlichen überragt, auf Gott selbst
als Urheber der Idee hin. Ich selbst könnte ohne Gott nicht existieren, da ich mich nicht
selbst erzeugt habe und die Reihe meiner Erzeuger schließlich zu einer letzten
Ursache führt, die alles im Dasein enthält.
Außerdem bedient sich Descartes des ontologischen Gottesbeweises, wonach im
Begriffe Gottes als des vollkommensten Wesens auch die Existenz, das notwendige
Sein liegt, welches von Gott untrennbar ist (Princip. philos. I, 14).
Nur Gott ist im strengsten Sinne des Wortes Substanz, die endlichen Dinge sind, als
von Gott geschaffen und in ihrem Sein abhängig, nur relative Substanzen
(Ausgangspunkt Spinozas). Substanz ist das Selbständige, in seinem Sein
Unabhängige, für sich Bestehende. »Per substantiam nihil aliud intelligere possumus,
quam rem quae nulla plane re indigeat ad existendum. Et quidem substantia quae
nulla plane re indigeat, unica tantum potest intelligi, nempe Deus.« Die endlichen
Substanzen existieren nur durch den »concursus Dei« (Princ. philos. l, 51), durch
göttliche Assistenz. Erschlossen wird die Substanz aus ihren Attributen, ihren
konstanten Eigenschaften, wie Ausdehnung und Denken. Bestimmtheiten der Attribute
sind die wechselnden Modi, wie Figur, Empfindung usw.
Es gibt zwei Arten von Substanzen: Geist und Körper (Dualismus), die einander schroff
gegenüberstehen und völlig verschiedene Eigenschaften haben. (»Substantia
corporea« - »substantia cogitans«, »mens«). Der Unterschied zwischen Körper und
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Geist ist ein evidenter, klarer und deutlicher und daher realer. »Itemque ex hoc solo,
quod unusqiusque intelligat se esse rem cogitantem et possit cogitatione excludere a
se ipso omnem aliam substantiam, tam cogitantem quam extensam, certum est
unumquemque sic spectatum, ab omni alia substantia cogitante atque ab omni
substantia corporea realiter distingui« (Princ. philos. I, 60).
Descartes. Porträt nach Frans Hals, 1648
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Sinnliche Genialität, bestimmt als Verführung
Søren Kierkegaard
Mit Mozart steht es nun ebenfalls so, dass es nur ein Werk von ihm ist, welches ihn zu
einem klassischen Komponisten und schlechthin unsterblich macht. Dies Werk ist Don
Juan. Was er sonst geschaffen hat, mag erfreuen und erquicken, unsre Bewunderung
wecken, die Seele bereichern, das Ohr sättigen, das Herz ergötzen; man tut jedoch
ihm und seiner Unsterblichkeit durchaus keinen Dienst, wenn man alles über einen
Kamm schert und alles gleich groß macht. Don Juan ist sein Meisterstück. Mit Don
Juan tritt er in jene Ewigkeit ein, welche nicht außerhalb der Zeit, sondern mitten in ihr
liegt, in jene Ewigkeit, die sich durch keinerlei Vorhang vor der Menschen Augen
verbirgt, in welche die Unsterblichen nicht ein für allemal aufgenommen sind, sondern
fort und fort aufgenommen werden, indem das Geschlecht vorüberzieht und den Blick
auf sie richtet, in ihrer Beschauung glücklich ist, ins Grab sinkt, und nunmehr wandert
das folgende Geschlecht wieder an ihnen vorüber und verklärt sich in ihrer
Beschauung; mit seinem Don Juan tritt er ein in die Reihe jener Unsterblichen, jener
sichtbar Verklärten, die keine Wolke vor den Augen der Menschen hinwegnimmt; mit Don
Juan steht er unter ihnen an der obersten Stelle. Dies Letzte nun wollte ich, wie oben gesagt,
zu beweisen suchen.
[...]
Nun macht Don Juan nicht allein sein Glück bei den Mädchen, sondern er macht die
Mädchen glücklich und – unglücklich, jedoch sonderbar genug, gerade so wollen sie es
haben, und das wäre ein kümmerliches Mädchen, das sich nicht wünschte unglücklich
zu werden, weil sie einmal glücklich gewesen mit Don J u a n . Verharre ich nun auch
dabei, Don Juan einen Verführer zu nennen, so denke ich ihn mir doch keineswegs
heimtückisch seine Pläne entwerfen, verschlagen die Wirkung seiner Intriguen
berechnen; er betrügt allein mit der Genialität der Sinnlichkeit, deren Inkarnation er
gleichsam ist. An verständiger Besonnenheit fehlt es ihm; sein Leben schäumt über
gleich dem Weine, an dem er sich stärkt, sein Leben ist bewegt den Tönen gleich, die
sein frohes Mahl begleiten, stets ist er triumphierend. Er hat keine Vorbereitung nötig,
keinen Plan, keine Zeit; denn er ist immer fertig, die Kraft ist nämlich stets in ihm und
das Begehren desgleichen, und nur wenn er begehrt, ist er so recht in seinem
Element. Er sitzt zu Tische, froh wie ein Gott schwingt er den Pokal – er erhebt sich
noch mit der Serviette in der Hand, fertig zum Angriff. Und weckte L e-p o r e l l o ihn
auch mitten in der Nacht, stets wacht er seines Sieges sicher auf. Doch diese Kraft,
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diese Gewalt kann das Wort nicht ausdrücken, lediglich die Musik vermag uns davon
eine Vorstellung zu geben; sie sind nämlich unaussagbar für die Reflexion und den
Gedanken. Die Arglist eines ethisch bestimmten Verführers kann ich deutlich mit
Worten darstellen, und die Musik würde sich vergeblich an die Lösung dieser Aufgabe
wagen. Mit Don Juan verhält es sich umgekehrt.
[...]
Wann die Idee des Don J u a n entstanden ist, weiß man nicht, nur so viel ist gewiss,
dass sie dem Christentum zugehört, und durch das Christentum wieder dem Mittelalter
zugehört. Könnte man die Idee nicht mit einiger Sicherheit im menschlichen
Bewusstsein bis zu diesem weltgeschichtlichen Abschnitt zurückverfolgen, so würde
eine Betrachtung der inneren Beschaffenheit der Idee unverzüglich jeden Zweifel
beheben. Das Mittelalter ist überhaupt die Idee der Repräsentation, teils bewusst, teils
unbewusst; das Ganze wird repräsentiert in einem einzelnen Individuum, jedoch
dergestalt, dass es lediglich eine einzelne Seite ist, die als Ganzheit bestimmt ist, und
nun in einem einzelnen Individuum in Erscheinung tritt, und die daher sowohl mehr wie
weniger ist als ein einzelnes Individuum. Neben diesem Individuum steht also ein
andres Individuum, welches ebenso total eine andre Seite von des Lebens Inhalt
repräsentiert, so z. B. der Ritter und der Scholastiker, der Geistliche und der Laie. Des
Lebens großartige Dialektik wird hier ständig in repräsentierenden Individuen
veranschaulicht, welche im Allgemeinen einander paarweise gegenüberstehen, das
Leben ist stets nur unter einerlei Gestalt (sub una specie) vorhanden, und die große
dialektische Einheit, welche das Leben unter beiderlei Gestalt (sub utraque specie) in
Einheit besitzt, wird nicht geahnt. Die Gegensätze stehen daher meist gleichgiltig
außerhalb voneinander. Davon weiß das Mittelalter nichts. So verwirklicht es denn
seinerseits die Idee der Repräsentation ohne Bewusstsein, und erst eine spätere
Betrachtung sieht darin die Idee. Setzt das Mittelalter für sein eignes Bewusstsein ein
Individuum als Repräsentanten einer Idee, so stellt es neben dasselbe gerne ein
anderes, welches zum ersten eine Beziehung hat; diese Beziehung ist dann im
allgemeinen komischer Natur, in dem das zweite Individuum die unverhältnismäßige
Größe, die das erste im Vergleich mit dem wirklichen Leben hat, gleichsam
wiedergutmacht. So hat z. B. der K ö n i g den N a r r e n neben sich, F a u s t den
Wagner, Don Quichote den Sancho Pansa, Don Juan den Leporello. Diese Formation
gehört ebenfalls wesentlich dem Mittelalter zu. Die Idee des Don Juan gehört somit
dem Mittelalter, im Mittelalter wieder gehört sie nicht einem einzelnen Dichter, sie ist eine
jener urkräftigen Ideen, welche mit der Ursprünglichkeit des Autochthonen aus der
Bewusstseinswelt des volklichen Lebens hervorbrechen. Den Zwiespalt von Fleisch und
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Geist, den das Christentum in die Welt gebracht hat, musste das Mittelalter zum
Gegenstande seiner Betrachtung machen, und zu diesem Behuf die streitenden Kräfte jede
für sich zu einem Gegenstande der Anschauung erheben. Don Juan ist nun, wenn ich so
sagen darf, die Inkarnation (Einfleischung) des Fleisches oder die Begeisterung des
Fleisches aus des Fleisches eignem Geist.
[...]
Don Juan ist mithin der Ausdruck für das Dämonische, das als das Sinnliche bestimmt
ist, F a u s t ist der Ausdruck für das Dämonische, das als jenes Geistige bestimmt ist,
welches der christliche Geist ausschließt.
[...]
Don J u a n hingegen ist ein Verführer von grund auf. Seine Liebe ist nicht seelisch
sondern sinnlich, und sinnliche Liebe ist nach seinen Begriffen nicht treu sondern schlechthin
treulos, sie liebt nicht eine sondern alle, will heißen, sie verführt alle. Sie ist nämlich allein
im Augenblick da, aber der Augenblick ist, begrifflich gedacht, Summe von Augenblicken, und
damit haben wir den Verführer.
[...]
Welch eine Kraft ist es denn aber dann, mit der Don Juan verführt? Es ist des
Begehrens, des sinnlichen Begehrens Energie. Er begehrt in jeglichem Weibe das
Weibliche insgesamt, und darin liegt die sinnlich idealisierende Gewalt, mit der er seine
Beute zugleich verschönt und besiegt. Der Reflex dieser gigantischen Leidenschaft
verschönt und entfaltet das Begehrte, es rötet sich in erhöhter Schönheit durch deren
Widerschein. Gleich wie das Feuer des Begeisterten mit verführerischem Glanz auch
die Unbetroffenen anleuchtet, die zu ihm in Beziehung stehen, ebenso verklärt Don
Juan in einem weit tieferen Sinne ein jedes Mädchen, da sein Verhältnis zu ihr ein
wesentliches ist. Deshalb vergehen für ihn alle endlichen Unterschiede im Vergleich
mit dem, was die Hauptsache ist: Weib sein. Die Älteren verjüngt er zur schönen Mitte
des Weiblichen, die, welche beinahe noch Kind sind, bringt er in einem Nu zur Reife;
alles, was Weib ist, ist seine Beute, (pur che porti la gonella, voi sapete quel que fa).
[...]
Mag das hier Dargelegte nun auch ganz in der Ordnung sein, daraus folgt doch
keineswegs, dass nicht eine einzelne begabte Natur sich daran versucht haben
könnte, Don Juan auch noch auf andre Weise aufzufassen. Dass es sich so verhält,
weiß jeder, aber vielleicht nicht ein jeder hat beachtet, dass der Typus für alle andern
Auffassungen im wesentlichen
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M o l i è r e s Don Juan ist; dieser aber ist ja wiederum weit älter als der Mozarts, und
zugleich komisch; er verhält sich zu M o z a r t s Don Juan wie ein Märchen in der
Fassung des Musäus zu einer Bearbeitung von Ludwig Tieck sich verhält. Insofern
kann ich mich eigentlich darauf beschränken, den Don J u a n Molières zu
besprechen, und indem ich ihn aesthetisch zu würdigen suche, mittelbar zugleich die
andern Auffassungen zu würdigen. Doch möchte ich eine Ausnahme machen mit Joh.
Ludw. H e i b e r g s Don Juan. Er erklärt auf dem Titel selber, dass er »teilweise
nach« verfasst ist. Dies ist nun auch außer Zweifel, gleichwohl hat H e i b e r g s
Stück vor dem M o l i è r e s einen großen Vorzug. Seinen Grund hat dies freilich in
dem sicheren aesthetischen Blick, mit dem Heiberg stets seine Aufgabe erfasst, in
dem Geschmack, mit dem er zu unterscheiden weiß; es ist indes nicht unmöglich,
dass im gegenwärtigen Fall Prof. H e i b e r g mittelbar von M o z a r t s Auffassung
beeinflusst gewesen ist, in der Einsicht nämlich, wie D o n J u a n aufgefasst werden
muss, - sobald man die Musik nicht den eigentlichen Ausdruck sein lässt und ihn nicht
unter ganz andre aesthetische Kategorien stellen will. Prof. C. H a u c h hat ebenfalls
einen D o n J u a n geliefert, welcher nahe daran ist, unter die Bestimmung des
Interessanten zu fallen. Indem ich denn nunmehr dazu übergehe, die zweite Gruppe
von Bearbeitungen des D o n J u a n zu besprechen, brauche ich den Leser wohl
nicht erst daran zu erinnern, dass dies in gegenwärtiger kleiner Untersuchung nicht um
jener Arbeiten selber willen geschieht, sondern lediglich, um die Bedeutung der
musikalischen Auffassung vollständiger zu beleuchten als es im Vorhergehenden
möglich gewesen ist.
Der Wendepunkt in der Auffassung D o n J u a n s ist bereits oben folgendermaßen
gekennzeichnet: sobald ihm die Erwiderung gegeben wird, ist alles anders geworden.
Jene Reflexion nämlich, welche die Erwiderung motiviert, spiegelt ihn aus der
Dunkelheit heraus, in der er allein musikalisch vernehmbar ist.
[...]
Der musikalische Don Juan genießt die Befriedigung, der reflektierte Don Juan genießt
den Betrug, genießt die List. Der unmittelbare Genuss ist vorbei, und genossen wird
rein eine Reflexion über den Genuss. Hierüber findet sich in' s Auffassung ein
vereinzelter Wink, nur dass dieser überhaupt nicht zu seinem Rechte kommen kann,
weil die gesamte übrige Auffassung stört. Das Begehren bei D o n J u a n wacht auf,
weil er das eine Mädchen in dem Verhältnis zu ihrem Geliebten glücklich werden sieht,
er beginnt mit Eifersucht. Dies ist ein Interesse, welches uns in der Oper
schlechterdings nicht beschäftigen würde, eben weil D o n J u a n kein reflektiertes
Individuum ist. Sobald Don Juan als ein reflektiertes Individuum aufgefasst wird, kann
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man eine Idealität, welche der musikalischen entspricht, nur erreichen, wenn man die
Sache in den Bereich des Psychologischen überführt. Was man alsdann erreicht, wird
die Idealität der Intensität sein. Deshalb muss B y r o n s D o n J u a n als verfehlt
gelten, sintemal er sich episch ausbreitet. Der unmittelbare D o n Juan muss 1003
verführen, der reflektierte braucht nur eine einzige zu verführen, und was uns
beschäftigt, ist, wie er es tut.
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Don Juan als Libertin:
Darf man den Moliere'schen „Dom Juan" in die Nähe eines
Kierkegaard'schen reflektierten Verführers rücken?
In komischer Hilflosigkeit stolpert Sganarelle über die sophistische Brillanz
Dom Juans, d.h. zugespitzt formuliert: die Kritik des Dieners dient an
diesem Punkt dramaturgisch der glanzvollen Selbstdarstellung Dom Juans,
der im Kontrast zu der hilflosen Sprachlosigkeit Sganarelles in dem
Redegefecht als überlegener Sieger hervorgeht. ES fragt sich, ob man den
Molièreschen 'Dom Juan' in die Nähe eines Kierkegaardschen
reflektierten Verführers zu rücken hat, ob dieser Don Juan die Mittel seiner
Verführung reflektiert und gerade aus dieser Reflexion seinen subtilen
Genuß zieht. Nun verrät schon die rhythmische Struktur dieser Rede Dom
Juans über die Liebe so viel an dynamischem Temperament, an subjektiver
Bewegung, daß das reflektorische Moment, geprägt von Distanz, vom.
zündenden Pathos eines subjektiven Sprachgestus aufgesogen wird. Dom
Juan verficht sein Lebensprinzip, Wechsel als Prinzip einer
sensualistischen Existenz, er argumentiert, doch seine Argumente
entspringen weder einer distanzierten Selbstbetrachtung, noch zeugen
sie von einer das Erotische steigernden Reflektiertheit; sie sind Ausdruck
einer als objektiv gesetzten subjektiven Lebensform, die er nicht eigentlich
verteidigt, die er lebt. Lebensmaxime dieses Don Juan ist Libertinage in
ihrem doppelten Wortsinn: er ist Freigeist und Genußmensch. Erotischen
Genuß zieht er aber nicht aus der Intensität einer Liebesbeziehung, die
eine gewisse Dauer voraussetzte, sondern aus dem Wechselspiel von
erwachender Leidenschaft und dem Widerstand, den die begehrte Schöne
ihm zunächst entgegenbringt. Nicht Neuheit und Wechsel allein stimulieren
das erotische Verlangen dieses Don Juan, sondern auch das Gefühl, daß
er Skrupel überwinden, das Feuer der Leidenschaft in der Frau erst
entfachen muß. Die libertine Frau, die Don Juan Avancen machte, wäre sie
auch noch so schön, verlöre jeden Reiz für ihn. Auch der wechselseitige
coup de foudre entbehrte für ihn das Moment der Verführung. Dieser Don
Juan bedarf der Schranken der Moral, um sie zu durchbrechen, vor allem
einer Moral, die die sexuelle Freiheit der Frau rigide einschränkt. Don Juan
ist nicht einfach Sensualist und Libertin, der gegen eine enge Sexualmoral
revoltierte, er braucht gerade den weiblichen Ehrenpunkt und Tu27
gendrigorismus zur Steigerung seiner sexuellen Lust. Molieres Dom Juan
ist dennoch kein Vorläufer von Choderlos de Laclos' Valmont aus den
„Liaisons dangereuses", der die Strategie seiner Verführung mehr als den
sinnlichen Genuß selbst goutiert. Zwar preist er die Wonnen allmählicher,
raffinierter Eroberung, und das rückt ihn in die Nähe eines Valmont, doch
Moliere führt ihn realiter eher als einen Draufgänger vor, der so schnell wie
möglich ans Ziel seiner sexuellen Wünsche kommen möchte. Hier zeigt
sich eine Inkonsequenz in der Konzeption der Figur, eine Diskrepanz
zwischen Dom Juans Selbstdarstellung im Wort und dem
Handlungsverlauf.
28
F. Nietzsche: Eine Fabel
327.
Eine Fabel. — Der Don Juan der Erkenntnis: er ist noch von keinem Philosophen und
Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat
Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntnis — bis an die höchsten und
fernsten Sterne der Erkenntnis hinauf! — bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt,
als das absolut Wehetuende der Erkenntnis, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und
Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle, — es ist die letzte
Erkenntnis, die ihn verfiihrt. Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte!
Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und
selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der
Erkenntnis, die ihm nie mehr zu Teil wird! — denn die ganze Welt der Dinge hat diesem
Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen.
Aus:
Friedrich Nietzsche-Morgenröte
Gedanken über die moralischen Vorurteile(1881)
http://www.textlog.de/20009.html Zugriff: 26. 4. 2011
29
Albert Camus: Don Juan und der Don-Juanismus
Genügte es einfach, zu lieben, dann wären die Dinge zu simpel. Je mehr man liebt, um
so mehr festigt sich das Absurde. Nicht aus Mangel an Liebe geht Don Juan von Frau
zu Frau. Es ist lächerlich, ihn als einen Trunkenen auf der Suche nach der
allumfassenden Liebe darzustellen. Aber weil er alle gleich stürmisch und jedesmal mit
Einsatz seiner ganzen Person liebt, muß er diese Gabe und diese Vertiefung wiederholen. Daher hofft jede ihm. zu geben, was ihm bis dahin keine gegeben hat. Sie alle
täuschen sich jedesmal völlig, und es gelingt ihnen nur, ihn die Notwendigkeit dieser
Wiederholung empfinden zu lassen. »Endlich«, ruft eine, »habe ich dir die Liebe geschenkt!« Ist es verwunderlich, wenn Don Juan darüber lacht: »Endlich? Nein, nur
einmal mehr! «Warum sollte man selten lieben, um stark zu lieben?
Ist Don Juan traurig? Das ist nicht wahrscheinlich. Ich brauche an die Fabel kaum zu
erinnern. Dieses Lachen, die sieghafte Frechheit, das Sprunghafte und die Freude am
Theatralischen - alles das ist hell und fröhlich. Jedes gesunde Wesen ist darauf aus,
sich zu vermehren. So auch Don Juan. Darüber hinaus aber haben die Traurigen zwei
Gründe für ihre Trauer: sie leben in Unwissenheit, oder sie hoffen. Don Juan weiß und
hofft nicht. Er erinnert an jene Artisten, die die Grenzen ihrer Möglichkeiten kennen, sie
nie überschreiten und in diesem unsicheren Spielraum, auf den ihr Geist sich einstellt,
über alle wunderbare, meisterliche Leichtigkeit verfügen. Und eben das kennzeichnet
das Genie: die Klugheit, die ihre Grenzen kennt. Bis zur Grenze des physischen Todes
weiß Don Juan nichts von der Traurigkeit. Sobald er weiß, erschallt sein Gelächter und
entschuldigt alles. Er war traurig, solange er hoffte. Jetzt findet er auf den Lippen
dieser Frau den bitteren und stärkenden Geschmack des einzigartigen Wissens.
Bitter? Kaum: es ist diese notwendige Unvollkommenheit, die das Glück spürbar
macht!
Es wäre eine große Torheit, wollte man in Don Juan einen Menschen sehen, dessen
geistige Nahrung aus dem Prediger Salomonis stammte. Denn nichts ist für ihn so eitel
wie die Hoffnung auf ein anderes Leben. Er beweist das, da er sie gegen den Himmel
selber ausspielt. Das Bedauern darüber, im Genuß die Sehnsucht verloren zu haben dieser Gemeinplatz der Ohnmacht liegt ihm fern. Der gilt wohl für Faust, der stark
genug an Gott glaubt, um sich dem Teufel zu verschreiben. Bei Don Juan liegt die
Sache einfacher. Der »Burlador« Molinas antwortet auf alle Drohungen der Hölle: »Oh,
daß du mir eine lange Frist gewährtest!« Was nach dem Tode kommt, ist belanglos und wie lang ist die Reihe der Tage für den, der zu leben weiß! Faust begehrte die
30
Güter dieser Welt: der Unglückliche brauchte nur die Hand auszustrecken. Es hieße
schon, seine Seele verkaufen, wenn man sie nicht zu erfreuen wüßte. Don Juan
dagegen lenkt den Überdruß. Wenn er eine Frau verläßt, so tut er das absolut nicht,
weil er sie nicht mehr begehrt. Eine schöne Frau ist immer begehrenswert. Aber er
begehrt eine andere, und das ist — wahrlich! - nicht dasselbe.
Dieses Leben füllt ihn ganz aus, und das Schlimmste wäre, es zu verlieren. Dieser
Narr ist ein großer Weiser. Die Menschen aber, die von der Hoffnung leben, richten
sich sdilecht ein in dieser Welt, in der die Güte der Freigebigkeit weicht, die
Zärtlichkeit dem männlichen Schweigen, die Gemeinschaft dem einsamen Mut. Und
dann sagen alle: »Er war ein Schwächling, ein Idealist oder ein Heiliger.« Eine
beleidigende Größe muß man wohl herabsetzen.
Man entrüste sich, so viel man will (oder mit diesem Komplizen-Lächeln, das den
Gegenstand seiner Bewunderung herabsetzt) über die Reden Don Juans und über
diese ewig gleiche Phrase, deren er sich bei allen Frauen bedient. Aber für den, der
die Quantität der Freuden sucht, zählt allein die Wirkung. Sollte er bewährte Paßworte
komplizieren? Niemand, weder Frau noch Mann, hören auf sie; viel stärker vernehmen
sie die Stimme, die sie ausspricht. Sie sind die Regel, sind Konvention und Höflichkeit.
Man sagt sie, danach bleibt das Wichtigste noch zu tun. Don Juan bereitet sich schon
darauf vor. Warum sollte er sich ein moralisches Problem stellen? Er verurteilt sich
nicht wie Milocz Mannara, weil er ein Heiliger sein möchte. Die Hölle ist für ihn etwas,
das man herausfordert. Für den göttlichen Zorn kennt er nur eine Antwort: die
männliche Ehre. »Ich habe Ehre im Leib«, sagt er zum Komtur, »und ich halte mein
Wort, weil ich ein Edelmann bin.« Aber ebenso groß wäre der Irrtum, wollte man aus
ihm einen Immoralisten machen. Er ist in dieser Hinsicht »wie jedermann«: er hat die
Moral von Sympathie und Antipathie. Man versteht Don Juan nur dann richtig, wenn
man sich auf das bezieht, was er gemeinhin symbolisiert: den gewöhnlichen Verführer
und Weiberhelden. Er ist ein gewöhnlicher Verführer20. Nur daß er bewußt und
infolgedessen absurd ist. Ein hellsichtig gewordener Verführer wird sich nicht so sehr
ändern. Verführen ist sein Element. Nur in den Romanen ändert man seine Haltung,
oder man wird besser. Man kann jedoch behaupten, daß nichts geändert und
gleichzeitig alles verwandelt ist. Was Don Juan in Tätigkeit versetzt, ist eine Ethik der
Quantität - im Gegensatz zum Heiligen, der zur Qualität neigt. An den tiefen Sinn der
Dinge nicht glauben - das ist die Eigentümlichkeit des absurden Menschen. Er
überprüft rasch diese warmen oder erstaunten Gesichter, bringt sie in die Scheuer und
eilt ohne Aufenthalt weiter. Die Zeit geht mit ihm. Der absurde Mensch trennt sich nicht
von der Zeit. Don Juan denkt nicht daran, die Frauen zu »sammeln«. Er verbraucht
31
viele und damit auch seine Lebens-Chancen. Sammeln heißt: von seiner
Vergangenheit leben können. Er aber weist das Bedauern zurück, diese andere Form
der Hoffnung. Er kann nicht Bildnisse betrachten.
Ist er deswegen egoistisch? Auf seine Art zweifellos. Aber darüber müssen wir uns
noch verständigen. Die einen sind fürs Leben geschaffen, die anderen fürs Lieben.
Don Juan wenigstens würde das gerne behaupten. Aber das hieße einen
Seitenweg wählen.
Denn die Liebe, von der hier gesprochen wird, ist vor den Illusionen des Ewigen
geschützt. Alle Kenner dieser Leidenschaft lehren uns das. Ewige Liebe ist stets
widerspruchsvoll. Es gibt auch kaum Leidenschaft ohne Kampf. Eine solche Liebe
findet ihr Ende nur im letzten Widerspruch, dem Tod. Man muß Werther sein oder
nichts. Auch da gibt es noch mehrere Arten, Selbstmord zu begehen; eine davon ist
die völlige Hingabe und Selbstaufgabe. Don Juan weiß wie jeder andere, daß das
erregend sein kann. Er weiß aber auch fast als einziger, daß das nicht die Hauptsache
ist. Er weiß es sehr gut, daß diejenigen, die eine große Liebe von all ihrem persönlichen Leben ablenkt, möglicherweise reicher werden, daß aber diejenigen, die ihre
Liebe auserwählt hat, ebenso gewiß ärmer werden. Eine Mutter, eine
leidenschaftliche Frau haben notwendigerweise ein nüchternes Herz, denn es ist von
der Welt abgewandt. Ein einziges Gefühl, ein einziges Wesen, ein einziges Gesicht
— aber alles wird verschlungen. Eine andere Liebe erschüttert Don Juan, und die
macht frei. Sie bringt alle Gesichter der Welt mit sich, und ihr Schauder kommt aus
dem Wissen, daß sie vergänglich ist. Don Juan hat gewählt, nichts zu sein.
Für ihn handelt sich's darum, klar zu sehen. Liebe nennen wir das, was uns an
bestimmte Wesen bindet, nur in bezug auf eine kollektive Sehweise, für die die Bücher
und die Märchen verantwortlich sind. Ich verstehe indessen unter Liebe nur die
Mischung von Verlangen, Zärtlichkeit und Klugheit, die mich an irgendein Wesen
bindet. Diese Zusammensetzung ist nicht bei jedem gleich. Ich habe nicht das Recht,
alle diese Erfahrungen mit demselben Namen zu belegen. Das entbindet davon, sie
aus denselben Heldenliedern abzuleiten. Der absurde Mensch vervielfacht auch hier,
was er nicht vereinfachen kann. So hatte er eine neue Art des Seins entdeckt, die ihn
mindestens ebenso befreit, wie sie diejenigen befreit, die sich ihm nähern. Großmütig
ist die Liebe nur, wenn sie sich zugleich vergänglich und einzigartig weiß. Alle diese
Tode und alle diese Wiedergeburten sind für Don Juan die Ernte seines Lebens. Darin
besteht seine Art zu geben und Leben zu spenden. Ich stelle anheim, ob man da von
32
Egoismus reden kann.
Ich denke hier an alle, die Don Juan durchaus bestraft wissen wollen, nicht erst in
einem anderen Leben, sondern noch in diesem. Ich denke an alle Erzählungen,
Legenden und an das Gelächter über den alten Don Juan. Aber Don Juan ist
schon darauf gefaßt. Für einen bewußten Menschen sind das Alter und die Dinge,
die es ankündigt, keine Überraschungen. Er ist nur genau in dem Maße bewußt,
wie er sich das, was daran schrecklich ist, nicht verschleiert. In Athen gab es
einen Tempel, der dem Alter geweiht war. Dorthin wurden die Kinder geführt. Bei
Don Juan ist es so: je mehr man über ihn lacht, um so deutlicher verrät sich seine
Gestalt. Damit wehrt er sich gegen die Gestalt, die die Romantiker ihm gaben.
Über diesen gemarterten und bejammernswerten Don Juan will keiner lachen.
Man bedauert ihn. Der Himmel selber wird ihn entschädigen? Aber das ist es
nicht. In dem Universum, das Don Juan ahnt, ist auch der Lächerliche
mitenthalten. Er fände es nur richtig, gezüchtigt zu werden. Die Spielregel
verlangt das so. Und das ist ja gerade seine Großmut, daß er die ganze
Spielregel angenommen hat. Er weiß aber, daß er recht hat und daß es sich nicht
um Züchtigung handeln kann. Ein Schicksal ist keine Strafe.
Das ist sein Verbrechen, und wie verständlich ist es, daß die Anhänger der
Ewigkeit seine Bestrafung fordern. Er erreicht ein illusionsloses Wissen, das alles
leugnet, was sie bekennen. Lieben und Besitzen, Erobern und Ausschöpfen das ist seine Art, zu erkennen. (Dieses Lieblingswort der Heiligen Schrift, die
unter »erkennen« den physischen Akt versteht, hat schon einen Sinn.) Er ist der
schlimmste Feind jener Frommen, und um so mehr, da er sie nicht kennt.
Ein Chronist erzählt, der wahre »Burlador« sei von Franziskanern ermordet worden,
weil sie »den Exzessen und der Ruchlosigkeit Don Juans, dem seine vornehme
Geburt Straflosigkeit zusicherte, ein Ende machen wollten«. Sie verkündeten dann,
der Himmel hätte ihn mit einem Blitz erschlagen. Niemand hat dieses merkwürdige
Ende nachgeprüft. Niemand hat das Gegenteil bewiesen. Aber ohne mich zu fragen,
ob es wahrscheinlich sei, kann ich behaupten, daß es logisch ist. Ich will mich hier nur
an den Begriff »Geburt« halten und mit den Worten spielen: das Leben selber sicherte
seine Unschuld. Nur vom Tode her hat er eine jetzt legendäre Schuld bekommen. Was
anderes bedeutet jener steinerne Gast, diese kalte Statue, die da in Gang gesetzt
wird, um das Blut und den Mut zu rächen, die zu denken wagten? Alle Mächte der
ewigen Vernunft, der Ordnung, der allgemeinen Moral, die ganz seltsame Größe eines
dem Zorne zugänglichen Gottes vereinigen sich in ihm. Dieser gigantische und
33
seelenlose Stein symbolisiert nur die Mächte, die Don Juan für immer geleugnet hat.
Und da hört die Mission des Komturs auf. Blitz und Donner können wieder in den
fiktiven Himmel eingehen, aus dem man sie gerufen hat. Die wahre Tragödie spielt
sich fern von ihnen ab. Nein, nicht von einer steinernen Hand ist Don Juan gestorben.
Ich glaube gern an den legendären Hohn, an das unsinnige Gelächter des gesunden
Mannes, der einen nicht existierenden Gott herausfordert. Aber ich glaube vor allem,
daß der Komtur an jenem Abend, an dem Don Juan bei Anna wartete, nicht kam, und
daß der Gottlose, als die Mitternacht vorüber war, die furchtbare Bitterkeit derer fühlen
sollte, die Recht hatten. Noch lieber akzeptiere ich die Erzählung seines Lebens, nach
der er sich schließlich in ein Kloster vergräbt. Nicht daß man die erbauliche Seite der
Geschichte für wahrscheinlich halten könnte. Was für eine Zuflucht, Gott anzubeten?
Dies stellt vielmehr den logischen Abschluß eines vom Absurden ganz und gar
durchdrungenen Lebens symbolisch dar, die verwegene Auflösung einer Existenz, die
ganz auf Freuden ohne ein Morgen eingestellt war. Der Genuß vollendet sich hier in
der Askese. Man muß begreifen, daß das gleichsam die beiden Gesichter ein und
derselben Not sein können. Was für ein schrecklicheres Bild könnte man sich
wünschen: ein Mensch, den sein Körper verrät und der es versäumte, rechtzeitig zu
sterben, vollendet die Komödie, indem er Aug’ in Auge mit dem Gott, an den er nicht
glaubt, das Ende erwartet, ihm dient, wie er dem Leben gedient hat, kniend vor der
Lehre und die Arme zu einem stummen Himmel ausgestreckt, der für ihn auch keine
Tiefe hat.
Ich sehe Don Juan in einer Zelle jener spanischen Klöster, die einsam auf einer Höhe
liegen. Und wenn er etwas anschaut, so sind es nicht die Phantome verflüditigter
Liebschaften, sondern vielleicht, durch einen glühenden Spalt, irgendeine
schweigende Ebene Spaniens, die großartige und seelenlose Erde, in der er sich
wiedererkennt. Ja, bei diesem melancholischen und strahlenden Bilde müssen wir
verweilen. Was zuletzt kommt, das Ende, erwartet, aber nie gewünscht, das endgültig
Letzte ist verächtlich.
34
3. Der gezähmte Don Juan
35
Einleitung
Don Juan, der Freidenker, der Hedonist, der Mörder und Vergewaltiger. Don Juan, der
sich nimmt was er will, ohne zu fragen oder über die Konsequenzen nachzudenken.
Don Juan, der seinen Degen an der Kehle der moralischen Gesellschaft hat. Don
Juan, der Mythos von einer unbezähmbaren Männlichkeit, die immer nach neuen und
neuen Eroberungen strebt.
Unbezähmbar? Betrachtet man die weitläufige Rezeptionsgeschichte, können daran
durchaus Zweifel aufkommen. Gibt es eine Zähmung? Welche Dimensionen hat diese
Zähmung? Verliert Don Juan etwas, wenn er gezähmt wird? Seine verführerische
Kraft? Seine kritische Macht? Ist ein gezähmter Don Juan noch ein Don Juan? An
diesen Gesichtspunkten orientiert sich das folgende Kapitel der Materialsammlung, die
jedoch keinesfalls zufriedenstellende Antworten auf all jene Fragen geben kann. Dazu
kommt natürlich, dass der Begriff der Zähmung bereits voraussetzt, dass vorher so
etwas wie eine Wildheit vorlag, eine Vitalität, die in bestimmten Auffassungen von Don
Juan verloren ist.
Auch heute gibt es in den verbliebenen Adelshäusern der Welt noch Don Juans. Wenn
man dem Berliner Kurier Glauben schenken möchte, werden diese sogar gezähmt.
Von einer Frau, man höre und staune. Der Titel des Zeitungsartikels passt nahtlos zum
Thema und bietet einen interessanten aktuellen Bezug dazu, was Journalisten
heutzutage mit Don Juan und seiner Zähmung in Verbindung bringen.
»Er wird sich selbst zur Last«, schreibt Beatrix Müller-Kampel, »und stirbt an der
Zähmung seiner selbst«. Damit spricht sie einerseits den Trend an, die Figur zu
psychologisieren und verstärkt reflektieren zu lassen. Dahin sind Lebens- und
Genussdrang, an ihre Stelle treten Skrupel und »Selbstekel«. Andererseits trifft man
Don Juan nicht mehr als wilden Schürzenjäger sondern als grübelnden Intellektuellen
(Frisch) oder zivilisierten Jüngling, der seine Triebe kontrolliert, bezähmt, unterdrückt.
Ein solcher Don Juan benötigt keinen steinernen Gast mehr, der ihn in die Hölle
verdammt. Das erledigt er nun selber.
In Gustave Flauberts Textfragment haben wir es wieder mit einem anderen Don Juan
zu tun. Sehnsucht bestimmt diesen, die vielen Frauen, die er eroberte, sind keinesfalls
vergessen, stets sieht er ihr Gesicht vor seinem inneren Auge vorüberziehen. Er sucht
etwas, so geht es aus dem Gespräch mit seinem Diener hervor. Vielleicht sucht er die
Wahrheit, ein Ideal oder Erlösung. Was auch immer er sucht, er scheint kaum der
sorglose Schürzenjäger, der in den Tag lebt und von Bett zu Bett vagabundiert,
zwischendurch auf der Flucht vor gehörnten Ehemännern.
36
Als Idealsucher wird Don Juan von E.T.A. Hoffmann verstanden. Dabei geht es
weniger um Vitalität und augenblicksbezogene Genussfreudigkeit, wie Hiltrud Gnüg es
umschreibt, als um das erlangen eines überirdischen Ideals, durch den reichen Genuss
von Frauen zu erreichen sucht. Durch die Idealisierung der Figur wird ihr auch etwas
der Vitalität genommen. Dieser Don Juan ist nicht wertverneinend aus Sinneslust, er
verführt aus »Verachtung der gemeinen Ansichten des Lebens.«
Den Gipfel der Zähmung erreicht Jose Zorrilla y Moral mit seinem Don Juan Tenorio. In
diesem fährt Don Juan nicht etwa verdienterweise in die Hölle, sondern wird errettet
und im Sinne christlicher Vergebung ins Himmelreich aufgenommen. Dieser Don Juan bereut
am Ende seine Schandtaten und beugt sich der steinernen Statue. Ein Don Juan, der das
Freidenken im Angesicht der Strafe aufgibt und sich auf die Moral und Werte der Gesellschaft
zurückbesinnt. Kann dieser Don Juan noch als kritisch gesehen werden, kann er
ernstgenommen werden? Oder ist er zahm wie ein Schaf?
JW
37
Don Juan wird sich selber zur Last...
Dem Signifikanten wohlbekannten Ursprungs und eines (zumindest bis in die 1810er
und 1820er Jahre) ziemlich fest umrissenen Bedeutungsprofils kommen sowohl in
„Hoch-" als auch „Trivialliterarur" nach und nach immer zahlreichere und
widersprüchlichere literarische Signifikate zu. Bereits dem 19. Jahrhundert scheint ein
selbstzufriedener Frauenschänder und Seelentöter fremd geworden zu sein, beinah
ridikül auch eine redende Statue, die den Wüstling mit Feuer- und Teufelsbrimborium
zur Hölle schickt. Als sinnlich-genialischen Dämon sah ihn demzufolge bereits E. T. A.
Hoffmann, der den Wüst- und Lüstling Don Giovanni zum innerlich gespaltenen
bürgerlichen Helden wie auch die rachedürstende Entehrte, Donna Anna, zum
göttlichen und göttlich liebenden Weib veredelte. „Auf alles war ich gefasst", lamentiert
Don Juan in Max Frischs Don Juan oder die Liebe zur Geometrie, „aber nicht auf
Langeweile. Ihre verzückten Münder, ihre Augen dazu, ihre wässerigen Augen, von
Wollust schmal, ich kann sie nicht mehr sehen!"35 Derlei Sensationen hatten bereits ein
Jahrhundert zuvor den Don Juan von Lenau beschlichen. Ödnis und Trauer treiben ihn
fortan im Tränental getäuschter Lust voran; müde und voller Ekel, ein
„Fremdgeborener" und „Qualbestimmter",36 irrt Don Juan seit Mitte des 19.
Jahrhunderts seinem ersehnten Ende entgegen . (Georg Trakl, Rainer Maria Rilke,
Gottfried Beim). Sein „Talent" kommt ihm selber „oft genug lästig und ungesund"37 vor.
Wenn auch träge geworden, von Skrupeln geplagt und gezeichnet vom Kainsmal des
Intellekts, haftet ihm nach wie vor ein Duft aus Mythos und Männlichkeit an -der die
Frauen betört und den einstigen Jäger zur Beute werden lässt (Ödön von Horväth,
Max Frisch), der Feuilletonisten zu Phänomenologisierungen hinreißt (Peter Altenberg,
Franz Blei), und die Psychoanalytiker zum Befund, dass man es bei Don Juan mit
einem verkappten Homosexuellen oder einem' Sadisten oder vielleicht doch mit einem
polymorph-. perversen Typus zu tun habe.3
...und stirbt an der Zähmung seiner selbst.
Nun zum übergreifenden Vorhaben, alle im Verlauf der deutschsprachigen
Stoffgeschichte mit dem Namen Don Juan, Don Giovanni, Don Miguel de Manara
belegten Figuren als zivilisationshistorische Entwicklungsstadien einer einzigen Gestalt
zu begreifen. Diese gleichsam synthesisierte Figur wird wiederum nur fassbar in
Gegenüberstellung mit den anderen Akteuren: der Gruppe der Frauen und dem
Steinernen Gast.
38
Am Beginn der deutschsprachigen Themengeschichte steht mit den HanswurstDonjuaniaden der Wanderbühne .ein „Sünder hartgesottenster Sorte" : ein
Herausforderer Gottes, ein Räuber, Vergewaltiger, Totschläger, Vater- und
Brudermörder, ein Erzbösewicht, der seine Missetaten skrupellos, ohne an Zukunft,
Himmel und Hölle zu denken, ausführt, unbändige Freude daran findet, und so
grässlich zu Tode kommt, wie er lustvoll gelebt hat. Seit den 1950er Jahren tritt uns
unter dem Namen Don Juan entweder ein grübelnder Intellektueller (wie in Max
Frischs Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie), ein erbarmungswürdiger
Hanswurst seiner Hormone (wie jn Julian Schuttings „Theater-Libretto" Gralslicht)
oder ein kultivierter .Frauenliebling entgegen, dessen Hang zum schönen
Geschlecht sich schon längst nicht mehr in körperlicher Gewalt Bahn bricht,
sondern der alle seine erotischen und aggressiven Regungen beobachtet,
analysiert, sie zu zähmen, zu verbergen, abzudrängen sucht. Don Juan ist
friedlicher geworden, Verhalten und Charakter haben sich verfeinert, er beginnt, auf
die Wünschender begehrten Frauen und der Nebenbuhler Rücksicht zu nehmen,
und befindet sich ständig in irgendwelchen Gewissensnöten. In die Begrifflichkeit
der Kulturtheorie von Norbert Elias übersetzt, hieße dies, dass an Don Juan
offenbar zivilisatorische Prozesse wirksam geworden sein müssen, Prozesse, die
auf die Zähmung und Dämpfung von Trieben, auf Rationalisierung und
Psychologisierung von Affekten abzielen. Der im ursprünglichen Don-Juan-Stoff fix
veranschlagte Konflikt zwischen Burlador und Komtur erwächst vornehmlich aus
der Überkreuzung von zwei patriarchalen Machtsphären, in deren Brennpunkt die
„Ehre" der unverheirateten Frau steht, über die Vater und Mutter zu wachen haben,
Eben dieses System droht im Don Juan der Tradition auseinander zu brechen: Keine
mütterliche Figur hält Wache über die gefährdete mannbare Tochter, und dem Vater
misslingt der Versuch,' Don Juans Verstoß gegen die geforderte Sexualnorm zu
bestrafen, Die Gestalt des Steinernen Gastes, der am Ende doch noch die aus den
Fugen geratene normative Ordnung ins Lot rückt, belegt den sozialen Anspruch der
Geschädigten, dass sich in diesem System der Verhaltensregulierung ein göttlicher
Plan abbilden solle / müsse, zugleich aber auch, dass der Verbotekanon in all
seiner Strenge nur unter schicht- und machtgleichen Gruppen wirkt - ein gehörnter
Bauer, Lakai, Proletarier ist als rächende Reiterstatue weder sozial noch
normpoetologisch .vorstellbar und taucht , während der gesamten
Themengeschichte allenfalls dann auf, wenn sich damit ein komischer Effekt
erzielen lässt.
Don Juan und seine Antagonisten verändern sich bis in die 1810er Jahre kaum
39
merklich, danach jedoch immer schneller und tiefgreifender. Don Juans Begehren
bleibt insgesamt besehen immer seltener auf die unmittelbare Befriedigung
elementarer Bedürfnisse beschränkt, es weitet sich vielmehr nach und nach zur
Sehnsucht aus - Sehnsucht nach der vollkommenen Frau, nach endgültiger Erlösung
aus dem Jammertal von Existenz und Sexus, nach Zufriedenheit, Liebestreue,
Kindesliebe, Freundschaft,' Freiheit, Erkenntnis dessen, was die Welt im Innersten
zusammenhält. Don Juans Verhalten hat sich in dem Maße rationalisiert, wie sich sein
psychischer Habitus differenziert und dynamisiert hat. Die Folgen des von Elias
beschriebenen Zivilisationsprozesses für das Individuum bestehen u. a. in einer
dreifachen psychischen Distanzierung von der Natur, vom Mitmenschen und vom
eigenen Selbst, wobei letztere sich wiederum darin äußert, dass das Ich sich selbst
gegenübertritt - prüfend und urteilend, abwägend und planend. Don Juan pflegt
nunmehr sich selbst zu kommentieren und seine Handlungen vor sich selbst, seinen
Mitfiguren und dem Publikum zu rechtfertigen (Nikolaus Lenau, Carl Sternheim, Ödön
von Horväth, Max Frisch) - diese in der deutschen Stoffgeschichte erst seit den 1840er
Jahren zu beobachtende Tendenz der Figurenkonzipierung setzte in Frankreich
weitaus früher - mit Molieres Stück Dom Juan ou Le Festin de Pierre - ein, in dem ein
rationalistischer, atheistischer, rhetorisch überaus begabter Verführer bei der
Durchführung ausschließlich intellektuell-verbaler Missetaten gezeigt wird. Die
gleichsam „verspätete" Zivilisierung Don Juans im deutschsprachigen Raum mag sich
aus der Zeit erklären, in welcher der Stoff in den deutschsprachigen Raum gelangt
war, sowie aus Organisationsform und Status jener Institutionen, welche für seine
Verbreitung verantwortlich zeichnen: Wandertheater und Oper. Dem nunmehr mit
Seele Gewissen Intellekt und allerlei spirituellen Sehnsüchten begabten deutschen
"Don Juan des 19. Jahrhunderts gesellen sich Gefährtinnen und Gespielinnen bei,
welche nur noch entfernt an die Frauenfiguren bei Tirso, Da Ponte und den anonymen
Donjuaniaden der Wandertruppen erinnern. Sittsamkeit, Selbstaufopferung,
normgemäße Gefühlswelt; Diese Eigenschaften zeichneten einstmals die
hintergangenen und verführten Geschöpfe aus. Doch auch , hier verschieben sich
nach- und nach die charakterlichen Schattierungen. Verhalten und Empfinden kreisen
nicht mehr ausschließlich um die eigene Ehre bzw. die Ehrbarkeit der Beziehungen zu
Don Juan. Stattdessen fordern die Frauenfiguren mehr und mehr die - mitunter,
naturrechtlich begründete - Freiheit ein, sich selbst für einen Liebespartner
entscheiden zu können, d. h. gegebenenfalls auch gegen Konvention und Familie. Der
Schutz ihrer Ehre ist nicht mehr ausschließlich in die Hand männlicher
Familienmitglieder gegeben, sondern fällt zusehends- in ihre eigene Verantwortlichkeit.
Dies drückt sich etwa darin aus, dass der Liebeskonflikt nunmehr meist direkt
40
zwischen männlichem Täter(-Opfer) und weiblichem Opfer(-Täter) ausgetragen wird,
dass die Betrogenen zuweilen auch wohl Selbstjustiz üben und. die vormaligen
Vormündfiguren ,'an Macht und dramatischem Gewicht verlieren (Stefan Zweig, ;Ödön.
von: Horväth, Hermann Broch). Dass in dem Maße, wie der Freiheitsraum der
Mächtigen (hier Don Juan) eingeschränkt wird,, sich auch jener der Machtlosen (hier
der von Don Juan begehrten Frauen) ausweitet- beschreibt Elias als eines der
bedeutsamsten Phänomene zivilisatorischer Prozesse. Fremdzwang und
Außenkontrolle sind zu Selbstzwang und Selbstkontrolle geworden. Diesem Vorgang
entsprechen textintern die veränderten Funktionen oder überhaupt das Verschwinden
des Steinernen Gastes, dieser ins Himmlisch-Ewige verlängerten Instanz patriarchaler
Macht. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat Don Juan vollends jede
Freude an der selbstgenügsamen Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse verloren.
Don Juan kämpft immer seltener mit äußeren Feinden wie gehörnten Ehemännern
oder beleidigten Vätern und immer stärker gegen die eigene donjuaneske „Natur" an.
Er liegt in Fehde mit sich selbst. Don Juan, die feudale sexuelle Großmacht von
einst,41 liegt in den Ketten bürgerlicher Moralvorstellungen, ohne jedoch seine
Faszination eingebüßt zu haben (für die Autoren ebenso wie für die vorgeführten
Frauen).
Was besagt nun diese Analogie von literarischer Figurengeschichte und
Zivilisationsgeschichte? Zum einen, dass sich die zivilisationstheoretischen
Relevanzbereiche Menschheitsgeschichte, Geschichte einer einzelnen Gesellschaft
und Sozialisation des Individuums um die Geschichte der Literatur bzw. ihrer Inhalte
erweitern ließen. In ähnlicher Weise wie die von Elias herangezogenen literarischen
Beispiele ein bestimmtes zivilisationsgeschichtliches Stadium dokumentieren sollen
(synchrone Perspektive), fasst die kurze Geschichte des auf deutschsprachiges Gebiet
verpflanzten spanischen Hidalgo Don Juan gleichsam in Zeitraffertempo zusammen,
wozu aus der Sicht von Elias die europäischen Gesellschaften fast ein Jahrtausend
brauchten (diachrone Perspektive). Dass die Wirkung zivilisatorischer Prozesse
gerade an der Geschichte einer literarischen Figur so außergewöhnlich sinnfällig wird,
ergibt sich wohl aus dem spezifisch stoffhistorischen Gegenstandsbereich als einer
Schnittstelle zwischen übergreifender Sozial- und individueller Psychohistorie im
Medium der Fiktion, d.h. zwischen dem Textcorpus in seiner
kommunikationsgeschichtlichen Dimension und der imaginären Biografie der jeweils
dargestellten Don-Juan-Figur. Von den zivilisationsgeschichtlichen Standards des 18.,
19. und frühen 20. Jahrhunderts aus betrachtet, zeichnet die literarische Entwicklung
Don Juans historisch bereits Vollzogenes nach. Insofern kann Don Juans fiktive
41
Sozialisation als verdichtete und aufweite Strecken hin verspätete
Zivilisationsgeschichte gelesen werden. Dies wirft wiederum die Frage auf, ob die
Metamorphosen auch anderer literarischer Figuren oder Typen, etwa von Faust,
Ahasver, Herakles, Odysseus, Ödipus, Orest, Prometheus u. a. denselben, einen
ähnlichen oder davon abweichenden Verlauf nehmen, ja letztlich auch, welche
literarischen Geschehens- und Geschichtskonstellationen überhaupt
makrosoziologische Prozesse verdichtend rekapitulieren. Damit drängte sich auch die
Frage nach der tendenziellen sozial- und ideologiegeschichtlichen
Rückwärtsgewandtheit bzw. Rückständigkeit bestimmter literarischer Genres auf. Ihrer
Beantwortung könnte eine umfassende Auswertung und methodische Aktualisierung
einer einst beliebten und seit den 1960er Jahren viel geschmähten
literaturwissenschaftlichen Disziplin, nämlich der Stoffgeschichtsschreibung, dienlich
sein. Ohne sie hätte auch das ideenhistorisch folgenreichste Fazit aus der
deutschsprachigen Literaturgeschichte des Burlador aus Sevilla nicht gezogen werden
können - dass nämlich Don Juan sein eigener Steinerner Gast geworden ist. In den
Worten von Peter Altenberg: „Don Juan fährt stets zur Hölle! Zur eigenen nämlich!"
42
Der errettete Don Juan
José Zorillas »Don Juan Tenorio. Romantisches Schauspiel in fünf Akten«
Jose Zorillas Drama vom Verführer Don Juan fand zwar bei seiner Uraufführung 1844 nicht
die große Resonanz, die der Autor sich erhoffte, wurde jedoch bald noch zu seinen
Lebzeiten ein 'Theaterhit', der zwar nicht dem Autor, wohl aber dem Verleger, dem er für eine
lächerliche Summe alle Rechte abgetreten hatte, viel Geld einbrachte. Der Grund für diesen
plötzlichen Erfolg: der Schauspieler Latorre hatte das Stück ein Jahr nach seiner
Uraufführung als Allerseelen-Stück herausgebracht, es löste Zamorras »Steinernen Gast«
ab und gehörte von Stund an zum Repertoire der Allerseelenfeiern'. Zorilla hat gegen das
Stück später immer wieder heftig polemisiert, versuchte sich an einer Parodie, da er den
geschäftstüchtigen Verleger im Nachhinein schädigen wollte – vergeblich; das Stück brachte
volle Kassen und begründete bis in die Gegenwart das Renommee des Autors. »Don Juan
Tenorio «als Allerseelen-Stück; das verweist schon auf die christliche Lösung, die nicht auf
ein stolzes Nein zur Umkehr und auf Höllenfahrt, sondern auf Reue und göttliche
Gnade abzielt. Natürlich muß die Peripetie groß sein, Don Juan sich zunächst als arger
Wüstling und Sünder zeigen, damit die Seelenrettung in letzter Sekunde umso
beeindruckender ist.
Anders als Grabbe, der Don Juan mit seinem Antipoden Faust konfrontiert, erfindet Zorilla für
seinen Protagonisten einen Konkurrenten der Libertinage, Don Luis Mejia. Beide haben eine
Wette abgeschlossen, bei der derjenige Sieger sein soll, der mehr Frauen betrogen und mehr
Männer getötet hat.
Nach einem Jahr treffen sie sich zum verabredeten Zeitpunkt in einem Gasthof, geben vor
einem verborgenen äußerst interessierten Publikum das Resümee ihrer Taten; und da –wie
Don Juan kommentiert - »die beiden Geschichten« »so ähnlich« sind, kann nur durch exakte
Überprüfung ihrer Listen der Sieger ermittelt werden. Es steht in puncto verführter
Frauen 62 zu 56, in puncto getöteter Männer 32 zu 23 für Don Juan. Die ganze Wette
dient Zorilla wohl dazu, die Verruchtheit seines Protagonisten zu verkünden, ohne ihn als
siegreichen Verführer auf der Bühne vorführen zu müssen Während Tirso de Molina seinen
Burlador noch in erotischer Aktion auf der Bühne zeigte, läßt der romantische Autor
seinen Don Juan nur von seinen sexuellen Abenteuern berichten. Daß er ihn zum
pedantischen Buchhalter seiner Affären macht, widerspricht letztlich der Konzeption der
Figur, dem rastlosen Verführer, den es immer schon zur nächsten Eroberung zieht.
Wenn Mozarts Leporello der fassungslosen Elvira genüsslich das umfangreiche Register mit
den nach Ländern aufgelisteten Fraueneroberungen vorträgt, hat das seinen Sinn, spiegelt
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sich darin doch die Faszination des Dieners ob der erotischen Vita seines Herrn. Ein Don
Juan jedoch, der selbst sein Register führt, wirkt unglaubwürdig; sein archivarisches
Bewußtsein widerstrebt seiner Zukunftsgerichtetheit. Zorillas christlich didaktische Zielsetzung
führt auch noch zu weiteren Widersprüchen. So verkündet Don Juan in der Eingangsszene:
Nichts gab es, vor dem ich mich scheute,
heilig war mir nichts auf Erden,
alles wollte ich niederziehn,
und was gut und rein erschien,
mußte meine Beute werden...
und es wurde meine Beute! (S. 60 f.)
So kann ein Don Juan nach seiner Bekehrung im letzten Akt sprechen, nicht aber der
reuelose gegenwartsbezogene Genussmensch, dem Gott und Jenseits Schimären,
Begriffe wie »heilig« oder »rein« ohne Bedeutung sind. Doch schon zu Beginn will der Autor
den Zuschauern das frevelhafte Dasein seines Protagonisten verdeutlichen, will er durch die
christlich wertende Moralterminologie jede mögliche verführerische Wirkung vermeiden.
Obwohl Don Juans Register eine Fülle verschiedenster Frauengestalten verzeichnet,
fehlt zur Vollständigkeit der Palette der verführten Frauen noch die Novizin und die
Braut des Freundes. In einer zweiten Wette mit Don Luis Mejia verspricht Don Juan,
innerhalb von sechs Tagen diese Lücken zu schließen 'Don Luis' Braut Dona Anna und
Inez, die Tochter des Komtur Don Gonzales, sind das Ziel seiner Attacken. Hatten der
Vater Don Juans und Don Gonzales auch zunächst die Heirat ihrer beiden Kinder
beschlossen, geben sie diesen Plan – nachdem sie Zeugen der Wettergebnisse wurden –
entsetzt auf. In Inez, die Don Gonzales zum Klosterleben bestimmt, findet sich also die
Novizin, die im Register noch fehlt. Don Luis schlägt in die Wette mit den Worten ein
»Es gilt! Doch bezahlt muß dies mit dem Leben und der Seele sein«, und Don Juan
antwortet: »Das Leben ist der Preis! Ich bin bereit!«. In der Auslassung »Und der
Seele« bekundet sich sein Atheismus, der eine unsterbliche Seele, Jenseits und
Jüngstes Gericht negiert.
Es folgt eine Szenenreihe dynamischer Aktion. Don Luis trifft Vorsorge, Dona Annas
Unschuld und seine Ehre vor Don Juan zu schützen; Don Juan dagegen wendet alle
Listen an, dem entgegenzuwirken. Schließlich gelingt es ihm, den Freund in sicheren
Gewahrsam zu nehmen, sich den Schlüssel zu Dona Annas Zimmer zu erkaufen und ...
Der Phantasie des Zuschauers bleibt es überlassen, sich den Ausgang der Geschichte
vorzustellen. Auf der Bühne findet keine Begegnung zwischen Don Juan und Dona Anna
44
statt! Gleichzeitig hat Don Juan auch schon seine Fäden geknüpft, um Dona Inez aus
dem Kloster zu entführen. Ein emphatischer Liebesbrief, der Inez' unschuldige Seele
in ihr unbekannte Verwirrung versetzt, und der Dienerin Preislied auf Don Juan und
die Liebe bereiten Don Juans wirkungsvollen Auftritt im Kloster vor. Der Schock der
Überraschung und die durch Brief und Rede überreizte Phantasie lassen Inez in eine
tiefe Ohnmacht versinken, so daß ihre Entführung aus dem Kloster in sein Schloß
Don Juan wenig Schwierigkeiten bereitet.
Hier ereignet sich die erste dramatische Peripetie: Don Juan ist von Inez' Reinheit so
bezaubert, daß er seine Wette vergisst; Inez erscheint ihm als der vom Himmel
gesandte Engel:
Nicht von Satan bist du entzündet und nicht die Hölle wirkt in mir, Gott selber ist es,
der in Dir, um mich zu retten, das Werkzeug findet. Was ich heute für dich empfinde,
das sind nicht die irdischen Flammen, die aus Fleisch und Blut nur stammen, das ist
nicht das Feuer der Sünde. Du hast Don Juan heut überwunden, ihn, der wie ein
Teufel verrucht. Was er mit wütender Sehnsucht gesucht, das hat er endlich in Dir
gefunden. Vor Deinen Vater will ich treten, um Dich will ich bitten den Komtur, lassen
will ich, Geliebte, Dich nur, wenn Deines Vaters Hände mich töten.
Nichts deutet jedoch in den vorangehenden Szenen auf eine latente Sehnsucht nach
der idealen Geliebten, der 'reinen' Frau hin!
Anders als etwa Lenaus Protagonist, der im Liebesrausch eine Art pantheistischer
Glückserfüllung sucht und schließlich nur die Monotonie der Wiederholung erfährt,
durchläuft Zorillas Don Juan letztlich keine Gefühlsentwicklung, und Don Juans plötzliche
Entdeckung der reinen, wahren Liebe zu Inez geht keineswegs das Bewußtsein der
Wiederholung des Immergleichen in der schnell genossenen sexuellen Lust voraus. Sie
verdankt sich allein dem Willen des Autors, seinen sündigen Helden am Schluss durch die
reine Liebe einer Frau vor der Verdammnis zu erretten. Zorillas Dramaturgie, die durch die
Jahresbilanz in der Wett-Szene die szenische Darstellung der erotischen Aventüren ersetzt,
ist von ihrer Struktur her nicht darauf angelegt, diesen Bewusstseins- und
Empfindungsprozess vorzuführen. Die Bilanz aus der ersten Wette bietet einen statischen
Rechenschaftsbericht – ohne Reflexion auf einen möglichen Bewusstseinsprozess. Die
zweite Wette wiederum führt zu einer raschen Folge wechselnder Schauplätze und
Aktionen, die Don Juan gar keine Zeit für Reflexionsmonologe lassen, in denen er den
Überdruss an seiner bisherigen Existenz äußern könnte.
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In einem tieferen Sinne ist jeder Don Juan, dessen Begierde sich am Substrat des Weiblichen
selbst entzündet, der immer wieder die Frau und nicht das weibliche Individuum sucht,
frauenfeindlich, und zwar in dem Sinne, dass er in jeder indididuellen Frau ihre
Individualität gerade ignoriert und er so eine jede Frau letztlich brüskieren wird, wenn sie
sich wie Elvira als eine unter vielen im Catalogo-Register wiederfindet. Mozarts Don Giovanni
jedoch preist in seiner berühmten Champagnerarie, die konzentrierter Ausdruck seines
sinnlichen Lebensgefühls ist, die Frauen und die Liebe als sein Lebenselixier. Sein
Credo, erotische Lust als Lebenselement, das in dieser Arie einen vollendeten ästhetischen
Ausdruck gewinnt, prägte schon das szenische Ambiente bei Tirso de Molina und
Molière. Die schnelle Entflammbarkeit für die Reize einer Frau zeugte auch von der
donjuanesken Abhängigkeit von der weiblichen Gattung, von einer erotischen Faszination, die
ihn für die ernsthaften Tätigkeiten männlicher Existenz untauglich macht. An diesem
Punkt werden die Psychoanalytiker ihre Kritik ansetzen!
Zorillas Don Juan dagegen eignet offensichtlich wenig von dieser erotischen sexuellen
Reizbarkeit, er erscheint eher als ein Haudegen, der weniger aus sinnlicher Lust denn
aus Renommiergründen die Frauen verführt. Sprechend sein Bericht:
Als uns Rom als Beute offen lag,
da hab ich dort mein Quartier bezogen,
mit Männern gerauft und Weiber betrogen
und immer arger mit jedem Tag.
Da hab ich geschwankt nicht oder gezagt.
An meiner immer offenen Pforte
standen herausfordernd diese Worte:
Juan Tenorio wartet, heran, wer sich wagt!
Alles, was eine Szene an sexueller erotischer Ausstrahlung vermitteln könnte, reduziert sich
hier auf das dürr abstrakte Diktum »Weiber betrogen«. Der Akzent hegt – im Sinne der religiös
didaktischen Intention – auf dem Negativpol, dem Betrug! Ganz im Sinne des christlichen
Ideenhorizonts romantischer Prägung vollzieht sich der weitere Ablauf des Geschehens. Die
Unschuld hat Don Juan besiegt:
Der die Gluten bisher nur entfacht,
doch, ein Salamander, stets kalt nur geblieben,
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der die Liebe verhöhnt und verlacht,
Don Juan - lernt nun von Dir zu lieben I
Der so plötzlich gewandelte Don Juan, der durch Inez die wahre Liebe erfahren hat, nicht
mehr nur die »irdischen Flammen« empfindet, »die aus Fleisch und Blut nur stammen«,
entfaltet eine Rhetorik der Liebe, die Inez' Herz ganz gefangennimmt, sie für immer an ihn
bindet. »Du schenkst mir den Himmel, Don Juan«, antwortet sie seinem Heiratsgelübde.
Die ideale Geliebte muss – im Sinne des romantischen Weiblichkeitsideals – auch die
ferne, unberührte Geliebte bleiben. Dona Inez gesteht zwar Don Juan, daß sein Anblick und
seine Worte schöner und verführerischer als Satan selbst seien, dass ihm keine Tugend
widerstehen könne - »die bebenden Glieder flirren«-, doch trotz dieser sehr irdisch
sinnlich-erotischen Erregung, die aus ihren Worten spricht, folgt laut Regieanweisung
keine Umarmung, kein glühender Kuss. Dazu passt auch, dass der zuvor so skrupellose
Don Juan die schlafende Unschuld in der Nacht nur andächtig betrachtet hat.
Don Juan will also Don Gonzales – und das ist keine Strategie der Verführung – um die
Hand seiner Tochter bitten. Doch zunächst tritt ein in seiner Ehre tief gekränkter Don Luis
auf, der ihn zum Duell fordert, da nur Blut seine Schmach tilgen kann. Offenkundig hat
Don Juan auch die zweite Wette gewonnen. Aus diesem Dialog mit Don Luis erfährt der
Zuschauer, dass es ihm geglückt ist, in der Maske des Freundes bei Dona Anna zu
reüssieren.
Anders als bei Tirso de Molina etwa bleibt die Verführungsszene völlig ausgespart. Und
während der Ausgang desGeschehens bei Mozart eine gewisse Ambivalenz bewahrt, ist hier
die gelungene Verführung – wenn auch im Quidproquo – ein Fait accompli.
Noch bevor Don Juan dem Racheanspruch Don Luis' genügen kann, erscheint der erboste
Komtur, der nun seinerseits die Ehre seiner Tochter und seines Narnens rächen will. Eine
turbulente Szene mit mehreren theatralischen Peripetien! Weder der Komtur noch Don
Luis schenken der plötzlichen Läuterung Don Juans Glauben, sie sehen darin eine
heuchlerische Finte, eine feige List, sich ihren legitimen Racheansprüchen zu entziehen.
Don Juan auf den Knien vor dem Komtur, ihn demütig um die Hand der Tochter anflehend,
Gehorsam und Läuterung versprechend – das kann ihnen nur als eine Variante seiner
Skrupellosigkeit, als seiner »Erniedrigung feiges Spiel« erscheinen. Molieres Konzept
wirkt hier noch nach.
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Der Zweifel an seinem Mut verletzt seinerseits Don Juan so tief in seinem Ehrgefühl, dass er
alle Gefühle der Demut, Liebe, Läuterung vergisst, mit dem Ruf »So siege denn zum Schluß
die Hölle« Don Gonzales erschießt und darauf Don Luis im Duell ersticht. Obwohl er als
Atheist eingeführt wird, ist er in seiner Sprache ganz dem christlichen Himmel-HölleAntagonismus verpflichtet. Das rationalistisch atheistische X Credo des Moliereschen
Don Juan - »Ich glaube, daß zwei mal zwei vier sind« - steht außerhalb des gedanklichen
Horizonts dieses Don Juans .
Er rettet sich – ganz im Sinne der Stofftradition – vor seinen Verfolgern und überlässt die
Geliebte Inez ihrem Schicksal. Das muss befremden. Zwar ließ auch Tirsos Burlador
eine aufgelöste Dona Anna neben ihrem getöteten Vater zurück, doch diese war nur
eine von vielen, sollte ihm nicht die Seligkeit der Liebe und des Himmels erschließen. Nicht
im Sinne der Psychologie seiner Figur, sondern nur im Blick auf die christliche Botschaft des
Autors ist diese Wendung zu verstehen. Nimmt man Don Juans Liebe zu Inez ernst, würde
nichts einer gemeinsamen Flucht im Wege stehen, selbst wenn man von der
spanischen Moral des 17. Jahrhunderts ausgeht. Die Flucht mit dem Geliebten vor
erzwungener Heirat mit einem Kandidaten von Vaters Wahl z.B., ist ein beliebtes Motiv der
spanischen Comedia des 17. Jahrhunderts und spielt selbst bei Tirsos Stück eine Rolle.
Immerhin bittet Dona Anna de la Mota, sie vor der missliebigen Heirat durch Entführung zu
retten! Doch Zorillas Dona Inez muß sterben, um als reine Seele die himmlische Gnade
für Don Juan zu
Ein wichtiges Detail in der ersten Begegnung Komtur – Don Juan: dieser schießt auf den
steinernen Gast, der sein Memento mori verkündet und zur Umkehr und Reue mahnt.
Juan dokumentiert damit seine Ungläubigkeit. Bei ihrer zweiten Begegnung im
Mausoleum – Don Juan hält traditionsgemäß sein Versprechen – ist Don Juan schon tot,
im Duell mit seinem Zechkumpanen gefallen, die Totenglocken läuten, sein Leichenzug zieht
vorbei, und der Komtur erklärt dem verzweifelten Don Juan, der seine ganze Existenz als
Anhäufung von Last und Frevel beklagt:
Ungenützt ließest Du die Frist, Sandkorn um Sandkorn im Glase verrann,
Gib mir Deine Hand nun, Don Juan, weil es Zeit jetzt zum Abschied ist.
Zorilla greift das Motiv des »verräterischen Handschlags« auf, der Abschiedshandschlag
soll ihn seiner gerechten Höllenstrafe zuführen. Aber Don Juan hofft »trotz dem Übermaß
seiner Sünden« durch Reue »doch noch Gnade zu finden«.
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Regieanweisung;
Don Juan kniet nieder und streckt .die Hand, die ihm die Statue freigelassen hat, zum
Himmel. Die Gespenster wollen sich über ihn stürzen, aber nun öffnet sich das Grabmal von
Dona Inez und sie fasst die Hand, die Don Juan zum Himmel streckt.
Während die Statue ihr lakonisches »es ist zu spät« ausspricht, verkündet Dona Inez die
rettende, kettensprengende Kraft der reinen Liebe. Ihr Seelenheil hat sie für ihn eingesetzt,
um ihn dem Himmel zu retten.
Dieser Schluss entspricht der christlichen Gnadenlehre, daß die vollkommene Reue des
schlimmsten Sünders auch im letzten Augenblick noch die göttliche Gnade erwirkt.
Gleichzeitig spielt das romantische Erlösungsmotiv eine Rolle, nach dem die Hebende
reine Frau den schuldig gewordenen Geliebten vor der ewigen Verdammnis rettet. E.T.A.
Hoffmanns Aurelia aus den »Elixieren des Teufels« ist nur ein repräsentatives Beispiel.
Jose Zorillas Stück bleibt insofern problematisch, als es die Figur des sinnlich-erotischen
Verführers thematisiert, jedoch aus Angst vor seiner verführerischen Wirkung alle
Verführungsszenen ausklammert. Der Autor lässt seinen ungläubigen Libertin von Beginn an
eine Sprache sprechen, die von christlich-moralischen Wertungstermini nur so strotzt, so
dass dessen Position eines atheistischen Genussmenschen unglaubwürdig bleibt.
Gleichzeitig erscheint auch die neu erwachte reine Liebe zu Inez als plötzliche Laune, da er
sie bei seiner Flucht schon wieder vergessen hat. All diese Inkonsequenzen ergeben sich aus
einer außer-ästhetischen, christlich-didaktischen Zielsetzung, die einer überzeugenden
Konzeption psychischer Entwicklung des Protagonisten im Wege steht.
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JOSÉ ZORRILLA Y:MORAL
Don Juan Tenorio
Dritter Akt
Gottes Barmherzigkeit und die Apotheose der Liebe
Der Friedhof der Familie Tenorio wie im ersten Akt des zweiten Teils, mit dem Unterschied,
daß die Statuen von Dona Ines und Don Gonzalo auf ihren Postamenten fehlen.
1. Szene
Verhüllt und wie; zerstreut betritt Don Juan langsam die Szene.
DON JUAN: Es .war nicht meine Schuld! Ein kranker, Wahn trieb meinen überhitzten
Geist zur Tat; .ich brauchte Opfer; kaum sah ich sie vor mir, als sie die Beute meines
Wahnsinns wurden. Ich bin es nicht gewesen, weiß der Himmel! Es war ihr Schicksal,
denn sie. wußten beide, wie gut ich mit dem Degen umgehn kann, und dass mein Glück
mich nie im Stiche läßt.
Ein Taumel infernalischer Natur
erfaßt mein Herz und wie ein dürres Blatt
vom Winde fortgerafft wankt meine Seele
dem Jenseits zu; ich zweifle, fürchte, schwanke;
in meinem Hirn ist ein Vulkan entbrannt;
mein Schritt ist zögernd, willenlos und schwach;
und etwas Großes, was ich nicht erfasse,
demütigt meinen Stolz und macht mir angst. einen Außenblick Pause
Daß außer meinem Mut noch etwas sei,
hat sich mein Hochmut niemals vorgestellt;
und daß die Seele mit dem Körper stürbe
hab' ich geglaubt; jetzt bin ich ungewiß.
Nie hab' ich an Erscheinungen gedacht
und hielt sie nur für eitle Hirngespinste;
jetzt aber fühle ich wie jener Geist,
die Marmorfüße lautlos fortbewegend,
wo ich auch gehe, meinen Schritten folgt.
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Unwiderstehlich zieht mich eine Kraft
an diesen Ort, er erhebt den Kopf und sieht, daß die Statue Don Gonzalos nicht auf ihrem
Postament steht doch was erblicke ich!
Sein Steinbild ist nicht mehr vorhanden! Ha, schrecklicher Traum, laß endlich mich in
Frieden, verlasse meinen faszinierten Geist; ich glaub' dir nicht, fatale Illusion,
vergebens suchst du kindisch mich zu schrecken und meinen unbesiegten Mut zu
lähmen. Wenn du jedoch der Wirklichkeit entspringst, ist es für mich vergebliches
Bemühn, den Zorn des Himmels von mir abzuwenden. Traum oder Wirklichkeit: was ich
erstrebe ist siegen oder daß man mich besiege, und wenn der Himmel mich barmherzig
sucht, daß ich ihm demütig entgegenkomme, Das Steinbild dieses Grabes lud mich ein,
zu ihm zukommen,; den Beweis zu finden,
daß- das besteht, was ich geleugnet habe.
Hier bin ich denn, Komtur Steh auf! Erwache!»
Als er das Grab des Komturs in dieser Weise anruft, verwandelt es sich in. eine Tafel, die in
schrecklicher Weise den Tisch Don Juans parodiert, an dem im vorigen Akt Don Juan mit
Centellas und Avellaneda gegessen -haben. Je nach Geschmack des Dekora-teurs sind
die.Blumenverzierungen durch Schlangen, Knochen etc. zu ersetzen. Auf dem Tisch stehen eine
Schale mit Asche und ein Kelch mit einer Flamme sowie ein Stundenglas. Im gleichen Augenblick
wie sich das Grab verwandelt, öffnen sich die Gräber , enen Skelettein Leichentüchern entsteigen. Der
Hintergrund ist it. Gespenstern, Geistern und Erscheinungen bevölkert- Das rabmal von Dona Ines
bleibt verschlossen.
2. Szene
Die Vorigen; die Statue Don Gonzalos und die Erscheinungen STATUE: Hier bin ich Don Juan und
außer mir
siehst du die Geister :deiner Opfer hier,
die deine ewige Verdammung fordern!
DON JUAN: Allmächtiger!
STATUE:. Warum erschrickst du so,
wo dich doch niemals etwas überraschte,
noch du. dich fürchtetest.aus ihren Schädeln
ein Trinkgefäß .zu machen, Don Juan? DON JUAN:. Weh mir!
STATUE Verläßt dich jetzt dein Mut?
DON JUAN: Ich weiß; es nicht, doch muß ich jetzt erkennen,
daß ich mich täuschte: es sind keine Träume,
sie sind es!
51
er zeigt auf die Gespenster, Nie gekannter Schrecken packt mich, ich
fühle wenn mir auch der Mut nicht fehlt, daß meine Sinne schwinden.
STATUE: .Das kommt daher, daß sich dein Leben jetzt zum Ende neigt
und deines Daseins Frist gekommen ist.
DON JUAN: Was sagst du da?
STATUE: Dasselbe was vor kurzem
Dona Ines dir auch verkündet hat,
was ich dir sagte und was du, Don Juan,
in deinem tollen Wahn vergessen hast.
Doch laß dich für dein Gastmahl jetzt bedanken
und setze dich zu mir an meinen Tisch,
den ich für dich hier vorbereitet habe.
Komm Don Juan.
DON JUAN: Was setzt du mir da vor?!
STATUE: Hier Feuer und dort Asche Don Juan,
zu der du selber werden wirst.
DON JUAN: Das Haar
will sich mir sträuben! Werde ich
zu Feuer werden und zu Asche denn?
STATUE: So wie die Toten die du um dich siehst.
So geht der Mut, die
Jugend und die Macht zu Ende.
DON JUAN: Asche ja. Doch warum Feuer?
STATUE: Weil du in ihm zur Strafe brennen wirst um deine Missetaten abzubüßen.
DON JUAN: So gibt es also noch ein andres Leben und eine andre Welt als diese hier?
So ist es also wahr was ich nie glaubte? Mir friert das Blut bei dieser Wahrheit ein der
Wahrheit die mir mein Verderben kündet Und diese Uhr? STATUE: Mißt deine Zeit,
Don Juan.
DON JUAN: Läuft sie schon ab?
STATUE: Ein jedes Kömchen .Sand verkürzt um einen Augenblick dein Leben.
DON JUAN: Nur diese Körner bleiben mir noch übrig?
STATUE: Nur diese noch.
DON JUAN: Ha, ungerechter Gott,
jetzt gibst du deine Macht mir zu erkennen und läßt mir für die Reue keine Zeit.
STATUE: Auch der geringste Augenblick der Reue gibt einer Seele Anspruch auf
Erlösung; und diesen Augenblick gibt man dir noch.
DON JUAN: Es ist umsonst, in einem Augenblick, den Fluch von dreißig fürchterlichen
Jahren verbrecherischer Taten auszulöschen.
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STATUE: Sieh zu, dass er nicht ungenutzt verstreicht,
die Totenglocke beginnt zu läuten.
weil deine Frist jetzt abläuft, Don Juan.
Die Totenglocke läutet schon für dich, und deine Grube wird bereits gegraben.
man hört in der Ferne den Gesang der Totenmesse
DON JUAN: So läutet man für mich die Totenglocke?
STATUE: Ja, Don Juan.
DON JUAN: Und diese Sterbechöre?
STATUE: Die Psalmen die zur Buße dort erschallen, singt man für dich.
man sieht zur Linken Fackeln vorüberziehen und hört Gebete murmeln
DON JUAN; :Und jener Leichenzug?
STATUE: Ist deiner, Don Juan.
DON JUAN: So bin ich tot?
STATUE:. Mit seinem Degen hat der Capitan
an.deines Hauses Türe dich getötet
DON JUAN: Spät dringt des Glaubens Licht in meine
doch mein Verstand siebt nur die vielen Sünden,
die Gottes Zorn auf mich geladen haben,
Wo ich auch .war trat ich das Recht mit Füßen,
ißachtete.die Tugend und Moral
verspottete die irdische Justiz und habe alles um mich her vergiftet Ich stieg hinab bis
zu der ärmsten Hütteich wagte mich hinauf in die Paläste, ja selbst in Klostermauern
brach ich ein;
und da ich solch ein schlimmes Leben führte
kann es unmöglich Gnade für mich geben
zu den GespensternSeid ihr noch immer da, stumm und beharrlich? Laßt mich in
meinem Todeskampf allein,
und friedlich sterben, grimmerfüllte Schatten. Was wollt ihr
noch? Was habt ihr mit mir vor?
STATUE; Sie wollen deine Seele Don Juan, und warten nur, daß du die Augen schließt,
Und nun leb' wohl Dein Leben ist zu Ende. Da alles schließlich doch vergebens war, so
gib mir wenigstens die Hand zum Abschied.
DON JUAN: Zeigst du mir Freundschaft jetzt?
STATUE: Ja, Don Juan, denn ich bin ungerecht zu dir gewesen, und Gott befiehlt mir
nunmehr als dein Freund zurückzukehren in die Ewigkeit.
DON JUAN: Hier Käst du meine Rechte."
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STATUE: Nun, Don Juan,; da du den letzten Augenblick nicht nutztest, den man dir
gab, komm mit mir in die Hölle!
DON JUAN: Laß los du falscher Stein, laß meine Hand! In meinem Stundenglas ist noch
ein Korn, das letzte Korn des Lebens mir verblieben; laß los!, denn wenn es wahr ist
was du sagtest, daß auch der kleinste Augenblick der Reue in Ewigkeit die Seele retten
kann, dann glaube ich an dich gerechter Gott!' Wenn meine Sünde keine Grenzen hat,
ist deine Gnade gleichfalls ohne Ende: Herr, hab' Barmherzigkeit mit deinem Knecht!
STATUE: Es ist zu spät.
Don Juan kniet nieder und streckt die freigebliebene linke Hand zum Himmel. Die Gespenster
stürzen sich auf ihn. Im gleichen Augenblick öffnet sich das Grab Dona Ines' und diese erscheint.
Sie ergreift die Hand, die Don Juan zum Himmel erhoben hat.
3. Szene
Don Juan, die Statue Don Gonzalos Dona Inez.Erscheinungen und
Gespenster etc.
DONA INES: Nein, ich bin hier, Don Juan! Und meine Hand hält
deine fest umschlungen, die du, zerknirscht, zu Gott erhoben hast.
Er zeigt an meinem Grabe dir Erbarmen.
DON JUAN: Huldreicher Gott! Dona Ines, Geliebte!
DONA INES: Verschwindet Schatten, Geister und Gespenster. Sein
Glaube rettet uns; Geht, kehrt zurück in eure Gräber; Gott hat mir
gestattet, Don Juan an meinem Grabe zu erlösen und ihn mit meiner
Seele Bitternis von seinen schweren Sünden loszukaufen.
DON JUAN: Dona Ines, Geliebte meines Herzens!
DONA INES: Ich durfte meine Seele für ihn geben, und Gott hat
seine zweifelhafte Rettung um meinetwillen noch geschehen lassen.
Daß meine Liebe ihn erlösen durfte, ist ein Geheimnis das der
Kreatur
Unfassbar bleibt und der Gerechte nur im bess´ren Dasein zu
versteh´n vermag. Hört auf ihr Grabgesänge!
Musik und Choräle schweigen1
Totenglocke,
stell dein Geläute ein! Die Glocke verstummt
Ihr Schattenwesen,
schließt euch in eure Gräber wieder ein!
Die Skelette steigen wieder in die Gräber, die sich schließen
Und ihr, belebte Marmorstatuen,
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besteigt von neuem eure Postamente!“
die Statuen von Don Gonzalo und Dona Inés nehmen wieder
ihren Platz auf den Denkmälern ein
und mögen hier an unserem Sarkophag
für Don Juan des Paradieses Freuden,
an denen die Gerechten Anteil haben,
schon ihren Anfang nehmen.
Engel umgeben Don Juan und Dona Ines und streuen Blumen über sie aus und unter den Klängen
einer fernen süßen Melodie erhellt sich das Theater in den Strahlen der Morgenröte. Das Grab
Dona Ines' verwandelt sich in ein Bett von Blumen auf das Dona Ines niedersinkt.
Letzte Szene
Dona Ines, Don Juan und die Engel
DON JUAN: Gott der Barmherzigkeit, Ruhm dir und Ehre!
Die Sevillaner werden sich entsetzen,
wenn sie hier morgen meine Leiche finden,
getötet von den Händen meiner Opfer.'
Es-ist gerecht. Doch sei es hier verkündet,
daß, da mir nur ein Augenblick der Reue
das Purgatorium geöffnet hat,
der Gott der Gnade und Barmherzigkeit
es ist, den Juan Tenorio verehrt. Don Juan sinkt zu Füßen von Dona Ines und beide sterben.
Eine Flamme steigt aus beider Mund um anzudeuten, wie sich ihre Seelen zum Himmel
erheben.
Vorhang
Uraufführung und Erstdruck in Madrid 1844
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GUSTAVE FLAUBERT
Eine Nacht von Don Juan
In einem Teil, in einem Zug schreiben. -Bewegter Anfang als Handlung, - im Bild
erscheinen ! zwei Reiter auf schnaubenden, Pferden. Landschaftsein-; druck, aber
noch nicht zu genau, nur als Licht in den Bäumen, - man läßt die Pferde in den Büschen
weiden, - sie verfangen sich-mit ihrem Zaumzeug, etc. -Das passiert mitten im Dialog,
der ab und zu von kleinen einzelnen Handlungen unterbrochen ist. Don Juan knöpft
seine Jacke auf und wirft seinen Degen, der ein wenig aus der Scheide rutscht, ins
Gras. - Er hat soeben den Bruder von Donna-Elvira getötet. - Sie sind auf der Flucht. Das Gespräch beginnt voller Groll und Heftigkeit,
Landschaft. - Hinter ihnen das Kloster. - Sie sitzen auf einem grünen Hang unter
Orangenbäumen. - Um sie im Kreis der Wald. - Vor ihnen ein leicht abschüssiges
Gelände. - Am Horizont Berge mit kahlen Gipfeln. - Sonnenuntergang.
Don Juan hat alles satt und macht Leporello dafür verantwortlich. - Ist etwa das Leben,
das Ihr führt und mich führen laßt, meine Schuld? - Meinst Du, ich kann etwas . für das
Leben, das ich führe? .-Wie, Ihr könnt nichts dafür! –Das ist Leporellos Ansicht, denn
er hat ihn oft den Vorsatz., fassen sehen, ein geordneteres Leben zu führen. -Ja, und
dann will der. Zufall es anders. Beispiele. Leporello greift die Beispiele auf sein
Verlangen, alle Frauen kennenzulernen, die er sieht, allgemeine Eifersucht auf das
Menschengeschlecht- Ihr möchtet, daß Euch alles gehört. - Ihr sucht nach
Gelegenheiten. - Ja, ich bin getrieben von einer inneren Unruhe. Ich möchte
Sehnsucht - Er weiß weniger denn je, was er möchte, was er will. - Leporello begreift
schon lange nichts mehr
von dem, was sein Herr sagt. - Don Juan wünscht sich,
rein zu sein, ein unschuldiger Jüngling. - Er war es nie,
denn immer schon war er kühn, dreist, fordernd. - Er
wollte sich oft das Gefühl der Unschuld geben. - In allem
und überall sucht er die Frau - Aber warum verlaßt Ihr
sie? - Ach! warum! -Don Juans Antwort ist der Überdruß nachdem Besitz einer Frau. Ärger, den ihr Blick weckt Versuchung, die zuschlagen, die weinen..- Wie Ihr sie
wegstoßt, die armen kleinen Liebchen. - Wie Ihr
56
vergeßt. -Don Juan wundert sich selbst über das Vergessen und versinkt darüber in
Gedanken, eine traurige Sache. - Ich fand Liebespfänder wieder, von denen ich nicht
mehr wußte, woher ich sie hatte. - Ihr beklagt
Euch über das Leben, Herr, das ist nicht recht. - Leporello
hat ein diebisches Vergnügen an der Vorstellung von Don
Juans Glück Die jungen Leute betrachten ihn voller
Neid, ihn, Leporello; als hätte er Teil an der Poesie seines Herrn
Träumerei Don Juans über die Idee, die Leporello ihm nahelegt er könne
irgendwo einen Sohn haben?
Und ich habe erlebt wie Ihr Buch danach gesehnt habt, die Verflossenen
wiederzutreffen. - Don Juans Sehnsucht, last verblaßte Gesichter wieder klar vor sich
sehen zu können - Was, würde er nicht dafür geben, wieder eine klare Vorstellung
von diesen Bildern zu haben
Der Wechsel ist nicht alles. Man bekömmt oft Schlimmeres. - Liebe zu häßlichen
Frauen. Wart Ihr nicht im vergangenen Jahr verrückt nach dieser alten neapolitanschen
Marquise
Don Juan erzählt? wie er seine Unschuld verloren hat I eine alte Gouvernante, im
Dunkeln, in einem Schloß. - Ja weißt Du denn nicht, was Verlangen heißt, armer
Mann (er packt ihn am Arm, und wodurch es geweckt wird? - Erregung physischen
Verlangens. - Verderben. -Abgrund, der das Objekt vom Subjekt trennt und dessen
Begierde, in das Objekt einzudringen. - Das ist es, warum ich immer auf der Suche bin.
- Schweigen
Im Garten meines Vaters gab es eine Frauengestalt, eine Gallionsfigur. - Lust, sie zu
besteigen. - Eines Tages kletterte er hinauf und packt ihre Brüste. - Spinnen in dem
vermoderten Holz. - Erstes Gefühl einer Frau, Aufsteigen der Gefahr. - Und immer habe
ich die Brust aus Holz wiedergefunden. - Wie denn, aber Ihr habt doch Euer Vergnügen
daran! denn ich erlebe, wie glücklich Ihr seid. Staunen über die Lust (die Ruhe davor,
die Ruhe danach), das hat mich immer vermuten lassen, es gäbe etwas, das jenseits
dessen liegt. - Aber nein. - Unmöglichkeit eines vollkommenen Seelenbündnisses, wie
sehr der Kuß auch haftet- Etwas stört und wird zu einer Mauer. Wortlosigkeit der
Pupillen, die sich gegenseitig verzehren. Der Blick geht weiter als die Worte. Daher die
stets erneuerte, stets betrogene Sehnsucht' nach einem engeren Halt. An
verschiedenen Stellen anmerken: Eifersucht in der Sehnsucht = wissen, haben.
Eifersucht im Besitz = schlafen sehen, von Grund auf kennen.
Eifersucht in der Erinnerung = wieder besitzen, sich genau erinnern.
Und doch ist es immer das gleiche, sagt Leporello. - nein! es ist nie das gleiche! Es
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gibt ebenso viele verschiedene Frauen, wie verschiedene Begierden, verschiedene
Lust und Bitterkeiten.
Leporellos Gewöhnlichkeit muß Don Juans überlegenes Gebaren hervorheben und
objektiv bestimmen, und doch liegt der Unterschied nur in der Intensität!
Neid auf andere Männer. Alles sein wollen, was Frauen betrachten. - Jede Art von
Schönheit besitzen, etc. - Aber Ihr habt doch genug Frauen. - Was nützt mir das? Was
ist schon die große Zahl an Mätressen verglichen mit den übrigen? Wie viele gibt es, die
mich nicht kennen und denen ich nie etwas bedeutet haben werde!
Zwei Arten von Liebe. Die besitzergreifende Liebe, die einen Sog hat, wo Individualismus
und Sinne vorherrschen (jedoch nicht jede Art von Wollust). Dazu gehört die Eifersucht. Die
zweite ist die Liebe, die einen aus sich herauszieht. Sie ist großer, verzehrender, süßer. Sie
verströmt sich, wo sich die andere verbittert nach innen kehrt. Don Juan hat zuweilen beide
bei der selben Frau empfunden. Es gibt Frauen, die die erste wecken, und Frauen, die die
zweite hervorrufen, manchmal beide zugleich... Auch das hängt von Augenblicken ab, von
Zufällen und Stimmungen.
Don Juan hat alles satt und schließlich jede Lust zu krepieren, die einen überkommt, wenn
man zu lange gegrübelt hat, ohne eine Lösung zu finden. Man hört die Totenglocke. Für
einen ist alles zu Ende. Was ist das nun? Und sie hoben den Kopf.
II.
Don Juan klettert auf die Mauer und sieht die schlafende Anna Maria.- Bild. –langes
Betrachten. – Verlangen.- Erinnerung – sie erwacht. Zunächst ein paar zusammenhagslose
Worte wie eine Fortsetzung ihrer Gedanken. Sie hat keine Angst vor ihm (so einheitlich wie
möglich, man darf das Fantastische nicht vom Realen unterscheiden können).
Ich warte schon lange auf dich. Du bist nicht gekommen. – Erzählt von ihrer Krankheit und
ihrem Tod.- Sie wird immer wacher, je lebendiger das Gespräch wird.- Schweiß auf ihrem
Stirnband, er hebt sich langsam, langsam, stützt erst die Ellenbogen auf, kommt zum
Sitzen.- Große erstaunte Augen. Zurück zum Thema kommen.- Aber wie? Du bist es also,
dessen Schritte ich im Wald gehört habe, - das Ersticken der Nächte.- Spaziergang im
Kloster, Schatten der Säulen, die sich nicht regten, wie Bäume es getan hätten. Ich tauchte
meine Hände in den Brunnen.- Symbolischer Vergleich mit dem dürstenden Hirsch.Sommernachmittag.
Man hat uns verboten, unsere Träume zu erzählen- wegen des Kruzifixes, das über Anna
Marias Bett hängt, jenem Christus, der über die Träume wacht. – Das Kruzifix rührt sich nie,
während das Herz des jungen Mädchens in Erregung ist und oft blutet. Was Christus für
Anna Maria ist, aber er antwortet mir nicht in meiner Liebe.- Oh! Und ich habe ihn doch so
gebeten! Warum wollte er nicht, warum hat er mich nicht erhört? Hoffnung des Fleisches
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und der wahren Liebe (die mystische Liebe ergänzend) als Parallele zu den schamlosen
Hoffnungen Don Juans, der bei seinen anderen Liebeserlebnissen, besonders im
Augenblick der Ermattung mystische Bedürfnisse gehabt hat. (Das bei Don Juan in seinem
Gespräch mit Leporello deutlich machen.) Bewegung Anna Marias, die Don Juan mit
beiden Armen umschlingt.- Die weichgepolsterten Unterarme über den Halschlagadern und
die Handgelenke am Ende der erstarrten Hände, kleiner, um ihn zu erreichen; eine Locke
Don Juans verfängt sich, als er sich zu ihr herabbeugt, im Knopf ihres Hemdes. Die Nacht
wird lebendig,- Hirtenfeuer in den Bergen. Auch dort wird über Liebe geredet.- Die Liebe ist
es, die sie beschäftigt. Du kennst das einfache Glück nicht. Es wird Tag. Anna Marias
Lebenssehnsucht zur Erntezeit, Sonntagmorgens an Festtagen in der Kirche. – Die
Beichtväter quälen sie.- Ich habe den Beichtstuhl sehr geliebt. Sie näherte sich ihm mit
einem Gefühl wollüstiger Furcht, weil ihr Herz sich öffnen sollte. – Mysterium, dunkel. –
Aber sie konnte keine Sünden nennen, sie hätte welche haben mögen. Es soll Frauen mit
einem leidenschaftlichen Leben geben, - einem glücklichen Leben.
Eines Tages wurde sie ganz allein in der Kirche, wohin sie Blumen gebracht hatte, (der
Organist spielte ganz für sich), ohnmächtig, als sie ein Fenster betrachtete, durch das die
Sonne schien.
Ihr häufiger Wunsch zu beichten, Jesus im Körper haben, Gott in sich!- Bei jedem neuen
Sakrament kam es ihr so vor, als würde ein Durst gestillt. – Sie tat mehr Gutes, fastete
mehr, betete mehr,' etc. - Sinnlichkeit des Fastens. - Das Ziehen im Magen spüren, die
Schwäche im Kopf. - Sie hat Angst, sie studiert sich selbst, bis sie Angst bekommt, etc. Kasteiung. - Sie liebte die guten Düfte so sehr. - Sie riecht an ekelhaften Dingen. Wollust der üblen Gerüche. - Sie schämt sich dessen vor Don Juan, den das begeistert. Anna Maria staunt über sein Begehren. - Was ist das? Wie kommt es, daß ich begehre
und daß sie begehrt, was sie nicht kennt. Die Wollust fährt ihr überall unter die Haut
(wie der Ekel bei Don Juan). - Ich habe von der Welt reden hören. - Erzähl mir erzähl
mir!
Die Lampe verlischt mangels Öl.' - Die Sterne erleuchten das Zimmer (kein Mond). Dann wird es hell. - Anna Maria sinkt tot zurück.
Man hört die Pferde grasen und .mit dem Sattelzeug knarren. Don Juan flieht.
Grundzug von Anna Marias Charakter: sanft.
Nie Don Juan aus den Außen verlieren, Hauptsache (zumindest des zweiten Teils) ist die
Einheit, die Gleichheit, die Zweiheit, wobei jeder Ausdruck bisher unvollkommen war und,
indem er nun in dem anderen aufgeht und jeder für sich schrittweise zunimmt, sich
vervollkommnen und mit dem anderen eins werden soll.
Plan für eine Erzählung aus dem Jahr 1851
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60
Don Juan als Idealsucher:
E.T.A. Hoffmann – Lenau – Horvath
Seit dem 19. Jahrhundert vor allem setzt eine Problematisierung der Don Juan-Figur
ein. Don Juan ist nicht mehr »einfach da, ein Meteor« (Frisch), der sich allein in
seinen Taten ausdrückt vor allem der romantische Don Juan reflektiert seine
Existenzweise, empfindet den Riss zwischen Sein und Bewusstsein, sinnlichem
Rausch und idealischem Anspruch. Wenn Don Giovanni noch als ungebrochene
Persönlichkeit auftrat, die ohne Zögern ihre dem Augenblick, dem sinnlichen Genuss
gewidmete Existenzweise gegenüber der metaphysischen Instanz behauptet, so
verliert Don Juan jetzt viel von seiner Vitalität und augenblicksbezogenen
Genussfähigkeit. Psychologisierung und Reflektiertheit kennzeichnen die neue
Konzeption der Don Juan-Figur.
E.T.A. Hoffmann interpretiert in seiner Erzählung von 1813 »Don Juan. Eine fabelhafte
Begebenheit, die sich mit einem reisenden Enthusiasten zugetragen« Don Juans Lust
an immer neuen erotischen Abenteuern als »unendliche Sehnsucht« nach dem
»Überirdischen«, das er »durch die Liebe, durch den Genuss des Weibes, schon auf
Erden« zu erlangen suche. Dem Romantiker erscheint der äußere Handlungsablauf
der Mozart-Oper - ein »Bonvivant, der Wein und Mädchen über die Maßen liebt, der
mutwilligerweise den steinernen Mann als Repräsentanten des alten Vaters, den er bei
der Verteidigung des eigenen Lebens niederstach, zu einer lustigen Tafel bittet« - als
banal, ohne poetischen Reiz.
Betrachtet man das Gedicht (den Don Juan), ohne ihm eine tiefere Bedeutung
zu geben, so dass man nur das Geschichtliche in Anspruch nimmt: so ist kaum zu
begreifende Mozart eine solche Musik dazu denken und dichten konnte.
Hoffmanns Don Juan - in der Sicht des reisenden Enthusiasten - ist von einsamer
Größe, die ihn über die Masse erhebt Er verachtet bourgeoises Nützlichkeitsdenken,
Sicherheitsstreben, Er wird zum Revoltierenden und schließlich zum Frevler- »gegen:
die Natur und den Schöpfer« gerade durch sein Streben, nach Idealität. Während
Tirsos Don Juan den erotischen Augenblick genießt, er die Lust des erotischen
Genusses immer wieder aufs neue auskostet, ohne in ihm nach einem
außersinnlichen Ideal zu suchen, strebt Hoffmanns Don Juan bei jeder erotischen
Begegnung nach dem »Ideal endlicher Befriedigung« und findet doch immer nur den
flüchtigen Sinnengenuss. Sowohl der Don Juan der Tradition,, der allen Mahnungen
und Drohungen zum Trotz seine Existenz, sinnlich-erotischen Genusses führt, als auch
der romantische Idealsucher,, der sein »ewiges brennendes Sehnen« nach
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vollkommenem Glück stets von neuem im kurz währenden Liebesrausch zu stillen
sucht, lassen ihr Wollen als alleinigen Leitfaden ihres Lebens gelten. Damit ist der
Konflikt zwischen dem donjuanesken Typ und der Gesellschaft programmiert;
E TA. Hoffmann thematisiert diesen Konflikt nicht eigens',' doch seine Deutung der
donjuanesken Persönlichkeit stellt .Don Juan als außergewöhnlichen Menschen dar,
der sich in seinem »Streben nach dem Höchsten, worin er seine göttliche Natur
ausspricht«, über die Menge erhebt. Wie die Hoffmannschen Künstlergestalten, die
unter der Enge bürgerlicher Verhältnisse leiden und die der Faktizität
gesellschaftlicher Setzungen die Autonomie der Kunst entgegensetzen, behauptet
auch sein; Don Juan, gegen alle einengenden Normen die Autonomie seines
Willens, in der Unbedingtheit seines Glücksstrebens steht er an sich schon eine
Herausforderung der bürgerlichen Gesellschaft dar, die in ihrer Nützlichkeitsmoral
vor allem Selbstbescheidung, Pflichterfüllung und Affektkontrolle als Werte
proklamiert. Don Juan verfügt über all die Gaben, die auch Hoffmanns
Künstlergestalten - wie Francesco aus »Die Elixiere des Teufels«, Traugott aus »Der
Artushof« oder Berthold aus »Die Jesuitenkirche in G.« besitzen.
Juan stattete die Natur, wie ihrer Schoßkinder liebstes, mit alle dem aus, was
den Menschen, in näherer Verwandtschaft mit dem Göttlichen, über den'
gemeinen Tross, über die Fabrikarbeiten, die als Nullen, vor die, wenn sie
gelten sollen, sich erst ein Zähler stellen muß, aus der Werkstätte geschleudert
werden, erhebt; was ihn bestimmt zu besiegen, zu .herrschen, Ein kräftiger,
herrlicher Körper, eine Bildung, woraus der Funke hervor strahlt, der, die
Ahnungen des Höchsten entzündend, in die Brust fiel; ein tiefes Gemüt, ein
schnell ergreifender Verstand.
Don Juan ist »Zähler«, der den Nullen, den Durchschnittsmenschen erst Wert verleiht,
d.h. angesichts der »Fabrikarbeiten«, der normierten Menschen, die in ihren
Funktionen aufgehen, vermittelt er in seiner glücklichen Organisation von Körper und
Seele, in seinem Streben nach Idealität erst eine Vorstellung vom höheren Wesen des
Menschen. Doch gerade als ein Mensch mit »tiefem Gemüt«, der sich nicht
selbstgenügsam bieder im Bestehenden einrichtet, der seinen »Ahnungen des
Höchsten« folgt, ist er. gefährdet, ist er gefährlich, Der Philister, der ordentlich seine
Bücher führt, brav seine Bürgerpflicht erfüllt und in den Teezirkeln artige Sätze über die
erbauliche Wirkung der Kunst vorzubringen weiß, könnte nie den Rang des Frevlers
und großen Bösewichts erreichen. Die Greueltaten, die er begeht, geschehen immer
im Namen gehorsamer Pflichterfüllung. Der Idealsucher Don Juan jedoch, der
Gehorsam vor menschlichen Satzungen nicht kennt, anerkennt, wirkt gerade in seiner
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Suche nach vollkommener Selbstverwirklichung gefährlich.
Aber das ist die entsetzliche Folge des Sündenfalls, dass der Feind die Macht
behielt, dem Menschen aufzulauern, und ihm selbst in dem Streben nach dem
Höchsten, worin er seine göttliche Natur ausspricht, böse Fallstricke zu legen.
Indem Don Juan seine Idealitätssehnsucht im Liebesrausch zu stillen sucht, er das;
»was bloß als himmlische Verheißung in unserer Brust wohnt«, im erotischen Genuss
zu finden hofft, täuscht er sich über die Art seiner unendlichen Sehnsucht. Er erleidet
einen ähnlichen Irrtum wie viele der Künstlergestalten Hoffmanns, die - wie Traugott
aus dem »Artushof« - »das Himmelsbild«, das in ihrer »Brust ein unendliches Sehnen
entzündet«, das in seiner idealischen Ferne gerade die künstlerische Phantasie
anregte, »in die klägliche Existenz des irdischen Augenblicks« herabziehen wollen.
Hoffmanns Don Juan sucht wie Traugott in der Liebe sein Sehnsuchtsbild schöner
Vollkommenheit; wie dieser trägt er ein »geistig Bild« in sich, dem als Ideal nie eine
sinnliche Erscheinung entsprechen könnte. Doch anders als die tragischen
Künstlergestalten, denen ihr Ideal in Gestalt einer Frau erscheint, sucht er immer
wieder aufs neue in den wechselnden erotischen Begegnungen die »endliche
Befriedigung« seines Unendlichkeitsstrebens. Im Sinne des romantischen Idealismus,
der an der Idee eines Absoluten festhält, in dem alle Widersprüche aufgelöst waren,
Natur und Geist sich zu harmonischer Einheit verbänden, glaubt Don Juan in der Liebe
sein Atlantis finden zu können. Er verkennt, dass das im »Goldenen Topf«
-geschworene Wunderland Atlantis, in dem der poetische Student Anselmus mit dem
Schlänglein Serpentina in seliger Liebe lebt, in der Poesie angesiedelt ist. Hoffmann
kritisiert durch- seine Deutung der Don Juan-Figur einen Idealismus, der das
Unendliche im Endlichen zu fassen sucht.
Im Sinne des Hoffmanschen Idealismus, der von dem »unauflösbaren "Widerstreit
des Bedingten und des Unbedingten ausgeht, kann der Idealsucher Don Juan im
Liebesgenuss keine Befriedigung finden.Ein Don Juan, der in der Liebe nichts als
erotische Wollust suchte, erschiene Hoffmann banal, ein Don Juan jedoch, der seine
»unendliche Sehnsucht« nach dem Ideal in der erotischen Wollust stillen will, bleibt
notwendig unbefriedigt. Und konsequenterweise ist der Dualismus zwischen
sinnlichem und metaphysischem Prinzip in die Existenz Don Juans selbst gelegt. Da
Don Juan im Sinnlichen ein geistiges Bild erstrebt, erfährt er immer wieder die
Enttäuschung in der sinnlich-erotischen Erfüllung- er erkennt aber nicht seinen
grundsätzlichen Irrtum, sondern
immer in der Wahl sich betrogen glaubend, immer hoffend, das Ideal endlicher
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Befriedigung zu finden, müsste doch Juan zuletzt alles irdische Leben matt
und flach finden, und indem er überhaupt den Menschen verachtete, lehnte er
sich auf gegen die Erscheinung, die, ihm als das Höchste im Leben geltend,
so bitter ihn getäuscht hatte. Jeder Genuss des Weibes war nun nicht mehr
Befriedigung seiner Sinnlichkeit, .sondern frevelnder Hohn gegen die Natur
und den Schöpfer.
E.T.A. Hoffmann hat die Figur zugleich idealisiert und dämonisiert. Dieser Don Juan
hat die ungebrochene erotische Vitalität des 'klassischen* Typs verloren, und da er in
seinem Idealitätsstreben im Grunde nicht eine auf den Augenblick setzende Existenz
lebt, erfährt er in der Vielzahl der erotischen Episoden die Monotonie der
Wiederholung. Nicht Sinnenlust, sondern »tiefe Verachtung der gemeinen Ansichten
des Lebens« prägt sein Verführertum.
Hoffmann deutet die Gestalt der Donna Anna als Antipodin zu dem genialischen
Frevler, der in ihr seine Erlösung hätte finden können.
Wie, wenn Donna Anna vom Himmel dazu bestimmt gewesen, wäre, den Juan
in der Liebe, die um durch des Satans Künste verdarb, die ihm innewohnende
göttliche Natur erkennen zu lassen, und ihn der Verzweiflung seines nichtigen
Strebens. zu entreißen? Zu spät, zur Zeit des höchsten Frevels, sah er sie, und
da konnte ihn nur die teuflische Lust erfüllen, sie zu verderben. - Nicht gerettet
wurde sie – Als er hinausfloh, war die Tat geschehen -. Das Feuer einer
übermenschlichen Sinnlichkeit, Glut außer Hölle, durchströmte ihr Innerstes,
und machte jeden Widerstand vergeblich. Nur er, nur Don Juan, konnte den
wollüstigen Wahnsinn in ihr entzünden, mit dem sie ihn umfing, der mit der
übermächtigen zerstörenden Wut höllischer Geister im Innern sündigte. Als er
nach vollendeter Tat entfliehen wollte, da umschlang, wie ein gräßliches,
giftigen Tod sprühendes Ungeheuer, sie der Gedanke ihres Verderbens mit
folternden Qualen. - Ihres Vaters Fall durch Don Juans Hand, die Verbindung
mit dem kalten, unmännlichen, ordinären Don Ottayio, den sie einst zu liehen
glaubte - selbst die im Innersten ihres Gemüts in verzehrender Flamme
wütende Liebe, die in dem Augenblick des höchsten Genusses aufloderte, und
nun, gleich der Glut des vernichtenden Hasses brennt: alles dieses zerreißt
ihre Brust. Sie fühlt, nur Don Juans Untergang kann der, von tödlichen Martern
beängstigenden Seele Ruhe verschaffen, aber diese Ruhe ist ihr eigner
irdischer Untergang.
Diese Interpretation des rastlosen Verführertums Don Juans, Hoffmanns Auffassung
der Donna Anna-Gestalt, die durch Don Juan die Abgründe der Leidenschaft erfahren
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hat, ihn hebt und hasst, die Abwertung Don Ottavios zu einem gewöhnlichen Philister;
- diese psychologische Deutung hat die nachfolgende Rezeption des Stoffes
entscheidend mitgeprägt. So greift z.B. auch Puschkin in seiner Dramenskizze »Der
steinerne Gast« von 1830 das Motiv der liebenden Donna Anna auf, die für Don Juan
Erfüllung hätte bedeuten können. Anna, die Witwe des von Don Juan im Duell
getöteten Komtur, kann sich ihrer Liebe zu ihm auch dann nicht erwehren, als er ihr
gesteht, den Gatten getötet zu haben. Ein Happy-End wird durch den Auftritt des
steinernen Gastes verhindert; offen bleibt so jedoch, ob er nicht auch bei Donna Anna
bald den Überdruss der Erfüllung erfahren hätte.
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4. Don Juan heute?
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Kachelmanns Frauen
50.000 Euro für medienwirksame Bekenntnisse und ein blinder Feminismus: Der
Mannheimer Strafprozess als gesellschaftliches Lehrstück
Wenn ein Krokodil einen besonders mächtigen Brocken verschluckt, dann presst es
ihm das Wasser aus den Augen – die sogenannten Krokodilstränen. Auch die Zeugin
Viola S., eine der vielen Exgeliebten des Wettermoderators Jörg Kachelmann, vergießt
vor dem Landgericht Mannheim Tränen.
Die Diplom-Kauffrau Viola S. hatte am 29. April 2010 – nachdem ihr klar geworden
war, dass der wegen angeblicher Vergewaltigung einer anderen Frau festgenommene
TV-Meteorologe Kachelmann einen ganzen Harem unterhielt – die Titelseite der
Illustrierten Bunte geschmückt und im Heftinnern unter dem Decknamen Isabella ihren
ehemaligen Liebhaber nach Kräften schlechtgemacht. Sie habe ihm »blind vertraut«,
hieß es dort und: »Er hat mein Leben zerstört.« Die Fotos des zehn Seiten
umfassenden Berichts zeigten eine junge Frau, onduliert im Look der Arztromane aus
den fünfziger Jahren und mit leidender Miene. Allerdings ist jetzt, zwei Tage vor ihrem
Zeugenauftritt in Mannheim, herausgekommen, dass Viola S. für die Darbietung ihres
Intimlebens den Brocken von 50.000 Euro geschluckt hat. Vielleicht mag deshalb
kaum einer im Saal mitweinen.
Auch die Richter der 5. Großen Strafkammer sehen unbeeindruckt aus, einer rügt die
»Respektlosigkeit« der Frau, die – um ihre Zeugenrolle wissend – vorher noch »zur
Presse marschiert« sei. Viola S. will sich herausreden, sie habe keine Erfahrung mit
den Medien gehabt, sie habe noch nie zuvor ein Interview gegeben. Weder habe sie
den Hintergrund der Ablichtungen ausgesucht noch die Inszenierung bestimmt.
»Ja, Sie haben sich auch nicht hingesetzt und sich auch nicht fotografieren lassen«,
fährt Kachelmanns Verteidiger Johann Schwenn sarkastisch dazwischen. Sie habe
Kachelmann jahrelang geglaubt und vertraut, fährt die Zeugin fort, sie habe seine
Söhne in Kanada gekannt und mit einer Heirat gerechnet, dann aber plötzlich Dinge
erfahren müssen, »die mich umgehauen haben«. Angesichts dieser Katastrophe seien
ihr »ganz, ganz viele Gedanken durch den Kopf gegangen« und »ganz, ganz viele
Gefühle« auf sie eingestürzt. Die Abrechnung in der Bunten nennt sie »meine Art, mit
der Sache umzugehen«.
Fast ein Jahr vor ihrem öffentlichen Auftritt vor Gericht, am 1. April 2010, hat die
Zeugin Viola S. eine Aussage bei der Polizei gemacht, in der sie die Beziehung zu
»Jörg« deutlich weniger innig und vertrauensvoll schildert. Dort steht, sie habe
»permanent versucht, in sein Leben reinzukommen«, habe aber immer draußen
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gestanden. Er habe zwar oft geäußert, »dass er mit mir zusammen sein will, in letzter
Konsequenz habe ich aber gemerkt, dass dies nicht der Fall ist«. Auch dass der mit
der Logistik seiner vielen Amouren zeitweise überforderte Kachelmann zu faustdicken
Lügen griff, wusste die Zeugin, die ihm laut der Bunten doch »blind vertraut« haben
will.
Im Dezember 2003 hatte er das gemeinsame Weihnachtsfest mit Viola S. per E-Mail
abgesagt, angeblich weil er sich dringend einer Sexualtherapie in den USA
unterziehen müsste. Später erfuhr Viola S. von Kachelmann selbst, dass das Humbug
war. Im Sommer 2004 ersann Kachelmann kurz vor dem gemeinsamen Sommerurlaub
mit Viola eine schwere genetische Erkrankung, die dringend behandelt werden müsse.
Vor geplanten Ferienreisen oder Feiertagen sei Jörg oft überraschend von heftigen
Übeln heimgesucht worden, berichtete Viola S. der Polizei. Um die Frau auf Abstand
zu halten, machte Kachelmann ihr sogar einmal vor, er leide an Krebs, man habe
etwas »in seinem Magen gefunden«, Viola solle ihn ziehen lassen, er müsse »jetzt
alleine kämpfen«. Alles Unfug, erfuhr sie später. Und als er im Februar 2010 in einer EMail aus Kanada wieder einmal behauptete, eine schwere psychische Erkrankung
auszubrüten, war für Frau S. auch das bloß eine weitere Ausrede, »um mich nicht
sehen zu müssen«.
Sieben Jahre soll die Beziehung gewährt haben inklusive einer zweijährigen
Unterbrechung, nach welcher sie ihm im Januar 2007 gesagt haben will, dass sie
seine Lügen satthabe. Und nun plötzlich der Vorwurf des missbrauchten Vertrauens.
Viola S. ist eine intelligente Frau von 32 Jahren, die jedenfalls medienerfahren genug
war, um als Einzige unter den in der Bunten lästernden Kachelmann-Geliebten beim
Burda-Verlag die Rekordsumme von 50000 Euro herauszuschlagen. Soll man
glauben, dass sie all die Jahre nichts von der Beschaffenheit des Mannes gemerkt hat,
mit dem sie da zusammen war? Und all die anderen Frauen, die sich gegen Geld
öffentlich als Kachelmann-Geschädigte vorstellten und den Wettermoderator mit Dreck
bewarfen – sind sie Opfer dieses Mannes? Oder sind sie bloß ihrer eigenen
Verblendung aufgesessen?
Richtig ist, dass Kachelmann Frauen belogen und ausgenutzt hat. Er gaukelte ihnen
große Gefühle und eine gemeinsame Zukunft vor, er erfüllte seine Schwüre nie,
sondern löste Versprechen mit weiteren Versprechen ein. Solche Männer gibt es.
Bleibt die Frage, warum viele dieser angeblich modernen selbstbewussten Geliebten
sich so lange so behandeln ließen. Nicht wenige richteten ihr Leben nach Kachelmann
aus. Einige zogen seinetwegen um. Wieder andere nahmen Geld von ihm. Warteten.
Erbettelten Zusammenkünfte. Machten sich klein. Unterwarfen sich seinem
Terminkalender, seinen sexuellen Wünschen. Fabulierten von der großen Liebe,
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obwohl die meisten ihn doch bloß ein paar Mal im Jahr zu Gesicht bekamen. Manche
hofften auf bessere Zeiten, manche schickten ihm scharfe Selbstporträts, andere
versuchten es mit bitteren Vorwürfen. Alle wurden von dem Fernsehstar mit
durchsichtigen Schwindeleien, inhaltsarmen SMS und oberflächlichen E-Mails
abgespeist und fieberten vor sich hin – dem nächsten Treffen entgegen. Für keine
hatte er wirklich Zeit. Keine war wirklich zufrieden. Aber die meisten spielten mit.
Kachelmanns Methoden mögen verwerflich gewesen sein – undurchschaubar waren
sie nicht. Deshalb verrät der Kachelmann-Prozess nicht nur viel über den
Lebenswandel einer Bildschirmfigur, sondern auch über die weibliche Bereitschaft zum
Selbstbetrug.
Eine allerdings hat Verständnis für all das: Alice Schwarzer. Für Bild kommentiert die
69-jährige Feministin das Geschehen vor dem Landgericht Mannheim, ohne selbst in
nennenswertem Umfang am Prozess teilzunehmen. Das hindert sie nicht, im
Massenblatt Stimmung gegen den Angeklagten zu machen und blindlings Partei für
jene Exgeliebte Claudia Simone D. zu ergreifen, die ihn im Februar 2010 wegen
Vergewaltigung angezeigt hat und deren Glaubwürdigkeit von Anfang an äußerst
zweifelhaft war. In privaten E-Mails hat Schwarzer dem angeblichen Opfer schon zu
Prozessbeginn Mut zugesprochen (»Bleiben Sie stark!«) und es zu sich nach Köln
eingeladen (»vielleicht würde Ihnen das ja sogar Spaß machen? Bitte geben Sie mir
ein Zeichen...«). Dort sollte D. nach dem Prozess das Manuskript von Schwarzers
geplantem Kachelmann-Buch vor der Veröffentlichung gegenlesen. In den Medien
beklagt Schwarzer Kachelmanns Verlogenheit und wirft ihm vor, er habe etliche
Heiratsversprechen gegeben und nicht gehalten.
Wir hören richtig: Heiratsversprechen! Ist das nun übrig geblieben vom Feminismus?
Ist das nun die Frauengeneration, die Alice Schwarzer sich ausgemalt hat und für die
sie gekämpft haben will?
Autonomie ist die zentrale Idee der Moderne. Der Mensch bestimmt sich selbst. Alles
läuft darauf zu – ganz besonders im Leben der Frauen. Sie fordern Handlungsfreiheit.
Sie wollen selbst entscheiden, ob und wann sie ein Kind bekommen, ob sie sich an
einen Mann binden oder nicht. Sie streben in die Vorstandsetagen der Unternehmen.
Sie wollen Posten. Sie wollen das Sagen haben in der Politik und den Universitäten.
Sie wollen mehr Geld, ihre Meinung äußern, unabhängig sein, sich durchsetzen, die
Welt der Männer umkrempeln und – sie besser machen. Und das alles völlig zu Recht.
Aber Selbstbestimmung bedeutet auch, Verantwortung für das eigene Leben zu tragen
– für das, was einem widerfährt, und für das, was man sich gefallen lässt.
Selbstbestimmung ist das Gegenteil von Selbstbetrug. Wollen die Frauen auf der einen
Seite Menschen führen und sich gleichzeitig in Liebesdingen benehmen wie die
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kleinen Kinder, die noch das Abwegigste glauben, was man ihnen vorsetzt? Die aus
allen Wolken fallen, weil einer sie anlügt, und dann zu Illustrierten laufen, um sich dort
öffentlich selbst zu therapieren?
Wer will solche Frauen ernst nehmen? Alice Schwarzer tut es. Aus der munteren
Vorkämpferin der Frauenbewegung ist eine böse Großmutter geworden, die sich mit
Personen solidarisiert, die würdelos handeln und die ihre intimsten Erlebnisse zu Geld
machen. Früher wollten Feministinnen vom Schlage Schwarzers die Frau aus der
Knechtschaft der Ehe befreit sehen, heute bejammern sie, dass Kachelmann sein
Eheversprechen nicht hält.
Aber womöglich sind die beleidigten Exgeliebten ohnehin nur die Werkzeuge ganz
anderer Interessen. Das jedenfalls vermutet Kachelmanns Verteidigung. Während der
vier Monate, die der Moderator 2010 in Untersuchungshaft saß, versuchte sein
Teilhaber Frank-Bernhard Werner nämlich, ihn aus der gemeinsamen Wetterfirma
Meteomedia zu drängen. Als Jörg Kachelmann sich weigerte, das Feld zu räumen, hat
es in der Firma Überlegungen gegeben, ihn mithilfe der Presse zu erledigen. Er sollte
in der Öffentlichkeit als psychisch defektes Monstrum dargestellt werden. Das legt eine
E-Mail seines Geschäftspartners nahe, die dieser an weitere Firmenmitglieder
geschrieben hatte und die nun in öffentlicher Hauptverhandlung verlesen wurde.
Darin heißt es, man habe »sich bereits ein paar Gedanken über einen ›nuklearen
Erstschlag‹« gegen Kachelmann gemacht: »Wir werden bar jeder Hemmung intern wie
extern aufgrund jk’s multiplen Fehlverhaltens den Bruch der Firma mit ihm bekannt
geben (vielleicht mit dem freundlichen Hinweis: ›wenn er wieder gesund ist...‹) und mit
einschlägigen Artikeln in Blick, Bild, Bunte, Stern weitere unappetitliche Details seines
kruden Privatlebens streuen, die auch dem treuesten jk-Anhänger die Unzumutbarkeit
der weiteren Zusammenarbeit klarmachen.«
Ob dieser Vernichtungsplan verwirklicht worden ist, dürfte das Landgericht demnächst
beschäftigen. Werner wird womöglich als Zeuge aussagen müssen. Die aufgezählten
Blätter haben jedenfalls gegen Kachelmann geschrieben. Sollte sich zuletzt
herausstellen, dass tatsächlich feindliche Machenschaften in der eigenen Firma hinter
der medialen Schmähkampagne gegen den Angeklagten stecken, dann hätten sich
einige von Kachelmanns Frauen ein weiteres Mal zum Narren halten lassen.
Jörg Kachelmann hat übrigens am 9. März geheiratet.
Quelle: http://www.zeit.de/2011/15/WOS-Kachelmanns-Frauen?page=2, Zugriff:
15.04.2011
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Das Nachspiel einer Bettgeschichte
Gunnar Herrmann
Er will vor »Sex-Fallen« gewarnt worden sein - und ist doch in eine getappt. So sieht
das jedenfalls Julian Assange selbst. Das zu beweisen, dürfte dem wegen
Vergewaltigung verhafteten Wikileaks-Gründer jedoch schwerfallen.
Es hat in den vergangenen Tagen und Wochen viele Versuche gegeben, Julian
Assange als Verbrecher darzustellen. Der Wikileaks-Gründer habe sich des Verrats
und der Spionage schuldig gemacht, meinten einige. Andere halten ihn gar für einen
Terroristen, der »Blut an den Händen hat«, wie es die US-Politikerin Sarah Palin
kürzlich formulierte.
Im Vergleich zu solchen Anschuldigungen sind die Vorwürfe, die nun zur Festnahme
von Assange in London führten, sehr intimer Natur. Die britische Polizei verhaftete den
39-jährigen Australier am Dienstag, weil gegen ihn in Schweden wegen
Vergewaltigung, Nötigung und sexueller Belästigung ermittelt wird.
Die schwedische Affäre - Teil einer US-Verschwörung?
Diese Vorwürfe haben mit den vieldiskutierten Enthüllungen von Wikileaks eigentlich
nichts zu tun. Unterstützer der Webseite vermuten aber, dass die schwedische Affäre
Teil einer von den USA gesteuerten Verschwörung ist.
Julian Assange, der alle Vergewaltigungs-Vorwürfe bestreitet, hat diese
Konspirationstheorien selbst genährt. Kurz nach Bekanntwerden der Verdächtigungen
Ende August sagte er einmal der Zeitung Aftonbladet, er sei vor »schmutzigen Tricks«
des Pentagon, insbesondere vor »Sex-Fallen«, gewarnt worden.
Allerdings nahm der Wikileaks-Gründer solche Hinweise, sollte es sie wirklich gegeben
haben, offenbar nicht besonders ernst. Jedenfalls ist unbestritten, dass er bei einem
Stockholm-Besuch Mitte August binnen weniger Tage Sex mit zwei Frauen hatte, die er
kaum kannte. Auf die Aussage dieser beiden Schwedinnen stützt sich nun der
Verdacht der Staatsanwältin.
Inkonsequenz der Justiz
Was genau in den fraglichen Sommernächten geschehen sein soll, verschweigen die
Behörden mit Verweis auf die laufenden Ermittlungen. Bekannt ist, dass es in beiden
Fällen erst freiwillig zum Geschlechtsverkehr kam. Dann aber soll Assange gegen den
Willen seiner Partnerinnen ungeschützten Sex erzwungen haben. Als die beiden
Frauen später feststellten, dass sie ähnlich schlechte Erfahrungen mit Assange
gemacht hatten, gingen sie zur Polizei. Zunächst taten sie es angeblich nur, um zu
fragen, ob man den Wikileaks-Chef zu einem Aids-Test zwingen könnte. Aber dann
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entwickelte die Sache eine Eigendynamik.
Man muss dazu wissen, dass in der schwedischen Öffentlichkeit seit Jahren sehr
intensiv über häusliche Gewalt und einen besseren Schutz von Frauen gegen
männliche Übergriffe debattiert wird. Die Gesetze sind streng, und Behörden sind für
diese Art von Vergehen besonders stark sensibilisiert.
Die Staatsanwaltschaft schaltete sich also in den Fall ein. Jedoch handelte sie nicht
sehr konsequent. In Stockholm wurde zunächst ein Haftbefehl gegen Assange
erlassen, dann nach wenigen Stunden aber wieder zurückgezogen. Es gebe keine
Beweise für eine Straftat, hieß es damals.
Doch in der Berufungsinstanz der Anklagebehörde in Göteborg bewertete man den
Fall schließlich anders. Oberstaatsanwältin Marianne Ny zog das Verfahren an sich
und nahm die Ermittlungen wegen Vergewaltigung erneut auf. Die beiden Frauen
wurden zu Nebenklägerinnen und nahmen sich einen Anwalt. Sie wehrten sich
anfangs noch in der Presse gegen Assanges Andeutungen, sie seien so etwas wie
Sex-Agentinnen der USA. Es gehe »einzig und allein um einen Mann mit einem
verschrobenen Frauenbild, der kein Nein akzeptieren kann«, sagte eine der beiden
noch im August einer Zeitung.
Quelle:http://www.sueddeutsche.de/politik/julian-assange-vergewaltigungs-vorwuerfedas-nachspiel-einer-bettgeschichte-1.1033335, Zugriff: 15.04.2011
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Silvio, besorg es uns!
Berlusconi soll Sex mit Minderjährigen haben. Die Öffentlichkeit stört das nicht.
Als die Unterlagen der Mailänder Staatsanwaltschaft im römischen Parlament
eintrafen, sagte der Abgeordnete Pierluigi Castagnetti: »Ein Glück, dass es noch ein
anderes Italien gibt als jenes, das uns aus diesen Dokumenten entgegenschlägt.« Den
Beweis für diese optimistische Behauptung blieb Castagnetti, der als Mitglied des
oppositionellen Partito Democratico den Ausschuss für die Immunität der
Abgeordneten leitet, allerdings schuldig. Denn das »andere Italien« droht zu
verschwinden hinter den 389 Seiten, auf denen die Staatsanwälte ihren Antrag auf
Aufhebung der Immunität von Silvio Berlusconi begründen. Ihr Verdacht gegen den
Premierminister: Nötigung und Förderung der Prostitution Minderjähriger, ein extrem
schwerwiegender Vorwurf gegen den 74-jährigen Ministerpräsidenten, dessen Partys
und Affären seit Jahren die Öffentlichkeit in Atem halten.
Im Mittelpunkt des Skandals steht eine 18-jährige Gelegenheitsprostituierte aus
Marokko, die zum Zeitpunkt ihrer ersten »Kontaktaufnahme« mit dem Premier nicht
älter als 16 Jahre gewesen sein soll. In abgehörten Telefonaten, deren Protokolle in
allen Medien ausgebreitet werden, ist von fünf Millionen Euro »Schweigegeld« für das
Mädchen die Rede, gezahlt von Silvio Berlusconi. Andere junge Frauen, die zu Partys
des Ministerpräsidenten geladen waren, sollen angeblich mit Wohnungen in dem von
Berlusconi erbauten Mailänder Stadtviertel Milano Due »abgefunden« worden sein.
Der Skandal ist so enorm, der Verdacht so ungeheuerlich, dass der Rücktritt des
Ministerpräsidenten wohl in jeder anderen europäischen Demokratie unausweichlich
wäre. Nicht so in Italien. Berlusconis Gefolgsleute haben stattdessen die Losung
ausgegeben, man müsse das Land von »Staatsanwälten erlösen, die unsere Freiheit
bedrohen«, der Premier selbst erklärte in einer ästhetisch an die Spätphase der
Sowjetunion erinnernden Videobotschaft an das italienische Fernsehvolk, er habe es
nie nötig gehabt, Frauen zu bezahlen. Im Übrigen habe er eine feste Freundin, die so
etwas auch gar nicht dulden würde.
Prompt stürzt sich die Öffentlichkeit auf die »Neue« des mit knappster Mehrheit
regierenden Illusionskünstlers. Wer ist sie? Die Kandidatinnen – allesamt ein halbes
Jahrhundert jünger und Politikerinnen der Berlusconi-Partei – dementieren kokett.
»Schön wär’s«, sagt in Neapel Francesca Pascale, 25. »Berlusconi ist ein
faszinierender Mann«, sagt in Mailand Nicole Minetti, ebenfalls 25. Und in Turin klagt
der Vater einer 26-jährigen Roberta: »Es wäre ein großes Glück für meine Tochter.
Aber leider ist sie es nicht.«
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Der Mailänder Kardinal Dionigi Tettamanzi hatte gewarnt: »Italien ist heute krank wie
zur Zeit der großen Pest. Die Amoralität verbreitet sich in allen Schichten unserer
Gesellschaft.« Das größte Problem hätten jene Eltern, die ihren Kindern erklären
müssten, was da geschehe. »Und die vielleicht Töchter im Alter der jungen Frauen
haben, deren Fotos man in allen Zeitungen sieht.« Doch die Eltern, deren Töchter den
sechsfachen Großvater Berlusconi frequentieren, scheinen darüber weniger entsetzt
als erfreut zu sein.
Dabei hat Italien gravierende Probleme. Jeder dritte Italiener unter 30 ist arbeitslos.
»So wie Sie aussehen, könnten Sie meinen Sohn heiraten«, versprach Berlusconi
einmal einer arbeitssuchenden jungen Frau als Lösung ihrer Probleme. Er beherrscht
Italiens Kulturindustrie – und wer es nicht schafft, in einem seiner Sender, Kinos,
Theater oder Verlage einen Job zu bekommen, darf immer noch darauf hoffen, zu den
privaten Festen eingeladen zu werden. Gegen fürstliche Bezahlung, wie es der Logik
des Padrone entspricht.
Im von Berlusconi kontrollierten Staatsfernsehen und im Radio haben die Verteidiger
»persönlicher Freiheit« das Wort, neben Berlusconis bezahlten Anwälten sind das
auch Zuschauer, die empört in den Talkshows anrufen und für ihn Partei ergreifen. Sie
behaupten, die Ermittler in Mailand hätten die Verdachtsmomente »erfunden«, um den
rechtmäßig gewählten Regierungschef zu stürzen. Deshalb auch habe das
Verfassungsgericht letzte Woche ein Gesetz verworfen, das Berlusconi vor seinen
laufenden Prozessen schützen sollte. Der Regierungschef sei Opfer einer parteiischen
und antidemokratischen Justiz.
Die wenigsten Italiener geben zu bedenken, wie ungewöhnlich es ist, dass sich ein
Mann im Greisenalter mit Dutzenden junger Frauen umgibt, von denen sich einige
prostituieren. Ein Regierungschef mit solcher Freizeitgestaltung wird erpressbar, von
dem Imageschaden für sein Land ganz abgesehen. »Wie kann er uns anfassen und
am nächsten Tag regieren?«, wunderte sich eines der Partymädchen.
In diesem neuen Kampf zwischen Berlusconi und den Staatsanwälten droht das
»andere Italien« wieder einmal unterzugehen. Es ist das Italien der Jungakademiker,
die massenhaft ins Ausland emigrieren, weil sie zu Hause keine Zukunft sehen. Es ist
auch das Land, das so viele ehrenamtlich engagierte Jugendliche hat wie kein anderes
in Europa.
Dieses Italien fühlt sich durch Berlusconi nicht repräsentiert, aber es ist verstummt.
Verblasst neben dem grell-vulgären Spektakel des vorerst letzten Gefechts um die
Macht, in dem die Bürger nur noch passives Publikum sind, unfähig, sich zu erheben
und nach einer Alternative zu suchen.
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Quelle: http://www.zeit.de/2011/04/Berlusconi-Minderjaehrige?page=1, Zugriff:
18.04.2011
Berlusconi – »33 Frauen sind zu viel für mich«
Italiens Ministerpräsident hat eine neue Verteidigungstrategie in der Prostitutionsaffäre
gefunden: Er sei zu alt für so viel Sex, wie ihm angelastet werde.
Der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi hat sich in einem Interview gegen
Sexvorwürfe gewehrt. Der ihm kritisch gegenüberstehenden Zeitung »La Repubblica«
sagte er, er sei zu alt, um all die ihm vorgeworfenen sexuellen Kontakte gehabt zu
haben. Obwohl er »ein bisschen ungezogen« sei, seien 33 Mädchen in zwei Monaten
selbst für einen 30-Jährigen etwas viel.
Berlusconi ereifert sich in den Interview weiterhin, die Ermittler schadeten nicht nur
seinem Ruf sondern auch dem der jungen Frauen, mit den er sich angeblich vergnügt
habe. Diese müssten nun damit leben, dass sie öffentlich als Prostituierte dastünden.
Dabei hätten sie »lediglich das Verbrechen begangen, an einem Essen mit dem
Ministerpräsidenten teilzunehmen.«
Gegen den 74-jährigen soll in Mailand wegen Sex mit einer Marokkanerin, die zum
Tatzeitpunkt minderjährig war, der Prozess gemacht werden. Zudem wird Berlusconi
vorgeworfen, sein Amt missbraucht zu haben, um den Vorfall zu vertuschen. Den
Gerichtsakten zufolge sollen innerhalb von zwei Monaten 33 Frauen in seiner Villa bei
Partys gewesen sein. Prozessbeginn ist am 6. April.
Quelle: http://www.welt.de/politik/ausland/article12845480/Berlusconi-33-Frauen-sindzu-viel-fuer-mich.html, Zugriff: 18.04.2011
Berlusconi und das Bunga-bunga
Silvio Berlusconi in der Bredouille: Eine 17-Jährige behauptet, mehrere zehntausend
Euro von Gefolgsleuten des italienischen Regierungschefs dafür erhalten zu haben,
dass sie dessen Partys in der Villa San Martino besuchte. Jetzt ermittelt die Mailänder
Staatsanwaltschaft im Umfeld des Premiers.
Rom - Ein verwirrtes Aschenputtel, 30.000 Euro in bar und jede Menge pikanter Details
aus dem Leben des italienischen Premiers: Zum wiederholten Mal ist Silvio Berlusconi
wegen seiner angeblichen Vorliebe für Minderjährige in die Schlagzeilen geraten - und
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erneut fordert Italiens größte Oppositionspartei den Rücktritt des Regierungschefs:
»Berlusconi kann keine weitere Minute länger in einem öffentlichen Amt bleiben, das er
auf unanständige Weise verraten hat«, sagte der Vorsitzende der linken
Demokratischen Partei (PD), Pier Luigi Bersani, am Samstag. »Das Land hat ein
Recht auf moralische Nüchternheit.«
Diesmal ist die Protagonistin des Skandals eine Bauchtänzerin, die sich Ruby
Rubacuori oder auch »Herzensdiebin« nennt. »Ich habe den Ministerpräsidenten
getroffen«, soll die 17-Jährige einem Sozialarbeiter anvertraut haben. »Ich habe
30.000 Euro von Silvio Berlusconi erhalten, in bar, in einem Umschlag« zitiert die
regierungskritische Zeitung »Il Fatto Quotidiano« die junge Frau.
Dreimal soll Ruby der »Repubblica« zufolge in Berlusconis Villa San Martino im
lombardischen Arcore zu Besuch gewesen sein, außerdem wertvollen Schmuck,
Designermode, ein Auto und Uhren mit der Aufschrift »Gut, dass es Silvio gibt« von
ihrem Gönner geschenkt bekommen haben. Nein, sie habe keinen Sex mit dem
Premier gehabt, betonte die Minderjährige. Aber sie habe einen tiefen Einblick in das
Leben der Schönen und Reichen bekommen, der Escort-Damen und Politiker, die dort
ein- und ausgingen.
Erotisches Dessert im Separee
Auch über »Bunga-bunga« sprach Ruby mit den Beamten der Staatsanwaltschaft
Mailand, die sie im Zusammenhang mit Ermittlungen im Rotlichtmilieu schon vor
Monaten erstmals befragt hatten. »Bunga-bunga« bezeichne eine angebliche
Angewohnheit des Hausherrn von Arcore, nach dem traditionellen Abendessen schöne
Frauen und interessierte Gäste zu einer Art erotischem Dessert ins Separee
einzuladen.
»Silvio hat mir gesagt, dass der Ausdruck Bunga-bunga von Ghaddafi kommt: Es sei
ein Ritus in seinem afrikanischen Harem«, zitiert die »Repubblica« aus den
Ermittlungsakten.
Am 14. Februar 2010 will Ruby erstmals in Begleitung eines Vermittlers nach Arcore
gekommen sein. Über einen Seiteneingang habe sie das Gebäude erreicht und sei
dann »Silvio« vorgestellt worden: »Er ist sehr höflich. Da sind etwa 20 weitere
Mädchen, aber nur zwei Männer« - Silvio und ein anderer Mann, so ihre Schilderung.
Bei Letzterem soll es sich um einen Journalisten aus Berlusconis Mediaset-Gruppe
handeln, der an der wegen mangelnder Objektivität umstrittenen Nachrichtensendung
Tg4 des Privatsenders »Rete 4« mitwirkt.
Wegen mutmaßlicher Begünstigung der Prostitution ermittelt die Staatsanwaltschaft
Mailand jetzt gegen den Journalisten und einen weiteren Bekannten Berlusconis,
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einen Medienunternehmer und »Talent-Scout«, der Ruby versprochen haben soll, sie
im Showbusiness unterzubringen.
»Ich habe keine Ahnung, wer diese Ruby ist, ich habe niemals irgendeine Art von
Beziehung zu ihr gehabt«, dementierte der Journalist am Donnerstag die Meldungen.
Vielleicht habe er sie »ein paar Mal beim Abendessen mit dem Premier gesehen«, sagt
er dem Sender »Radio Città Futura«. Er bestritt aber, die 17-Jährige je mit dem TalentScout oder gar mit Silvio Berlusconi bekannt gemacht zu haben.
Zwar erinnere er sich an einen gemeinsamen Abend in der Villa San Martino, wo man
an der Bar gesessen und etwas getrunken habe. Auch Mädchen seien dort gewesen,
aber es sei alles ganz normal verlaufen. Er habe zudem keinen Schimmer, was
»Bunga-bunga« bedeute.
In einem Interview mit dem »Corriere del Mezzogiorno« im April 2009 erinnerte sich
die ebenfalls minderjährige mutmaßliche Berlusconi-Gespielin Noemi Letizia an einen
Witz, den ihr »Papi« einst erzählt habe: »Zwei Minister der Regierung Prodi fahren
nach Afrika und werden von einem Eingeborenenstamm entführt. Der Häuptling fragt
die erste Geisel: ›Willst du sterben oder Bunga-bunga?‹ ›Bunga-bunga‹ sagte dieser
und wird vergewaltigt. Der zweite entschließt sich, gleich zu sterben. Sagt der
Häuptling: »Erst Bunga-bunga, dann sterben.«
Hypothesen, Halbwahrheiten, Medienmüll
Diese Schilderung könnte ein Beleg dafür sein, dass der Begriff im Umfeld des
Präsidenten tatsächlich kursierte, und Ruby mithin zumindest in diesem
Zusammenhang nicht gelogen hat. Denn: Vieles, was die 17-Jährige bisher gesagt hat,
ist den Ermittlern zufolge konfus, widersprüchlich und bei weitem nicht immer
glaubhaft. Trotz ihres an Erfahrungen reichen Lebens wirke Ruby noch immer sehr
unreif, hieß es.
Dementsprechend groß ist die Zurückhaltung bei den Behörden: Der oberste
Staatsanwalt des Landes, Edmond Brut Liberati, erklärte, dass es in den kommenden
Tagen keine Erklärungen zu dem Fall geben werde. Sämtliche Angaben müssten
vorsichtig geprüft werden. Derzeit scheint lediglich gesichert, dass Ruby am 14.
Februar tatsächlich in Arcore war, weil ihr Mobiltelefon dort geortet wurde. Außerdem
sollen einige der Schmuckstücke, von denen sie sagt, es seien Geschenke
Berlusconis, tatsächlich vom Premier selbst gekauft worden sein.
Der 74-Jährige wischte die Kritik an seinem Lebensstil am Freitag auf gewohnt lässige
Art vom Tisch. »Ich bin ein fröhlicher Mensch, ich liebe das Leben und die Frauen.«
»Niemand wird mich dazu bringen, meinen Lebensstil zu ändern, ich bin stolz darauf«,
sagte der Ministerpräsident in Brüssel. »Ich habe ein furchtbares Leben, ich muss
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Übermenschliches leisten, arbeite bis halb drei Uhr morgens und stehe um sieben Uhr
wieder auf.« Da brauche er ab und zu einen entspannenden Abend.
Als »kolossale Übertreibung« und Zeitungsente bezeichneten Berlusconis Anwälte
Niccolò Ghedini und Piero Longo den Wirbel um die Aussagen der jungen Frau. Man
sei vollkommen ruhig, aber angesichts des riesigen Medienechos verständlicherweise
verärgert, so die Berater des Premiers. Die Vorwürfe der Journalisten seien »komplett
und total unbegründet«.
Das mag sein, dennoch macht sich offenbar Unruhe breit, auch unter den Personen,
die Ruby als notorische Besucher von Berlusconis Partys in Arcore nannte. Eine
ellenlange Namensliste soll den Ermittlern laut »Repubblica« vorliegen - darunter
Fernsehmoderatorinnen, aufsteigende Show-Größen und absteigende Starlets, aber
auch einige Politikerinnen, zwei davon mit Ministeramt.
Der Mailänder »Corriere della sera« zeichnete am Donnerstag die bewegte
Vergangenheit der Ruby Rubacuori nach - in allen ihren trostlosen Details. Geboren
am 11. November 1992, riss sie erstmals mit 14 von zu Hause aus, ließ das
sizilianische Messina und ihre marokkanische Familie hinter sich. Dreimal wird sie
wegen Diebstahls angezeigt, immer wieder versuchen verschiedene Behörden, sie in
einer betreuten Wohnanlage für Minderjährige unterzubringen. Nach einer kurzen
Liaison mit einem 33-Jährigen verdingt sie sich in Mailand eine Zeit lang als
Zimmermädchen, Bauchtänzerin und Kosmetikerin.
Berlusconi hilft Ruby aus der Haft
Eine Weile lebt sie unbehelligt, obwohl die Behörden sie suchen und sie untergetaucht
ist. Bis am 27. Mai 2010 eine lautstarke Auseinandersetzung die Polizei auf den Plan
ruft, wie die »Repubblica« berichtet. Eine Frau wirft der 17-Jährigen vor, ihr 3000 Euro
und wertvolle Uhren gestohlen zu haben. Der Streit eskaliert, als die Beamten vor Ort
eintreffen, stellen sie fest, dass die Beschuldigte keine gültige Aufenthaltsgenehmigung
hat. Bei Feststellung der Personalien auf der Wache stellen die Beamten fest, dass
das Mädchen gesucht wird. Es sei bei Auffinden in eine Jugendeinrichtung zu bringen.
Am 28. Mai wird sie ins Polizeipräsidium gebracht, wo sie bereits von einer Vertrauten
von Silvio Berlusconi erwartet - und aus dem Polizeigewahrsam entlassen wird. Der
Ministerpräsident räumte am Freitag ein, bei der Freilassung von Ruby seine Hände
mit im Spiel gehabt zu haben. Er weist jedoch die Vorwürfe zurück, er habe sein Amt
missbraucht. Er habe lediglich die Polizei angerufen und eine Person benannt, in
deren Obhut die Beamten die Minderjährige geben konnten, aber niemanden
beeinflusst.
»Ich bin ein Mensch mit einem guten Herzen und immer bereit, jemandem in Not zu
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helfen«, so Berlusconi am Donnerstag schelmisch.
Quelle:http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,725945,00.html, Zugriff:
18.04.2011
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Charlie Sheen Der Super-Chauvi
Drogen, Alkohol, Frauen: Charlie Sheen spielt sich in »Two and a half Men« selbst –
und kassiert eine Million Dollar pro Folge.
Eigentlich ist Charlie Sheen kein Sympathieträger. Der Mann neigt zu
Gewaltausbrüchen, fährt einen dicken Protz-Mercedes, hat immer wieder Drogen- und
Alkoholprobleme und fällt öfter durch politisch nicht korrekte Sprüche auf. Seine
bislang drei Ehen waren und sind ein einziges Chaos. Aktuell steht ihm ein
Gerichtsverfahren in Colorado bevor, weil er seine derzeitige Frau Brooke Mueller
vergangene Weihnachten in Aspen mit einem Messer bedroht haben soll. In der
Talkshow von David Letterman antwortete Sheen auf die Frage, warum er sein Leben
nicht endlich in den Griff bekomme: »Ich würde mal als einen der Hauptgründe
nennen, dass ich im Grunde ein Riesenarsch bin.«
Im Grunde ist auch Charlie Harper ein Riesenarsch. Die Hauptfigur der Fernsehserie
»Two and a Half Men« neigt zu Zynismus und Hedonismus, hat immer wieder Drogenund Alkoholprobleme, seine Frauengeschichten sind ein einziges Chaos. Er fährt einen
dicken Protz-Mercedes, trägt gerne Bowlinghemden in grellen Farben, kurze Hosen
und weiße Socken in Turnschuhen – und neigt auch sonst zu Geschmacklosigkeiten.
Trotzdem laufen ihm die schönsten Frauen nach. Wer könnte diesen Typen also
besser spielen als Charlie Sheen?
Trotz aller Eskapaden gilt Charlie Sheen als derzeit erfolgreichster FernsehserienDarsteller weltweit, und selbst die Anklage wegen »häuslicher Gewalt« konnte den
Verhandlungen mit dem Sender CBS nichts anhaben. Gerade wurde Sheens Vertrag
um zwei Jahre verlängert, das Honorar soll laut dem Branchenblatt Daily Variety bei
einer Million Dollar pro 22-Minuten-Folge liegen. Mit »Two and a Half Men«, in
Deutschland bei Pro Sieben zu sehen, hat er bereits 100 Millionen Euro verdient.
Und das, obwohl Charlie Sheen vor der Kamera mehr oder weniger nur er selbst sein
muss. Einige Auftritte in »Two and a Half Men« sollen dem desolaten Zustand
geschuldet sein, in dem der 44-Jährige manchmal im Studio erscheint. Wenn der
Hauptdarsteller so betrunken ist, dass er den Hausschlüssel nicht mehr ins Schloss
bekommt und seinen Text nicht mehr weiß, wird das einfach in die Handlung
eingebaut. Der Clou an der Serienfigur ist, dass der vermeintliche Vollversager in
Wahrheit doch eine Sympathiefigur ist. Gerade wegen seiner Schwächen und
Ausraster erscheint er manchmal liebenswürdiger und ehrlicher als die ganzen
Neurotiker und Spießer um ihn herum. Der Schauspieler Jon Cryer, der in der Serie
Charlies Bruder Alan spielt, sagte bei der Emmy-Verleihung 2009: »Er lässt es so
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einfach aussehen, aber das ist es nicht.« Das ist richtig. Ohne Sheen wäre die Serie
kein Welterfolg. Mittlerweile ist die siebte Staffel abgedreht. Die Aufzeichnung der
Episoden war Anfang des Jahres allerdings für zwei Monate unterbrochen worden,
weil der Hauptdarsteller mal wieder in einer Entzugsklinik war.
Seit den neunziger Jahren kämpft Charlie Sheen immer wieder gegen seine Drogenund Alkoholsucht. 1998 hatte sein eigener Vater, Hollywood-Schauspieler Martin
Sheen, den straffälligen Sohn beim Richter in Malibu abgesetzt. Martin Sheen
verteidigte seinen Sohn immer wieder öffentlich gegen »unbarmherzige und primitive
Angriffe der Medien auf Charlies Charakter.«
Eigentlich wollte der junge Carlos Irwin Estevéz, so Charlie Sheens bürgerlicher
Name, Baseballspieler werden. Seine Mutter ist die Künstlerin Janet Estévez, den
Namen Sheen nahm er erst später an. Seine Schulkarriere endete kurz vor den
Abschlussprüfungen der Highschool, wegen zu schlechter Noten und zu häufigen
Fehlens. Als er aber seinen Vater bei den Dreharbeiten zu »Apocalypse Now«
besuchte, beschloss Carlos, doch in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. In Oliver
Stones Vietnamfilm »Platoon« wurde er über Nacht zum Star. Doch bald fiel er
häufiger als Partylöwe mit Hang zu Alkohol, käuflichem Sex und Prügeleien auf. 1990
wurde Sheens damalige Freundin Kelly Preston mit einer Fleischwunde am Arm ins
Krankenhaus eingeliefert. Sheen soll Preston mit einem Revolver bedroht haben,
dabei soll sich ein Schuss gelöst und die Frau verletzt haben. An Weihnachten 1996
rief Brittany Ashland, die damals aktuelle Freundin, bei der Polizei an: Sheen habe sie
bedroht und geschlagen.
Die Boulevardpresse in Hollywood breitet die schönen Sheen-Skandale gerne
genüsslich aus. Einmal schlich er sich, sehr schlecht verkleidet mit angeklebtem Bart
und Sonnenbrille, aus dem Haus eines Luxus-Callgirls. Blöderweise wurde er dabei
fotografiert und stritt den Besuch bei der Prostituierten auch noch auffallend heftig ab.
Sheen war der einzige Prominente, der öffentlich als Kunde genannt wurde, als der
Skandal um den Prostituierten-Ring von Heidi Fleiss bekannt wurde. Seine zweite
Ehefrau, Denise Richards, bezeichnete ihn als sexsüchtig und bezichtigte ihn,
stundenlang auf Pornoseiten zu surfen.
Bei wichtigen Lebensfragen konsultiert Charlie Sheen seinen Stammschamanen.
Derzeit muss er ihn wohl oft um Rat fragen. In Los Angeles kursieren Gerüchte, dass
die Scheidung von Brooke Mueller, der Mutter der gemeinsamen Zwillinge Bob und
Max, bevorstehe. Für Anfang Juli ist der Prozess wegen des Angriffs auf seine Frau
angesetzt. Seit der Anklage versuchen die Anwälte des Stars, sich mit der
Staatsanwaltschaft zu einigen. Sheen könnte sich eines minderschweren Vergehens
für schuldig bekennen und 45 Tage hinter Gittern verbringen. Bei einer Verurteilung
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drohen ihm bis zu zwei Jahre Haft.
Gewalt gegen ein Familienmitglied - das kann in Hollywood das Ende einer Karriere
bedeuten. Bei Charlie Sheen scheint das anders zu sein. Denn er gilt sowieso als
»Bad Boy«, und die Öffentlichkeit liebt ihn trotz oder gerade wegen seines Verhaltens.
Bei Tiger Woods, der wegen diverser Sexaffären in die Schlagzeilen kam und dadurch
wichtige Werbekunden verlor, war das Problem, dass er zuvor ein Image als
Saubermann hatte. Charlie Sheen galt schon immer als Riesen-Chauvi – aber
wenigstens als ehrlicher, unterhaltsamer Riesen-Chauvi.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/leben/charlie-sheen-der-super-chauvi-1.952498,
Zugriff: 18.04.2011
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Die Milliardärin, der Gigolo und geheime Videos
31.10.2008
Von S. Wimmer, C. Gasteiger und B. Kastner
Susanne Klatten, reichste Frau im Land, wurde wohl wie andere Millionärinnen
erpresst - von einem Sex-Syndikat.
Sie ist eine der reichsten Deutschen und ein Spross der erfolgreichen Quandt-Familie.
Im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht Susanne Klatten, die sympathische
Großaktionärin des BMW-Konzerns, selten – nun aber findet sich ihr Name plötzlich in
internationalen Medien wie La Repubblica in Italien und Evening Standard in
Großbritannien. Der Grund: ein pikanter Kriminalfall. Sie ist, genauso wie einige
befreundete Millionärinnen, offenbar in ein Netz italienisch-schweizerischer Erpresser
geraten.
Monatelang wurde die Münchnerin offenbar erpresst – 7,5 Millionen Euro flossen an
einen schweizerischen Gigolo, mit dem sie wohl zu viel Tuchfühlung aufgenommen
hatte. Aus Ermittlungsakten der italienischen Polizei, die mit den deutschen Kollegen
aus München kooperiert, geht hervor, dass der Delinquent Helg S. die erotischen
Zusammenkünfte mit ihr filmen ließ und damit drohte, das Material der deutschen
Presse zu übergeben. Der Mann forderte allem Anschein nach später noch einmal
eine zweistellige Millionen-Euro-Summe – doch dann stellte die 46-jährige Mutter
dreier Kinder Strafanzeige gegen den Liebhaber und seinen Komplizen. Dies
bestätigte eine Person aus dem Umfeld der Quandt-Familie der Süddeutschen
Zeitung. Das Ergebnis: ein riesiges Medienecho.
Wie die Internetausgabe der italienischen Tageszeitung La Repubblica berichtet,
wurden der vielsprachige Helg S., 41, und sein Komplize Ernano B., 63, Chef einer
religiösen Sekte, festgenommen. Sektenguru B. war der »Regisseur« der pikanten
Filmchen. Zusammen erpressten die beiden die Gespielinnen.
Wohnungen, Grundstücke und Luxusautos
Bis jetzt wurde die Identität der betrogenen Unternehmerin von der Staatsanwaltschaft
im Abruzzen-Ort Pescara geschützt. Aber in den vergangenen Tagen sind sowohl
Ermittlungsergebnisse als auch Inhalte der Protokolle in der Öffentlichkeit aufgetaucht.
Oberstaatsanwalt Anton Winkler versicherte auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung,
dass die Untersuchungen in dem Fall laufen. »Unsere Ermittlungen in diesem Fall sind
noch nicht abgeschlossen.« Zum näheren Sachverhalt wollte er sich am
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Freitagnachmittag nicht äußern.
BMW wollte auf Anfrage keine Stellung nehmen. Aus dem Umfeld der Quandt-Familie
heißt es, man wolle die italienischen Medienberichte nicht kommentieren, man könne
sie aber auch nicht dementieren.
Am 15. Februar 2008 kontaktierte die Münchner Staatsanwaltschaft die Kollegen aus
Pescara, um nach der Festnahme von S. Rechtshilfe zu bekommen. Mit den
Ermittlungen wurde Staatsanwalt Gennaro Varone beauftragt, der unter anderem
Telefonabhörungen am Sitz von B.s Sekte anordnete und anschließend wertvolle
Güter beschlagnahmte. Zwei Millionen Euro in bar waren unter einem Dach versteckt;
man inspizierte Wohnungen, Gebäude, Grundstücke und konfiszierte Luxusautos wie
Lamborghinis, Ferraris, einen Rolls-Royce und eine Limousine.
All das soll laut Repubblica mit den sieben Millionen der BMW-Frau und mit weiteren
zehn Millionen ihrer Freundinnen erworben worden sein.
Den Ermittlern zufolge wurden weitere Millionen Euro der Ganoven schon in Sicherheit
gebracht. Zwei Komplizen investierten das Geld unter anderem im ägyptischen
Urlaubsort Sharm el-Sheik, in südamerikanischen Ländern und in Steuerparadiesen.
Immer noch fehlen die Filmchen der geheimen Sextreffen.
Nach Informationen von La Repubblica sollen die Verabredungen in Luxushotels auf
der ganzen Welt, vor allem aber in München und Monte Carlo, stattgefunden haben.
Dabei buchten die Komplizen S. und B. angeblich stets zwei miteinander verbundene
Zimmer. In einem war das Paar zugegen – aus dem anderen, zum Regieraum
umfunktionierten Hotelzimmer, filmte B. die Szenen.
Die Beziehungen zwischen dem Schweizer Gigolo und den wohlhabenden Frauen
brachen mit der Zeit ab. S. aber erfand mitleiderregende Geschichten – zum Beispiel,
dass er von der italienisch-amerikanischen Mafia bedroht werde – und forderte
wirtschaftliche Unterstützung. So wurde Susanne Klatten den Berichten zufolge dazu
gebracht, 7,5 Millionen Euro zu zahlen; ihre Freundinnen entrichteten zwei oder drei
Millionen pro Kopf und gaben Geschenke, heißt es in italienischen Medien.
Festnahme in Monte Carlo
Die beiden Gauner forderten aber immer mehr Geld und drohten, die Sexvideos zu
verbreiten.
Die erste Forderung bekam Susanne Klatten am 2. November 2007. Die letzte – ein
Brief und eine DVD – kam am 12. Dezember. Verlangt waren 40 Millionen Euro.
Anschließend wurde die Summe angeblich auf 14 Millionen verringert. Bedingung:
Übergabe in einem Hotel in Monte Carlo. Klatten verabredete sich zwar mit S. für den
14. Januar 2008, informierte aber gleichzeitig die Polizei.
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Bei dem Tête-à-tête traf S. nicht auf sein Opfer, sondern auf deutsche Polizeibeamte,
die ihn wegen Betrugs und Erpressung festnahmen. Auch Klattens Freundinnen
erstatteten Anzeige. Angeblich soll auch der deutsche Geheimdienst in die Affäre
verwickelt sein.
Susanne Klatten ist Tochter und Milliardenerbin der erfolgreichen Unternehmerfamilie
Quandt, ist Großaktionärin von BMW, an deren Wertpapieren sie zusammen mit Mutter
Johanna und Bruder Stephan 46 Prozent hält. Sie ist Hauptaktionärin des AltanaKonzerns. Mit einem geschätzten Vermögen von mehr als 13 Milliarden Dollar rangiert
Klatten unter den bestverdienstensten und erfolgreichsten Wirtschaftsgrößen und gilt
als reichste Frau Deutschlands.
Quelle: http://www.sueddeutsche.de/panorama/quandt-erbin-klatten-erpresst-diemilliardaerin-der-gigolo-und-geheime-videos-1.520614, Zugriff: 29.04.2011
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Podcast-Link
radioWissen - Bayern 2 - »Mythos Verführer - Was Männer stark und Frauen schwach
macht !«:
http://cdn-storage.br.de/mirlive/bw1XsLzS/bLQH/bLOliLioMXZhiKT1/iLCpbHJG/uwQtsKFCuwJC/_2rc_U1S/_dS/_ANP9U1S/uLoXb69zbX06/100901_0930_radioWissen_Mythos-Verfuehrer---WasMaenner-stark-und-F.mp3
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5. Das Don Juan-Syndrom
Don|jua|nis|mus, der; [span. donjuanismo = Art u. Weise des Don Juan]
(Psychoanalyse): Störung im männlichen Sexualverhalten, die
sich in hemmungslosem Verlangen, dem Zwang, häufig den
Partner zu wechseln, äußert (aus neurotischer Angst vor der
Bindung).
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Donjuanismus
Ein Einblick in die Psychologie
Don Juan, eine Gestalt der europäischen Dichtung, geht auf das spanische Drama
»Der Spötter von Sevilla und der steinerne Gast« von Tirso de Molina (1630) zurück.
Die Hauptfigur des Dramas, nämlich »Don Juan Tenorio«, dient als Urbild für die Figur
des Don Juan und sein Name wurde Synonym für egoistische, narzisstische
[1]Verführungssucht.
»Donjuanismus« oder »Satyriasis«[2] bedeutet in der Psychoanalyse eine »Störung im
männlichen Sexualverhalten«[3], die sich in hemmungslosem Verlangen, dem Zwang,
häufig den Partner zu wechseln, äußert (aus neurotischer Angst vor der Bindung)«[4]
Im Alltagsverständnis bezeichnet Donjuanismus also die völlig beziehungslose
Verführungssucht eines Mannes, der immer auf der Suche nach Abenteuern ist, die
Frauen aber nicht wirklich zu lieben vermag, teilweise sogar verachtet.
In der Psychoanalyse wird Donjuanismus auch als eine Flucht vor der Homosexualität
oder als Ausdruck eines ewigen Ödipuskomplexes gesehen. Nach Sigmund Freud
versteht man unter dem Ödipuskomplex »die unterbewusste Neigung des Sohnes zur
Mutter (oder auch der Tochter zum Vater), sowie den Drang, den
gleichgeschlechtlichen Elternteil zu beseitigen«. Der von Freud in die Psychoanalyse
eingeführte Begriff knüpft an die griech. Sage von Ödipus an[5]: Ein Mann, der am
Ödipuskomplex leidet, läuft sein Leben lang einem Muttersurrogat[6] hinterher und
»stiehlt« in seinem ewigen Vaterhass anderen Männern die Frauen und Töchter.
Besonders Söhne alleinerziehender Mütter[7] weisen im Erwachsenenalter
donjuanistische Wesensmerkmale auf. Die Ursache vermuten zahlreiche Psychologen
in der problematischen Mutter-Kind-Beziehung, die sich daraus ergibt, dass die
negativen Gefühle gegenüber Männern oder sich selbst von den Müttern auf das Kind
übertragen werden, was bis zu einer gewissen Gleichgültigkeit und Gefühlsabwehr
führen kann. Aufgrund dieser höchst spannungsgeladenen Mutter-Kind-Konstellation
reagieren Jungen vermehrt mit Donjuanismus, um die bodenlose Einsamkeit durch
immer neue, flüchtige Liebesabenteuer zu kompensieren. Mädchen hingegen
reagieren in derartigen Situationen eher mit psychosomatischen Störungen wie
Essstörungen, Magendarmerkrankungen, etc. Auffällig ist jedoch bei beiden
Geschlechtern, dass es zu einer Blockade der psychosexuellen Entwicklung, sowie
der Moral und des Gewissens kommt.[8]
Charakteristisch für den Donjuanismus sind das Fehlen jeder inneren oder auch
kommunikativen Beziehung zur Partnerin und die sexuelle Unersättlichkeit, die den
88
Mann wahl- und anspruchslos von einer Frau zur nächsten treibt, ohne dass er jemals
wirklich Befriedigung findet. Die Suche nach sexueller Befriedigung kann den
Betreffenden völlig einnehmen, wobei sich das Spektrum der stimulierenden Reize
stark vergrößert. Diese rein sexuellen Beziehungen bestätigen den Mann zwar in
seiner Männlichkeit, doch verachtet er das weibliche Geschlecht dafür, dass es ihm
immer wieder aufs Neue gelingt, sie zu verführen[9]. Dieses Verhalten zieht trotz
vermehrter sexueller Betätigung eine Leere und Langeweile nach sich, da jeder
kommunikative Aspekt einer Partnerschaft radikal ausgeklammert wird und sich der
Betreffende auf der Suche nach immer neuen sexuellen Abenteuern mitunter sogar in
höchst entwürdigende Situationen begibt.
Ansonsten sind solche Personen oft realitätsfremd, naiv, kindlich und verträumt.
Wichtig ist ihnen die Illusion ewiger Jugend und das Vermeiden von Verantwortung.
Logik und Pünktlichkeit weichen Impulsivität und Improvisation. Auf »hysterische
Persönlichkeiten«[10] übt das Neue einen ganz besonderen Reiz aus, worin man eine
Angst vor dem Endgültigen erkennen kann. Ihr Leben wirkt sprunghaft und schillernd.
Solange diese Personen im Mittelpunkt stehen, fühlen sie sich wohl. Positive
Auswirkungen der Hysterie sind Unternehmungslust, Risikobereitschaft, Lebendigkeit
und Elan. Ihre Aggressionsform besteht im Konkurrieren und Rivalisieren.
So absurd es im ersten Moment erscheinen mag, sind hysterische Persönlichkeiten
doch häufig sehr mit der Religion verbunden, weil sie der Gedanke der Schuldfreiheit
(durch die Beichte) fasziniert.
Biochemische Prozesse:
Im Zusammenhang mit Erotomanie wurden auch die Vorgänge erforscht, die sich im
Gehirn während des Orgasmus abspielen. Beim Höhepunkt werden sogenannte
»körpereigene Opiate« [11] ausgestoßen, welche im limbischen System ähnliche
Reaktionsmuster auslösen, wie von außen zugeführte psychotrope[12] Substanzen.
Das limbische System verarbeitet innere und äußere Reize durch die Zusammenarbeit
verschiedener Bereiche des Gehirns, die nicht im Großhirn liegen, welches zum
Beispiel für die Persönlichkeitsstruktur verantwortlich ist. Das limbische System ist für
die Steuerung des emotionalen Verhaltens zuständig und kann daher als »Zentrum der
Gefühle« bezeichnet werden.
Die beim Höhepunkt ausgeschütteten opioide Peptide[13] wirken angst- und
schmerzlindernd. Dieselben Stoffe werden auch in Extremsituationen (z.B. schwere
körperliche Verletzungen, Lebensgefahr,...) ausgeschüttet und blockieren im Gehirn
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Rezeptoren[14], damit andere Transmitter[15] nicht abgebaut werden können.
Diese biochemischen Prozesse hemmen sowohl das körperliche Schmerzempfinden,
wie auch das seelische. Mit Hilfe dieser Stoffe, die beim Orgasmus ausgestoßen
werden, können psychische «Schmerzen« also zumindest kurzzeitig unterdrückt
werden. Durch die Erfahrung, dass diese Substanzen und/oder Verhaltensweisen
zeitweise eine Erleichterung verschaffen, wird das süchtige Verhalten immer wieder
ausgelebt, bis sich der Kreislauf der ,«süchtigen Schmerzlinderung« manifestiert.
[1] Narzissmus ist die krankhafte Selbstliebe, ein übertriebenes In-sich-selbst-verliebt-sein. Der Begriff
findet seinen Ursprung in der griechischen Mythologie.
Narzissos verschmäht die ihn liebende, überaus hübsche Nymphe Echo, woraufhin Aphrodite, Göttin der
Liebe und Schönheit, Narzissos mit Selbstliebe bestraft. Als Narzissos Wasser aus einer Quelle trinken
will und sein Spiegelbild im Wasser sieht, verliebt er sich unsterblich in sein eigenes Abbild und wird fortan
von Liebespein und Sehnsucht geplagt. Schließlich erlöst Aphrodite ihn und verwandelte ihn in eine
Narzisse.
[2] auch: Erotomanie, Hyperlibido oder Hypersexualität
[3] weibl. Gegenstück ist die Nymphomanie
[4] Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden (hg. Vom Wiss. Rat und den
Mitarbeitern d. Dudenredaktion u.d. Leitung von Günther Drosdowski), Bd. 2 (1976) , S. 555.
[5] Das moderne Lexikon, Band 13,12, Musi-Ors, Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH, Gütersloh, 1972, S.
342
[6] Surrogat [das; lat.] (bes. minderwertiger) Ersatzstoff
[7] Ob und wie sehr ein Kind unter dem Vaterverlust leidet, hängt vordergründig von dem Bild ab, das von
der Mutter vermittelt wird. Es gilt einen Mittelweg zwischen Idealisierung und totaler Abwertung zu finden.
[8] Zf. Petri, Horst. Das Drama der Vaterentbehrung. Chaos der Gefühle – Kräfte der Heilung. HerderSpektrum-Verlag, Freiburg Basel Wien 1999. S. 223 ff.
[9] Teilweise wird ein „Don Juan“ aber auch als Opfer der Frauen gedeutet, die ihn begehren und so ist er
es auch, der ihnen nicht widerstehen kann.
[10] Begriff aus der Psychoanalyse/Individualpsychologie nach C.G. Jung
[11] körpereigene Peptide, wie Enkephaline (natürliche Analoga der Opiate) und Endorphine
(körpereigene Peptide,mit opiatähnlicher Wirkung) , die Effekte hervorrufen, die denen des Morphins
ähnlich sind
[12] auf die Psyche wirkend, sie verändernd
[13] wirken ähnlich wie Morphium
[14] Organe zur Aufnahme und Umwandlung von Reizen
[15] Botenstoffe
90
Der obdachlose Milliardär
Nicolas Berggruen will sich nicht festlegen, weder bei Frauen, seiner Ideologie noch
beim Wohnsitz – ein Leben aus dem Koffer
Nicolas Berggruen ist »embarassed«, dass die Medien ihm hier so viel Beachtung
schenken. Das deutsche Wort »verlegen« fällt ihm gerade in seinem sonst so
makellosen Redefluss nicht ein. Es scheint ihn selten jemand in peinliche Situationen
zu bringen, zumindest nicht auf Deutsch. Es ist die Sprache seiner Eltern – des
Kunstmäzens Heinz Berggruen und seiner zweiten Frau Bettina Moissi, einer Berliner
Schauspielerin. Im August 1961 bekommt Bettina ihren ersten Sohn Nicolas. Die
Familie lebt am Pariser Jardin du Luxembourg, die Eltern wohnen im sechsten Stock,
Nicolas und sein jüngerer Bruder Olivier im fünften. Die Familie gibt Cocktailpartys für
Künstler wie Joan Miró. Als kleiner Junge sitzt Nicolas auf dem Schoß von Pablo
Picasso – der Vertrieb seiner Grafiken ermöglicht der Familie ein angenehmes Leben.
Doch der Zwölfjährige langweilt sich in Paris. Er will Schriftsteller werden, studiert
später Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre und lehnt sich gegen die bürgerliche Elite
auf. Die Eltern schicken den Sohn auf das renommierte Schweizer Internat Le Rosey,
das auch der US-Milliardär Winthorp Paul Rockefeller besuchte. Berggruen passt sich
auch hier nicht an, rebelliert gegen die strengen Regeln und fliegt vom Institut.
Dann die erste Wende: In New York studiert er Wirtschaftswissenschaften. Berggruen
arbeitet diszipliniert, analytisch, klar und konzentriert.
In seiner Freizeit erklimmt er Berge im Himalaya und fliegt in seinem Gulfstream-Jet
um die Welt – 80 Städte in 365 Tagen. Oft geschäftlich und manchmal privat. Immer
suchend und schnell gelangweilt – auch von den Frauen. Sie lieben ihn, stellen ihm
nach. Nur die wenigsten bekommen seine E-Mail-Adresse, aber keine seine HandyNummer. So schön und intelligent sie auch sein mögen, nur drei konnten sich bisher
länger an Berggruens Seite halten. Eine feste Beziehung komme für ihn nicht in Frage,
sagt er. Und klingt dabei sehr entschieden. Wie seine Eltern empfängt er Künstler,
Schauspieler und Mächtige. Seine Oscar-Partys gelten in Hollywood als ein Muss.
Seine zweite Wende vollzieht Berggruen vor zwei Jahren mit Blick auf seinen 50.
Geburtstag. Ihm kommen Zweifel am Sinn seines bisherigen Lebens. Er wirft
materiellen Ballast über Bord, verkauft Villa, Yacht und Auto, packt die Koffer und zieht
in seinen Jet. Er fühlt sich befreit, grübelt, liest und lernt. »Wir sind nur für einen
kleinen Moment auf der Welt«, philosophiert der De-Luxe-Obdachlose. »Alles, was ich
besitze, ist nur auf Zeit. Was wirklich zählt, ist, was wir aufbauen.« Für Generationen,
für die Menschheit. Er will jetzt ein Museum für seine eigene Kunstsammlung in Berlin
91
eröffnen wie einst sein Vater. Nur ein bisschen rebellischer und jünger.
92
Da muss man sich einfach hinlegen
Mit beunruhigender Zuverlässigkeit verlieben sich Frauen in windige Männer, auch
«hommes à femmes» genannt. Warum? Weil sie Lust drauf haben, meine Herren. Vier
Erklärungsversuche.
Von Franziska K. Müller
Silvie, 32 *
Er fragte, ob wir am nächsten Freitag zusammen grillieren wollen, und ich antwortete –
etwas irritiert –, ob ich ein Würstli mitbringen soll. Er hat nur gelacht. Als Treffpunkt
nannte er den Bootssteg auf dem Bürkliplatz. Er fuhr in einer weissen Jacht vor. Es
sah toll aus, das muss ich zugeben.
Casanovas reagieren mit ihrem Verhalten auf gewisse weibliche Bedürfnisse. Das war
schon immer so. Grundsätzlich sehe ich darin nichts Schlechtes. Dass diese Männer
keine Partner für die Ewigkeit sein können, gehört sozusagen zu den Spielregeln, die
halt manchmal aus dem Ruder laufen. An Bord gab es Champagner, und auf dem
Kugelgrill hat er später tatsächlich Würste gegrillt. Allerdings keine normalen
Exemplare, sondern irgendwelche superedlen Spezialwürste, für die er praktisch ans
Ende der Welt reisen musste.
Meiner Meinung nach ist dies eine typische Eigenschaft des Frauenhelden. Er legt in
jeder Lebenslage Wert auf Exklusivität und Originalität. Einen Blazer mit Goldknöpfen
trägt er nicht. Er protzt sozusagen auf die richtige Art und Weise und am richtigen Ort.
Woher das Geld stammt, erfährt man in den wenigsten Fällen. Oft pflegt er auch
ausgefallene Hobbys oder extravagante Vorlieben, die er mit einer gewissen
Leidenschaft betreibt. Auf Deck hat er mich mit tausend neugierigen Fragen
eingedeckt. Fragt man einen Don Juan über sein Leben aus, wird er mit ziemlicher
Sicherheit wortkarg: entweder, weil es tatsächlich Geheimnisse zu verbergen gilt, oder,
weil er ein Mysterium um seine Persönlichkeit kreieren will.
Man kann sagen, dass es mir nicht an Erfahrung mit den Casanovas der Neuzeit fehlt.
Ihre Vorgehensweisen durchschaue ich heute fast immer mit links. Trotzdem bleiben
sie weiterhin interessant. Leider kann ich mit superseriösen und für mich meist
langweiligen Männern nichts anfangen. Wenn man Anfang dreissig ist, stellt sich
außerdem ein anderes Problem: Die meisten tollen Männer sind in festen Händen. Es
bleiben die Verklemmten und jene, die nicht treu sein können. Ich hatte Geschichten
mit fünf Männern, die man Frauenhelden nennen konnte. Ich nehme ihr Interesse an
mir als Kompliment. In der Regel sind diese Männer subtil und raffiniert. Sie gelten als
gute Lover, was nicht unbedingt den Tatsachen entsprechen muss. Auf jeden Fall
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merken sie intuitiv, wenn eine Frau den leisesten Gefallen an ihnen findet, und nehmen
die Chance sofort wahr. Sie wissen, wie man die Chemie zwischen zwei Menschen
provoziert und steuert. Bei einem solchen Goldjungen hast du das Gefühl, es existiere
eine Seelenverwandtschaft, die die Basis einer glücklichen verbindlichen Beziehung
sein könnte – und im Moment glaubt er das auch selbst.
Zudem sieht er etwas in einem, das andere nicht sehen. Dieser unausgesprochenen
Projektion – so verwegen sie auch sein mag – versucht man in der Folge zu
entsprechen. Man fühlt sich einfach aufgewertet und supertoll. Im ungünstigsten
Moment entpuppt sich ein solcher Wunderkerl dann leider als Ehrlichkeitsfanatiker.
Bevor du dich möglicherweise verknallst und seine Spielregeln verletzt, klärt er dich
darüber auf, dass er eigentlich kein monogamer Typ sei.
Einer lud mich, nach einem ausgesprochen innigen Abend, auf eine heisse Nacht zu
sich nach Hause ein. Am Kühlschrank hing die Fotografie einer anderen Frau. Nach
den ersten Küssen fragte er mich zaghaft, ob ich überhaupt noch zu haben sei, was
ich freudig bejahte. Natürlich drängte sich eine entsprechende Gegenfrage auf, die er
mit einem zerknirschten Lächeln verneinte. Einer sagte mir am nächsten Morgen, nicht
nur ich, sondern drei bis vier andere Frauen schliefen ebenfalls nackt mit ihm im Bett,
und daran werde sich auch in Zukunft nichts ändern. Grund? Er brauche dies für sein
allgemeines Wohlbefinden. Punkt. Er nannte diese Frauen «meine Kuschelpuppen».
Ich musste lachen, fand das aber doch des Guten zu viel. Beide Männer standen
natürlich mit reiner Weste da, weil sie mit offenen Karten spielten. Sagst du einem
Mann hingegen in den ersten drei Minuten einer Bekanntschaft, dass du eigentlich
eine feste, treue Beziehung suchst, turnt das jeden ab. Auf Frauenhelden reagieren
manche Frauen, indem sie Ausreden suchen: Der Typ hatte eine schwere Kindheit,
eine gestörte Beziehung zur Mutter oder sonst einen Schaden. Er wird sich
irgendwann ändern. Das ist natürlich Blödsinn. Ich ging auf jeden Fall von Bord der
Jacht, ohne dass irgendetwas passiert wäre. Seither herrscht Funkstille.
Marianne, 38
Auf dem Pausenhof gehörte ich zu denen, die am Rand blieben und jene
bewunderten, die quer über den Platz gingen. Ich könnte schwören, dass Pablo schon
als Bub quer ging. Pablo ging immer quer, und das extrem lässig. Es war sein
natürlicher Weg. Er sah gut aus und strahlte eine so unverschämt wonnige
Zufriedenheit mit seinem Körper aus, dass man sofort in seiner Nähe sein wollte. Alle
Frauen wollten in seiner Nähe sein. Er hat etwas, was dich aus den Socken haut,
wenn du ihn im richtigen Moment deines Lebens kennen lernst. Ich war seit kurzem
94
geschieden und nicht besonders geerdet. Mit ihm habe ich mich so beneidenswert
gefühlt wie noch nie in meinem Leben. Er war der Mann, den früher immer nur die
andern bekamen.
Bisher hatte ich mich für einen Supernormalo gehalten. Er muss etwas anderes in mir
gesehen haben. Sonst hätte er sich nicht so in Unkosten gestürzt. Er schmiss mit dem
Geld um sich. Ich dachte, er gehört in eine Liga, in der Geld keine Rolle spielt. Er
machte sündteure Geschenke, lud mich nach Portofino auf eine Jacht ein. Vermutlich
hat es ihn das letzte Hemd gekostet.
Wir lernten uns in der »Dolder«-Bar kennen. Ich war widerwillig mit einer Freundin
mitgegangen. Das »Dolder« ist nicht meine Welt. Pablo und ich redeten, bis die Bar
zumachte, viel über Bücher. Heute weiß ich, dass er sie nicht gelesen hatte, sondern
von einem Freund erzählt bekam. Aber eigentlich ließ er mich reden. Er hatte die
Gabe, die richtigen Stichwörter zu liefern. Ich fühlte mich immer besser. Dann fuhr er
mich mit seinem Range Rover nach Hause. Niemand in meinem Bekanntenkreis fährt
einen Range Rover. Auf dem ganzen Weg überlegte ich: »Was mache ich jetzt? Kaffee
anbieten?« Ich war nicht mehr geübt im Anmachen nach den vielen Ehejahren. Er hielt
vor meinem Haus und sagte: »Ich mache es dir einfach. Ich suche jetzt einen
Parkplatz.«
Man konnte mit ihm wilden Sex haben. Aber erst, nachdem er seine Kleider sorgfältig
aufgehängt hatte. »Ich umgebe mich mit schönen Sachen«, sagte er, »denen trage ich
Sorge.« Wie seinen Kleidern und seinem Range Rover trug er auch meinem Körper
Sorge. Er konnte mitten im Sex sagen: »Wow, du müsstest jetzt dein Gesicht sehen.«
Morgens im Badezimmer hätte ich ihm stundenlang zuschauen können. Er schaute
pfeifend in den Spiegel oder strahlte sich an. Mich auch. Mit ihm bekam ich ein
anderes Bild von mir. Ich hörte nicht an der Gurgel auf. Früher hatte ich unter der
Dusche meinen Körper gewaschen wie ein nützliches Ding, nicht wie etwas
Vergnügliches. Innerhalb von Tagen lernte ich, splitternackt vom Schlafzimmer ins Bad
zu gehen. Nicht zu huschen, sondern eine kleine Drehung vor der Bettkante zu
machen und dann loszustolzieren. Pablo war vielleicht ein Pfau, aber mit ihm wurde
ich auch einer. Es war großartig. In guten Momenten kann ich es immer noch.
Wir hatten nie einen Alltag zusammen. Wir redeten nie über die Zukunft oder über
unsere Sorgen. Obwohl er in Trennung lebte und ich allein in einer viel zu großen
Wohnung saß, habe ich nie gefragt, ob er einziehen will. Ich muss gewusst haben,
dass es nicht dauert, oder ich suchte selber nichts, was dauert. Weder meine Familie
noch meine Freunde lernten ihn kennen. Niemand hätte ihn abgelehnt, dazu war er
viel zu sympathisch. Aber ich war von einem Kreis in einen anderen gehüpft, es gab
95
keine Schnittmenge.
Warum er abtauchte, ist mir bis heute ein Rätsel. Er zog sich immer mehr zurück, war
nicht mehr greifbar. Vielleicht überforderte ihn das Bild des vermögenden, großzügigen
Mannes, das er für mich entworfen hatte und auf das ich ja durchaus auch
hereingefallen war. Ich hatte Freude bekommen an dieser Plastikwelt, die er mir
aufgetan hatte. Es muss für ihn sehr anstrengend gewesen sein. Vielleicht hat er sich
auch einfach entliebt von der Vorstellung, die er von sich hatte. Oder von mir.
Auch wenn es nicht für die Ewigkeit war, hätte ich mir gewünscht, dass es länger
dauert. Ich begann, Dinge zu tun, für die ich mich hasste. Ich ging mit dem Handy aufs
Klo. Ich brach Telefongespräche mit andern nach einer Minute ab, damit die Leitung
frei war. Ich konnte mich kaum ertragen. Dann zog ich radikal den Stecker raus. Wenn
ich länger gewartet hätte, wäre ich wieder so klein geworden wie früher. Also machte
ich, was ich von ihm gelernt hatte: mir Sorge tragen. Der Schmerz war heftig, aber
kurz. Jedes Mal, wenn ich an einem der teuren Lokale vorbeigehe, in die er mich
geführt hat, denke ich, was für ein Glücksfall, dieser Mann.
Karin, 27
Eine Frau zu verführen, ist die einfachste Sache der Welt. Wir sind in dieser Hinsicht ja
unglaublich bescheiden. Nur: Die meisten Männer begreifen das nicht. Zum Beispiel
musste ich 26 Jahre alt werden, bis mir einer einen Blumenstrauß schenkte. Heute
lebe ich in einer glücklichen Beziehung. Bis vor kurzem war es allerdings so: Wenn ich
ein Date für ein Abendessen hatte, kramte der Mann – ohne Ausnahme – so lange und
umständlich nach seiner Geldbörse, bis ich getrennte Rechnungen vorschlug, was
natürlich freudig akzeptiert wurde. Das Gros der heutigen Männer denkt: Die ist
selbständig, die ist emanzipiert, die ist sexuell befreit – warum soll ich mein sauer
verdientes Geld ausgeben oder meinen Charme spielen lassen, wenn sie vielleicht
auch so mit mir ins Bett springt? Es ist also kein Wunder, dass wir dahinschmelzen,
wenn uns einer ein Glas Champagner offeriert, den Stuhl zurechtrückt oder die
Autotüre aufhält. Weil es viel zu wenige von ihnen gibt, haben so genannte
Frauenhelden heute Hochkonjunktur. Nachfrage und Angebot stimmen irgendwie nicht
überein, und die Qualität ist nicht in allen Fällen gewährleistet. Andererseits sind die
Geschmäcker und Ansprüche vielfältig, und meiner Meinung nach gibt es fast so viele
verschiedene Sorten Casanovas, wie es Frauen gibt, die ihnen zu Füssen liegen.
Der wahre Liebling der Frauen – jener, der dem Begriff »Frauenheld« Ehre verschafft –
ist allerdings ein rares Exemplar. Den wollen alle. Meiner war ein Naturtalent, und er
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liebte die Frauen wirklich. Er musste nicht schauspielern oder methodisch vorgehen.
Ich behaupte, ein richtiger Frauenliebling verfügt über weibliche Züge, und ein Teil
seiner Empfindungswelt ist ebenfalls weiblich. Auf der anderen Seite ist er so, wie wir
uns einen richtigen Mann wünschen: sexuell energisch, selbstbewusst, originell,
unabhängig und liebevoll. Er hat es nicht nötig, den Macker rauszuhängen, und ist
doch meilenweit davon entfernt, ein Weichei zu sein. Kurz und gut: eine
unwiderstehliche Kombination. Solche Exemplare gehen einem unter die Haut und
nehmen unaufgefordert in deinem Herzen Platz. Da ist man machtlos. Ich wollte ihn
unbedingt haben, und zwar mit Haut und Haaren. Tief in mir drin ahnte ich von Anfang
an, dass er unerreichbar bleiben wird. Und so war es auch. Ich bin in Liebesdingen ein
wenig egoistisch veranlagt. Ich will nicht teilen. In vernünftigen Minuten sagte ich mir
auch: So ein Prachtskerl ist die Nadel im Heuhaufen. Irgendwie wäre es fast
ungerecht, wenn ihn eine einzige Frau bekäme. Damit würde er vermutlich auch seine
Strahlkraft einbüßen. Die Geschichte hätte ein schlimmes Ende genommen. Aus Liebe
zu mir selbst beendete ich sie schweren Herzens im Frühstadium.
Es gibt reiche, gut aussehende Männer, die eine Frau in den Stand einer Königin
heben und sie nach Strich und Faden verwöhnen. In erster Linie lieben die nur sich
selbst, das ist aber egal. Toll ist, dass die dir sozusagen am ersten Abend einen Brilli
an den Finger stecken und tausend spannende Geschichten zu erzählen haben. Unter
anderem von ihren rund um die Welt verstreuten Wohnsitzen und den Kontakten zu
wichtigen Leuten. Andere kommen besonders gut an, weil sie sportlich oder beruflich
supererfolgreich sind: lässige Männer, keine Angeber. Sie genießen die Bewunderung
ihrer Umwelt. Das hat einen Dominoeffekt auf die Frauenwelt. Im ärgerlichen Sinn zum
Totlachen sind jene, die sich verführungstechnisch etwas einfallen lassen. Aber so
bescheiden wir in dieser Hinsicht vielleicht funktionieren: Jeden Mist lassen wir uns
nicht bieten. Ich kannte einen, der verabredete sich mit seinen Freundinnen in spe
immer im gleichen Restaurant. Dann erschien er nicht, sondern meldete sich
schließlich per Telefon. Als Grund für die Verspätung gab er immer einen
medizinischen Notfall an, was ihm gleichzeitig die Gelegenheit verschaffte, auf seinen
Beruf hinzuweisen: Er war Arzt.
Früher war der Don-Juanismus einer kultivierten Oberschicht vorbehalten. Heute kann
glücklicherweise jeder ein Casanova sein. Eine gewisse Subtilität geht dabei vielleicht
verloren. Ich finde das nicht weiter schlimm, weil es sich um ein Spiel handelt.
Ferienklub-Animatoren, Fitness-Instruktoren, Sportlehrer und Bademeister gehören
meiner Meinung nach in diese Kategorie. Die leben hauptsächlich von ihrem Ruf. Ihr
Charme liegt in der kleinen Autorität, die sie während ihrer Arbeit umgibt, was ihrem
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Selbstbewusstsein und ihrem etwas plakativen Sex-Appeal nicht abträglich ist.
Solariumgebräunt, muskelbepackt, leicht geschürzt und hübsch frisiert sagen die uns
ausserdem: »Frauen! Wir machen uns für euch schön. Wir wollen eure Toy-Boys
sein.« Warum nicht? Das ist einmal etwas anderes und muss mit einem gewissen
Goodwill belohnt werden. Frauen, die sich auf solche Sonnyboys einlassen, gehen
glücklicherweise genauso kalkuliert vor wie die Männer selbst: Grundsätzlich gibt es
gegen einen netten One-Night-Stand nichts einzuwenden.
Sylvia, 41
Ich habe jahrelang Tisch und Bett mit einem bekennenden Casanova geteilt. Man kann
lernen, dass sein Fremdgängertum nichts mit den eigenen Unzulänglichkeiten zu tun
hat, sondern mit seinem unstillbaren Hunger nach Bestätigung und dem ständigen
Kick, den neue Eroberungen mit sich bringen. Er hat also einen Charakterfehler und
auch ein paar persönliche Probleme. Das haben andere auch. Es gibt Männer, die sind
tagelang schlecht gelaunt, sprechen nicht mit ihren Frauen oder sehen in der Arbeit
ihre ausschließliche Lebensaufgabe. Der gesellschaftliche Druck, einen untreuen
Partner in die Wüste zu schicken, ist natürlich größer, als wenn einer die Kinder
vernachlässigt oder zum tausendsten Mal die Zahnpastatube unverschlossen auf dem
Lavabo liegen lässt. Ich wusste von Anfang an von seiner Veranlagung. Ich dachte, der
meint das nicht so. Dann wollte ich ihn ändern. Dann wollte ich mich rächen und
ebenfalls fremdgehen. Aber eigentlich wollte ich nur ihn. Normalerweise wählt ein
Frauenheld keinen männermordenden Vamp als Lebenspartnerin. Sondern eher zarte,
hingebungsvolle, monogam veranlagte Frauen. So viel Liebe, Fürsorge und Erotik, wie
er braucht, kann ihm eine einzelne Frau aber nicht geben.
Ein Frauenheld scheint den Frauen zu geben, was sie sich von einem Mann
wünschen: Interesse, Leidenschaft, Freundschaft und Halt. Diese goldenen
Fähigkeiten besitzt ein Casanova wirklich, und im Verlauf der Zeit setzt er sie gezielt
ein. Aber so, wie er sich verhält, weist er seine Partnerin immer wieder darauf hin,
dass ihr Wunsch nach einer perfekten Liebe, die die ganze Identität erfasst – den Kopf,
den Körper und die Seele –, eine Illusion ist, weil er ein völlig anderes
Beziehungsmodell leben will. Es könnte auch alles heimlich ablaufen, aber man will
natürlich wissen, was Sache ist. Das wird in gewissen Phasen fast zwanghaft und
sorgt natürlich für Dramen ohne Ende. Von der Absolution für sein Tun – etwas, das
sich jeder bekennende Fremdgänger sehnlich wünscht – war ich immer meilenweit
entfernt. Die Tatsache, dass man mit Nebenbuhlerinnen konkurrieren muss, steigert
die Attraktivität des Partners um einiges. Und dass er immer wieder zu einem
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zurückkommt, kann schmeichelhaft sein. Manche Frauen bleiben, weil ihnen die
Aussicht auf ein Leben ohne emotionale Berg-und-Tal-Fahrten langweilig erscheint.
Über einen Mangel an, ich sage mal, Leidenschaft, die unsere Beziehung über all die
Jahre hinweg negativ und positiv beflügelte, kann auch ich mich nicht beklagen.
Manchmal fragte ich mich, ob ich eine harmonische Liebe, bei der man am Abend
Händchen haltend auf der Couch sitzt, überhaupt aushalten würde. Das Hin und Her
wird allerdings ermüdend, wenn man sich zum x-ten Mal im Kreis dreht. Auch das
Prinzip Hoffnung nutzt sich ab.
Das Risiko ist gross, dass man irgendwann in die Rolle der Helferin, Komplizin oder
Therapeutin abrutscht. Es geht dabei um die tiefer liegenden Probleme des Partners.
Die Beschäftigung mit seiner Untreue wird fast zum Lebensinhalt. Um über die
eigenen Ängste, Zweifel und Schwächen nachzudenken, bleibt fast keine Zeit. In
diesem Verharren kann irgendwann das Gefühl aufkommen, gegen die eigenen
Überzeugungen zu handeln, und damit ist die eigene Integrität, die Selbstachtung in
Frage gestellt. In dieser Situation muss man entweder einen Schritt weiter gehen und
die Sache künftig als persönliche Grenzerfahrung zelebrieren, oder man beendet die
Geschichte. Ich wollte gehen. Es war mir ernst. Er versprach hoch und heilig, sich zu
ändern. Ist ein solches Versprechen ernst gemeint, ist der Mann auch bereit, über
seine Psyche nachzudenken. Wird aus einem wilden, hungrigen Prinzen plötzlich ein
fauler, satter Frosch, ist die Gefahr allerdings gross, dass der Mann ein wenig an
Faszination einbüsst.
* Namen der Redaktion bekannt;
Die abgebildeten Personen sind mit den im Text beschriebenen nicht identisch.
99
6. Epilog
100
Der Abenteuerer
I
Wenn er unter jene welche waren
trat: der Plötzliche, der schien,
war ein Glanz wie von Gefahren
in dem ausgesparten Raum um ihn,
den er lächelnd überschritt, um einer
Herzogin den Fächer aufzuheben:
diesen warmen Fächer, den er eben
wollte fallen sehen. Und wenn keiner
mit ihm eintrat in die Fensternische
(wo die Parke gleich ins Träumerische
stiegen, wenn er nur nach ihnen wies),
ging er lässig an die Kartentische
und gewann. Und unterließ
nicht, die Blicke alle zu behalten,
die ihn zweifelnd oder zärtlich trafen,
und auch die in Spiegel fielen, galten.
Er beschloss, auch heute nicht zu schlafen
wie die letzte lange Nacht, und bog
einen Blick mit seinem rücksichtslosen
welcher war: als hätte er von Rosen
Kinder, die man irgendwo erzog.
101
II
In den Tagen - (nein, es waren keine),
da die Flut sein unterstes Verlies
ihm bestritt, als wär es nicht das seine,
und ihn, steigend, an die Steine
der daran gewöhnten Wölbung stieß,
fiel ihm plötzlich einer von den Namen
wieder ein, die er vor Zeiten trug.
Und er wusste wieder: Leben kamen,
wenn er lockte; wie im Flug
kamen sie noch warme Leben Toter,
die er, ungeduldiger, bedrohter,
weiterlebte mitten drin;
oder die nicht ausgelebten Leben.
und er wusste sie hinaufzuheben,
und sie hatten wieder Sinn.
Oft war keine Stelle an ihm sicher,
und er zitterte: Ich bin - - doch im nächsten Augenblicke glich er
dem Geliebten einer Königin.
Immer wieder war ein Sein zu haben:
die Geschicke angefangner Knaben,
die, als hätte man sie nicht gewagt,
abgebrochen waren, abgesagt,
nahm er auf und riss sie in sich hin;
denn er musste einmal nur die Gruft
solcher Aufgegebener durchschreiten,
und die Düfte ihrer Möglichkeiten
lagen wieder in der Luft.
Rainer Maria Rilke
1907/1908, Paris
102