Materialsammlung - Theater Marburg
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Materialsammlung - Theater Marburg
MOMO Materialsammlung Spielzeit 2013/14 »Ich wüßte nicht, wie ich dem Paradox von Achilles besser gerecht werden sollte, das von den einschneidenden Widerlegungen, die es seit mehr als dreiundzwanzig Jahrhunderten in Abrede stellen, so unberührt geblieben ist, daß wir es getrost als unsterblich begrüßen dürfen. Daß man das Mysterium immer wieder aufgesucht hat, was sich in seiner Fortdauer bekundet, daß es die Menschen immer wieder veranlaßt hat, bei ihrer subtilen Unwissenheit Einkehr zu halten, können wir ihm nur mit Dank vergelten. Erleben wir es denn ein weiteres Mal, sei es auch nur, um von Denkrätseln und Denkgeheimnis einen Hauch zu verspüren. Ich will ein paar wenige Seiten – ein paar abgezählte Minuten – seiner Darstellung und der seiner berühmtesten Richtigstellungen widmen. Bekanntlich war sein Erfinder Zenon von Elea, Schüler des Parmenides; und zwar leugnete er, daß in der Welt irgend etwas vor sich gehen könne. […] Achilles, Sinnbild der Schnelligkeit, soll die Schildkröte, Sinnbild der Trägheit, einholen. Achilles läuft zehnmal schneller als die Schildkröte und gibt ihr zehn Meter Vorsprung. Achilles läuft die zehn Meter, die Schildkröte einen Meter; Achilles läuft diesen Meter, die Schildkröte läuft einen Dezimeter; Achilles läuft diesen Dezimeter, die Schildkröte läuft einen Zentimeter; Achilles läuft diesen Zentimeter, die Schildkröte einen Millimeter; Achilles den Millimeter, die Schildkröte einen zehntel Millimeter und so ins Unendliche; woraus folgt, daß Achilles immerfort laufen kann, ohne sie je einzuholen.« Jorge Luis Borges1 1 Borges, Jorge Luis: „Der ewige Wettlauf zwischen Achilles und der Schildkröte.“ In: Borges, Jorge Luis, Essays, S.108. Inhaltsangabe Michael Ende im Gespräch „Erwachsene nur in Begleitung von Kindern zugelassen!“ Erinnerungen an Jim Knopf, Momo und Michael Ende zu dessen 75. Geburtstag 40 Jahre Momo – Ein Märchen wird erwachsen Was Michael Ende in “Momo” unnachahmlich aufzeigt: Lebenszeit ist entweder Herz-Zeit oder verlorene Zeit. Hans-Heino Ewers Fantasy – Heldendichtung unserer Zeit. Versuch einer Gattungsdifferenzierung Von Gespenstern, Cyberspace und Abgründen des Ich Norbert Elias Über die Zeit Alexander Mitscherlich Der Mensch leidet an seiner Zeit Eilkrankheit Einladung zur Langsamkeit Die Relativitätstheorie Jorge Luis Borges Sinnfiguren der Schildkröte Zenon, Achilles und die Schildkröte Michael Ende und die Schildkröten Werner Onken Die ökonomische Botschaft von Michael Endes „Momo“ Michael Ende an Werner Onken Kritische Stimmen: Phantasie und Vernichtung „Momo“ und die autoritäre Sehnsucht des Michael Ende Michael Ende im Gespräch* Wie schreiben Sie? Haben Sie einen roten Faden im Kopf? "Das ist sehr unterschiedlich. Ich habe den Jim Knopf wirklich so geschrieben, dass ich mit dem ersten Satz angefangen habe, ohne jedes Konzept und ohne zu wissen, wie der zweite Satz heißen und worauf das Ganze hinauslaufen wird. In diesem Fall ist die Geschichte wirklich erst mit dem Buch entstanden, und ich war während des Schreibens zum Teil selber ganz gespannt, wie es weitergehen würde. Bei anderen Geschichten, zum Beispiel bei der Momo, hatte ich ein ungefähres Konzept im Kopf, das sich dann allerdings während der Arbeit noch sehr stark geändert hat. Und wieder anders war es bei der Unendlichen Geschichte, da habe ich eigentlich mittendrin angefangen. Die ersten Sätze, die ich von der Unendlichen Geschichte geschrieben habe, sind heute das zwölfte Kapitel." Wie kamen Sie auf die Idee für die Unendliche Geschichte? "Das Buch ist dadurch entstanden, dass mein Verleger in meinem Haus in Italien abends bei einigen Rotweinflaschen am Kamin meinte, ich sollte doch mal wieder ein Buch schreiben. Ich habe also meinen Zettelkasten hervorgeholt und darin lag u. a. ein Zettel, auf dem stand: 'Ein Junge gerät während des Lesens buchstäblich in die Geschichte hinein und findet nur schwer wieder heraus.' Da sagte mein Verleger: 'Das hört sich gut an, das solltest Du machen.' Und ich sagte zu ihm: 'Na ja, weißt Du, da ist nicht viel drin, höchstens so `ne Hundertseitengeschichte.' 'Na, das ist ja wunderbar, da schreibste eben mal wieder ein kürzeres Buch, Deine Bücher sind ja eh immer alle zu dick. Also kann ich im nächsten Jahr damit rechnen?' 'Na', sag`ich, 'hundert Seiten werd` ich ja wohl schaffen.' Ich habe mich dann an die Arbeit gemacht – und nun passiert es manchmal tatsächlich, dass einem so ein Stoff unter den Händen explodiert. Die erste Frage hieß eben: Was für ein Junge ist denn das, dem so etwas geschieht? Es gerät ja nicht jeder buchstäblich in eine Geschichte hinein. Er muss also eine bestimmte Disposition mitbringen, damit so etwas geschehen kann. Und so entstand langsam die Figur des Bastian. Auf der anderen Seite habe ich mich gefragt: Was für eine Geschichte muss das denn sein, die die Anwesenheit des Lesers tatsächlich erzwingt, in die der Leser hinein muss ... So entstand langsam Fantásien, aber dann dehnte sich das nach allen Seiten auf mich zu, und ich hatte wirklich alle Hände voll zu tun, damit das Ganze überhaupt noch eine Gestalt kriegt ..." Schreiben Sie per Hand oder mit Maschine? Korrigieren Sie viel? "Ich schreibe immer zunächst per Hand. Meine Manuskripte wimmeln von Pfeilen, Rausgestrichenem, Drüber- und Duntergeschriebenem usw. Erst wenn`s einigermaßen so weit ist, schreib ich`s als kleine Objektivierungshilfe auf die Maschine, damit ich sehe, wie es sich liest. Und dann wird meistens noch mal dran rumkorrigiert, es entwickeln sich auch neue Notwendigkeiten ... Ich kann mich nicht erinnern, jemals eine einzige Seite nicht nachträglich sehr heftig korrigiert zu haben. Das liegt wohl ein wenig daran, dass meine Arbeitsmethode eigentlich weniger die eines Schriftstellers ist, als ... – vielleicht liegt es auch an meiner Herkunft als Sohn eines Malers – ich arbeite eigentlich eher wie ein Maler. Maler gehen oft so vor, dass sie erst einmal mit irgendeiner Ecke des Bildes anfangen, wo dann etwas entsteht, sei es eine besondere Farbigkeit, oder sei es irgend etwas, das danach verlangt weitergeführt zu werden ... So malt man dann langsam das ganze Bild. Man hat zwar am Anfang ein bestimmtes Konzept, aber das Konzept ändert sich unterwegs, die Zielrichtung ändert sich dann auch." Ich denke, auch der Klang der Sprache ... "Ja, auch der Klang der Sprache. Ich schreibe sehr langsam, ich brauche keine Beschleunigungsmittel wie Computer oder Diktiergeräte, weil ich oft minuten-, viertelstundenlang, oft sogar noch länger über einem einzigen Satz sitze und versuche, ihn abzuschmecken: Wie muss man ihn jetzt drehen, damit er auch klingt ... Das ist ja nicht nur Bild, das ist auch Melodie." Autoren von Büchern, die so oft in phantastischen Welten spielen, wie die Ihren, wird gern der Vorwurf des Eskapismus gemacht. Flüchten Sie vor der Realität? "Wenn ich Geschichten schreibe, die einen kindlichen Tonfall anschlagen, dann gerade, weil ich das Unerträgliche kennen gelernt habe. Ich will keine Abbildung der Realität im Maßstab eins zu eins. Das halte ich für unmöglich. Jeder Roman ist eine Wirklichkeit an Worten, die ich erschaffe. Wenn der Leser trotzdem sagt, das erinnere ihn an seine spezifische Situation - um so besser. Dann ist die Erfindung sozusagen ein Modell für die Wirklichkeit. Mehr, glaube ich, kann man nicht machen." Was brauchen Sie unbedingt im Leben? "Eine Katze. Ohne Katze kann ich nicht leben." Wen oder was bewundern Sie am meisten? "Von allen historischen Figuren: Shakespeare." Wen oder was verabscheuen Sie am meisten? "Jede Art von Steckenbleiben in Konventionen, was immer eine Art Dummheit oder eine Art Feigheit mit einschließt." Ihr Lieblingsmaler? "Goya und Grünewald." Ihre Lieblingsmusik? "Von der klassischen Musik natürlich Mozart, unter der neuen Musik Strawinsky: aber ich habe auch einen sehr starken Hang zu guten Schlagern." Kämen Sie noch einmal auf die Welt, wer oder was möchten Sie sein? "Seiltänzer, weil es das Können und die Grazie schlechthin ist, ohne jeden Zweck." Aus welchen Wurzeln ziehen Ihre Bücher die Kraft? "Ein Schlüsselerlebnis hatte ich mit 24 in Palermo. Dort gibt es noch die Märchenerzähler auf dem Marktplatz. Ich habe einen gefragt, woher er seine Geschichten habe. Er sagte, aus einem Roman von Alexandre Dumas, vom Großvater geerbt. Das einzige Buch, das er je gelesen hat ... Und in den verschiedenen Ausschmückungen erzählt er die Story weiter und weiter. Da dachte ich mir: So muss man schreiben. So, dass später ein Geschichtenerzähler auf der Straße deine Geschichte mit eigenen Ideen schmückt und weitergibt." *Die Fragen und Antworten wurden Interviews entnommen, die mit Michael Ende in den 1980er und 90er Jahren geführt wurden. „Erwachsene nur in Begleitung von Kindern zugelassen!“ Erinnerungen an Jim Knopf, Momo und Michael Ende zu dessen 75. Geburtstag Die Überschrift spricht die eine und so populäre Seite von Michael Endes Arbeiten an: Michael Ende, der Jugendbuchautor, dessen Bücher auch Erwachsene mit Begeisterung lesen und der mit über 20 Millionen verkaufter Buchexemplare und Übersetzungen in 40 Sprachen zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren der Nachkriegszeit geworden ist. Aber es wäre auch eine ganz andere Überschrift denkbar: „Kinder sollten dies nicht einmal in Begleitung Erwachsener lesen“. Da gibt es nämlich auch eine ganz andere und überhaupt nicht heitere Seite in Michael Endes Werk. Aber hören wir ihm zunächst einfach einmal selber zu. „Ballade vom Heldentod eines deutschen Offiziers“ (Aus „Der Trödelmarkt der Träume“): In Garmisch, meinem Heimatort, im achtunddreißiger Jahr, lebte in unserem Nachbarshaus dort ein älteres Ehepaar. Er sprach von „Frau Hauptmann“ und sie von „mein Gatte“. Sie stritten sich viel, die zwei. Er bekam Offizierspension und sie hatte eine kleine Leihbücherei. Doch Bücher zu leihn hat fast niemand gewagt, ihr Lädchen blieb meistens leer. „Die Leute“, sprach sie, „Gott sei’s geklagt, lesen keine Bücher mehr.“ Beim Spazierengehn fiel er bisweilen um, dann schlug er um sich und schrie. Vor Verdun hatte er einen Kopfschuß, darum litt er an Epilepsie. Beim Bäcker, wo er täglich die Semmeln gekauft, hieß es plötzlich: „Für Sie sind sie aus.“ Er war auf den Vornamen Fritz getauft, aber Hedy war aus jüdischem Haus. Dann war es eines Tages so weit: Fünf Männer, die taten ganz fremd, sie ließen ihr nicht mal die Zeit für ihr Kleid und führten sie fort im Hemd. Die Leute lachten und kamen gerannt: In einem Käfig stand sie zur Schau. Darauf hing ein Schild und darauf stand: „Ich bin eine Judensau!“ Fritz wußte erst nicht, was tun, aber dann kam er plötzlich in Fahrt. Er zog sich seine Uniform an, die hatte er aufbewahrt. Er hängte sich alle Orden um. Sein Gesicht, das war feldgrau. Er marschierte zum Käfig und stellte sich stumm vor seine liebe Frau. So stand er in seinem Paraderock, den Säbel in Habt-acht. Es begann zu schneien in dichtem Geflock, Fritz hielt die Ehrenwacht. Sie sprachen nicht miteinander, die zwei. Er stand einen Tag, eine Nacht. Die Leute drückten sich scheu vorbei und haben nicht mehr gelacht. Den Herrenmenschen ging allgemach die Sache dann doch zu weit. Ein SA-Mann trat zu Fritz und sprach: „Du entehrst dieses Ehrenkleid!“ Doch Fritz fuhr fort, geradeaus zu schaun, und schenkte ihnen keinen Blick. Da haben sie ihn auf den Kopf gehauen mit einem Eisenstück. Er fiel zu Boden ohne ein Wort. So lag er im Schee noch lange, und viele Leute sahen ihn dort samt Orden und Ehrenspange. Sie schwiegen und schauten woanders hin, wollten niemand loben und schelten. Allein saß Hedy im Käfig drin, in einer großen Kälten. Es heißt, dass sie nichts mehr verstanden hat, denn sie war da schon geistig verstört. Ich hörte, sie kam nach Theresienstadt. Sonst hab ich nichts mehr gehört. Wer ist dieser Autor Michael Ende, der eine solche Spannbreite an erzählerischen Inhalten und Einfällen in sich herumträgt. Schon seine Biographie klingt stellenweise wie eine phantastische Erzählung. Einiges daraus möchte ich nun erzählen. Eine der wichtigsten Entscheidungen in Endes Leben passiert bereits vor seiner Geburt. Da lebt 1928 in Hamburg ein junger Kunstmaler namens Edgar Ende. Für Insider gilt er schon damals als hoffnungsvoller Vertreter einer neuen Kunstrichtung. Edgar Ende wird einer der bedeutendsten surrealistischen Maler Deutschlands werden. Ein deutsche René Magritte sozusagen. Edgar Ende, 27jährig, ein gutaussehender Hüne, hat eine Schwäche für Frauen. Auch jetzt ist er wieder verliebt. Die Eltern der betroffenen jungen Dame reagieren prompt. Sie schicken ihre Tochter aus gutem Haus in ein Internat in die Nähe von Garmisch-Partenkirchen. Edgar Ende, schmachtend vor Liebeskummer, reist per Zug hinterher. In Garmisch angekommen und auf der Suche nach der Angebeteten, gerät Ende in einen heftigen Regen. Kurz entschlossen flüchtet sich Ende in den nächsten offenen Laden. Dort werden Edelsteine aus Idar-Oberstein, Stoffe aus Arabien und Spitzenunterwäsche offeriert. Die Chefin des Ladens ist eine kleine Person namens Lise Bartholomä. Sie kommt ursprünglich aus dem Saarland, ist früh verwaist. Nach langem Waisenhausaufenthalt war sie von ihrer Halbschwester, einer in Palästina arbeitenden Missionsdiakonisse auch dorthin verfrachtet worden. Irgendwann hat sie aber keine Lust mehr, dass Heilige Land zu schrubben und kehrt nach Deutschland zurück. Im Rheinland eröffnet sie ein Geschäft für exklusive Damenwäsche. Das Waisenhaus und die Zeit in Palästina aber haben Spuren hinterlassen. Lise Bartholomä ist eine tiefgläubige Frau, wenn auch keine fromme Protestantin im Sinne der damaligen Zeit. In Palästina hat sie östliche Religionen kennengelernt. Sie hat zahlreiche jüdische Freunde, sie sucht nach dem Kern dessen, was Religion ausmacht. Die Zwanziger Jahre in Deutschland, die Zeit nach dem 1. Weltkrieg also, ist eine kulturelle Umbruchsphase. Es wimmelt von populärphilosophischen, esoterischen und pseudoreligiösen Strömungen der verschiedensten Richtungen. Theosophische und anthroposophische Richtungen, mystische und völkisch-naturreligiöse Prediger, es gibt alles. So auch in Schloß Elmau, einem neoromantischen Schlößchen in der Nähe von GarmischPartenkirchen. Hier schart einer der Propheten jener Jahre, Johannes Müller, eine Schar von Gottsuchern, Charismatikern, Geistbewegten und Bildungsbürgern um sich. Lise Barholomä lernt diesen Kreis kennen und ist davon so begeistert, dass sie ihren florierenden Laden im Rheinland verkauft, um sich in der Nähe von Elmau niederzulassen. Sie eröffnet jenes Geschäft in Garmisch, in dem nun Edgar Ende seinen unfreiwilligen Auftritt hat, um das Ende des Regens abzuwarten. Der ihr noch unbekannte Mann ist von dem Typ, den die kleine zierliche Lise Barholomä schon gar nicht abkann, nämlich athletisch groß. Nun weigert er sich auch noch den Laden zu verlassen, obwohl sie schließen will, es aber immer noch regnet. Lise resigniert. Sie nimmt ihn mit in ihre Wohnung zum Teetrinken. Er erzählt, sie erzählt, sie ist übrigens 8 Jahre älter als Edgar Ende, aber sie hat schon immer ein großes Herz für mittellose Maler gehabt. So ist sie dann doch von ihrer unfreiwilligen Bekanntschaft sehr beeindruckt. Und er wohl auch von ihr. Er kehrt nicht mehr nach Hamburg zurück. Nur wenige Monate später heiraten die beiden, am 22. Februar 1929. Trauzeugen sind Hedy und Fritz Staackmann. Wir sind den beiden schon begegnet, nämlich in der eingangs von mir gelesenen Ballade. Am 12. November des gleichen Jahres kommt Sohn Michael Andreas Helmut Ende in Garmisch-Partenkirchen zur Welt. Michael Ende hätte sich die Geschichte, wie seine Eltern zusammengefunden haben, nicht besser ausdenken können. Das Leben erzählt ja oftmals sowieso die besten Geschichten. Michael liebt seine Eltern, wird sie immer lieben, aber sie haben ihm schwierige Charakterzüge mit ins Leben gegeben und irgendwie wird Michael nie davon loskommen. Vom Vater Edgar erbt Michael jene überbordende Phantasie und die Fähigkeit in Bildern zu denken. Aber es sind keine einfachen darstellenden Bilder, sondern Bilder jenseits aller bürgerlichen Realität, eben „sur“realistische Bilder, Traumvisionen mit magischer Anziehungskraft. Michael Ende solidarisiert sich stets sehr mit seinem Vater und bezeichnet seine eigenen späteren Arbeiten als den Versuch, dessen Bilder in Worte und Erzählungen zu fassen. „Was spiegelt sich in einem Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt?“ So wird der Leser in Endes Buch „Der Spiegel im Spiegel“ eingeführt, das nicht umsonst den Untertitel trägt: „Ein Labyrinth“ und sich als die Umsetzung von Edgar Endes Bildern in Sprache versteht. Aber Endes Mutter ist ein genauso komplizierter Charakter. Auch sie künstlerisch begabt und hochsensibel, leidet sie unter dem Trauma einer verpfuschten Kindheit. Die Eltern früh gestorben, ohne Liebe und Nestwärme aufgewachsen, entwickelt die ansonsten starke Lise Ende ein Trauma, nämlich erneut von dem Menschen verlassen und enttäuscht zu werden, dem ihre ganze Liebe gilt, nämlich ihrem Mann. Geradezu zwanghaft versucht sie unentwegt, seine Liebe auf die Probe zu stellen. Bei dem lebensfrohen Edgar Ende muß das schiefgehen. So entwickelt sich die Ehe der Eltern rasch zu einer mittleren Hölle. Der Sohn bekommt die undankbare Aufgabe, der verbindende Kitt zwischen der geliebten Mutter und dem geliebten Vater zu sein. Aber beide Eltern instrumentalisieren ihn auch für die eigenen Lebenspläne. So gerät der junge Michael Ende rasch in eine hoffnungslose Situation hinein – und erinnert uns das nicht an die zunächst ebenfalls hoffnungslosen Jungengestalten in seinen Büchern wie Jim Knopf, der weggeschickt werden soll, weil Lummerland so klein ist, oder Bastian Baltasar Bux in der „Unendlichen Geschichte“, dessen Mutter verstorben ist und der zunächst keinen Zugang zu seinem verschlossenen Vater findet? Immerhin, verschlossen sind Michael Endes Eltern nicht. Im Gegenteil. Noch im Jahr von Michael Endes Geburt wird der Vater von der Münchner Kunstszene „entdeckt“ und München ist damals nach Berlin die zweite Kunstmetropole in Deutschland. Das zählt also und endlich scheint es möglich zu sein, mit Edgar Endes Kunst auch wirklich Geld zu verdienen. Deshalb ziehen Endes 1931 an den Münchener Stadtrand, nach Obermenzing. Dort gab es noch ziemlich viel Wald, einige verwahrloste Villen und dazwischen große und ebenfalls wildromantische Parks. Als der kleine Michael Ende dort ankam, bevölkerte ein skurriles Völkchen dieses Gebiet. Überwinterndes Zirkusvolk, Künstler, Außenseiter, Eigenbrötler und viele Kinder. Michael Ende nannte das Ganze später seinen Eintritt ins Märchenland. Mit einigen Künstlern schloß der Kleine Freundschaften und dürfte von ihnen die Kunst des Fabulierens gelernt, aber auch einen weiteren Zugang zur Kunst erhalten haben. Bei den Zirkusleuten lernte er Zauberstückchen und andere kleine Geschicklichkeiten. Immer wieder tauchen diese kleinen und im Grunde jämmerlich armen Zirkusse in Endes späterem Werk auf, beispielsweise in seinem Stück „Das Gauklermärchen“ von 1982. Diese wundervolle Zeit endete 1935. Damals zogen die Endes hinein nach München, in das berühmte Künstlerviertel MünchenSchwabing, freilich in eine ziemliche Bruchbude, einem kleinen Dachgeschoß in der Kaulbachstraße. Dem Aufstieg des Vaters folgte nun aber dessen jäher Abstieg in der Gunst der Kritiker. 1935, also bereits mitten im nationalsozialistischen Deutschland gilt ein Maler wie Edgar Ende natürlich als entartet. In einem Kommentar der sog. Reichskulturkammer über eine Kunstausstellung in der Münchener Neuen Pinakothek, in der auch Edgar Ende beteiligt ist, heißt es, dass Ende im glorreichen Dritten Reich zu den Entbehrlichen gehöre. Das bedeutet, keine Bilderverkäufe mehr, neue Armut, der Fall in eine tiefe Depression und das schlägt natürlich auch auf das sowieso angespannte Eheverhältnis. Die Mutter lernt Heilgymnastik und bringt damit die Familie über die Runden. Oft genug hört Michael jetzt den Vater die für ein Kind unseligen Worte sagen: „Wir hätten kein Kind haben dürfen.“ Es ist schwer für ein Kind zu wissen: Sie bleiben nur meinetwegen zusammen, ich darf nicht versagen, sonst gehen sie auseinander. Jahrelang hat Michael Ende so für die Ehe seine Eltern gekämpft, begütigt, verteidigt, vermittelt, solange, bis er seine Eltern wieder miteinander versöhnen konnte. Das führte ihn selber immer stärker dazu, sich in eine eigene Phantasiewelt hineinzuflüchten, in eine Welt ohne keifende Erwachsene. Aber er war kein versponnener Phantast, sondern es war die dauernde Angst vor der brüchigen Realität des Elternhauses, die ihn in seiner Phantasie dann und wann Ruhe und Erholung finden ließ. Für eine Schulkarriere sind solche Verhältnisse natürlich nicht gerade förderlich. Michael Ende wurde ein schlechter Schüler. „Der Junge hat zuviel Phantasie, er lebt in einer anderen Welt,“ kritisieren seine Lehrer. Noch in Michael Endes „Unendlicher Geschichte“ wird seine Abscheu vor dem bloßen Buchstabenwissen deutlich, dem öden mechanischen Lernen. Das Grauen vor der Schule verfolgt Michael Ende sein ganzes Leben über. Wenigstens findet er in der Schule Freunde. Da ist Willi, der Sohn des Zigarrenhändlers um die Ecke. Willi ist klein, dick und unsportlich. In der Schule wird er gehänselt und verspottet. Mit ihm verbündet sich Michael. Die beiden Außenseiter gründen einen Geheimbund nach dem anderen und jagen unsichtbare Feinde in den Straßenschluchten Schwabings. Mit 8 Jahren stirbt Willi an einer Lungenentzündung. Zum erstenmal erlebt Michael den Tod ganz nahe als er am offenen Sarg des Freundes steht. Er wird ihn nie vergessen und ihm später ein literarisches Denkmal setzen. Willi und Bastian, der dicke braunhaarige Junge aus der „Unendlichen Geschichte“ sind identisch, es ist das Portrait des toten Kindheitsfreundes. Mehr Glück hat er mit einem anderen Schulfreund, Peter Horn. Der erweckt in Michael eine ungebremste und lebenslange Liebe für Tiere aller Art. In der kleinen Dachgeschoßwohnung der Endes fliegen bald Wellensittiche und Finken frei herum, in der Ecke steht ein Terrarium. Die Begeisterung der Eltern hält sich in Grenzen, aber sie lassen den Sohn gewähren. Nur das Experiment mit Fischen mißlingt. Michael kauft für sein Taschengeld ein Dutzend dieser Flossentiere, um eine alte Blechwanne in ein Aquarium umzufunktionieren. Es ist Winter und in der Dachwohnung kann es bitter kalt werden. Michael befürchtet, dass das Wasser in der Wanne zugefrieren könnte. Also stellt er die Nacht über einen Spirituskocher unter die Wanne. Das hätte er besser nicht tun sollen. Am Morgen waren die Fische gekocht. In Schwabing bildeten die Künstler und Schriftsteller 1937 immer noch eine besondere Gesellschaft. Man las sich gegenseitig seine frischverfassten Gedichte vor oder stellte die eigenen unverkäuflichen, da ja entarteten Bilder vor. Man diskutierte nächtelang über Gott und die Welt. Aber die andere Welt, die des 3. Reiches, ließ sich nicht dauernd aussperren. Michael Ende erlebte mit, wie die Bewohner des jüdischen Altenheimes in seiner Straße am hellichten Tag an den Haaren in Lastwägen gezerrt und abtransportiert wurden. Auch Adolf Hitler selber sah er. Der kam 1935 nach München, wo in einer theatralischen nächtlichen Feier der Märtyrer der NS-Bewegung gedacht wurde. Damals, sagt Michael Ende, habe er gespürt, was schwarze Magie vermag; seitdem sei ihm alles Heroische und Heldenverehrende verdächtig gewesen. Zu Beginn des 2. Weltkrieges schaffte Ende den Sprung aufs Gymnasium. Als die Zeit der Luftangriffe auf München begann, wurden die Schüler aufs Land evakuiert und dort der Unterricht behelfsmässig weitergeführt. Der Vater war mittlerweile zur Wehrmacht eingezogen worden, die Mutter kämpfte daheim weiterhin ums tägliche Überleben. 1944 wurde Schwabing von Bomben verwüstet. Auch die Wohnung der Endes ging in Flammen auf und mit ihr fast das gesamte künstlerische Werk Edgar Endes, darunter alleine 300 Ölgemälde. Michael Ende sollte wie viele 15-Jährige noch eingezogen werden. Ein SS-Offizier warb unter den 15Jährigen Schülern Freiwillige für die Waffen-SS – und das im Frühjahr 1945! Als Ende aufgefordert wurde, sich zu melden, bekam er eine Eingebung. Das ginge nicht, das könne er mit seinem späteren Beruf nicht vereinbaren. Was er den werden wolle, fragte der SS-Offizier. „Pfarrer!“ antwortete Ende forsch. Mit angewidertem Gesicht ließ ihn der SS-Offizier stehen. So ging der Krieg dann auch für Michael Ende zu Ende. Am 30. April 1945 marschierten amerikanische Truppen in München ein. Nach dem Krieg begann für Michael Ende ein vollkommen neuer Lebensabschnitt. Der Vater kehrte aus der Kriegsgefangenschaft zurück. Die wiedervereinte Familie schlug sich wacker durch Schwarzmarktzeiten und Wohnungsnot. Von Bekannten und Freunden eingeladen, erlebt die Familie Ende damals in einer vom Krieg unbeschädigten Wohnung in ihrer alten Wohngegend den ersten Gottesdienst der nun wieder öffentlich auftretenden „Christengemeinschaft“. Die Christengemeinschaft ist der religiöse Flügel der sich auf Rudolf Steiner berufenden anthroposophischen Weltanschauung. Ihren pädagogischen Ableger kennen die meisten von Euch sicher besser – die Walddorfschulen; und auch den biologisch-heilkundlichen Bereich mit Firmen wie Weleda und Demeter oder in unserer Nähe die anthroposophisch ausgerichtete Filderklinik. Rudolf Steiner hat 1912 die Anthroposophie begründet. Sein Anliegen – er wollte dazu befähigte Menschen durch eine „Geheimschulung“ zu einem „geistigen Schauen“ bringen, durch das die höheren Welten so unmittelbar wahrgenommen werden, wie die körperlichen Dinge durch unsere Sinnesorgane. Dabei sind auch die Dinge der Körperwelt nichts anderes als verdichtete Geist- und Seelengebilde. Das führte Steiner dazu, die Reinkarnation des Menschen anzunehmen, also die Wiederverkörperung des Menschen in einem anderen Leben. Hier nahm er Anleihen am buddhistischen Karmadenken, wonach die Früchte meines jetzigen Lebens die Art und Weise meines nächsten Lebens bestimmen. Das wiederholt sich solange, bis die Seele sich endgültig von allen physischen Elementen befreit hat. Steiner hat dies nun nicht als eine Glaubenshaltung formuliert, sondern dieses Denken als eine wissenschaftliche Weltanschauung begriffen. Er entwickelte daraus eine eigene Erkenntnistheorie, aus der sich als eine Aufgabe für die Anthroposophie ergibt, die im Denken angelegten Fähigkeiten der Inspiration, der Intuition und der Imagination zu pflegen und zu fördern. Die Kunst und das künstlerische Leben überhaupt gehören für die Anthroposophie daher zu einem wesentlichen Mitbestandteil unseres Denkens, unserer Wissenschaft und unserer Gesellschaft. Das Verhältnis von Anthroposophie und Christentum ist schwierig. Viele Anthroposophen sehen sich als ganz normale Christen. Aber zwischen der Christengemeinschaft und den christlichen Kirchen gibt es bis heute Probleme. Das liegt vor allem an den unterschiedlichen Basics. Die Christengemeinschaft lehnt die Lehre von der Trinität Gottes als des Vaters, des Sohnes und des Geistes ab, schließt sich also nicht dem allgemeinverbindlichen Taufverständnis an. Die Lehre von der Auferstehung wird von ihr durch die Reinkarnationslehre ersetzt, die nun alles andere als christlich ist, weil damit der Kern der christlichen Lehre, nämlich Kreuz und Auferstehung als Grund der Erlösung des Menschen durch Gott hinfällig wird. Gerade um die Person Jesu Christi gibt es in der Anthroposophie weitere recht problematische Sonderlehren, bis hin zur Existenz eines Zwillingsbruders Christi. Das Konglomerat von buddhistischen, christlichen, gnostischen, pseudowissenschaftlichen, magischen und okkulten Elementen, dazu die Tendenz zur Selbsterlösung des Menschen, alles das gehört zu den trennenden Punkten und trägt der Anthroposophie oftmals den Vorwurf ein, im Endeffekt nur ein Mischmasch aus den verschiedensten Elementen der Weltreligionen, aber kein eigenständiges religiöses Denken zu sein. Michael Ende hat sich nun von dieser ersten Begegnung mit der Anthroposophie an sehr intensiv auch mit den Schriften Rudolf Steiners beschäftigt. Auch der Religiosität seiner Mutter kamen die Lehren der Christengemeinschaft entgegen. Dazu kam, was kleine religiöse und weltanschauliche Gruppen immer auszeichnet, eine große Solidarität untereinander. Auch den Endes wurde jetzt von Münchner Mitgliedern der Christengemeinschaft geholfen und sie bald dazu gezählt. Und nun – die erste ganz große Liebe Michael Endes, Wiltrud, war ebenfalls Anthroposophin. Beide sangen sie im Chor der Christengemeinschaft und schlossen sich deren Jugendkreis an. Es wird heftig diskutiert, ob Michael Ende nun selber auch überzeugter Anthroposoph gewesen ist. Tatsächlich ist Michael Ende Zeit seines Lebens der Anthroposophie und der Christengemeinschaft sehr nahe gestanden. Auf seinen eigenen Wunsch hin wird er am Ende seiner Krankheit hier nach Stuttgart in die Filderklinik gebracht und stirbt dort auch.. Ende kannte Steiners Schriften, aber er hatte auch einen Hang zu anderen esoterischen Lehren. Er beschäftigte sich mit den Schriften der christlichen Mystiker, der Rosenkreutzer, der jüdischen Kabbala, mit Swedenborg. Die Anthroposophie ist ein prägendes Element für Michael Endes Denken geworden, aber er beschränkte sich nicht auf sie. Sie war für ihn Teil eines umfassenderen christlichen Selbstverständnisses. Und dann gab es auch innerhalb der Christengemeinschaft für Ende nicht nur eitel Freude. Die Eltern der heißgeliebten Wiltrud entschieden sich für einen anderen Schwiegersohn und Wiltrud gehorchte. Der enttäuschte Liebhaber war verzweifelt und bedrängte weiterhin seine Angebetete. Da fand Wiltruds Mutter eine praktische Lösung. Sie bestach Michael mit einem Bildungsangebot. Die nächste Waldorf-Schule gab es in Stuttgart. Dorthin sollte Michael ziehen, also weg von Wiltrud, und deren Mutter würde ihm das komplette Schulgeld bis zum Abitur bezahlen. 1947 kam Michael Ende also nach Stuttgart. Er mietete sich im Stuttgarter Westen, in der Klopstockstraße ein (Parallelstraße zur Rosenbergstraße). Von dort fuhr er täglich zur Schule in die Haußmannstraße. Die Wunde, geschlagen aus Wiltruds Untreue und enttäuschter Liebe blieb natürlich offen. Sein bislang noch kindliches Vertrauen gegenüber anderen Menschen war dahin. Gefühle konnten verraten werden, Liebe konnte unehrlich sein. Wohl in einer Art Trotzreaktion verwandelte sich Ende zum Frauenhelden. In der friedlichen Stuttgarter Walddorfschule war man entsetzt. Das ein Schüler Frauenaffairen hatte, galt als Skandal. Auf der anderen Seite begann sich Ende nun aber auch auf seine eigentlichen Talente zu besinnen. Was konnte er eigentlich wirklich gut? Malen, Dichten, Theaterschreiben? Es begann für ihn eine lange Experimentierphase mit sich selber. So suchte er nun auch in Stuttgart nach dem, was er aus München-Schwabing her kannte, nämlich die Kunstszene. Aber da konnte er in Stuttgart so kurz nach Kriegsende lange suchen. Aber er geriet in die „American Library“, die nicht nur hübsche Bibliothekarinnen bereit hielt, sondern den Deutschen auch die über die Zeit des Dritten Reiches vorenthaltene amerikanische, europäische und deutsche Exilskultur. Jean-Paul Sartre, Thornton Wilder, Albert Camus, Ernest Hemingway, aber auch Thomas Mann und Franz Werfel – Michael Ende fräste sich geradezu durch die Gegenwartsliteratur. Mit Gleichaltrigen, die ähnlich dachten, gründete Michael Ende eine Theater-AG, um auch den Stuttgartern die so lange verbotene Weltliteratur nachzureichen. Er trat selber einmal in dem Einakter „Der Bär“ von Anton Tschechow auf und hatte damit viel Erfolg. Das lag vor allem an zwei Punkten seines Auftritts. Das Sofa, in das er sich während eines Monologs hineinfallen ließ, brach unter ihm zusammen, was das Publikum als gelungene Inszenierung interpretierte und als er am Schluß der Vorstellung seine Partnerin küsste, klebte sein Bart plötzlich auf deren Oberlippe. Vor allem ein älterer Zuschauer lachte geradezu Tränen. Das war der erste Kontakt Michael Endes mit dem großen Maler Willi Baumeister, damals der avantgardistische der führenden Maler in Deutschland. Er bestärkte Ende, auf seinem künstlerischen Weg weiterzumachen. So veröffentlichte Michael bald seine ersten dichterischen Früchte in der „Esslinger Zeitung“, während es seine Theaterstücke leider nicht zu einer Aufführung brachten. Zwischen wechselnden Liebschaften und künstlerischen Versuchen machte er übrigens auch nebenbei das Abitur. Damit konnte er Stuttgart wieder Richtung München verlassen und einem entsetzten Vater eröffnen, dass er Künstler werden wolle. „Nicht noch ein Hungerleider in der Familie“, stöhnte der Vater, war aber selber ein schlechtes Vorbild in Sachen realistischer Lebensführung. So bewarb sich Michael Ende 1949 mit einem Hamletmonolog an der berühmten Münchener Otto-Falckenberg-Schauspielschule und wurde auch angenommen. Das war ein riesiger Erfolg, denn die Falckenberg-Schule zählte und zählt bis heute zu den bedeutendsten Schauspielschulen der Theaterwelt. Hier lernte Ende nun von der Pike auf alles, was zum Theater dazugehört, angefangen vom richtigen Gehen, Sprechen und Stehen bis zum Fechten. Und er lernte wichtige Leute kennen, nette Schaupielerkolleginnen natürlich, aber auch gute Kollegen und große Regisseure. Bertold Brecht inszenierte persönlich 1950 in München seine „Mutter Courage“ und Ende spielte zusammen mit anderen Falckenberg-Schülern in Nebenrollen. Dazwischen fiel Michael Ende immer wieder in ein seelische und künstlerische Löcher, besoff sich, diskutierte nächtelang mit Freunden und hatte Affären. Es drohte einmal sogar der Rausschmiß aus der FalckenbergSchule wegen erwiesener Faulheit. Im Nachhinein war es wohl die Ratlosigkeit Endes, was wirklich seine künstlerische Stärke war, die ihn so umtrieb. War wirklich das Theater seine Welt, die Schauspielerei oder steckte doch der Schriftsteller und Dichter in ihm? Immerhin konnte er dann doch 1951 die Falckenberg-Schule erfolgreich abschließen, aber sehr bald hatte er von Auftritten an irgendwelchen Provinztheatern die Nase voll. Er beschloß, dem Theater zu entsagen, um sich in München als freier Schriftsteller niederzulassen. Zum Einstieg schrieb er eine Komödie: „Der Sultan hoch zwei“ Ein orientalischer Herrscher läßt sich von einem Puppenmacher zwei Doppelgänger anfertigen und weiß am Ende selbst nicht mehr , wer von den dreien er ist. Ende lud sämtliche Münchener Literaturkritiker in die Wohnung seiner Eltern ein, dazu Dramaturgen, Theaterleiter und Sachverständige. Kurzum jeden, der in München irgend etwas mit Theater zu tun hatte. Schon mit Rücksicht auf den mittlerweile in der Kunstszene wieder hoch angesehenen Vater Edgar kamen auch alle. Man saß, man unterhielt sich, nippte am Cognac und aß Schnittchen. Dann trat Michael vor, bat um Aufmerksamkeit und begann sein Stück vorzulesen. Er las und las. Schließlich endete er erwartungsvoll. Stille. Dann griffen die Gäste wieder zum Glas und setzten ihre Unterhaltungen genau an der Stelle fort, an der Michael sie anderthalb Stunden zuvor unterbrochen hatte. Und nie hat einer – außer dem Autor – je ein Wort über das Stück vom Sultan verloren, bis heute nicht. 1952 traf Michael Ende dann auf einer Münchener Party eine Frau, die seinem Leben eine andere Wendung geben sollte. Das war die Schauspielerin Ingeborg Hoffmann, einer der gefeiertsten Theaterschauspielerinnen Münchens der damaligen Jahre, die auch häufig in Radiohörspielen zu hören war. Ingeborg Hoffmann, auch sie das Ergebnis ziemlich neurotischer Eltern, ist 8 Jahre älter als Michael Ende, hatte stets konfliktreiche Beziehungen zu männlichen Partnern und war sowohl als Schauspielerin wie als Mensch überall gefürchtet, weil sie nie ein Blatt vor den Mund nahm, niemals Kritik diplomatisch verpackte, sondern sich stattdessen dauernd mit Regisseuren und Theaterintendanten über ihre Rollen stritt. Sie galt als hervorragende, aber extrem schwierige Künstlerin, war abergläubisch wie ein altes Weib und haßte Parties. Michael Ende war spontan von dieser Frau begeistert. Er erkannte, dass die Kunst für diese Frau ebenso eine Existenzfrage war, wie für ihn. Im Künstlerischen kannten beide keine Kompromiße. Das machte ihn umgekehrt auch für Ingeborg Hoffmann zu einem gleichwertigen Partner. Sie war von Endes literarischen Versuchen begeistert und drängte ihn dazu, sich auch im Romanschreiben zu versuchen. Zum erstenmal traf Ende auf einen Menschen, der an ihn und sein schriftstellerisches Können glaubte und ihn darin bestärkte. 12 Jahre sind die beiden von da an miteinander befreundet. Ingeborg Hoffmann bekommt mittlerweile keine Engagements mehr, weil sich kein Regisseur mehr mit ihr herumärgern will. Nach 12 Jahren heiraten Michael Ende und Ingeborg Hoffmann. Die Ehe verläuft turbulent wie man es von zwei nicht eben einfachen Charakteren auch nicht anderst erwarten mag. Da Ingeborg einer tiefen Italiensehnsucht frönt, orientiert sich Michael Ende immer stärker Richtung Süden. Geheiratet wird in Rom, später lassen sich beide in einem kleinen Ort am Rande der Albaner Berge nieder, in Genzano di Roma, 25 km südlich von Rom. Dort erleben sie Michael Endes wachsenden Ruhm als Buchautor und auch die Nebenfolgen solchen Ruhms. Deutsche Fans blockieren die Einfahrt zum Haus, klettern über die Gartenmauern, um den berühmten Schriftsteller zu sprechen oder erwarten, in seinem Garten zelten zu dürfen. Ingeborg Hoffmanns Ruhm ist da schon verblaßt, aber sie nimmt teil an Michaels Ruhm. Der geschulten Schauspielerin liest er seine Stücke vor und sie kritisiert messerscharf, wenn Sätze zu lang sind, zu kompliziert oder nicht einprägsam. Sie erkennt jede Schwachstelle. Was Michael Endes Bücher so lesbar auch für Kinder macht, ist das Faktum, dass man sie vorlesen kann. Dafür aber sorgt Ingeborg Hoffmann. Als sie 1985 stirbt, ist das zugleich auch der Anfang des letzten Lebensjahrzehnts von Michael Ende. Er weiß das zwar noch nicht, er weiß nur, dass Ingeborg eine riesige Lücke in seinem Leben zurücklässt. Während Michael Ende 1952 die Frau fürs Leben fand, ging die Ehe seiner Eltern endgültig in die Brüche. Der Vater verliebte sich in eine junge Kunststudentin und zog aus. Die Mutter unternahm daraufhin mehrere Selbstmordversuche und wieder war der Sohn der einzige Rettungsanker, der sie am Leben erhielt und für sie sorgte. Das konnte er in Bezug auch auf die finanzielle Seite nicht zuletzt nur dank Ingeborgs Hilfe. Die damals einflußreiche Schauspielerin brachte Ende beim Bayerischen Rundfunk als freien Mitarbeiter unter. Dort schrieb er fortan Filmkritiken. Seine liebsten Filme waren Western und Gruselfilme. Ebenfalls durch Ingeborgs Hilfe konnte Ende Beziehungen zu verschiedenen Münchner Kabaretts knüpfen, für die er Sketche und andere Nummern schrieb. 1956 schickte der Bayerische Rundfunk Ende und einen Kollegen bewaffnet mit einer Filmkamera auf eine Studienreise nach Italien. Seit kurzer Zeit gab es das Deutsche Fernsehen und die beiden sollten Aufnahmen für eine Italienreportage erstellen. Bis nach Sizilien zogen die beiden und dort, in Palermo hatte Ende ein einschneidendes Erlebnis, das ihn wieder in die Phantasiewelt seiner Kindertage zurückführte. In einem städtischen Park in Palermo traf Ende nämlich auf die Cantastori. Das sind professionelle Märchenerzähler. Einer dieser Erzähler, umlagert von einer großen Menge andächtiger Zuhörer redete in Prosa und erzählte mit vielen Gesten eine ungemein komplizierte aber hochdramatische Geschichte. Der Mann erzählte den ganzen Nachmittag und die zuhörende Menge wuchs. Ende kam die Geschichte irgendwie bekannt vor, konnte sie aber nicht genau einordnen. Als der Erzähler fertig und die Menge sich verlaufen hatte, kam Ende mit dem Cantastorie ins Gespräch. Was das für eine Geschichte gewesen sei. Der Sizilianer zuckte mit den Achseln. Eine alte Geschichte. Schon sein Vater hatte sie erzählt und vorher der Großvater. Der habe sie von einem Schriftsteller übernommen namens Alexandre Dumas. Für Ende war es nun klar, so erzählte er später diese Begegnung – solche Geschichte mußte man schreiben, Geschichten, die nach 100 Jahren noch – unter Umständen in einer anderen Sprache und inhaltlich variiert – Menschen wiedererzählt wurden, die ihnen andächtig zuhörten. Es kam nicht darauf an, Geschichten zu schreiben, die von Kritikern bejubelt wurden. Es ging nicht darum, Intellektuelle und Ästheten mit Erzählungen in einer funkelnden Sprache zu bedienen. Es kam viel mehr darum an, die Träume der Menschen in die rechten Worte zu fassen und zu schildern, was sie selber in sich trugen, nämlich ihre eigene und mitunter völlig verschüttete Phantasie. Und das mußte so erzählt werden, dass jeder es in sich aufnehmen konnte wie ein Kind – wenn er nur guten Willens war. Etwa 1956, so gab Ende später an, traf er in Schwabing auf einen ehemaligen Schulkameraden, der mittlerweile als Graphiker tätig war. Der Name jenes Menschen ist Ende entfallen, obwohl wir diesem Mann dankbar sein müssen. Er fragte Ende nämlich: „Ich höre, Du bist Schriftsteller geworden. Wie wärs denn einmal mit einem Text, aus dem wir beide ein Bilderbuch machen können?“. Ende ging nach Hause, setzte sich an den Schreibtisch und begann ohne groß nachzudenken mit einem ersten Satz: „Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, hieß Lummerland“. Ende hatte keine Idee, wie es weitergehen sollte, hatte keinen Aufriß, keine Skizze. Aber genau dieses Schreiben ins Blaue hinein, so Ende, habe ihm besonderen Spaß gemacht. Nachdem er sich jahrelang mit den kompliziertesten Theatertheorien habe auseinandersetzen müssen, habe dieses spielerische Vorgehen wie eine Befreiung für ihn gewirkt. Kindern eine Geschichte zu erzählen, erklärte Michael Ende, habe ihm die Unbekümmertheit beim Schreiben zurückgegeben. Und so hangelte er sich nun von Satz zu Satz weiter, beschrieb die Insel Lummerland und seine Bewohner, brachte das geheimnisvolle Postpaket ins Spiel, aus dem der kleine Jim Knopf kletterte und so ging es weiter. Manchmal hatte er Jim Knopf und Lukas in eine solch haarsträubende Situation hereingeführt, dass er wochenlang brauchte, um einen glaubwürdigen Ausweg zu finden. Einfach solche Szenen streichen und neu beginnen, das kam für Ende nicht in Frage. Nach einem Jahre hatte er 500 Seiten zusammen. Ingeborg und Freunde, die das Manuskript lasen, drängten zur Veröffentlichung. Ende schrieb an 10 deutsche Kinder- und Jugendbuchverlage. Aber einer nach dem anderen sagte ab. Das Buch sei für Kinder nicht geeignet, es sei zu lang, es passe nicht ins Programm, es sei keinesfalls so toll, dass es gedruckt werden müßte, das waren die jeweiligen Antworten. Ein Bekannter empfahl ihm schließlich noch den Stuttgarter Thienemann-Verlag und endlich kam eine Zusage. Die 500 Seiten mußte er freilich teilen und zwei Bücher daraus machen. 1960 erschien der erste Band unter dem Titel: „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer.“ Der Verkauf lief schlecht und 1961 stand Michael Ende vor dem wirtschaftlichen Ruin. Erst im Sommer 1961 platzte der Knoten, als eine Jury Endes „Jim Knopf“ mit dem „Deutschen Jugendbuchpreis“ auszeichnete. Das war gleichzeitig mit einer recht hohen Preissumme verbunden und natürlich gingen jetzt die Verkaufszahlen rapide in die Höhe. Von einem Tag auf den anderen wurde Michael Ende berühmt. Funk, Fernsehen und Wochenschauen berichteten. Es folgte eine triumphale Lesereise quer durch die Bundesrepublik. Die Popularität wuchs, vor allem als das Fernsehen das Buch mit der Augsburger Marionettenbühne in einem Fünfteiler verfilmte. „Jim Knopf und die Wilde 13“ folgten 1962 und wurden sogleich auch zum Renner. Die erste Existenzphase des Michael Ende war vorüber. Es begann im Sinne des Wortes der zweite Teil seines Lebens. Ende avanvierte fast schlagartig zum erfolgreichen Autor, hatte zunächst keine Existenzsorgen mehr und bekam in regelmässigen Abständen einen Literaturpreis nach dem anderen. Er veröffentlichte jetzt regelmässig, aber vieles, vor allem die Theaterstücke, erlebte nur wenige Aufführungen oder ging im allgemeinen Literaturbetrieb unter. Jim Knopf-Fans freilich kauften alles, wo Michael Ende als Autor draufstand und damit gelangte Geld in die Kasse. Das Problem war, dass Endes phantastische Literatur in jenen Jahren nicht in den bundesdeutschen Literaturbetrieb hineinpasste. Dort, nach Studentenrevolte, Vietnamkrieg, Aufbegehren gegen verstaubte Zöpfe, hatte nur Erfolg, was sozialkritischen und politischen Bezug hatte. Michael Endes Arbeiten dagegen galten als sog. Fluchtliteratur, als Flucht nämlich aus der tatsächlichen Realität. Die Verärgerung über dieses schablonenhafte Denken in der deutschen Literaturszene ist wohl auch ein Grund dafür, weshalb sich Michael Ende zusammen mit Frau Ingeborg Anfang der siebziger Jahre verärgert nach Italien absetzte. Im Kontakt mit italienischen Künstlern und Schriftstellern und natürlich auch inspiriert von italienischer Kultur und Landschaft überwandt Ende seinen Schreibfrust und begann wieder kreativ zu arbeiten. So konnte er nun endlich 1972 nach sechsjähriger Arbeitszeit seinen zweiten riesigen Bucherfolg beenden „Momo“. Die Grundidee, so Ende, hatte er, als ihm jemand aus Spaß eine alte Taschenuhr ohne Zeiger schenkte. Momo, ein 10jähriges Mädchen lebt am Rande einer italienisch geprägten Großstadt. Sie besitzt die besondere Gabe, Zeit zu haben und zuhören zu können. Auch die Menschen um sie herum leben in einem angemessenen Lebens- und Arbeitsrythmus. Das ändert sich durch das Auftauchen der geheimnisvollen grauen Männer, Vertreter einer Zeitsparkasse, die die Menschen zum Zeitsparen überreden. Je mehr Menschen ihnen folgen, um so hektischer, rücksichtsloser und profitgieriger werden alle. Die den Menschen zugeteilte Zeitblume wird mit der abgestorbenen Zeit der grauen Männer vermischt und vergiftet. Dadurch machen sich Resignation, Depression und Sinnleere breit. Momo nimmt den Kampf gegen die grauen Männer auf und ihre Organisation der „Zeit-Diebe“ auf und kann mit Hilfe von Meister Hora, dem Verwalter der Zeit, den Menschen die gestohlene Zeit wiedergeben. Mit Momo bemühte sich Ende, seinen vor allem jugendlichen Lesern die Gefahren einer Reihe von Zivilisationsschäden aufzuzeigen. Im Gegensatz zu „Jim Knopf“ verstärkten sich in dieser Erzählung die Appelle an die Leser, ein einfacheres und erfülltes Leben zu führen. Auch Endes Skepsis gegenüber einer technologie- und fortschrittsorientierten Gesellschaft wird hier deutlich. Noch sozialkritischer wird der angeblich so einseitige Phantast Michael Ende 1976 mit dem Stück „Das Gauklermärchen“. Ein bankrotter Kleinzirkus erhält von einem Chemiekonzern das Angebot, als dessen Werbeträger durch die Lande zu ziehen. Aber die Zirkusleute sollen sich von Eli trennen, einem behinderten Mädchen, das die Zirkusleute drei Jahre zuvor nach einem Chemieunfall im Straßengraben aufgelesen haben. Die Zirkusleute sind hin- und hergerissen, am Ende aber entscheiden sie sich für Eli und gegen den Pharmakonzern. 1979 schließlich der dritte ganz große und internationale Bucherfolg Michael Endes: Es erscheint „Die unendliche Geschichte“. Bastian Baltasar Bux, ein kleiner, dicker, ungeschickter aber phantasievoller Junge stiehlt im Antiquariat des Herrn Koreander ein Buch mit dem Titel „Die unendliche Geschichte“. Auf dem Dachboden seiner Schule beginnt er darin zu lesen. Er erfährt vom Land Phantasien, das vom Nichts bedroht ist, da auch seine Herrscherin, die Kindliche Kaiserin, schwerkrank ist. Um sie zu retten, wird ein Junge namens Atréju, ausgestattet mit dem Auryn, dem Amulett der Kaiserin, auf die Suche nach einem Heilmittel ausgeschickt. Nach vielen Abenteurern weiß er, dass die Kindliche Kaiserin einen neuen Namen braucht, den ihr nur ein Mensch geben kann. Bastian merkt plötzlich, dass er es ist, der alleine die Kaiserin retten kann, weil er einen neuen Namen weiß. Als Belohnung wird ihm daraufhin jeder Wunsch erfüllt, aber mit jedem Wunsch verringert sich die Erinnerung an die Menschenwelt. Schließlich will Bastian in Phantasien bleiben und selber Kindlicher Kaiser werden. Sein dortiger Freund Atréju vereitelt jedoch diesen Plan, weil er weiß, dass Bastian damit seine Zukunft verspielt. So schafft Bastian dann doch wieder die Rückkehr und findet sich auf dem Speicher wieder. Als er Koreander den Diebstahl des Buches beichten will, erklärt der ihm jedoch: „Du hast mit dieses Buch nicht gestohlen, denn es gehört weder mir noch dir, noch sonst irgend jemandem. Wenn ich mich nicht irre, dann stammte es selber aus Phantasien.“ In der „Unendlichen Geschichte“ greifen Alltag und Phantasie ineinander. Von daher ist der Text auch zweifarbig gedruckt, rot und grün, die jeweils für die in der realen Welt spielenden Rahmenhandlung und die phantastische Binnenhandlung stehen, wobei die Geschichte schließlich völlig in der grünen Farbe der Phantasie mündet. Trotz aller phantastischen Einfälle, die Geschichte folgt dem Muster des bürgerlichen Entwicklungs- und Bildungsromans. Bastian geht einen Weg, der zu seiner seelischen Reife, zur Entfaltung und harmonischen Ausbildung der geistigen Anlagen und der Gesamtpersönlichkeit führt, wobei hier deutliche Anregungen aus der Anthroposophie Rudolf Steiners zu erkennen ist. Bastian lernt, negatives Verhalten zu meiden und nähert sich einem moralischen Konzept, das sich an Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Hilfsbereitschaft und Güte orientiert. Als er den richtigen Weg schließlich selbst gefunden hat, ist er reif für die Bewältigung seines weiteren Alltags. Mit der „Unendlichen Geschichte“ hat Michael Ende zugleich der Gattung des „phantastischen Märchens“ einen festen Platz in der modernen Literatur verschafft. Es galt nun keineswegs mehr als „Fluchtliteratur“, sondern als ein Erzähltyp mit tiefgründigem Problembewußtsein. Ende selber freilich weigerte sich stets, sein Buch zu interpretieren. Nicht, weil er es nicht konnte, sondern weil er der Überzeugung war, dass jeder Leser selber seinen ganz eigenen richtigen Schlüssel für dieses Buch finden mußte. Insofern sei jede gute Interpretation der „Unendlichen Geschichte“ zugleich eine richtige Interpretation. Das bewahrte Michael Ende nun freilich nicht davor, dass die „Unendliche Geschichte“ von vielen gelehrten Menschen wissenschaftlich gedeutet und ausgelegt worden ist. Vor allem Tiefenpsychologen nahmen sich der Erzählung an und begeisterten sich an der reichen Symbolsprache Endes, die nicht zuletzt auch einen Hinweis auf Ende enorme Kenntnis religiöser Mythen, Überlieferungen, Märchen und anderer Literatur zeigt. Solche tiefenpsychologischen Deutungen brachten Michael Ende dann prompt auch scharfe Kritik aus frommen Kreisen ein. Mit der Absicht, Jugendliche eben auf einen Weg der Selbstfindung und Selbstverwirklichung zu führen, untergrabe Ende die christliche Lehre vom Menschen, wonach sich der sündige Mensch grundsätzlich nicht selbst davon befreien könne, sondern auf Erlösung von außen her, durch Jesus Christus, angewiesen sei. Da Ende umgekehrt aber auch von kirchlichen Jugendbuchpreisen überschüttet wurde, schadeten ihm solche Vorwürfe nicht weiter und blieben Einzelstimmen. Endes weiteres Schaffen wandte sich anschließend wieder vor allem dem Theater zu. „Das Gauklermärchen“ habe ich schon erwähnt, genannt werden muß auch das 1984 erschienene Stück „Der Goggolari. Eine bairische Mär“, das als Oper zum Jahr der Musik auf die Bühne kam. Die Geschichte erzählt von einem Kobold Goggolari, der Zaubergewalt über die Natur besitzt, dafür aber mit der Unfähigkeit zu sterben bezahlen muß. Ihm verspricht ein Bauernpaar seine schöne Tochter. Dann aber verweigern sie ihm die Tochter und beauftragen, obwohl sehr kirchlich-fromm, die Dorfhexe, den Kobold aus dem Weg zu räumen. Das geht schief und stattdessen bricht die Pest im Dorf aus. Als das Mädchen die wahren Zusammenhänge erfährt, geht sie freiwillig zum Goggolari und übernimmt dessen ewiges Leben, um damit die Schuld der Eltern zu sühnen. Unrecht, so die Botschaft, muß auch auf Kosten des eigenen Seelenheils beseitigt werden. Eher wieder an Jim Knopf und Momo knüpfte Endes 1989 erschienenes Märchen „Der satan/ archäo/ lügenial/ kohöllische Wunschpunsch“ an, eine humorvolle Parabel auf die Rettung der Erde vor der Ökokatastrophe. Apokalypse und Umweltzerstörung werden zum Stoff, aus dem auch Märchenträume sind. Die Helden der Geschichte sind der gerissene Rabe Jakob Krakel und der gefräßige Kater Maurizio di Mauro. Als Geheimagenten des Hohen Rats der Tiere hindern sie den Laborzauberer Beelzebub Irrwitzer und die punkige Geldhexe Tyrannia Vamperl erfolgreich daran, ihr alljährliches Soll an bösen Taten wie Flüsse verseuchen, Luft verpesten und ähnliches zu erfüllen. Ende versucht hier, das Problem der Umweltzerstörung für Kinder verständlich und nachvollziehbar zu machen. Das Buch ist aber auch für Erwachsene geschrieben, zukünftigen Katastrophen rechtzeitig vorzubeugen. In Endes Märchen – so auch hier – werden aber die Probleme letztlich stets durch ein Wunder gelöst, siegt genregemäß das Gute, getreu dem Glauben Endes, dass die Poesie – und mit ihr die Macht und Kraft der Phantasie und der Liebe – wirksam in den Bewußtseinsprozeß des Menschen eingreifen können. Aufgabe des Schriftstellers ist es demnach nicht, die Probleme der Gesellschaft zu lösen, sondern nur, sie nachvollziehbar zu machen. Von daher kam es aber immer wieder zur kritischen Einwendung gegenüber Ende, dass seine Kritik an gesellschaftlichen Mißständen zu harmlos und in der Form moralisierender Märchen zu stumpf bleibe. Aber wollte Michael Ende wirklich ein Gesellschaftsreformer und Sozialkritiker sein? Auf dem Höhepunkt seines literarischen Ruhms in den achtziger Jahren, bemühten sich auch Vertreter der ökologischen Bewegung und vor allem der Friedensbewegung darum, Michael Ende ins Boot zu holen. Auf vielen der damaligen Friedensmärschen sah man das Buch „Momo“ aus dem Rücksack schauen. 1981 kam es in Endes italienischem Domizil zu einer Diskussion zwischen ihm und Erhard Eppler, dem damaligen Vordenker der SPD, Entwicklungshilfeminister und Kirchentagspräsident. Das Gespräch wurde unter dem Titel „Phantasie, Kultur, Politik“ veröffentlicht. Hier äußerte sich Ende auch über die Funktion von „Momo“: „Es wäre ein völliges Mißverständnis des Buches, zu glauben, mit ihm seien die Fragen der Industriegesellschaft zu lösen. Das wäre auch gar nicht meine Absicht und mein Ziel. Mir war es vielmehr darum zu tun, die Bilder unserer heutigen Umwelt in Innenbilder zu verwandeln, also dasselbe zu machen, was die Märchenerzähler früherer Zeiten mit ihrer Umwelt getan haben. Ich erinnere mich, wie mir in einer Diskussion vorgeworfen wurde, dass ich die Gesellschaft der Ausbeuter als eine Geister- oder Gespenstergesellschaft zeige. Das sei ein Ausweichen vor dem eigentlichen Problem. Man könne doch nun einmal die Ausbeuter in unserer Gesellschaft mit Vor- und Nachnahmen nennen. Ich antwortete damals, dass ich nicht glaube, dass die Problematik, in der wir heute stehen, nämlich die Problematik der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, durch den bösartigen Charakter einiger weniger Ausbeuter zustande käme. Mir ging es darum, ein unmenschliches, antimenschliches System zu zeigen. Ich wollte eben gerade die Moral der Wildwestfilme vermeiden, in denen man alle Bösewichte totschießt. Und dann ist die Welt wieder in Ordnung. Ich wollte stattdessen mit der Momo eine bestimmte menschliche Haltung zeigen, ein Menschenbild, einen Anti-Helden, wenn ihr so wollt. Aber ich habe mir nie eingebildet, die Fragen der Industriegesellschaft mit einer einzigen Geschichte lösen zu können. Ich halte es sogar für ausgeschlossen, eine Geschichte oder ein Märchen zu finden, das eine fertige, konkrete Lösung der Fragen der Industriegesellschaft enthält. Aufgabe des Schriftstellers kann es nur sein, soziales Bewußtsein zu schaffen. Und das hat die Momo ja auf ihre Art bewirkt. Unsere Industriegesellschaft ist kein individuelles, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Deshalb kann sie von keiner einzelnen Momo verändert werden. Aber der Typ Momo kann diese Gemeinschaft herstellen, dieses Netzwerk von Freunden und Gleichgesinnten, die gemeinsam stark genug sind, den Grauen Herren zu begegnen.“ Ende nannte dies an anderer Stelle die Notwendigkeit, in unserer Gesellschaft wieder zu positiven Utopien zu gelangen, zu Ideen, wie eine bessere und gerechtere Zukunft aussehen könnte. Viele Gesellschaftskritiker blieben dagegen bei der Analyse des Bestehenden hängen, um angesichts der anstehenden Probleme dann in eine Art larmoyanter Passivität zu verfallen. In dieser Hinsicht hat sich also Michael Ende sehr wohl auch als ein politischer Schriftsteller verstanden, der da anzusetzen suchte, wo sich zum erstenmal beim Menschen eine Weltsicht bildet, bei den Kindern. Außerhalb seiner Stücke war Ende dem Kapitalismus jedoch nicht gewachsen. So freute er sich zunächst, als 1980 die Verfilmung der „Unendlichen Geschichte“ begann. Ende glaubte fest daran, einen künstlerischen Film drehen zu können. Aber der Produzent Bernd Eichinger („Der Untergang“) und Regisseur Wolfgang Petersen („Troja“) hielten sich nicht an das vereinbarte Drehbuch. Entsetzt stand Ende vor den ersten Filmaufnahmen. Aus seinem Buch sei ein „Comic“ geworden, klagte er, „ein gigantisches Melodram aus Kitsch, Kommerz, Plüsch und Plastik.“ Nichts, von dem, was ihm wichtig war, sei noch erkennbar. Als Ende den Film stoppen will, bekommt er die Macht der Filmindustrie zu spüren. Eichinger, eskortiert von Spitzenanwälten, droht ihm mit einer Millionenklage. Schließlich hat der Film 60 Millionen Dollar gekostet, soviel wie noch keine andere deutsche Filmproduktion. Die will man nicht aufs Spiel setzen. Der Prozeß, auf den sich Ende 1984 einlässt, verliert er dann auch haushoch. In der Urteilsbegründung hält das Gericht fest, dass in der Tat Endes Buch erheblich entstellt worden sei, aber da sich der Film an ein jugendliches Publikum wende, spiele das keine Rolle. Mehr Glück hat Ende mit dem Regisseur Johannes Schaaf, der 1986 „Momo“ verfilmt. Mit diesem Film ist Ende zufrieden, wenn auch nicht besonders glücklich, wie er meint. Der Prozeß um die Verfilmung der „Unendlichen Geschichte“ hat Ende viel Kraft und Leidenschaft gekostet. Wohl zuviel. Während die äußeren Ehrungen noch weitergehen, kann er die privaten Schläge nicht mehr verkraften. Ein Jahr, 1985, später stirbt die geliebte und wichtige Ehefrau Ingeborg. 1988 erfährt Michael Ende, dass ihn sein Steuerberater nicht nur um sein Vermögen betrogen, sondern in seinem Namen auch Millionenschulden gemacht hat. Ende ist Bankrott. Nur mit Hilfe von Freunden hält er sich über Wasser. Es gibt auch kleine Lichtblicke: 1989 heiratet Michael Ende ein zweitesmal, nämlich seine langjährige japanische Bekannte und Übersetzerin seiner Bücher ins Japanische, Mariko Sato. Und immer noch ist Ende produktiv. Fast jedes Jahr veröffentlicht er eine grössere Arbeit und fast alle werden von irgendeiner Seite her mit einem Literaturpreis gewürdigt. 41 nationale und internationale Preise sind es schließlich. Nur die seriöse deutsche Literaturkritik nimmt davon kaum Notiz. Die Literaturpäpste ignorieren Ende. Er liefert dafür die Erklärung: „Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten, aus der Gefängnistür, aus der Irrenhaustür oder aus der Bordelltür. Nur aus einer Tür darf man nicht kommen, aus der Kinderzimmertür.“ Wenn die Literaturkritiker Ende überhaupt einmal erwähnen, dann sprechen sie, so wieder Ende, „mit säuerlicher Miene vom Phänomen Ende“, doch eine wirkliche literarische Auseinandersetzung mit seinem Werk bleibt aus. Seit 1992 ist es Michael Ende bewußt, dass er schwer krank ist. Diagnose Krebs. Noch zwei Jahre Leiden hat er vor sich, erlebt auch noch an seinem 65. Geburtstag die Fülle von Glückwünschen aus aller Welt, viele Wünsche auch von Kindern. Michael Ende stirbt am 28. August 1995, hier ganz in der Nähe, in der Filderklinik. Er wird in München begraben. Eine vollgültige und umfassende Würdigung vom Denken Michael Endes steht noch aus. Er war einer der einflussreichsten deutschen Jugendbuchautoren der Literaturgeschichte, aber er war eben auch noch sehr viel mehr. Er hat unzählige Kinder zum atemlosen Mithören, Mitlesen und Mitlachen veranlasst – und doch ziehen sich durch viele seiner Stücke auch sehr traurige Untertöne. Er war ein radikaler Utopist, ein Meister des geschriebenen Wortes, ein Phantast mit unendlichem Tiefgang, ein Schriftsteller mit Blick für die Schwachstellen unserer ökonomisch-technisch bestimmten Gesellschaft, ein großer Humanist und in ihm lebte eben immer auch ein Stück Jim Knopf, Lukas, Momo, Bastian und wie die Anti-Helden in seinen Stücken noch so heißen. Zum Schluß noch einmal Michael Ende: „Ein sehr kurzes Märchen“ „Hänsel und Knödel, die gingen in den Wald. Nach längerem Getrödel rief Hänsel plötzlich: ‘Halt!’ Ihr alle kennt die Fabel, des Schicksals dunklen Lauf: Der Hänsel nahm die Gabel und aß den Knödel auf.“ Tilman Schröder, 3. November 2004, http://www.uni-stuttgart.de/esg/zettelkasten/Ende.pdf 40 Jahre Momo Ein Märchen wird erwachsen Michael Ende erzählt mit Momo eine Geschichte vom Verlust der Lebenszeit sowie der verlorenen Fähigkeit des gegenseitigen Zuhörens. Mit diesem Roman hat er bereits vor 40 Jahren eine treffende Beschreibung unserer heutigen gesellschaftlichen Situation geschaffen. Bild: SAT.1 BAYERN Generationen von Kindern wuchsen mit den Geschichten Michael Endes auf. Kaum ein Kind, das nicht mit Bastian Baltasar Bux durch Phantasien gereist wäre, oder mit Jim Knopf und seinem Freund, dem Lokomotivführer Lukas, Abenteuer auf Lummerland erlebt hätte. Im August 1973 erscheint Michael Endes „seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte“. Das Buch Momo wird in mehr als 40 Sprachen übersetzt und weltweit über 9 Millionen Mal verkauft. Es ist damit eines der hundert meistgelesenen Bücher der Welt. Michael Ende erzählt mit Momo eine Geschichte vom Verlust der Lebenszeit sowie der verlorenen Fähigkeit des gegenseitigen Zuhörens. Mit diesem Roman hat er bereits vor 40 Jahren eine treffende Beschreibung unserer heutigen gesellschaftlichen Situation geschaffen. Im Hintergrund der Erzählung stehen Endes wenig beachtete Überlegungen zum herrschendes Finanzsystem, die den Schriftsteller über Jahrzehnte hinweg tief beschäftigt haben. 13 Jahre nach Erscheinen des Buches bestätigte Michael Ende in einem Briefwechsel mit dem Ökonomen Werner Onken dessen Vermutung. Michael Ende schrieb: „Ich freue mich sehr, dass Sie mein Buch so gut verstanden haben. (…) Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, dass die Idee des alternden Geldes im Hintergrund meines Buches Momo steht …“ In den letzten Jahren seines Lebens beschäftigte sich Michael Ende besonders intensiv mit ökonomischen Themen. In seiner Rolle als Kinderbuchautor wurde er mit diesem Thema in der deutschsprachigen Öffentlichkeit jedoch kaum ernstgenommen. Der Film zeichnet ein Mosaik von Begegnungen mit Menschen aus dem engen Freundeskreis Michael Endes, die sein Schaffen und sein Anliegen kannten und die Quelle seiner Motivation beschreiben können. Wir treffen unter anderem Roman Hocke, Freund und langjähriger Lektor Michael Endes, Friedrich Hechelmann, Illustrator und enger Freund, den Ökonomen Werner Onken sowie weitere Weggefährten, die sich mit den übergreifenden Themen des Buches Momo, persönlich oder wissenschaftlich auseinandersetzen. Und wir treffen Michael Ende selbst, in einem bis jetzt in Deutschland unveröffentlichten Interview über den Einfluss von Geldsystemen auf Gesellschaft und Umwelt, das der Schriftsteller einem japanischen Filmteam zwei Jahre vor seinem Tod gab. http://www.sat1bayern.de/news/20130530/lebensformen-40-jahre-momo/ Was Michael Ende in “Momo” unnachahmlich aufzeigt: Lebenszeit ist entweder Herz-Zeit oder verlorene Zeit. 24. Dez. 2010, von Johannes Klinkmüller Was Michael Ende mit seinen inneren Augen sah und was eine Realität menschlichen Seins ausmacht, ist die Existenz von grauen Eminenzen, von Grauen Herren, wie er sie nennt, die in der Lage sind, den Menschen ihr Leben auf Erden schon zur Hölle zu machen. Wie viele Herzinfarkte oder andere Krankheiten Menschen ihnen zu “verdanken” haben, ist bisher noch von keinem schlauen Wissenschaftler errechnet worden. Aber ihre Zahl mag Legende sein. Und jeden Tag kommen Todesopfer und am Leben schwerst Verletzte hinzu. Um die Existenz der Zeitsparkasse und dass sie sozusagen die schreckliche Heimat der Grauen Herren ist, geht es Michael Ende zum einen. Zum anderen aber geht es ihm vor allem um die Folgen ihrer Existenz. Und das zeigt er auf berührende Weise an Momo und insbesondere an der Veränderung Girolamos auf. Darauf im Detail einzugehen, würde den Rahmen dieses Post sprengen, nur so viel: Wer Momo noch nicht gelesen hat, hat unendlich viel versäumt: eines der Geheimnisse menschlichen Seins. Was Michael Ende nicht tut und auch im Rahmen dieses Romans nicht leisten kann: Er kann aus religiöser, mythologischer und physikalischer Sicht nicht darauf eingehen, warum es Zeit gibt und dass es eine Existenz menschlichen Seins außerhalb von Raum und Zeit gegeben hat und gibt. Wie interessant und zugleich anspruchsvoll das Phänomen Zeit ist, mag die Aussage Einsteins belegen: “Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nur eine Täuschung, wenn auch eine hartnäckige.” Kann es sein, dass sich tief in unserem Inneren diese drei Dimensionen der Zeit vereinen und dass wir auf dem Grund jenes Brunnens, von dem Hugo von Hoffmannsthal in »Weltgeheimnis« spricht, ihre Vereinigung finden? Kann es sein, dass es Zeit nur gibt, damit wir als Menschen auf unserer Erdenreise ein neues Bewusstsein unseres Seins entwickeln können? Auf beide Fragen ein klares Ja. Wer sich dem Phänomen der Zeit aus physikalischer Sicht nähern möchte, einer Physik allerdings, deren Grenzen zur Metaphysik notwendig fließend sind, sei Paul Davis Buch »Die Unsterblichkeit der Zeit. Die moderne Physik zwischen Rationalität und Gott« empfohlen. In diesem Buch gibt es sogar ein eigenes Kapitel mit der Überschrift »Rückwärts in der Zeit«. Michael Ende kann es kaum gelesen haben, und doch nähert sich Momo – und es geht ja nur auf diese Weise – Meister Hora rückwärts! Wer sich aus psychologischer und mythologischer Sicht dem Phänomen Zeit nähern möchte, sei der nur noch antiquarisch erwerbbare Text-Bildband der Jung-Schülerin Marie-Louise von Franz empfohlen, überschrieben »Zeit. Strömen und Stille«. Sie stellt Zeit als etwas dar, was es schon immer war: Gottheit und Ereignisstrom. In einem abschließenden Kapitel beschäftigt sie sich mit dem Thema »Jenseits der Zeit«. Für mich sind Raum und Zeit untrennbar mit dem Es werde Licht der Gottheit verbunden, wie sie u.a. in der biblischen Schöpfungsgeschichte niedergeschrieben ist. Licht ist Bewusstsein, und ohne Bewusstsein gibt es keinen Raum und keine Zeit. Zunächst schafft Gott Himmel und Erde – das ist der Beginn einer Raumexistenz. Dezidiert wird in der Bibel betont, dass Gott am vierten Weltenschöpfungstag die Zeit schafft. Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht und geben Zeichen, Zeiten, Tage und Jahre. Welche Fürsorge! In der griechischen Mythologie gibt es ein sehr vergleichbares Geschehen. Auch hier existiert zunächst der Raum in Gestalt von Uranos, dem Himmelsgott, und Gaia, der Mutter Erde. Dann erst wird beider Sohn geboren, Kronos, der Gott der Zeit. Ich habe an anderer Stelle darüber geschrieben. Ganz natürlich, dass Michael Ende über all das nicht schreiben kann. Er rückt einen anderen Aspekt der Zeit in den Vordergrund, und er tut das auf unnachahmliche Weise eben in »Momo«. Gut, dass New-Age-Jünger und Esoteriker es versäumt haben, sich auf Michael Ende und sein Werk zu stürzen. Sicherlich hätten sie eine wahre Fundgrube für ihre Ansichten darin entdecken können. Denn Michael Ende bekennt sich in »Momo« zum einen eindeutig zur Reinkarnation; zum anderen spricht er [...] von einem Silbertor und bezieht sich damit auf die Silberschnur, die den Menschen sein Leben lang mit seinem unsterblichen feinstofflichen Körper verbindet. Wird sie, die Silberschnur, von den Schicksalsgöttinnen durchtrennt, stirbt der Mensch. Wie bedeutsam dieses Geschehen ist, mag man daran sehen, dass in drei abendländischen Kulturen von ihnen die Rede ist, nämlich in der griechischen – hier lautet ihr Name Moiren -, in der germanischen (Nornen) und in der lateinischen Mythologie (Parzen). Eine Norne spinnt diese Silberschnur, eine andere ist die Wächterin, die ihn misst, die dritte schließlich schneidet sie, die Lebens- bzw. Silberschnur durch. Sie tun dies alles in Übereinstimmung mit einer höheren Macht. Wie auch in seiner »Unendlichen Geschichte«, die noch wesentlich reicher an spirituellen und mythologischen Bildern ist, vermittelt Michael Ende sein Wissen eben in Bildern und Farben, wie auch in der Symbolik des Lichtes. Er tut dies auf eine unaufdringliche Weise; so kann jedes Kind diese Bücher als interessanten Roman lesen, jeder Erwachsene als ein großes Märchen und jemand, der mehr wissen möchte, kann auf vielen Seiten spirituelle Wahrheiten wahrnehmen, ich denke nur an das »Märchen vom Zauberspiegel«. Goethe war Rosenkreuzer, Mozart Freimaurer, Michael Ende war einer der ganz großen Wissenden seiner Zeit, ein moderner Eingeweihter wie wir sie seit Goethe wiederfinden. Wissend in einem umfassenden Sinn. Und wenn man »Momo« zur Kinder- und Jugendbuchliteratur rechnet, so vermittelt er sein Wissen erfreulicherweise schon jugendlichen Lesern. Dennoch und Gott sei Dank entzieht sich Michael Endes Werk einer vorschnellen Einteilung. Ich möchte sagen, es entzieht sich generell einer Kategorisierung. Ohnehin ist diese Zuweisungen zu bestimmten Sparten und Richtungen sinnwidrig. Als ob Gott Menschen in Esoteriker und Exoteriker habe unterteilen wollen. Leben hat immer geistig-seelische und mystische Grundlagen. An einer gegenteiligen Auffassung hat schon Max Frisch seinen Homo faber in seinem gleichnamigen Roman scheitern lassen. [...] Der vollständige Text inklusive einem Ausschnitt aus »Momo« findet sich unter http://johannesklinkmueller.wordpress.com/2010/12/24/michael-ende-in-momo-alle-zeit-dienicht-mit-dem-herzen-wahrgenommen-wird-ist-verloren/ Johannes Klinkmüller ist Lehrer für Deutsch, Ethik und Sport an einem Gymnasium nahe Stuttgart. Hans-Heino Ewers Fantasy – Heldendichtung unserer Zeit. Versuch einer Gattungsdifferenzierung 1 Im westlichen deutschen Sprachraum der Nachkriegszeit findet die erste Beschäftigung mit phantastischer Literatur auf dem Feld der Kinderliteraturforschung statt – und zwar bereits Ende der 1950er Jahre.2 Die kinderliteraturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Gattung, die bis in die Gegenwart anhält und eine Vielzahl von teils kontroversen Definitionsversuchen hervorgebracht hat, ist von der später einsetzenden allgemeinliterarischen Phantastiktheorie nicht wahrgenommen worden. Dass sie von der englischsprachigen internationalen „fantasy“-Forschung nicht registriert worden ist, dürfte sprachliche Gründe haben; anders sieht es mit der deutschen anglistischen Beschäftigung mit phantastischer Literatur aus, für die germanistische Beiträge, so mein Eindruck, generell nicht von Belang zu sein scheinen. Für die kinderliteraturwissenschaftliche Phantastikforschung stellen die jüngsten Entwicklungen auf dem Kinderliteratur- und -medienmarkt eine Herausforderung dar. Mit Ende der 1990er Jahre – mit Erscheinen womöglich des ersten Harry Potter-Bandes 1997, dt. 1998 – scheint eine neue kinder- und jugendliterarische Epoche angebrochen zu sein. Charakteristika dieser Epoche sind eine Globalisierung des (Kinderund Jugend-)Buchmarkts und eine Ausweitung von Medienverbundangeboten bzw. von multimedialer Literaturvermarktung. Außerdem hat sich die Fantasy derart in den Vordergrund geschoben, dass sie – zumindest auf alltagskultureller Ebene – zur Signatur eines ganzen Zeitalters aufgestiegen ist. Im Unterschied zu den realistischen Genres stellt die Fantasy die Gattung dar, die am direktesten global, d. h. über sämtliche Kulturgrenzen hinweg, zu vermarkten ist. Sie bedient sich einer kulturübergreifend verständlichen Bilder- und Symbolsprache. Der vergleichsweise späte Boom dieser – ja keineswegs erst in jüngster Zeit aufgekommenen – Gattung verdankt sich nach meiner Auffassung bestimmten technischen Innovationen: Erst mit Aufkommen und Perfektionierung der Computeranimation sind eine adäquate Verfilmung der Fantasyliteratur wie auch deren wirkungsvolle Umsetzung als Computerspiel möglich geworden. Erst mit der computergestützten Verfilmung hat sich Tolkiens Herr der Ringe in das Bildgedächtnis nicht nur einer Fangemeinde, sondern eines großen Publikums eingeschrieben. Mithilfe dieser Medien und ihrer enorm gesteigerten Visualisierungsmöglichkeiten haben sich die Rezipienten aller Altersgruppen gleichsam fantasy-tauglich gemacht und einen Eindruck von der Monumentalität dieser Gattung gewonnen. I. In der deutschen kinderliteraturwissenschaftlichen Forschung wird seit jeher zwischen Phantastik und Fantasy unterschieden; dabei entspricht bekanntermaßen die weite und übergeordnete Kategorie der Phantastik dem englischen Begriff der „fantasy“, während Fantasy enger gefasst und zumeist als eine Sonderform bzw. Subgattung der Phantastik ausgegeben wird.3 Die folgende Bemerkung von Farah Mendelssohn und Edward James belegt den weiten Umfang der englischen Kategorie: „[...] fantasy as a genre only emerges in response (and contemporaneous to) the emergence of mimesis (or realism) as a genre: only once there is a notion of intentional realism, so the argument goes, can there be a notion of intentional fantasy.“4 Englischsprachige literaturhistorische Darstellungen wie bspw. diejenige von Sheila A. Egoff 5 decken dabei ein noch größeres Gattungsspektrum ab als entsprechende deutschsprachige Werke, bei denen in der Regel das Märchen bzw. die Märchennovellistik unberücksichtigt bleiben. Angesichts dieser Breite fragt sich, ob es weiterhin sinnvoll ist, von einem Genre bzw. einer Gattung der „fantasy“ bzw. der Phantastik zu sprechen. Haben wir es nicht eher mit einem – durch ein einzelnes Merkmal gebildetes – Textkorpus zu tun, in dem höchst verschiedene Textsorten vertreten sind, was übrigens auch für die realistische Literatur gelten dürfte? Auf deutschsprachiger Seite können jedenfalls die bisherigen Versuche, eine umfassend gültige Gattungsdefinition von Phantastik zu liefern, als gescheitert angesehen werden.6 Nicht minder problematisch sind in meinen Augen die Bemühungen, die unter der Rubrik ‚fantasy‘ bzw. ‚Phantastik‘ versammelten Genres als Subgattungen einer übergeordneten Gattung bzw. als deren „Erscheinungsformen“ überzeugend herzuleiten. Hier zeigen sich nicht zuletzt die Grenzen einer rein auf Strukturmerkmale setzenden Gattungsdifferenzierung, wie sie auf dem Gebiet der Phantastikforschung bislang den Ton angegeben hat. Bereits Anfang der 1970er Jahre hat der schwedische Kinderliteraturforscher Göte Klingberg neben die „phantastische Erzählung“ die „surreal-komische“ und die „mythische Erzählung“ als eigenständige Gattungen platziert, die vorher wie übrigens auch nachher immer wieder den phantastischen Erzählungen zugerechnet worden sind.7 Mit „mythischer Erzählung“ ist nach heutigem Begriffsgebrauch die Fantasy gemeint; sie spiele „in einer mythischen Welt, und nur in dieser Welt“, die „nicht unsere alltägliche ist“.8 Klingbergs früher Versuch einer gattungstheoretischen Separierung von phantastischer Erzählung und Fantasy ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Verdrängt wurde er von Maria Nikolajevas Theorie, nach der es sich bei der Fantasy um eines von drei Modellen phantastischer Literatur handele – um eine Literatur nämlich, die eine „closed secondary world“ präsentiere.9 Klingberg wie Nikolajeva gemeinsam ist, dass sie ihre Gattungs- und Subgattungsdefinitionen allein auf Strukturmerkmale gründen. Dies bringt ihre Theorieansätze nicht bloß in erhebliche Schwierigkeiten, was die Abgrenzung zu verwandten Gattungen angeht, sondern auch in Widerspruch zur Entwicklung der Fantasygattung als solcher, die längst nicht mehr nur in einer mythischen bzw. geschlossenen sekundären Welt spielt. Im Folgenden soll der Versuch einer Gattungspoetik der Fantasy (im engeren Sinn entsprechend der deutschen Begriffsverwendung) unternommen werden, der nicht primär von Strukturmerkmalen, sondern von zentralen Inhalten ausgeht und das Genre als romanhafte Parodie des vormodernen Heldenepos definiert. Dies steht in einer gewissen Nähe zu Arbeiten der englischsprachigen Fantasyforschung und der deutschen Anglistik, für die Fantasy eine zeitgenössische Form von Mythopoesie, ein modernes literarisches Spiel mit überlieferten Mythen, darstellt.10 II. Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu einer Gattungsbestimmung der Fantasy ist ein seit Jahrhunderten geläufiges Phänomen. Sei dem ausgehenden Mittelalter und der frühen Neuzeit zeigen bestimmte Erzählstoffe samt der für sie charakteristischen Genres eine ungebrochene Attraktivität: Die Stoffe entstammen der Welt der antiken und (indo)germanischen Mythologie, der Welt der antiken und mittelalterlichen Heldenepen, der Welt des Rittertums und der Tafelrunde, der orientalischen Märchenwelt, um nur einige Herkunftsgebiete zu nennen. Diese faszinierenden Erzählstoffe sind in nahezu allen Geschichtsepochen aufgegriffen und wiederaufbereitet worden. Sie wurden in eine mit dem literarischen Code der Zeit übereinstimmende und dem jeweiligen Publikumsgeschmack entsprechende Form gegossen. Ein Bespiel hierfür sind die Ritter-, teils auch die Räuberromane, die über Jahrhunderte hinweg zur beliebten Publikumslektüre gehörten. In diesen literaturhistorischen Kontext gehört in meinen Augen auch die Fantasy des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts: Auch dieses Genre ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm vergangene Stoffe aufgegriffen und verarbeitet werden. In mancher Hinsicht darf man die gegenwärtig in großer Zahl erscheinenden Fantasyromane als die Ritterromane unserer Zeit ansehen, teilen sie mit diesen doch die Beliebtheit beim Publikum wie die Verachtung seitens der Literaturkritik. Das Wiederaufbereiten vormoderner Erzählstoffe in eigens dafür vorgesehenen Genres ist zu allen Zeiten in aktualisierender Absicht geschehen. Das Gegenwartsferne, das Fremde der Vergangenheitsstoffe wurde weitgehend bewahrt, doch sollten die aufgegriffenen Stoffe auch nicht allzu befremdlich wirken. Alles Irritierende, Unverständliche, Abstoßende der Vergangenheitsstoffe musste deshalb heruntergespielt oder gar getilgt werden. Die literarische Wiederaufbereitung alter Stoffe geschieht oft in der Form von Parodien11 klassischer Werke, in welchen die betreffenden Stoffe ihre wirkungsvollste Gestaltung erfahren haben. So erweisen sich viele Ritterromane als romanhafte Parodien einzelner mittelalterlicher Epen. Derlei Parodien müssen sich jedoch nicht unbedingt auf einzelne Werke als Vorlagen beziehen. Als Prätexte können auch Gattungen als solche fungieren. Solche Gattungsparodien bedienen sich mehr oder weniger frei bestimmter Figuren- und Handlungsmuster wie auch des gattungstypischen Settings und gattungstypischer Motive. Wir haben es in solchen Fällen mit Erfindungen von Figuren, Handlungen und sonstigen Motiven nach Art bzw. im Stil der parodierten Gattungen der Vergangenheit zu tun. Was auf diese Weise entsteht, ist weder eine rein zeitgenössische, noch eine rein vergangene Form von Literatur, sondern eine literarische Mischform, ein hybrides Genre, in welchem zeitgenössische bzw. moderne Elemente mit vergangenen bzw. vormodernen Elementen eine Verbindung eingegangen sind.12 Literarische Mischformen bzw. hybride Genres bieten insofern ein besonderes Lesevergnügen, als der Reiz des fremden Vergangenen genossen werden kann, gleichzeitig aber auch das Gefühl der Nähe, des Vertrautseins vermittelt wird, wofür oft verschiedene Handlungsträger – fremdartige auf der einen, vertraute auf der anderen Seite – Sorge tragen. Worin besteht nun die differentia specifica der Fantasy im Kreis all dieser mit ihr verwandten Genres, die eine Wiederbelebung vergangener Erzählstoffe betreiben bzw. vergangene Genres parodieren? Auf welche vormodernen Gattungen sich moderne Märchen- und Sagenromane parodistisch beziehen, liegt auf der Hand: Während sich jene auf die Tradition der Märchennovellistik beziehen, greifen diese auf den überlieferten Sagenschatz zurück. Fantasyromane wären demgegenüber als Parodien mittelalterlicher Helden- bzw. Ritterepen zu bezeichnen. Sämtliche dieser Vergangenes reaktivierenden Genres teilen mit ihren historischen Prätexten den grundlegenden Gehalt: Moderne Märchenromane sind wie die althergebrachte Märchennovellistik als Adoleszenz-, Liebes- und Heiratsgeschichten anzusehen.13 Moderne Sagenromane14 handeln von dem Einbruch numinoser Mächte in eine lokal bzw. regional ausgewiesene Alltagswelt, wobei die Existenz der Jenseitsmächte und -gestalten nicht infrage steht. Der zentrale Gehalt der Fantasyromane wäre dementsprechend das vormoderne Heroentum; sie handeln wie ihre historischen Bezugstexte von der Ausfahrt, den Kämpfen und der Bewährung des Helden und seiner Gefährten. Die Fantasy lässt das heroische Zeitalter wieder aufleben und darf als moderne Heldendichtung bezeichnet werden. Sie geht zu Recht davon aus, dass diese Art von Heroentum in einer modernen Gesellschaft keinen Platz mehr hat und dass wir seiner folglich nur im Wiederaufbereiten der alten Geschichten habhaft werden können. Ineins mit dem zentralen Gehalt übernehmen Märchen-, Sagen- und Fantasyroman von ihren historischen Prätexten die besondere Weltenkonstruktion. Der in den traditionellen Märchennovellen, den überlieferten Sagen wie in den Helden- bzw. Ritterepen (inklusive ihrer frühen Romanadaptionen) anzutreffende Weltzustand kennt Magie und Zauberei, belebte Naturphänomene, Naturgeister und sonstige Jenseitsgestalten, ohne deren Existenz je infrage zu stellen. Im Märchen-, im Sagen- und im Fantasyroman der Moderne erscheint das in welcher Gestalt auch immer auftretende Wunderbare ebenfalls als selbstverständlich.15 Es hat sich eingebürgert, mit Blick auf derlei fiktionalen Weltkonstruktionen von phantastischen bzw. magischmythischen Welten zu sprechen; teilweise ist im Anschluss an Tolkiens Essay On FairyStories16 auch von einer „Sekundärwelt“ die Rede. Wir haben es hier allerdings mit einem Strukturmerkmal zu tun, das für mehrere Gattungen charakteristisch ist,17 ohne dass diese dadurch schon zu Subgattungen einer übergeordneten Gattung würden. Hier sollte man stattdessen von verwandten, d.h. in einem Merkmal übereinstimmenden Gattungen sprechen. Die geschichtsphilosophischen Theorien der großen Epik von Hegel18 bis Georg Lukàcs19 gehen von dem fundamentalen Gegensatz von Epos und Roman aus. Das Epos gilt als der Inbegriff vormoderner Epik, dessen Untergang mit dem Anbruch der Moderne und dem Aufstieg des Romans besiegelt ist. Die Fantasy straft diese Grundannahme zwar nicht Lügen, sie scheint diese aber doch zu relativieren: Sie verschafft dem Epos einen Platz in der Moderne – wenn auch nicht als Epos, sondern selbst noch einmal als Roman. In dieser Paradoxie liegt die Problematik, aber auch Faszination dieser Gattung beschlossen. III. Das Epos berichtet von Ereignissen und beinhaltet Geschichten, die von allen geglaubt werden, die allgemein verbindlich sind, die einen kollektiven Erinnerungsschatz bilden. Wir haben es mit Genealogien von Herrscherdynastien, mit allgemein verbindlichen Gründungsmythen ganzer Völkern und Nationen zu tun. In ihrer Wiederaufbereitung als Fantasy besitzen diese Stoffe nur noch den Status freier Erfindungen eines Einzelnen, die keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit mehr erheben können, die keinerlei kollektive Verbindlichkeit mehr besitzen. Als Kollektivbesitz nennt das Epos keinen Autor, allenfalls einen mythischen Urheber, während es in seiner Wiederbelebung als Fantasy als das Werk eines modernen Individuums ausgegeben wird. Des Weiteren ist das Epos als eine Form mündlicher Dichtung in gebundener Rede verfasst, während seine Wiederbelebung in Gestalt der Fantasy in Prosa gehalten ist. Wie der Roman, so erweist sich auch die Fantasy als eine an das Medium des gedruckten Buchs gebundene Gattung. Dies wäre als ein erstes modernes Charakteristikum von Fantasy anzusehen. Trotz aller Modernität qua (Buch-)Roman und qua Werk eines Einzelnen ist die Fantasy wesentlich durch ihre vormodernen Inhalte geprägt. In ihrem Zentrum stehen heldenhafte Taten, die zwar Handlungen eines Einzelnen darstellen, aber grundsätzlich die Allgemeinheit, die Gemeinschaft, das politische und sittliche Fundament eines Volkes, einer Nation oder eines sonstigen Kollektivs betreffen. Fantasy handelt vom Kampf der Heroen um den Bestand einer Nation, von der Errichtung einer neuen Weltordnung und von der Niederwerfung all der Mächte, welche diese Ordnung bedrohen oder deren Errichtung zu verhindern suchen.20 Es geht um die Ausschaltung von Usurpatoren, von unrechtmäßigen Herrschern und machtlüsternen despotischen Wesen. Fantasy teilt mit dem Epos den grundsätzlich politischen, das Ganze eines Volks oder einer sonstigen Gemeinschaft betreffenden allgemeinsittlichen Gehalt, wohingegen der Roman grundsätzlich das Private thematisiert. Die Fantasy erweist sich damit als politische, besser noch: als geschichtsphilosophische oder gar weltanschauliche Dichtung. Dies sei gegenüber allen psychologisierenden Deutungsversuchen festgehalten, welche die Queste des Helden und seine entscheidende, den Sieg bringende Tat ausschließlich als symbolische Repräsentationen von Individuierungsprozessen verstanden wissen wollen21. Die vormoderne Thematik – Heldentum, Weltrettung, Erlösungstat des Heroen etc. – wird in der Fantasy jedoch nicht in reiner und unberührter Form abgehandelt, sondern durchweg in perspektivischer Weise präsentiert: Sie wird aus der Sicht der und in Relation zur modernen Gegenwart gezeigt, was einen weiteren modernen Zug dieses Genres ausmacht. Als Träger dieser modernen Perspektive auf das vormoderne Heldentum und die vergangene Heroenzeit pflegen in den meisten Fällen der Erzähler bzw. die Erzählinstanz zu fungieren. Die Erzählerstimme bzw. die Erzählrede können den Abstand zwischen der Erzählgegenwart, dem Hier und Heute, und dem heroischen Zeitalter zum Ausdruck bringen.22 Dabei können sie eine bestimmte Haltung einnehmen, sich wertend verhalten. Sie können bspw. dem vormodernen Heroentum Bewunderung entgegenbringen und der arbeitsteiligen Moderne und ihrer Herabsetzung des Einzelnen zu einem Rädchen im Getriebe mit Geringschätzung oder gar Verachtung begegnen. Auffälliger noch ist die Inkorporierung der modernen Perspektive auf die Heroenzeit in einzelnen Handlungsträgern. Fantasy ist eine literarische Mischform, ein hybrides Genre auch in der Weise, dass in ihr Charaktere aus unterschiedlichen historischen Epochen nebeneinander gestellt, auf ein und derselben Handlungsebene angesiedelt werden. Fantasy mischt grundsätzlich moderne Charaktere mit solchen von archaischem Zuschnitt. Helden vom alten Schlag stehen neben Menschen wie du und ich. Dabei können – wie es etwa bei den Hobbits der Fall ist – die Gestalt, das Aussehen, die Kleidung, die Berufe und Namen dieser Charaktere durchaus archaischer oder phantastischer Natur sein; deren Modernität würde sich dann auf Denkweise, Gesinnung, Verhaltens- und Handlungsweisen beschränken. In solchen Fällen könnte von einer halb realistischen, halb allegorischen Darstellungsweise moderner Charaktere die Rede sein, wobei zu fragen wäre, auf welche modernen Züge die bildlichen Anteile der Figur verweisen.23 In jedem Fall steckt die Fantasy, was ihr Figurenarsenal, teilweise auch die Konstruktion einzelner Figuren angeht, voller Anachronismen, was in nicht geringem Maße ihren Reiz ausmachen dürfte. Dabei müssen die modernen Charaktere keineswegs am Rand des Geschehens platziert sein; sie nehmen im Gegenteil oft die Position des Protagonisten ein, während die archaischen Heldenfiguren die Antagonisten darstellen Dieser Umstand lässt sich zunächst rezeptionsästhetisch erklären und auf den Romancharakter von Fantasy zurückführen. Fantasy möchte insofern mit dem modernen Roman gleichauf sein, als sie nicht – wie die alten Heldengesänge – in ehrfürchtiger Distanz erlauscht, sondern auf intime und empathische Weise rezipiert werden will. Der Leser soll emotional involviert und in die spannungsreiche Handlung eingebunden werden, sich in der Fiktionswelt geradezu verlieren. Hierzu bedarf es der Haltepunkte und Identifikationsmöglichkeiten im Werk selbst. In diesem Kontext kommt der Hauptfigur eine Schlüsselrolle zu: Zahlreiche Fantasyromane warten deshalb mit einem Protagonisten oder einer Protagonistin auf, die dem Leser von heute nahe sind, mit denen man sich identifizieren und aus deren Warte man die fremdartige Welt erleben kann.24 Jenseits dieser Brückenfunktion für den Leser aber repräsentieren diese modernen, mit Blick auf die Heroenzeit anachronistischen Charaktere innerhalb der Romanwelt die moderne Gegenwart: Die Großartigkeit oder Erbärmlichkeit ihres Handelns und Verhaltens sagt Entsprechendes über den geschichtlichen Wert, die historische Dignität unseres Zeitalters aus. Oft verharren diese Protagonisten in der Position von Augenzeugen heroischer Kämpfe, ohne selbst einzugreifen und Heldentum zu erlangen.25 Sie dokumentieren damit nur die Ferne von allem Heldentum und den Mangel an Grandiosität unseres Zeitalters im Vergleich zu der Vorzeit, die Hegel das Heroenzeitalter nannte. Denkbar ist aber auch, dass die jetztzeitigen Figuren in das Geschehen eingreifen und die alles entscheidende Befreiungstat vollbringen, ohne ihre modernen Charakterzüge aufzugeben.26 In dieser Variante würde die Gegenwart zur Erlöserin der Vergangenheit erklärt werden, die zu einer Rettung ihrer selbst nicht mehr fähig wäre. Der moderne Individualismus hätte dann den Sieg über das Heroentum der Vorzeit davon getragen. Eine dritte Variante besteht darin, dass die modernen Protagonisten, nachdem sie ihre Funktion als Identifikationsfiguren erfüllt haben, sich im Laufe der Handlung nach und nach ändern und archaisch-heldenhafte Züge gewinnen.27 Oft geschieht diese schrittweise Verwandlung eines modernen Individuums in einen heroischen Charakter, einen antiken Helden, eine Herrschergestalt oder einen mächtigen Regenten wider den eigenen Willen, wird sie aufgenötigt und durch äußerliche Umstände abverlangt. Dieser Charakterwandel kann dauerhafter, aber auch nur vorübergehender Natur sein. Tatsächlich findet die Hauptfigur nach siegreicher Tat und gewonnener Schlacht oft wieder zurück zu ihrer modernen unheroischen Verfassung als bescheidenes Individuum.28 Zu fragen wäre in beiden Fällen, was der Charakterwandel der Hauptfigur jeweils konkret besagt: Hat die Moderne sich damit selbst negiert und ausgelöscht oder hat sie mit dem Aufschwung zur Großartigkeit ihre Gleichwertigkeit mit, wenn nicht gar ihre Überlegenheit über die Vorzeit erwiesen? Die – expliziten oder impliziten – Wertungen sowohl auf der Ebene des Erzählers bzw. der Erzählinstanz wie auf der Ebene der Figuren konstituieren zwei ideologisch konträre Ausprägungen der Fantasy. Die Schlüsselfrage, die an jeden Fantasyroman zu stellen wäre, würde in diesem Punkt lauten: Zu Gunsten welcher der beiden Seiten fällt die jeweils vorgenommene Abwägung von Vergangenheit und Gegenwart, Vormoderne und Moderne aus? Bei Tolkien wie auch bei C.S. Lewis bspw. wird das vergangene, mythische Zeitalter als überlegen dargestellt und der modernen gottfernen und unheroischen Gegenwart vorgezogen – eine aus der deutschen Spätromantik nur zu bekannte Position. Dem steht eine Ausprägung von Fantasy gegenüber, die nicht von romantischer, sondern von aufgeklärter Geisteshaltung ist: Hier sind die magisch-mythischen Weltzustände durchweg negativ konnotiert. Die geschilderten Kämpfe zielen in diesem Fall auf eine Befreiung vom Mythos und dessen Angstpotential, auf eine Beseitigung archaischer Herrschaft und Unterdrückung ab. Bei Philip Pullman oder Kai Meyer bspw. werden Aufklärung und moderner Individualismus als unschätzbare Errungenschaften ausgegeben, die es zu verteidigen gelte. Man könnte bezüglich der jeweiligen ideologischen Ausrichtung von der Polarität einer romantisch-konservativen und einer aufgeklärt-modernistischen Fantasy sprechen. Deutlich wird damit, dass in diesem Genre die im 17. Jahrhundert begonnene Querelle des Anciens und des Modernes mit unverminderter Heftigkeit fortgeführt wird. Dass die Protagonisten von Fantasyromanen oft jugendlichen, ja bisweilen kindlichen Alters sind (und gelegentlich am Anfang psychologisch-realistisch als solche gezeichnet werden), darf einen nicht zu der Annahme verleiten, dass wir es mit verkappten, in Bildern verklausulierten Entwicklungs- oder Bildungsromanen zu tun haben. Fantasy handelt vom Kampf um die Weltordnung, bei dem einem jungen Helden, der oft ein tumber Tor29 ist, eine Schlüsselrolle zukommt. Wir haben es in erster Linie mit ‚politischer‘ Dichtung zu tun, in der es um Macht, Herrschaft, Unterdrückung, Besitz und Reichtum geht. IV. Die Mischung von modernen und archaischen Charakteren, von Figuren aus unterschiedlichen Epochen kann auf unterschiedliche Weise umgesetzt werden: Sie kann sich – wie etwa bei Tolkien – auf die Ebene der Figurencharakteristik beschränken. Die jeweilige Epochenzugehörigkeit der Figuren manifestiert sich dann allein in deren Charaktereigenschaften, deren Denk- und Verhaltensweisen – unbeschadet dessen, dass sie mit Charakteren aus anderen Epochen in ein und derselben Welt angesiedelt sind. Im klassischen Fall handelt es sich dabei um eine archaische oder eine früh- bis spätmittelalterliche Welt. Die jeweilige Epochenzugehörigkeit der Figuren kann das eine Mal deutlich herausgearbeitet, das andere Mal eher dezent und verhalten ausgeführt sein. Die Mischung von Modernem und Archaischem kann aber auch über die Ebene der Figurencharakteristik hinausreichen und auf die Ebene des jeweils entworfenen Weltzustandes, des allgemeinen Settings übergreifen. In vielen Werken der Fantasy – und zwar schon denjenigen des Tolkienfreundes C.S. Lewis – wird dazu übergegangen, die Welt, der die modernen Charaktere entstammen, als solche auch zu vergegenwärtigen. Der Mischcharakter äußert sich hier in der Weise, dass wir es mit einer Mehr-Welten-Literatur zu tun haben. Oft begegnen wir hier einer ZweiWelten-Literatur, einer Fantasy also, welche die fantasy-typische, quasimittelalterliche Welt mit einer zweiten Welt, die unserer Welt entspricht, verschränkt. In Verstärkung des Mischcharakters können jedoch auch beliebig viele Welten aufgeboten werden: Sowohl mehrere historische Stadien der Realwelt – wie bspw. bei Philip Pullman das Oxford des 19. Jahrhunderts und dasjenige der Gegenwart30 – als auch unterschiedliche fantasy-typische Welten – wie etwa bei Kai Meyer eine mittelalterliche Welt und eine ägyptische Welt der Pharaonenzeit.31 Ein häufig verwendetes Muster der Zwei-Welten-Fantasy besteht darin, den Protagonisten qua modernes Individuum zunächst in seiner originären Welt einzuführen, diesen also erst einmal an seinem historischen Ort vorzustellen, um ihn dann erst in die fantasy-typische Welt eintreten und in die dortigen Kämpfe eingreifen zu lassen.32 Denkbar ist auch, dass beide Welten dauerhaft parallel geschaltet sind und ein permanentes Hin- und Herwechseln der Protagonisten stattfindet. 33 Die Zwei-Welten-Ausprägung der Fantasy ist oft der Gattung der phantastischen Erzählung zugerechnet worden. Tatsächlich gibt es strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen dieser Art von Fantasy und der phantastischen Erzählung, so dass die Gefahr einer Verwechslung besteht. Hier zeigt sich erneut die Problematik einer allein auf Strukturmerkmale setzenden Gattungsdifferenzierung, die den funktionalen Aspekt außer Acht lässt. Das Strukturmerkmal des Vorhandseins zweier Welten, das übrigens auch in zahlreichen Märchennovellen anzutreffen ist34, hat jeweils eine andere Funktion: In der phantastischen Erzählung wird eine zweite, mit Magie ausgestattete Welt in erster Linie zu dem Zweck eingeführt, die für unumstößlich gehaltene moderne naturwissenschaftliche Wirklichkeitsauffassung infrage zu stellen.35 Die zur Erfüllung dieses Zwecks aufgebotenen magisch-mythischen Einzelphänomene bzw. -gestalten oder Welten interessieren hier nicht als solche, sondern nur hinsichtlich ihrer verunsichernden Wirkung.36 In der Fantasy sind die vormodernen Phänomene demgegenüber als solche interessant; hier geht es um die Frage der richtigen, der höherwertigen Weltordnung. Es werden verschiedene Welten hinsichtlich ihrer geistig-religiösen und politisch-sozialen Beschaffenheit gegeneinander aufgewogen. Im Fall einer Fantasy, die nur eine Welt zur Darstellung bringt, sind es einzelne Charaktere oder Machtgruppen, die jeweils unterschiedliche Ordnungsvorstellungen repräsentieren. V. Wie jede literarische Gattung, so hat auch die Fantasy Wandlungen und Modifikationen erlebt, die sie von ihrer klassischen Ausprägung durch Tolkien entfernt. Eine dieser Wandlungen soll hier zur Sprache gelangen: Infrage gestellt und aufgehoben wird die für die klassische Fantasy typische wörtlich gemeinte, die nicht-allegorische Weltendarstellung: Die in ihr gezeichnete Welten des Heldentums, des mythischen Denkens, der Jenseitsorientierung und der Götter- bzw. Gottesnähe stehen nicht für etwas anderes, sondern für sich selbst. Bekanntermaßen hat Tolkien jegliche allegorische Lesart von Mittelerde abgelehnt. Das Beharren auf wörtlich gemeinter Weltendarstellung ist übrigens für beide ideologische Ausprägungen der Fantasy charakteristisch. Dem Selbstverständnis nach sollen beide nicht allegorisch gelesen werden. Die – positiv oder negativ gewertete – magisch-mythische Fantasywelt ist als solche gemeint und steht nicht für etwas anderes. Eine Nötigung zur Allegorisierung der vormodernen Inhalte ergibt sich für die Fantasy erst dann, wenn sie nicht mehr auf ein Abwägen von Vergangenheit und Gegenwart aus ist, sondern ausschließlich Verhältnisse der modernen Welt thematisiert, mit anderen Worten: eine Auseinandersetzung mit den politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts intendiert. Tatsächlich zielen viele jüngere Werke der Fantasy thematisch allein auf die Gegenwart, auf den politischen Zustand, mittlerweile auch auf die ökologische Gefährdung der hochtechnisierten Gesellschaften. Die in ihnen gezeigten archaischen Welten sind in diesen Fällen nicht wörtlich zu nehmen, sondern allegorisch als Bilder für gegenwärtige Verhältnisse zu lesen. Die in solchen Werken auftretenden dunklen Mächte der Vergangenheit müssen als Allegorien für aktuelle Machtspiele, Herrschaftsstrukturen und Umweltzerstörungen gedeutet werden. Die die grauen Herren aus Michael Endes Momo sind hierfür das wohl bekannteste Beispiel: Namensgebung und Erscheinungsbild dieser Gestalten sind deutliche Signale dafür, dass es sich um allegorische Figuren handelt, die einen Zug der modernen Wirtschaftswelt meinen. Warum aber stellen innerhalb dieser neueren Ausprägung der Fantasy archaische Welten einen so ergiebigen Bildspendebereich für die allegorische Darstellung aktueller Verhältnisse dar? Welche Ähnlichkeit besteht da zwischen Bild und Bedeutung? Recht besehen ist unsere Gegenwart im globalen Maßstab alles andere als eine durchgehend nach den Freiheitsprinzipien der Moderne strukturierte Welt. Unser Zeitalter ist im Gegenteil von Rückfällen in archaische Herrschaftsstrukturen und Bewusstseinsformen, von Zivilisationsbrüchen nicht bloß bedroht, sondern tatsächlich auch geprägt. Einzelne Fantasyromane spiegeln diese dunklen Seiten unserer Gegenwart mittels einer mythisch-archaischen Bildlichkeit bis zur ‚Kenntlichkeit verzerrt‘ wider. Hier geht es nicht mehr um die Querelle des Anciens et des Modernes; hier wird Fantasy zu einer allegorischen politischen Dichtung, die sich thematisch ausschließlich auf die Gegenwart bezieht.37 VI. Zu Beginn dieses Beitrages war vom Anbruch einer neuen kinder- und jugendliterarischen Epoche die Rede. Deren zentrales Charakteristikum, der Aufstieg der Fantasy zum Leitmuster, impliziert einen weitreichenden kinder- und jugendliterarischen Themenwandel. Nach meiner Auffassung ist die Fantasy weit davon entfernt, eine Kindheit und Jugendalter thematisierende Dichtung zu sein – und zwar auch dort, wo sie mit kindlichen und jugendlichen Hauptfiguren aufwartet. Mit ihrer Ausbreitung auf dem kinder- und jugendliterarischen Feld werden vielmehr Kindheits- und Jugendthemen zurückgedrängt und durch allgemeine, altersübergreifende Themen ersetzt. An die Stelle von psychologisch-realistischen Kinder- und Jugendfiguren treten Heroen- und Herrscherfiguren, Fabelwesen und mythische Gestalten. Es geht nicht mehr um die Lösung altersspezifischer Probleme, um die Eroberung von kindlichen und jugendlichen Freiräumen, sondern um nichts Geringeres als die Errichtung von Staats- bzw. Weltordnungen, die Abwehr feindlicher Mächte, die Rettung der Erde vor Katastrophen u. dgl. m. Es hat den Anschein, als habe angesichts der fortschreitenden Liberalisierung von Familie und Schule der kindliche und jugendliche Alltag als Schauplatz von bewegenden Konflikten ausgedient, womit er auch literarisch uninteressanter geworden wäre. Wie atemberaubend nimmt sich dagegen etwa der Kampf gegen die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen durch feindliche Mächte, gegen die von diesen ausgelösten Umweltkatastrophen aus! Die Fantasy darf aufgrund dieser ihrer generellen thematischen Ausrichtung mit Fug und Recht als eine Crossover- bzw. All-Age-Literatur bezeichnet werden. Auf ihrem Feld gibt es keine thematische Barriere mehr zwischen Kinder- und Jugendliteratur auf der einen, Erwachsenenliteratur auf der anderen Seite. 38 Im hiesigen Kontext erscheint es mir als besonders interessant zu verfolgen, in welchem Maße der hier angedeutete Epochenwandel auch das Werk von Autorinnen bzw. Autoren beeinflusst, die sich bislang vornehmlich realistischer Genres bedient haben. Kirsten Boie, die in weiten Kreisen als eine Galionsfigur des realistischen Kinder- und Jugendromans gilt, hat sich in den letzten Jahren der Fantasy genähert. Der erste Schritt in diese Richtung bestand darin, die einen oder anderen Auswüchse des Fantasy-Booms satirisch unter die Lupe zu nehmen. So konfrontierte Boie die beliebten Rittergeschichten für Grundschulkinder auf eine amüsante, aber doch entlarvende Weise mit Erkenntnissen aus der Sozialgeschichte des Mittelalters. In Der kleine Ritter Trenk (2006) setzt Boie im Kleinen das aufklärerische Geschäft der Entzauberung der Ritterromantik fort, welches vor Zeiten der große Miguel Cervantes begonnen hatte. Von einem eigenständigen Beitrag zur Fantasy kann erst mit den Medlevingern (2004) und den Skogland-Romanen (2005 und 2008) die Rede sein, wie auch erst in diesen Werken eine thematische Öffnung zu den großen politischen und Menschheitsthemen stattfindet39 In den Medlevingern hat Boie den waghalsigen Versuch unternommen, zwei grundverschiedene Genres in einem Werk miteinander zu kombinieren: Eine realistische Großstadterzählung mit kriminalistischer Abenteuerhandlung in der Tradition der frühen Kästnerschen Kinderromane und eine fantasy-typische Geschichte werden miteinander verzahnt. Der in diesem Werk vorhandene Weltendualismus hat mit der traditionellen Phantastik nichts zu tun, auch wenn letzterer einzelne Motive entnommen sind – etwa das der Irritation des Helden bei der ersten Begegnung mit den Medlevingern. In der Gegenüberstellung der Medlevingerwelt mit der unsrigen kontrastiert Boie zwei grundlegend verschiedene Zivilisationsformen miteinander: Es ließe sich mit den Worten von Claude Lévi-Strauss von dem Kontrast zwischen „kalten“ und „heißen Gesellschaften“ sprechen. Boie geht es um die unvermeidlich zerstörerischen Einflüsse dynamischer Gesellschaften westlichen Typs auf statische Kulturen, die ihrerseits nur zu leicht in den Sog der Technisierung geraten können. Ihr gelingt es, Grundfragen der aktuellen Kulturanthropologie und Gesellschaftstheorie in Bildern einzukleiden und Kindern nahezubringen. Die Medlevingerwelt stellt ein Musterbeispiel für statische Kulturen ohne Technologieentwicklung dar, während die dynamische Zivilisation als Hamburger Großstadtwelt gezeigt wird. Die im Hamburger Hafenviertel stattfindende Handlung – die Entführung und spätere Befreiung Antaks und Verdurs – sind allerdings symbolisch zu lesen. Besonders originell scheint mir Boies Entscheidung zu sein, den fantasytypischen Kampf gegen die Bedrohung der Weltordnung und die Bewährung des (zumeist jungen) Heroen nicht in eine mittelalterlich anmutende mythische Welt zu verlegen, sondern in der realistisch gezeichneten Gegenwartswelt anzusiedeln. Darin liegt aber auch die eigentliche Problematik des Werks: Die Kinderkrimi-Handlung nach Pfefferkörner-Manier kontrastiert auf eigentümliche Weise mit der ernsten und gewichtigen Botschaft des Werks – der Forderung nämlich nach einer kritischen Selbstbegrenzung moderner geld- (gold-) bzw. profitorientierter kapitalistischer Gesellschaften. Die politische Thematik der Skogland-Romane liegt geradezu auf der Hand. Wir haben es hier mit einem fesselnden Polit-Thriller in Fantasyform zu tun. Wie schon in den Medlevingern, so sucht die Autorin auch hier die Leser in deren eigener Lebenswelt abzuholen. Wie dort so erreicht sie auch hier die thematische Ebene der allgemeinen Menschheitsfragen erst durch Einfügung des fantasymäßigen Handlungsstrangs. Wie könnte ein Mädchen wie Jarven anders in das Zentrum der Macht und der Intrigen gelangen als durch Entführung in eine mehr oder weniger phantastische Welt, in welcher der Machtapparat noch die Form eines Königtums besitzt und Prinzessinnen eine politische Rolle spielen? Im Unterschied zur Welt der Medlevinger stellt das sozial gespaltene Königreich Skogland jedoch keine Gegenwelt zur modernen Zivilisation dar, in welcher Jarven aufgewachsen ist; es ist vielmehr ihr verfremdetes Abbild. Skogland ist eine Parabel auf die politischen Verhältnisse, wie sie gegenwärtig in vielen Ländern der Erde anzutreffen sind, von den meisten Menschen aber nicht durchschaut werden können. Mit Skogland hat Boie – ganz in Brechtscher Manier übrigens – eine Parabel geschaffen, die ein verfremdetes Abbild der Wirklichkeit ist und die es erlaubt, Zusammenhänge aufzudecken, die in der Wirklichkeit verschleiert sind – nicht zuletzt dank der Medien und der von ihnen in alle Richtungen ausgestreuten Nebelkerzen. Boies Skogland-Romane stellen ein würdiges Pendant zu einem der ganz großen politischen Romane für junge Leser aus der Frühzeit der Bundesrepublik dar: Ging es in James Krüss’ Timm Thaler oder das verkaufte Lachen (1962) um den dämonischen Charakter des Monopolkapitalismus, so führt uns Boie in die Welt der politischen Korruption und der medialen Verlogenheit. Beide Romane sind eine Ausprägung dessen, was wir heute als (postmoderne) Fantasy bezeichnen. Krüss’ Werk ist ebenso wie das Boie’sche eine Form gemischter Bilddichtung, in welcher keine klare Trennung von Bildteil und Sachteil mehr gegeben ist wie etwa in Der kleine Hobbit oder in Boies früher Mellin-Erzählung. Bild und Sachelemente erscheinen vielmehr auf ein und derselben Darstellungsebene, werden gewissermaßen nebeneinander gestellt. Die Parabel (Skogland) steht unmittelbar neben der Wirklichkeit, dessen verfremdetes Abbild sie darstellt. Die Figuren können dementsprechend von der Wirklichkeit in deren parabolische Repräsentation wechseln und wieder zurück. Wir als Leser sind gehalten, bei jedem einzelnen Element der fiktionalen Welt zu fragen, ob es ein Bild für etwas anderes darstellt oder sich selbst meint. Auch bezüglich der Figuren wäre zu prüfen, ob sie für etwas anderes stehen, d.h. allegorischen Charakter besitzen oder als solche gemeint sind. Allegorische und realistisch gemeinte Figuren können sich in einer gemischten Bilddichtung also durchaus die Hand geben. Dies mag gewöhnungsbedürftig sein, macht aber gerade den Reiz postmoderner Fantasy aus. 1 Agnes Blümer und Miriam Adam haben wertvolle Hinweise beigesteuert. Zahlreiche Anregungen verdanke ich auch meinem Doktorandenkolloquium. 2 Ruth Koch: Phantastische Erzählungen für Kinder. Untersuchungen zu ihrer Wertung und zur Charakteristik ihrer Gattung. In: Studien zur Jugendliteratur, 5. Jg. (1959), S. 55-84; Anna Krüger: Das fantastische Buch. In: Jugendliteratur, 8. Jg. (1960), S. 343-363. 3 Jüngst hat Bernhard Rank noch einmal bekräftigt: „Dennoch ist es sinnvoll, Fantasy nicht als Oberbegriff, sondern aus Subgenre der Phantastik aufzufassen.“ Bernhard Rank: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur. In: Günter Lange (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch . Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010, 172. 4 Farah Mendelssohn/Edward James: A Short History of Fantasy. London: Middlesex University Press 2009, S. 7. Ganz in diesem Sinn bietet Frank Weinreich eine Definition von Fantasy, „die sich auf das Übernatürliche als Zentrales inhaltliches Erkennungsmerkmal [...] konzentriert. Demnach gehört zum Genre der Fantasy jede fiktionale Erzählung [...], die das Übernatürliche als Handlungsbestandteil aufweist.” Frank Weinreich: Fantasy. Einführung. Essen: Oldip Verlag 2007, S. 10. 5 Sheila A. Egoff: Worlds Within: Children's Fantasy from the Middle Ages to Today. Chicago, London: American Library Association 1988. 6 „Die seit dem Ende der 1950er Jahre unternommenen Definitionsversuche verweisen auf die große Heterogenität einer Textsorte, die es aufgrund der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen nicht gestattet, die literarische Phantastik in einer einzigen Definition adäquat zu erfassen.“ Gabriele von Glasenapp: Phantastische Kinderliteratur. In: Gina Weinkauff, G.v.G., Kinder- und Jugendliteratur. Paderborn: Schöningh 2010 (Standardwissen Lehramt; UTB 3345), S. 96. Hier wäre besser von der gattungsmäßigen Heterogenität eines Text korpus die Rede. 7 Göte Klingberg: Die phantastische Kinder- und Jugenderzählung. In: Gerhard Haas (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteratur. Zur Typologie und Funktion einer literarischen Gattung . 2. Auflage. Stuttgart: Reclam 1976, 220-241, hier S. 222ff. und 227f. Die Erstausgabe erschien 1974. 8 Ebd., S. 227. 9 Maria Nikolajeva: The Magic Code. The Use of Magic Patterns in Fantasy for Children . Stockholm: Almqvist & Wiksell 1988, S. 36ff. Vgl. auch die bündige Darstellung von Nikolajevas Position bei v. Glasenapp, a.a.O. (Anm. 5), S. 103ff. Die surreal-komische Erzählung Klingbergs, als deren Musterbeispiele Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf oder Paul Maars Sams gelten dürfen, wird einem anderen Modell zugerechnet – demjenigen der „implied secondary world“. 10 Vgl. hier nur Brian Attebery: The Fantasy Tradition in American Literature. From Irving to Le Guin. Bloomington: Indiana UP 1980; ders.: Strategies of Fantasy. Bloomington: Indiana UP 1992; Marek Oziewicz: One Earth, one People. The Mythopoeic Fantasy Series of Ursula Le Guin, Lloyd Alexander, Madeleine L’Engle and Orson Scott Card . Jefferson and London: McFarland 2008. 11 Vgl. Wolfgang Karrer: Parodie, Travestie, Pastiche. München: Fink 1977 (UTB 581). Der Begriff der Parodie wird hier im weiten Sinne gebraucht und meint ein variierendes Wiederaufgreifen von Werken bzw. Genres in sowohl bewundernder wie kritischer bzw. entlarvender Absicht. 12 Bei Farah Mendelssohn und Edward James, a.a.O. (Anm. 4), heißt es: „[...] myth, legend and sage provide many components of modern fantasy [...].“ Wenig später heißt es: „[...] fairytale is a major taproot for modern fantasy. “ (S. 14) 13 Als Paradebeispiel aus der Gegenwart dürfte Astrid Lindgrens Märchenroman Ronja Räubertochter gelten. Bereits Berendsohn bezeichnet das „eigentliche Märchen“ als „Liebesmärchen“. „Das Märchen ist eine Liebesgeschichte mit Hindernissen, die ihren Abschluß in der endgültigen Vereinigung des Paares findet.“ Vgl. Walter A. Berendsohn: Grundformen volkstümlicher Erzählerkunst in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm . Hamburg: Gente 1921, S. 33 u. 35. 14 Vgl. als Beispiele aus der Gegenwart Otfried Preußlers Krabat (1971) oder Mirjam Presslers Golem, stiller Bruder (2007). 15 Dies ist vielfach betont worden. Hier nur eine der zahlreichen einschlägigen Feststellungen: „Magie – in welcher Form auch immer – wird als selbstverständlicher Bestandteil dieser Welt verstanden und erzeugt weder bei den agierenden Figuren noch bei den Lesern das für die Fantastik charakteristische Wundern.“ Maren Bonacker: Eskapismus, Schmutz und Schund? Fanatsy als besonders umstrittene fantastische Literatur. In: Jörg Knobloch, Gudrun Stenzel (Hrsg.): Zauberland und Tintenwelt. Fantastik in der Kinder- und Jugendliteratur. Beiträge Jugendliteratur und Medien 58. Jg., 17. Beiheft 2006, S. 66. 16 J.R.R. Tolkien: On Fairy-Stories. In: Ders: Tree and Leaf. London: HarperCollins 2001, 1-81. 17 Frank Weinreich, a.a.O. (Anm. 4), S. 32, gibt an späterer Stelle zu, „dass die weitgefasste Definition von Fantasy [als Literatur des Übersinnlichen, HHE] nicht befriedigen kann, da sie [...] das Genre nicht scharf genug umreißt“. 18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Mit einer Einführung von Georg Lukács. 2 Bde. 2. Aufl. Frankfurt/Main: Europäische Verlagsanstalt 1966. Vgl. insbes. Bd. 2, S. 412-469. 19 Georg Lukàcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik . [EA 1916, in Buchform 1920]. Neuwied und Berlin: Luchterhand 1971 (Sonderausgabe der Sammlung Luchterhand). 20 Auch für Frank Weinreich, a.a.O. (Anm. 4), S. 23, sind Helden, „Personen, die abenteuerliche Handlungen zu bestehen haben“, konstitutiv für die Fantasy. Weinreich gelingt es in meinen Augen jedoch nicht, die Spezifik des vormodernen Heldentums der Fantasy zu erfassen. Die Fantasy-Helden weisen, so Weinreich, „übernatürliche Aspekte“ auf, „die in der Regel auf eine übermenschliche Stärkung oder ebenso übermenschliche Behinderung hinauslaufen“. Bei vielen Märchenhelden verhält es sich nicht anders. 21 Vgl. Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten (Engl. EA 1949). Frankfurt/Main: Insel 1999. 22 Als Musterbeispiel hierfür gilt der Erzähler in Tolkiens Hobbit, der den Leser humorvoll, einfühlsam und stets die Unterschiede zwischen fiktionsinterner und fiktionsexterner Realität bedenkend in die Welt der Halblinge und Zwerge einführt. Sofern der Erzähler nicht explizit als Gestalt gekennzeichnet wird, die aus einer Welt stammt, die der unseren gleicht, halte ich es für nicht zulässig, in diesem die ‚primary world’ repräsentiert zu sehen. 23 Denkbar ist jedoch auch, dass die nicht-modernen Anteile dieser Figuren lediglich dazu dienen, diese in die phantastische bzw. mythische Welt plausibel einzufügen. 24 Bei Tolkien kommt den geradezu bürgerlich gezeichneten Hobbits diese Rolle zu. Vgl. hierzu Farah Mendelssohn und Edward James: Tolkien „introduced us into Middle earth through the eyes of a very ordinary ‚little man‘ from a kind of England still recognizable to most of his readers.“ a.a.O. (Anm. 7), S. 45. Hervorzuheben sind sodann Protagonisten wie Bastian Balthasar Bux aus Michael Endes Unendlicher Geschichte oder Merle und Emily Laing aus den gleichnamigen Trilogien von Kai Meyer und Christoph Marzi, die sich dem Leser vor allem aufgrund ihrer Durchschnittlichkeit und betonten Unheldenhaftigkeit zur Identifikation anbieten. Einen Ausnahmefall stellt Endes Momo dar, dessen Heldin in der Tradition der Engel- und Geniusfiguren wie auch in derjenigen des göttlichen Kindes steht, in jedem Fall also kein moderner Charakter ist und deshalb wenig zur Identifikation taugt. 25 So etwa der Hobbit Bilbo Beutlin, der sich in der entscheidenden Schlacht der fünf Heere mit Hilfe des Ringes unsichtbar macht und alles aus einigermaßen sicherer Warte beobachtet, bis er von einem Stein getroffen und bewusstlos wird. 26 Wie Lyra und Will in Philip Pullmans The Amber Spyglass (2000), dt. Das Bernsteinteleskop. Hamburg: Carlsen 2000, die zwar nicht direkt in die Kampfhandlungen zwischen Asriels Heer und den Magisteriumsvertretern eingreifen, aber durch ihren ‚Sündenfall‘ die entscheidende Wendung bewirken. 27 Beispiel hierfür ist Peter Pevensie aus C.S. Lewis’ The Lion, the Witch and the Wardrobe (1950), der sich vom Schuljungen zum „High King Peter the Magnificent“ von Narnia entwickelt. 28 So findet sich Bastian Balthasar Bux nach der Rückkehr aus Phantasien trotz seiner innerlichen Reifung als kleiner dicker, durchschnittlicher Junge wieder. 29 Eine äußert reizvolle Variante dieses Typus ist die schüchterne „Maus“ aus Kai Meyers Frostfeuer (2005). 30 Pullman, Philip: Northern Lights (1995), dt. Der goldene Kompass. Hamburg: Carlsen 1996. 31 Meyer, Kai: Die Fließende Königin. Bindlach: Loewe 2003. 32 Einschlägige Beispiele hierfür sind die Narnia-Bücher von C.S. Lewis, Endes Unendliche Geschichte, Joanne K. Rowlings Harry Potter-Reihe sowie die Märchenmond-Bücher von Wolfgang und Heike Holbein. 33Dies ist der Fall in Endes Momo sowie dem Fantasy-Klassiker The Dark Rising (1973), dt. Wintersonnenwende (1977) von Susan Cooper, wo zwischen mehreren Zeitebenen hin- und hergewechselt wird. Zu dieser Kategorie zählt aber auch ein Großteil der sogenannten „Urban Fantasy“ wie Marzis Emily Laing-Trilogie und Der Greif von Wolfgang und Heike Holbein. Sie spielen mit den Welten einer oberen und unteren Stadt oder den Gesichtern ein und derselben Stadt in verschiedenen Welten. 34 Selbst in phantastischen Erzählungen ist dieses Strukturmerkmal nicht immer vorhanden. Ein Beispiel hierfür wäre etwa Sheridan LeFanus Erzählung „Green Tea“ von 1869. Hier reden die Figuren zwar permanent von einer zweiten, einer Geisterwelt; der Riss wird jedoch durch ein die Hauptfigur angeblich verfolgendes Wesen, ein „Affenbiest“, verursacht, über das nichts weiteres gesagt wird. Zu problematisieren wäre folglich die allgemein verbreitete Definition der literarischen Phantastik mittels des Strukturmerkmals der zwei Welten bzw. Handlungskreise. Als oberstes Gattungsmerkmal sollten demgegenüber auch hier die grundlegende Intention bzw. der zentrale Gehalt dieser Gattung angesetzt werden, die Infragestellung nämlich der als unumstößlich geltenden modernen Wirklichkeitsauffassung. Eine der möglichen Umsetzungen dieser Intention besteht in dem Aufbieten einer sekundären, einer magischmythischen Welt, deren Realität bzw. Irrealität dann zur Debatte stehen. Es reicht aber auch das Auftauchen eines einzelnen unbegreiflichen Phänomens, das sich jeder Erklärung entzieht und auch auf keine wie immer geartete sekundäre Welt verweist. 35 Hier sei nur angedeutet, dass es sich mit der kinderliterarischen Phantastik anders verhält: Deren zentrale Intention besteht m. E. darin, neben die moderne Wirklichkeitsauffassung die mythische Weltsicht der Kinder zu stellen und deren Koexistenz zu legitimieren. Die moderne Wirklichkeitsauffassung wird hier nicht infrage gestellt, sondern lediglich auf die Erwachsenen eingegrenzt. Die kinderliterarische Phantastik steht damit gewissermaßen zwischen (allgemeinliterarischer) Phantastik und Fantasy. 36 Die phantastische Erzählung gehört deshalb auch nicht in den Kreis der Gattungen, die eine Parodie vormoderner Genres darstellen. Sie als eine moderne Version der Sage zu bezeichnen, scheint mir angesichts der grundlegend verschiedenen Intentionen beider Genres problematisch zu sein. 37 Als eine allegorische politische Dichtung sind übrigens auch die Werke Tolkiens gelesen worden, wie deren Rezeptionsgeschichte zeigt. Den neuesten Forschungsstand verkörpern hier Alexander van de Bergh: Mittelerde und das 21. Jahrhundert. Zivilisationskritik und alternative Gesellschaftsentwürfe in J.R.R. Tolkiens ‚The Lords of the Rings‘. Trier. WVT 2005 (= Studien zur Anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft; Bd. 23) und Elke Kehr : Die wiederbezauberte Welt. Natur und Ökologie in Tolkiens ‚The Lord of the Rings‘. Wetzlar: Phantastische Bibliothek 2003. 38 Vgl. hierzu Maren Bonacker (Hrsg.): Peter Pans Kinder. Doppelte Adressiertheit in phantastischen Texten. Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium 16. bis 18. Mai 2003 . Trier: WVT 2004 (= Studien zur Anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft; Bd. 20) und Maren Bonacker (Hrsg.): Das Kind im Leser. Phantastische Texte als allages-Lektüre. Tagungsband zum wissenschaftlichen Symposium „Pinocchios Freunde“ 7. bis 9. Mai 2004. Trier: WVT 2007 (= Studien zur Anglistischen Literatur- und Sprachwissenschaft; Bd. 30). Sandra Beckett: Crossover Fiction. Global and Historical Perspectives. London, New York: Routledge 2009; Rachel Falconer: The Crossover Novel. Contemporary Children’s Fiction and its Adult Readership. London, New York: Routledge 2009; Agnes Blümer: Das Konzept Crossover – eine Differenzierung gegenüber Mehrfachadressiertheit und Doppelsinnigkeit . In: Kinder- und Jugendliteraturforschung 2008/09, Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang, 2009, 105-114. 39 Es ist an dieser Stelle der Hinweis nicht unangebracht, dass sich Boie bereits früher in einer bildlichen bzw. parabolischen Form politischer Dichtung erprobt hat: In Mellin, die dem Drachen befiehlt (1987) hatte sie versucht, Kindern im Grundschulalter die Ursachen von Xenophobie und die Sinnlosigkeit daraus resultierender kriegerischer Auseinandersetzungen klar zu machen. Mit dieser Form politischer Dichtung stand Boie nicht alleine da. Schon 1973 war Christine Nöstlinger in der märchenhaft-parabolischen Erzählung Sim sala Bim bemüht, Kindern ab 8 Jahren die Marx'sche Mehrwerttheorie zu vermitteln. (Ein Jahr zuvor waren übrigens F. K. Waechters und Bernd Eilerts Die Kronenklauers und Waechters Tischlein deck dich und Knüppel aus dem Sack erschienen, die als Parabeln auf den Kapitalismus gedacht waren.) Weder Nöstlingers noch Boies Erzählung sind auf besondere Resonanz gestoßen. Gewiss wirken diese Parabeln heute allzu durchsichtig und konstruiert; dennoch bleibt zu konstatieren, dass Kritiker und Vermittler für diese traditionsreiche Form politischer Dichtung wenig Verständnis aufgebracht haben. Von Gespenstern, Cyberspace und Abgründen des Ich Zu Aspekten von Spannung und Phantastik im Subsystem Kinder- und Jugendliteratur 1 von Carsten Gansel Voltaire notierte „Alle Kunstgattungen sind zulässig, mit Ausnahme der langweiligen". Bertolt Brecht sah die Chance von Kunst darin, Intellekt und Unterhaltung zu verbinden. „Kunst realisiert sich im Genuß", lautete eine seiner Maximen. In der Literaturkritik hat Marcel Reich-Ranicki wiederholt gerade diesen Aspekt von Brechts Kunstkonzeption hervorgehoben, gegen Langeweile polemisiert und sich für Texte eingesetzt, in denen Geschichten erzählt werden, die spannend und unterhaltsam sind. „Das Amüsante gilt als unseriös, dem Charme mißtraut man, das Leichte hat es schwer, das Spannende wird als dubios empfunden und das Witzige als undeutsch denunziert", so lautete seine kritische Bestandsaufnahme 1965. Statt dessen habe „das Langweilige, das sich würdig gibt, in Deutschland immerhin die größere Chance, ernst behandelt zu werden."2 Trotz einer Weitung des Literaturbegriffs und Veränderungen im Verhältnis von Literaturkritik und Universitätsgermanistik tut sich Literaturwissenschaft nach wie vor schwer mit sogenannter „spannender Literatur" und ihrer „Machart". Der Begriff „Spannung" ist im System literaturwissenschaftlicher Terminologie nicht als selbständiger eindeutig definiert. Damit in Verbindung stehende Fragen wie die der alten Rhetorik, welche Stilmittel in welchem Rahmen welche Effekte hervorrufen können, werden daher eher in einer praxis- bzw. handlungsorientierten Erzählforschung unter dem Stichwort „Kreativ schreiben" diskutiert als im akademischen Bereich. 3 Eine „zünftige Germanistik" hat Untersuchungen zum Phänomen „Spannung" wie auch zur Phantastik bevorzugt auf das Feld der trivialen bzw. der populären Literatur verwiesen oder eben auf das System Kinder- und Jugendliteratur.4 Da es sich aber bei populärer Literatur ebenso wie bei Kinder- und Jugendliteratur um Forschungsgegenstände handelt, die seit der Dominanz autonomieästhetischer Standards an der Peripherie des Literatursystems liegen, ist der Stellenwert, den derartige Untersuchungen im Kultursystem einnehmen, eher gering. 5 Mit anderen Worten, symbolisches Kapital im Sinne von Pierre Bourdieu, also „Prestige", „Autorität", „Berühmtheit", „Bekanntheit", „Anerkennung", „Reputation" ist durch Beschäftigung mit derartigen Gegenständen trotz der Öffnung des Literaturbegriffs im wissenschaftlichen wie literarischen Diskurs nur bedingt zu gewinnen. Das erklärt, warum mit dem Aufstieg autonomieästhetischer Konzepte Autoren – zumindest öffentlich – auf Distanz gegangen sind zur unterhaltenden Funktion von Literatur wie auch Texten, die auf eine konkrete „Zielgruppe" hin geschrieben wurden. 6 Freilich meldeten zunehmend jene Autoren Widerspruch an, die sich den populären Gattungen verbunden fühlten. Ray Bradbury etwa hat in der Erzählung „Ascher II" aus den „Mars-Chroniken" (1947) die Frage nach der öffentlichen Geringschätzung populärer Gattungen zu einer gleichermaßen phantastischen wie spannenden Erzählung gemacht: »Einen geschlagenen Tag lang, starr, trüb, tonlos und tief im Herbste des Jahres, war ich allein zu Pferde, unter dem bedrückend lastenden Wolkenhimmel, durch einen ungewöhnlich öden Strich Landes dahingeritten; und fand mich endlich, da die Schatten des Abends sich anschickten heraufzuziehen, angesichts des melancholischen Hauses Ascher... Mr. William Stendahl unterbrach sein Zitat. Vor ihm auf einem niedrigen schwarzen Hügel stand das Haus, und sein Grundstein trug die Inschrift 2005 n. Chr. Mr. Bigelow, der Architekt, sagte: Es ist fertig. Hier ist der Schlüssel, Mr. Stendahl.«7 Bradbury erzählt von einem neuen Haus Ascher II, das sich auf dem Mars befindet und ein Abbild jenes Hauses darstellt, das E. A. Poe in „Der Untergang des Hauses Ascher" beschreibt. Das Haus verbirgt ein Geheimnis, und der Protagonist, Mr. Stendahl, verfolgt konsequent einen Plan. Stendahl hat das Neu-Ascher nämlich einzig bauen lassen, um Rache zu nehmen an der irdischen Moralbehörde. Die hatte nicht nur Poe und alle „Schreckens- und Phantasiegeschichten" auf den Index gesetzt, sondern auch »all die herrlichen Erfindungen und Phantasieflüge der Literatur« verboten, selbst die Märchen von Rumpelstilzchen und Frau Holle.8 An einem Sonntagmorgen des Jahres 1975 wurden die spannenden und phantastischen Texte aufgereiht und verbrannt! Im Jahre 2005 ist der Tag der Rache gekommen. Das Haus Ascher II wird zur Falle, in der sämtliche »Mitglieder der Gesellschaft zur Verbannung der phantastischen Literatur, Befürworter des Verbots von Hexennacht und Guy-Fawkes-Tag, Fledermausmörder, Bücherverbrenner« zu Tode kommen. 9 Dabei sind die Räume des Hauses Ascher jenen in Poes Erzählung „Die Maske des roten Todes" nachgestellt, sie sind gewissermaßen eine virtuelle Kopie. Figuren, die auf diesem Szenario aktiv werden, stammen auch aus Klassikern der Kinderliteratur, Tweedledum und Tweedledee, Mockturtle und die Haselmaus aus Carolls „Alice im Wunderland" gehören dazu. Die Varianten für die unterschiedlichen Todesarten der Feinde von Spannung und Phantastik liefert Poes Werk selbst. Den Höhepunkt bildet die Tötung von Mr. Garett, dem Ermittler der Moralbehörde, er wird – es ist dies ein grausiges Ende – eingemauert. »Wissen Sie, warum ich Ihnen das antue?« fragt Mr. Stendahl, der Rächer der verfemten populären Literatur: »Weil Sie Mr. Poes Bücher verbrannt haben, ohne sie wirklich gelesen zu haben.«10 Doch anders als in Bradburys anti-utopischem Szenario sind die populären Texte nicht in Vergessenheit geraten, sie ziehen bis heute Leser in ihren Bann, weil sie Bedürfnisse nach Unterhaltung und Spannung erfüllen. Der offensichtliche Widerspruch zwischen geringer Wertschätzung im Literatursystem auf der einen und Erfolg beim Lesepublikum auf der anderen Seite hat Wissenschaftler und Publizisten angeregt, der Rolle nachzugehen, die der Kategorie Spannung in der Literatur zukommt. Eduard Engel suchte in einer frühen Untersuchung unter der inzwischen aktuellen Fragestellung „Was bleibt?" dem Entstehen von Weltliteratur auf die Spur zu kommen und gelangte zu der Überzeugung, daß die Geschichte der Weltliteratur beweist: „ohne Spannung durch das Kunstwerk selbst gibt es keine Dauer." An den Leser dürfe daher keine höhere Forderung gestellt werden als jene, „sich nicht gegen die Spannwirkung des Kunstwerkes (sie!) absichtlich oder böswillig zu sträuben". Für das damalige Kultur- wie Literatursystem fällte Engel ein vernichtendes Urteil: »Nur in einem so über- und verbildeten Lesergeschlecht wie dem heutigen, das sich nicht von seinen künstlerischen Urtrieben, sondern von dem verstiegenen ... Schwulst unkünstlerischer Literaturprofessoren leiten läßt, konnte der grundlegende Wert der Spannung durch Gegenstand und Kunstform verkannt, wohl gar verhöhnt werden.«11 Im Unterschied zu den „unkünstlerischen Literaturprofessoren" kam Engel bei seiner Suche nach der Rolle von Spannung in der (Welt-)Literatur auf die Jugendliteratur. Die Jugend nämlich sei „künstlerisch ganz anspruchslos; sie lechzt nach spannendem Stoff, nicht nach spannender Kunstform."12 Und in der Tat, bei aller Modernisierung ist nicht an dem Umstand vorbeizukommen, daß Kinder und Jugendliche auch heute in erster Linie am Spannungsgehalt eines Textes interessiert sind. Für kindliche wie jugendliche Leser ist zunächst der „Stoff, das „Thema", „die Handlung", also das „Was" der literarischen Darstellung entscheidend, sogenannte „literarischästhetische" Gesichtspunkte wie auch die Bedeutsamkeit des Textes im Literatursystem spielen eine untergeordnete Rolle.13 Das erklärt, warum Engel unter dem Gesichtspunkt „Spannung" auf die Märchen stieß. Ihren anhaltenden Erfolg bei Kindern wie Erwachsenen sah er gerade darin, daß die besten von ihnen den „Anforderungen an eine straffgespannte Fabelführung und reizvoll überraschende Lösung" standhielten. Dabei sei es nicht unbedingt die Charakterzeichnung, die die Dauer der Märchen verbürge, sondern insbesondere die „hochgespannte Erwartung der Geschehnisse", die „Handlung zwingt ... zum Aufhorchen."14 Man vergegenwärtige sich die Situation, als das ahnungslose Rotkäppchen den verkleideten Wolf nach der erstaunlichen Größe von Ohren, Augen, Händen und Maul fragt. Oder man denke an Rumpelstilzchen. Hier ist es die Spannung eines „scheinbar unauflösbaren Rätsels", denn wie soll der gänzlich unbekannte Name des kleinen Mannes von dem armen Weibe erraten werden? In diesem Falle macht also das Verzögern der fortschreitenden Handlung einen Teil der Spannung aus.15 Dabei ist für das Erzeugen der jeweiligen Spannung ein dosiertes Verhältnis von Anspannung und Abspannung, von Bewegung und Ruhe notwendig. II Spannung im Literatursystem Es steht die Frage, ob es außer der Handlung weitere Parameter gibt, die der Spannungserzeugung in der (Kinder- und Jugend-)Literatur dienen, ja wie wird überhaupt „Spannung" definiert? In literaturwissenschaftlichen Darstellungen erscheint Spannung als grundlegendes Element „für die Erregung von Neugier, Mitgefühl", sie kann in der „Geschehensstruktur eines Werkes liegen, kann aber auch aufgesetzt sein, z. B. als absichtliche Irreführung des Publikums mittels kalkulierter Effekte (z. B. im Trivial- und Kriminalroman)." 16 Die zunächst von wirkungsästhetischen Gesichtspunkten ausgehende Bestimmung des Begriffs führt zu einer strukturell begründeten literarischen (Ab-)Wertung ausgewählter Textgruppen. Damit wird – für die deutsche Literaturtradition typisch — eine Trennung in „U"- und „E"-Literatur bzw. „niedere" und „hohe" Literatur nahegelegt.17 Als Elemente von Spannung gelten im weiteren „Retardation, Verzögerung des Handlungsfortganges, Verschleierung der Handlungsbezüge, längere Ungewißheit über das Schicksal der Personen durch Einschübe..., aber auch Vorausdeutungen und Anspielungen."18 Gleichwohl bleibt vage, über welche Mittel sich nun konkret Spannungseffekte einstellen. In speziellen Untersuchungen zur Spannung in der KJL wird – wie schon bei Engel – an erster Stelle die Handlung als Mittel zur Spannungserzeugung genannt, wobei man unterscheidet zwischen Kettenhandlung, Rahmenhandlung, Doppelhandlung, verschlungener Handlung.19 Elemente, die der Spannungserzeugung dienen können, sind zudem der Reiz der Neuheit, offensichtliche Gegensätze, die Konfrontation zwischen entgegengesetzten Wertsystemen, ästhetischen Kategorien (u. a. Gut-Böse, Schön-Häßlich, arm-reich usw.). Wirkungsbezogene Erzählforschung hat – vom »Handwerk« des Schreibens ausgehend – inzwischen ein abgestuftes System von Elementen herausgearbeitet, die der Spannungserzeugung dienen. Methoden zur Erzeugung von Spannung sind: 1. Orientierung am Geheimnis (Verweigern von Informationen, Verrätselung, Erzeugen von Ungewißheit); 2. Orientierung an der Handlung (durch Aktion und Bewegung werden viele Begebenheiten aneinandergereiht); 3. Orientierung am Ziel (es geht um das Erreichen eines wichtigen Vorhabens); 4. Orientierung am Gefühl (Darstellen von Ereignissen, Personen, die gefühlsappellativ wirken, Anteilnahme befördern wie Liebe, Tod, Gewalt, Kinder usw.); 5. Orientierung an der Sensation (außergewöhnliche, unbekannte, phantastische, überraschende Ereignisse produzieren in der Regel Aufmerksamkeit, Neugier); 6. Orientierung am Normbruch (das Durchbrechen von Gesetzen, Normen, Werten kann Aufmerksamkeit erzeugen). Zu den „handwerklichen" Techniken von Spannungserzeugung zählen: a) das Erzeugen von Spannungsbögen (u. a. unerwartete Wendepunkte, aktionsgeladene Szenen, hohes Erzähltempo und Verlangsamung); b) das Produzieren von Geheimnissen (u. a. Anspielen auf Kommendes, Legen von Fährten; c) das Zusammenspiel des Erzählmaterials (Verflechtung von Handlungsbögen, Cliffhanger, d. h. Abbruch des Erzählfadens, wenn der Protagonist in höchster Gefahr ist); d) Normbrüche (die Figuren reagieren anders als erwartet).20 Die praktischen Hinweise zu Schreibtechniken sind zu ergänzen durch eine auch in der Kinder- und Jugendliteraturforschung vorgenommene Unterscheidung in äußere und innere Spannung. 21 Dabei befindet sich die äußere Spannung in einem direkten Bezug zur Handlung, ja sie entsteht aus dem Handlungsverlauf, etwa aus dem Aufeinanderstoßen von Gegensätzen, polar angelegten Figuren bzw. Gegnern, durch kontroversen Dialog. Äußere Spannung benötigt klar profilierte Charaktere, sie braucht Schauplätze und darauf das Austragen von Aktion. Die innere Spannung wirkt nicht durch die Handlungsfolge, sondern durch die Konzentration auf die Charaktere, die Gedanken, die Form. Bei der inneren Spannung steht das „seelische Erleben" im Vordergrund, der Dialog tritt zurück. Es nimmt nicht wunder, wenn in der KJL – aber nicht nur da – vor allem die äußere Spannung als bedeutsam empfunden wird, weil – wie Walter Scherf mit Recht vermutet – der jugendliche Leser, der „kaum ästhetisch urteilt und empfindet, ein gutes Maß an äußerer Spannung (verlangt), um überhaupt am Buch Gefallen zu finden."22 III Spannung und Phantastisches In dem Fall, da nach dem Zusammenhang von Spannung und Phantastischem gefragt ist, stößt man erneut auf Schwierigkeiten der definitorischen Bestimmung. Offen ist nämlich, ob es sich bei Phantastik bzw. dem Phantastischen um eine Gattung, eine Darstellungsweise, einen Stil oder eine Struktur handelt. Hinzu kommt, daß unter Aspekten von literarischer Wertung Texte der „phantastischen Literatur" – vor allem in der deutschen Diskussion – mit dem Makel des Trivialen, Unkünstlerischen versehen wurden. Und dies, obwohl die Entwicklung des Phantastischen in Frankreich, England, Amerika den deutschen Vorläufern – vor allem der romantischen Epoche – einiges zu danken hat.23 Texte von E. T A. Hoffmann („Nußknacker und Mausekönig", „Das fremde Kind") oder Ludwig Tieck („Die Elfen", „Der blonde Eckbert") zählen inzwischen zu Klassikern der Phantastik und wurden zur Kinder- und Jugendlektüre. Die literaturwissenschaftliche Diskussion in Deutschland vor und nach 1945, die hier nicht explizit dargestellt werden kann, bekam mit der Öffnung des Literaturbegriffs in den 70er Jahren einen Schub und wurde durch Arbeiten von französischen Theoretikern wie Roger Callois, Louis Vax, Tzvetan Todorov angeregt.24 Roger Callois und auch Louis Vax gehen nun – wie in der Diskussion um den Begriff „Spannung" – bei Überlegungen zum Phantastischen von der Ebene der Handlung und „stofflich-inhaltlichen" Besonderheiten aus. Betrachtet man die Struktur der Texte, in denen das Phantastische eine Rolle spielt, so scheint dieses Vorgehen geeignet, größere Teile der phantastischen Literatur zu erfassen. Handlungstheoretische Bestimmungen nutzen dabei als wesentliches Merkmal „den Riß". Er entsteht, wenn einer empirisch alltäglichen, von rationalen Gesetzmäßigkeiten bestimmten fiktiven Welt, eine Welt des irrational-unerklärlichen gegenübertritt und der punktuelle Zusammenstoß beider Bereiche einen „Skandal" oder „Riß" bewirkt. Folgerichtig erfordert für Louis Vax das „Phantastische im strengen Sinne" den „Einbruch eines übernatürlichen Ereignisses in eine von der Vernunft regierte Welt".25 Und bei Callois heißt es: „Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist." 26 Durch die Konfrontation zweier (fiktiver) Welten werden bisherige Denk- und Verhaltensweisen in Frage gestellt und müssen überprüft werden. Mit dem Einbruch des Phantastischen ist zumeist der Reiz des Neuen verbunden, das Außergewöhnliche, Bizarre, Nichtvorstellbare geschieht, ein Geheimnis muß gelöst werden (ein Geheimnis des Objekts, der Figur, der Zeit, des Ortes), Konflikte brechen auf, Hindernisse entstehen. Es sind dies genau jene Effekte, die im Bereich des „creativ writing" als Mittel von Spannungserzeugung betont werden. Die Frage etwa, auf welche Weise das Geheimnis gelöst, die Hindernisse überwunden, das Ziel erreicht wird, kann beim Leser Spannung erzeugen. Um ein Beispiel zu geben: Christine Nöstlingers inzwischen zum Klassiker avancierter Kinderroman „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig" läßt an einem Ostersonntag die Familie Hogelmann in ihrer Küche ein gurkenähnliches Gebilde mit einer goldenen Krone auf dem Kopf entdecken. Wie in den theoretischen Überlegungen von Vax und Callois bewirkt der Einbruch des Gurkenkönigs in das „normale" Alltagsleben der Familie Hogelmann einen Skandal. Die Mutter, konfrontiert mit dem Übernatürlichen, steht vor dem Zusammenbruch, und in der Folge wirkt das phantastische Element als Katalysator, unausgesprochene Konflikte in der Familie werden offenbar, spitzen sich zu und die (spannende) Frage steht, auf welche Weise eine Lösung erfolgt. Dabei werden verschiedene Spannungsbögen bzw. Geschichten (u. a. Agieren des Gurkingers, Schulprobleme der Kinder, KumiOri-Gesellschaft im Keller, Mißerfolgsgeschichte des Vaters) miteinander verbunden. Im Fall des „Gurkenkönigs" erzeugt der auf der Textebene ablaufende Auftritt des phantastischen Monsters bei den literarischen Figuren einen „Skandal", produziert Verunsicherung und damit suspense, also eine schwebende Ungewißheit. Es ist die Figur der Mutter, die – konfrontiert mit dem Übernatürlichen – einen Schock erleidet. Die kindlichen Protagonisten halten sich dagegen offen und reagieren locker. Auch auf den (kindlichen) Leser wirkt die Situation nicht beängstigend, sondern unterhaltend, humorvoll, spannend. Eine wirkliche Gefährdung ist nicht zu erkennen, weil Größe, Aussehen wie die skurrile Sprache keinen Zweifel an der Unterlegenheit des Gurkenkönigs lassen und er sich von Beginn an – wie dann der Vater – durch das Mißvervältnis von Schein und Sein desavouiert. Gleichwohl gibt es im Bereich der Phantastik Textgruppen, die gerade aus dem Aufbau von Unschlüssigkeit auf der Figuren wie Leserseite ihre Spannungseffekte ziehen. Im Fall der Schauer- und Horrorliteratur kann das bis zum Entstehen von Gefühlszuständen wie Angst, Schrecken, Schauder gehen, was allerdings kein hinreichender Grund ist, die Texte pauschal dem Trivialen zuzuordnen. Unter strukturellen wie wirkungsästhetischen Gesichtspunkten ist es ja gerade die Verbindung von Phantastischem, Spannung und Humor, die – zumindest im KJL-System – eine Reihe von Texten zu Kinderbuchklassikern gemacht hat.27 Der Einsatz des Phantastischen kann nämlich ein „Kontinuum der Reflexion" (F. Schlegel) entstehen lassen, es ergeben sich „Leerstellen", die von kindlichen wie erwachsenen Lesern „konkretisiert" bzw. aufgefüllt werden und eine Vielzahl von Lesarten ermöglichen. Insofern entsprechen gerade phantastische Texte jenen für das Literatursystem in Anschlag gebrachten Makro-Konventionen: Erstens der ästhetischliterarischen Konvention und zweitens der Polyvalenzkonvention. Die ästhetisch-literarische Konvention (ÄLK) besagt nämlich, daß innerhalb eines literarischen Systems literarische Texte nicht nach ihrem praktischen Nutzen (nützlich/nutzlos) bzw. ihrem Wahrheitswert (wahr/falsch) rezipiert und bewertet werden. Das Vorkommen eines phantastischen Monsters oder das Eintreten einer Figur in die phantastische Welt eines Buches im Buch läßt kaum Zweifel daran, daß hier Fragen von „wahr/falsch"; „wirklich/unwirklich" suspendiert sind. Die Polyvalenzkonventiont (PK) impliziert eine Mehrdeutigkeit literarischer Texte, sie meint vielfältige Sinngebungen, Bedeutungen, Botschaften.28 Die phantastischen Bilder etwa vom Elfenbeinturm, der Farbwüste Goab oder dem Nachtwald Perelin in der „Unendlichen Geschichte" sind ebenso vieldeutig wie etwa der Ausgang von E. T .A. Hoffmanns „Nußknacker und Mausekönig".29 IV Phantastisches und Phantastik – ein Arbeitsbegriff Es bleibt mindestens die Frage, ob es sich beim Phantastischen um eine Gattung, eine Darstellungsweise, einen Stil oder eine Struktur handelt. Mit dem folgendem Arbeitsbegriff sei eine Verständigungsbasis geschaffen, der sowohl die verschiedenen Theorieansätze aufgreift, als auch eine Erklärung in Hinblick auf die Verbindung von Phantastik und Spannung versucht: Danach ist Phantastisches dadurch gekennzeichnet, daß es von den Wahrscheinlichkeiten einer bestimmten historisch-sozialen Erfahrungswirklichkeit – der sogenannten „realistischen Fiktion" („in den Formen des Lebens"), bei der Elemente gemäß der Logik ihrer Verknüpfung in der realen Welt auch in der künstlerischen Darstellung miteinander verbunden sind –, dadurch weit abweicht, daß auf der Ebene der literarischen Darstellung die Elemente (Figuren, Handlungen, Episoden, Zustände, Ereignisse) so miteinander in Verbindung gesetzt werden, wie das in der empirischen Wirklichkeit nicht oder noch nicht möglich ist. Dabei werden die Gesetze der Logik, auch wenn für das inkompatibel erscheinende Zusammenspiel der Elemente eine rationale oder pseudorationale Erklärung gegeben wird (Science Fiction), zumeist bewußt durchbrochen oder aber ausgeweitet. Mit anderen Worten: Auf der Ebene der Darstellung erscheint Unmögliches als möglich und wird eine die Grenzen empirischer Wirklichkeit überschreitende künstlerische Spielwelt aufgebaut. Dabei ist zu beachten, daß die „Erkenntnis" des Möglichen historisch determiniert ist und damit auch das, was zu einem bestimmten Zeitpunkt für phantastisch gehalten wird oder auch nicht, Wandlungen unterliegt. Erst wenn das Phantastische zur „systemprägenden Dominante" (H. R. Jauß) wird, d. h., die phantastischen Mittel komplex angewendet werden und das Zusammenspiel der Darstellungselemente entscheidend bestimmen, sollte von Phantastik gesprochen werden. Ausprägungen bzw. Varianten der Phantastik sind – gemessen an ihrem Anteil an phantastischen Elementen –: Märchen, Utopie, Science Fiction, Gothic Novel, Anti-Utopie, phantastische Erzählung oder Fantasy. Dabei zeichnet sich in der Gegenwartsliteratur eine Tendenz zur Synthese unterschiedlicher Formen des Phantastischen ab. Das Phantastische als Form künstlerischer Darstellung ist ein genreübergreifendes Mittel und kann auch in Texten auftreten, die dennoch nicht zur phantastischen Literatur gezählt werden. In der „nichtphantastischen" Literatur treten phantastische Elemente vereinzelt auf, sind nur punktuelle Störungen in einer ansonsten dem Realen verpflichteten Spielwelt (etwa als integriertes Element von Träumen der literarischen Figuren). Besonders die bildhaften Elemente (Parabel, Allegorie, Hyperbel) und die sprachlichen Bilder (Metapher, Metonymie, Vergleich) werden als Mittel des Phantastischen in künstlerischen Darstellungen genutzt.30 Nicht zuletzt sind bei Definitionsversuchen wie diachron angelegten Darstellungen zum Phantastischen „Historizitätsvariablen" anzunehmen. Das heißt, in einer Epoche, da das menschliche Bewußtsein der Wirklichkeit ein latent phantastisches Potential zugesteht, wo der Glaube an Geister, Werwölfe, Vampire, Hexen oder das Weiterleben nach dem Tod noch ungebrochen existiert, wo das Wunderbare noch nicht verdrängt ist und man der Existenz magischer Kräfte die gleiche Existenz zuschreibt wie wissenschaftlich erklärbaren Phänomenen, wird ein Text, in dem ein solches „Ereignis" eine Rolle spielt als „nicht-phantastisch" und damit als „mimetisch" bzw. „realistisch" gelten. Das hat Folgen: Ein und dasselbe Phänomen, also etwa das Vorkommen eines Geistes, kann je nach dem existierenden kulturellen System „phantastisch" oder eben „nicht-phantastisch" sein. Von daher erweist sich der jeweilige Wirklichkeitsbegriff als eine entscheidende „Historizitätsvariable".31 V Phantastisches und Spannung in der aktuellen KJL Will man nunmehr aktuellen Varianten des Phantastischen auf die Spur kommen, so liegt es nahe, von den inzwischen existierenden Typologien auszugehen.32 Eine Sichtung der Erscheinungsformen des Phantastischen macht eine Beschreibung von Tendenzen möglich und zeigt, daß auch in der KJL inzwischen feste „Darbietungsformen" des Phantastischen existieren, also bestimmte Grundformen, die – gewissermaßen unter „Wiederholungsszwang" (S. Freud) – wiederkehren.33 Geht man von den bekannten Grundtypen des Phantastischen aus, dann lassen sich auch Texte der 80er und 90er Jahre Modellen zuordnen, deren tertium comparationis der Status des Phantastischen ist und damit die Frage nach dem Verhältnis von real-fiktiver und phantastische Handlungsebene. Vereinfacht lassen sich folgende Modelle unterscheiden: Grundmodell A: In die real-fiktive Welt treten plötzlich Figuren, Gegenstände, Erscheinungen, die aus einem phantastischen Handlungskreis kommen oder innerhalb der real-fiktiven Welt laufen phantastische Veränderungen (Verwandlungen) ab. Zu denken ist an Klassiker wie Pamela Travers „Mary Poppins", Christine Nöstlingers „Wir pfeifen auf den Gurkenkönig", Irina Korschunows „Wenn ein Unugunu kommt". Der Grundtyp A stellt die wohl bekannteste Variante des Phantastischen in der KJL dar und wird auch in den 80er/90er Jahren in vielfach modifizierter Form genutzt. Betrachtet man den aktuellen Literaturprozeß, so lassen sich so unterschiedliche Texte wie Jo Pestums „Der Pirat auf dem Dach" (1986), Bea de Kosters „Verhext und zugenäht" (1996), Hans Magnus Enzensbergers „Der Zahlenteufel" (1997), Cornelia Funkes „Zottelkralle das Erdmonster" (1994), Jostein Gaarders „Durch einen Spiegel in einem dunklen Wort" (1996) typologisch diesem Modell zuordnen. Eine aktuellere Variante ist vor dem Hintergrund der technologischen Modernisierungsschübe in den 90er Jahren hinzugekommen, die sogenannte ,,Discworld-Novel".34 Sie nutzt traditionelle Motive des Phantastischen wie Verwandlung, Zeitreise, Gedankenlesen. Allerdings werden nunmehr die rationale Gesetzmäßigkeiten überschreitenden Ereignisse durch das Ausnutzen der Möglichkeiten des Computers motiviert. Nicht geheime Mächte oder phantastische Fähigkeiten also führen zur Wirklichkeitsdehnung, sondern die Computer- bzw. Mediensimulation. Das scheinbar gegen Gesetze der Kausalität verstoßende Ereignis erhält auf diese Weise – wie in der Science Fiction – eine rational-logische Erklärung.35 Dabei kann die Begründung für den Normbruch am Anfang stehen wie in Chloe Raybans »Echt unecht« (1996). Hier verläßt die Protagonistin nach einer „Virtual Reality-Ausstellung" das Medienstudio geschlechtsumgewandelt als junger Mann. 36 Die (spannende) Frage besteht nun darin, was die Protagonistin als junger Mann/Frau erlebt und ob ihr eine Rückverwandlung gelingt. Insofern geht es im Text letztlich um die Lösung eines Geheimnisses, dazu werden Fährten gelegt und Spannungsbögen erzeugt, indem unerwartete Wendungen eintreten oder aktionsreiche Szenen ablaufen. Bei Andreas Schlüter in „Der Ring der Gedanken" (1995) bleibt das phantastische Geheimnis zunächst unaufgelöst: Der Computerfreak Ben findet in einem Elsternest einen Ring, der Gedanken lesen kann. Zustande kommt eine Verrätselung, es entsteht eine schwebende Ungewißheit (Warum geschieht das, was hat es mit dem Ring auf sich, was ist geschehen, droht eine Gefahr, was wird weiter passieren? usw.). Wie bei Rayban wird aber auch bei Schlüter das phantastisch anmutende Geheimnis letzten Endes rational aufgeklärt, im Ring der Gedanken ist nämlich ein Computerchip eingebaut. Grundmodell B. Durch bestimmte Schleusen gelangt man aus der real-fiktiven Welt in die phantastische und zurück. Bei diesem Modell handelt es sich um eine klassische Variante des Phantastischen, die insbesondere in Texten der Romantik ihre Ausprägung gefunden hat. In Ludwig Tiecks „Die Elfen" oder E. T A. Hoffmanns „Das fremde Kind" werden über die kindlichen Protagonisten als Grenzgänger zwei Welten miteinander in Verbindung gebracht. Das ist im Rahmen romantischen Selbstverständnisses kein Zufall, denn hier wird einzig Kindern die Eigenschaft zugeschrieben, in beiden Welten heimisch zu sein, weil sie noch nicht das Rationale favorisieren, das Wunderbare annehmen, sensibel und offen gegenüber andersgearteten Wirklichkeitserfahrungen sind. Literaturgeschichtlich gesehen, finden sich in nachfolgenden Texten Spuren dieses romantischen Kindheitsbildes, wenngleich es seine Gültigkeit verloren hat. 37 Dort, wo die kindlichen Figuren Grenzgänger zwischen real-fiktiver und phantastischer Welt sind, existieren Schleusen. In Lewis Carolls „Alice im Wunderland" ist der Umsteigepunkt zwischen realfiktiver und phantastischer Welt ein Mauseloch, bei Erich Kästners „Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee" funktioniert die Tür eines Kleiderschrankes als Schleuse. Neuere Texte, die mit dem Motiv des Grenzgängertums arbeiten und eine Verbindung zwischen zwei Welten schaffen, sind: Tormod Haugens „Die Juwelen des Zaren" (1995), hier wird – wie in romantischen Texten – ein Spiegel zur Schleuse oder Jostein Gaarders „Das Kartengeheimnis" (1995), wo, wie in Michael Endes „Unendlicher Geschichte", ein Junge über ein Buch in eine phantastische Welt gerät. Auch Peggy Christians „Die erlesenen Abenteuer der Maus Cervantes" (1997) funktioniert nach diesem Prinzip: Cervantes, die Buchladenmaus flüchtet ins Phantastik-Regal und fällt in einen mittelalterlichen Folianten. Auf rätselhafte Weise gerät sie selbst in die Geschichte, die darin erzählt wird. Die veränderten technischen Möglichkeiten im Medienzeitalter haben eine Aktualisierung auch dieses Grundtyps bewirkt, eine weitere Form der „Discworld-Novel": über den Computer geraten die Protagonisten in eine andere, zumeist virtuelle Welt. Bei Andreas Schlüters „Level 4 – Die Stadt der Kinder" (1994) wird aus einem Computerspiel Wirklichkeit. In seinem Text „Die Zeitfalle" (1996) ist es ein Cyberspace-Tunnel, der die Protagonisten in das Florenz des 16. Jahrhunderts führt, eine aktuelle Adaption des traditionellen Motivs der Zeit-Reise. Auch in Gilian Gross' „Auf Wiedersehen im Cyberspace" (1996) ermöglicht der Computer das Umsteigen in eine virtuelle Welt. Grundmodell C. Die Konstruktion von eigenen phantastischen Welten, die in verfremdeter Form Spiegelbild der realen sein können. J. R. R. Tolkiens „Herr der Ringe" oder „Der kleine Hobbit" sind klassische Beispiele für eine Variante des Phantastischen, in der die Existenz von zwei Handlungskreisen (real-fiktive Ebene vs. phantastische Ebene) aufgehoben wird zugunsten der Konstruktion einer phantastischen Eigenwelt. Texte dieser Art stehen dem Märchen insofern nahe, als der gesamte Text sich auf einer (wunderbar-phantastischen) Ebene bewegt, es existiert ein (phantastischer) Handlungskreis, Störungen bzw. Skandale werden durch phantastische Ereignisse nicht ausgelöst. Als eine spezifische Variante hat sich inzwischen das Subgenre Fantasy etabliert, in dem Magie, Zauber, Ritual eine entscheidende Rolle ebenso zukommt wie den Mythen. Zu Dean R. Koontz „DieNacht der Zaubertiere" (1988/1992), Patricia Wrightsons „Wirrun-Triologie" oder Christopher Zimmers „Die Steine der Wandlung" (1996) sind Beispiele für Formen von Fantasy. 38 Henky Hentschels „Die Charlies haben die Märchen geklaut" (1997) ist ein Text, der davon erzählt, was geschieht, wenn den Menschen die Märchen und damit ein Teil ihres Gedächtnisses gestohlen wird. Wie im Märchen stehen sich „gut" und „böse" gegenüber, und der Kampf wird durch einen Defizit-Helden entschieden. Philip Ridley liefert in „Kasper und der Glitzerkönig" (1994/1997) ein verfremdetes Bild von aktuellen Entwicklungen in sogenannten (post)modernen Erlebnisgesellschaften, Glitz und Glimmer auf der einen, Schutt und Verfall auf der anderen Seite. Auch Anti-Utopien, also Texte, die der literarischen Antizipation von möglichem Zukünftigem, aber absolut zu Verhinderndem dienen, gehören zu diesem Grundtyp: Ben Bova „Gefangen in New York" (1981), Charlotte Kerner „Geboren 1999" (1990), Thea Dubelaar „Das Experiment" (1995/1996), Iva Prochazkova „Eulengesang" (1995), Leonardo Wild „Unemotion. Roman über die Zukunft der Gefühle" (1996), Karin Hesse „Phoenix Rising"(1997). Der Wert derartiger typologischer Unterscheidungen ist begrenzt, weil mit der Zuordnung zu Grundmodellen und -typen wenig über die Textspezifik, die Funktion des Phantastischen wie die literarische Qualität gesagt ist. Zu fragen wäre zudem, ob und welcher Zusammenhang zwischen dem konkret historisch-kulturellen Umfeld, also den Entstehungsbedingungen des Textes, dem jeweiligen Kulturcode, der Zeitströmung, dem Zustand des gesellschaftlichen Bewußtseins und den Erscheinungsformen des Phantastischen besteht (Historitätsvariablen). VI Phantastisches und Spannung als Wertungsprobleme Grundsätzlich erscheint es problematisch, die Existenz fester „Darbietungsformen" des Phantastischen als tendentiell überholt oder gar als „publikumswirksamen Anachronismus" abzuwehren. In diesem Falle würden Texte, die wenig oder nichts mit dem aktuellen Kulturcode zu tun haben und auf gesellschaftlich relevante Zeitströmungen nicht reagieren ebenso unter Kritik geraten wie solche, die formal keine neuen literarischen Wege gehen. Gerade für den zur Rede stehenden Gegenstand ist mitzudenken, daß das Phantastische ein legitimes Mittel ist, Lesebedürfnissen nach Spannung, Abenteuer, Spiel, Erfahrungserweiterung nachzukommen. Insofern kann ein Text wie Cornelia Funkes „Zottelkralle das Erdmonster" (1994), der typologisch dem ersten Grundmodell zuzuordnen ist, (Einbruch des phantastischen Ereignisses in die realfiktive Welt), nicht schon deswegen literarisch unter Kritik genommen werden, weil er das Phantastische in traditioneller Weise nutzt und gewissermaßen auf eine „überzeitliche" Konstante phantastischer Mittel setzt: die Möglichkeit durch phantastische Accessoires eine aktionsreiche äußere Handlung zu motivieren, die Komik und Spannung erzeugt. Bereits der Textbeginn gibt Auskunft über Wirkungsintention wie literarischen Anspruch der Autorin, für die Spannung und Lesespaß im Zentrum stehen: „Zottelkralles Höhle lag gut versteckt unter einem alten Gartenschuppen. Direkt neben der von Stinkefell und Trüffelzahn." 39 Der Handlungsort „Höhle" zählt zum klassischen Inventar von Kindererzählungen und allein die Possesivkomposita „Zottelkralle", „Stinkefell", „Trüffelzahn" zielen auf die kindliche Affinität zur sprachlichen Normverletzung. Die Spannung des kindlichen Lesers soll weiter angeregt werden, indem vorausdeutend von einem geheimen Plan, also einem Geheimnis, die Rede ist. Zottelkralle, das Erdmonster, hat nämlich eine Idee: „Er wollte zu den Menschen ziehen" (S. 13). Wenig später kommt es dann zum „Einbruch" des Monsters in die von der Vernunft regierte Welt: „Der kleine Mensch, in dessen Bett Zottelkralle gekrochen war, hieß Kalli." (S. 17) Mit dem Einsatz der phantastischen Figur beginnen erwartungsgemäß Turbulenzen. Episoden von der Verwüstung des Kinderzimmers, dem Verspeisen von Radiergummis, dem Trinken von Haar-Shampoos oder dem lümmelhaften Angriff des Erdmonsters auf die Mutter bedeuten eine Kombination von bekannten Elementen (Zerstören von..., Verspeisen von..., Trinken von...), deren äußere Funktion darin besteht, Situationskomik zu erzeugen: „Hilfe", kreischte Kallis Mutter. „Hilfe, es will mich fressen!" Entsetzt wich sie vor dem wütenden Monster zurück. Zottelkralle spuckte ihr auf die spitzen Schuhe. „Zottelkralle! Laß sie in Ruhe!" rief Kalli und versuchte ihn festzuhalten. „Zottelkralle!" Ärgerlich stieß das Monster ihn zur Seite, und Kalli landete im umgekippten Honig. „Zu Hilfe", rief Kallis Mutter und floh mit zitternden Knien aufs Klavier. Knurrend kletterte Zottelkralle hinterher. Auf den Sesseln ging die wilde Jagd weiter... (S. 44) Filmkomödien oder erfolgreichen Trickfilmen folgend, werden in rascher Folge (vermeintliche) Gags produziert, die nach traditionellem Muster funktionieren: Wenn der Unglücksrabe oder Tölpel den Schrank öffnet, fallen ihm Tassen und Teller entgegen, setzt er sich auf den Stuhl, so will es die Tücke des Schicksals, daß dort Reizwecken, Nägel, eine Wasserschüssel, ein Kaktus oder eine Torte plaziert sind usw.40 Problematisch an Cornelia Funkes Text ist daher weniger der „Wiederholungszwang" unter dem das Phantastische steht, sondern die Tatsache, daß es einzig als Garant dafür gilt, um es irgendwie lärmen, stinken, knallen, spritzen, fallen, brechen zu lassen. Der so entstehende „Klamauk" bleibt Selbstzweck, die Effekte besitzen keine über sich hinausweisende Funktion, sie sind für sich bereits letzte Steigerung des Schrillen, Lauten, Eindeutigen. „ComicEffekte" oder „Hokospokus" nennt Jostein Gaarders Philosphielehrer Alberto den beliebig erscheinenden Einsatz phantastischer Elemente.41 Gleichwohl muß man Cornelia Funke zugute halten, daß ihre „Erdmonstereien" weder auf Polyvalenz zielen noch auf literarische Innovation. Anvisiert sind Leseanfänger und kindliche Rezipienten, die einen Text bevorzugen, der „spannend bis zum Schluß" und „leicht zu lesen" ist. Texte, die diesem Mechanismus folgen, wird es insbesondere im Bereich des Erstlesebuches auch weiterhin geben, und sie erfüllen eine legitime Funktion, nämlich Lesefertigkeiten mit ausbilden zu helfen. Den literarischen Konventionen selbst des kinderliterarischen Systems allerdings entsprechen sie nur bedingt, einer besonderen literaturkritischen Aufmerksamkeit bedürfen sie nicht, und als moderne (phantastische) Kinderund Jugendliteratur können sie nicht gelten.42 ♦ Anmerkungen 1 Bei dem Beitrag handele es sich um die durchgesehene Fassung eines Vortrages auf der 33. Tagung des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung (Wien) zum Thema „Spannendes Entspannen in Kinder- und Jugendmedien" (25.–30. August 1997). 2 Marcel Reich-Ranicki: Ist das Leichte verächtlich? (1965) In: Ders.: Nichts als Literatur. Aufsätze und Anmerkungen. Stuttgart 1995 (1984). S. 35. 3 In Deutschland hat das sogenannte „creative writing" – anders als in den USA – bislang keinen Platz in der universitären Lehre. Auf diesen Aspekt haben im Rahmen von Wertungsfragen Renate von Heyebrand und Sabine Winko hingewiesen. Siehe Dies.: Einführung in die Wertung von Literatur. Paderborn u. a. 1996. 4 Vgl. dazu erneut Hans Richard Brittmacher: Ästhetik des Horrors. Frankfurt/M. 1994. 5 Siehe dazu ausführlich meinen Beitrag: Systemtheorie und Kinder- und Jugendliteraturforschung. In: Hans-Heino Ewers u. a. (Hrsg.): Kinder- und Jugendliteraturforschung 1994/95. Stuttgart, Weimar 1995, S. 25–42. 6 Friedrich Schiller etwa wehrte seinen spannend-phantastischen „Geisterseher" – dem mainstream folgend – als schäbige Brotkunst ab und dies, obwohl der Text weitaus erfolgreicher war als seine „Räuber". 7 Ray Bradbury: Die Marschroniken. München 1997 (1946), S. 145. 8 Ebenda, S. 148. 9 Ebenda. S. 156. 10 Ebenda, S. 164. 11 Eduard Engel: Was bleibt? Die Weltliteratur. Leipzig 1928: Koehler &. Amelang, S. 631. Marcel Reich-Ranicki hat Mitte der 60er Jahre kritisiert, daß ein Erzähler wie Theodor Fontane von der „offiziellen deutschen Literaturwissenschaft wenig beachtet oder geradezu abgewertet worden (ist)". 12 Eduard Engel: Was bleibt?.... ebenda, S. 644. 13 Vgl. dazu Verf.: Die moderne Kinderliteratur als literaturdidaktische Herausforderung. In: Deutschunterricht (Berlin), 7/8/1994, S. 352–362; Ders.: Was ist modern an der modernen Kinderliteratur? Moderne Kinderliteratur zwischen Spätaufklärung und Postmoderne. In: Deutschunterricht (Berlin), 5/1995, S. 226–236. 14 Eduard Engel: Was bleibt?.... a. a. O., S. 15 Die besondere Bedeutung der Handlung für das Erzeugen einer Grundspannung findet sich bereits in der Ästhetik des Aristoteles etwa in den Überlegungen zur dramatischen Form. Als Endziel der Tragödie sah Aristoteles die „Begebenheiten" und die „Fabel", und et ging davon aus, daß die Tragödie zwar „ohne besondere Charaktere" auskommen könne, aber nicht „ohne Handlung". Zudem seien die „eindrucksvollsten Bestandteile der Tragödie Züge der Fabel..., nämlich die Spannungen und die überraschenden Erkennungsauftritte..." 16 Spannung. In: Metzler Literaturlexikon. Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. Stuttgart 1990, S. 436. 17 Die Trennung in hohe und niedere Literatur existiert im angloamerikanischen Sprachraum so nicht. Autoren, die zur Weltliteratur zählen, wie Shakespeare, Balzac, Dickens, Tolstoi, Flaubert, Brecht usw. haben mit ihren Texten immer auch spannende Unterhaltung geboten. 18 Spannung. In: Metzler Literaturlexikon..., a. a. O., S. 436. 19 Walter Scherf: Strukturanalysen der Kinder- und Jugendliteratur. Bad Heilbronn 1978, S. 70–77, S. 99 ff. 20 Siehe Fritz Gesing: Kreativ Schreiben. Handwerk und Techniken des Erzählens. Köln 1994, S. 156 ff. Siehe auch Jürgen vom Scheidt: Kreatives Schreiben. Texte als Wege zu sich selbst und zu anderen. Frankfurt/M. 1989. 21 Siehe dazu frühe Positionen etwa von Josef Reding: Äußere und innere Spannung im Jugendbuch. In: Jugendliteratur, 8/1957, S. 360—363 oder Richard Bamberger: Jugendlektüre. Wien 1965, S. 74–77. Auch Scherf greift auf diese Positionen zurück. Die Frage nach der Spannung spielt verständlicherweise auch eine Rolle in Untersuchungen zum Kriminal- bzw. Detektivroman. Siehe beispielsweise Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie und Geschichte der deutschen Detektiverzählung im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1978. 22 Walter Scherf: Strukturanalysen..., a. a. O-, S. 75; siehe auch Josef Reding: Äußere und innere Spannung..., a. a. O., S. 360. 23 M. G. Lewis „The Monk" (1798) ist von der deutschen Räuber- und Schauerromantik beeinflußt. Das von Johann August Apels und Friedrich Laun herausgegebene „Gespensterbuch" (1810/1812) fand eine begeisterte Lesergemeinde auch in Frankreich und beeinflußte die späteren Vampirerzählungen etwa Byrons. Siehe dazu die Studie von Hans Richard Brittmacher: Ästhetik des Horrors. Frankfurt/M. 1994. 24 Dabei dürfen Unterschiede etwa in der Diskussion um das Phantastische in der Bundesrepublik und der DDR nicht unterschlagen werden. Im Kontext mit der kulturpolitischen Abwehr der Romantik kam es in der DDR-Literatur erst im Laufe der 70er Jahre zum Durchbruch des Phantastischen. Siehe dazu meinen Beitrag: Mobilisierung der Phantasie oder Versuch über das Phantastische in der DDR-Prosa. In: DDR-Literatur '88 im Gespräch. Hrsg. von Siegfried Rönisch. Berlin und Weimar 1989, S. 66–99. 25 Louis Vax: die Phantastik. In: Phaicon 1. Hrsg. von Rein A. Zondergeld. Frankfurt/M. 1974, S. 17. 26 Roger Callois: Das Bild des Phantastischen. Vom Märchen bis zur Science Fiction. In: Ebenda, S. 46. 27 Zu nennen sind Kinderbuchklassiker wie „Nußknacker und Mausekönig", „Pu der Bär", „Pinocchio", „Pippi Langstrumpf, „Alice im Wunderland", „Jim Knopf, „Momo", „Die unendliche Geschichte", „Der kleine Wassermann", „Sophies Welt". 28 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft. Frankfurt/M. 1991. Der Frage, ob die beiden Makro-Konventionen durchgängig für das KJL-System gelten, kann hier nicht nachgegangen werden. Siehe dazu auch Verf.: Systemtheorie und Kinder- und Jugendliteraturforschung..., a. a. O., S.31 f. 29 Für Michael Ende war es ein Ziel, „Bildergeschichten zu finden, die genau das offenlassen, d. h., die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen." (Michael Ende/Jörg Krich-baum: Die Archäologie der Dunkelheit. Gespräche über Kunst und das Werk des Malers Edgar Ende. Stuttgart 1985, S. 52 f.) 30 Vgl. dazu auch Verf.: Phantastisches und Michael Endes „Die unendliche Geschichte". In: Schauplatz 2. Berlin 1988, S. 67–77. Siehe auch meinen Beitrag: Phantastisches und moderne Kinderliteratur. Riezlern 1993 (unv. Manuskript, Teil I, II). 31 Derartigen Fragen kann in diesem Rahmen nur ansatzweise nachgegangen werden. 32 Gerhard Haas: Struktur und Funktion der phantastischen Literatur. In: Wirkendes Wort, 5/1978, S. 340-356; Gerhard Haas, Göte Klingberg, Reinbert Tabbert: Phantastische Kinder- und Jugendliteratur. In: Gerhard Haas (Hrsg.): Kinder und Jugendliteratur. Ein Handbuch. 3. völlig neu bearbeitete Aufl. 1984, S. 267 ff. 33 Es sei allein auf das Motiv der Geister- und Vampirgeschichten verwiesen oder das Hineinversetzen von phantastischen Monstern auf eine real-fiktive Ebene. 34 Siehe dazu Karin Sollat: Grenzen der Phantasie oder: Warum erscheint kaum noch spezifisch jugendliterarische Science fiction? In: Julit, Heft 3/1997, S. 68-71. Der anregende Beitrag ging mir erst bei der Durchsicht des Manuskripts zu. 35 Die spezifische KJL folgt hier einem Trend zum Cyberpunk, der bereits die Science Fiction der 80er Jahre kennzeichnete und die in William Gibson einem Kultautor („Neuromancer", 1985) besitzt. In Cyberpunk-Texten geht es um das Eintreten in virruelle Räume, um Geisterfahrer auf Datenautobahnen, um Hacker, Virenleger und ihre Bekämpfer. Siehe dazu auch die Beilage der „Süddeutschen Zeitung" vom 8./9. November 1997. 36 Susanne Kaiser benötigt für die Verwandlung keine technischen Requisiten. In dem Roman „Von Mädchen und Drachen" (1994) verwandelt sich die ratlose und verzweifelte Gwendolyn, die keine Emanzipationschancen hat, auf der Real-Ebene in einen Drachen. 37 Romantisch motiviert etwa ist die Entgegensetzung von Kinder- und Erwachsenenwelt auch in Otfried Preußlers zum Klassiker avancierten „Der kleine Wassermann", hier symbolisiert etwa im Streit zwischen Menschenmann und kleinem Wassermann. 38 Eine eingehende Analyse der aktuellen Fantasy-Literatur kann an dieser Stelle nicht erfolgen. 39 Cornelia Funke: Zottelkralle das Erdmonster. Bindlach 1994: Loewe, S. 9 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 40 Darauf hat schon Josef Reding verwiesen (Anmerkung 21). 41 Jostein Gaarder: Sofies Welt. Roman über die Geschichte der Philosophie. München, Wien 1993: Carl Hanser, S. 399. 42 Es herrscht bislang keine Einigkeit darüber, welches nun wirklich jene literarischen Konventionen sind, die für das Subsystem KJL in der Gegenwart gelten und welchen Maßstäben denn nun konkret „qualitätvolle Kinderliteratur" zu genügen hat. Daher würde möglicherweise unter dem didaktischen Gesichtspunkt von „Leseförderung" Cornelia Funkes „Zottelkralle" sogar positive Wertschätzung erfahren. Freilich ist zu fragen, ob eine so verstandene Leseförderung nicht eher im Subsystem „Bildung" zu verorten ist. http://www.carsten-gansel.de/fileadmin/mediapool/pdf/publikationen/verzeichnis_01.pdf Norbert Elias Über die Zeit Vorwort »Wenn man mich nicht fragt, was Zeit ist, weiß ich es«, sagte einst ein kluger alter Mann, wenn man mich fragt, weiß ich es nicht.« Warum frage ich? Wenn man Probleme der Zeit untersucht, kann man mancherlei über Menschen und so auch über sich selbst lernen, das zuvor nicht recht faßbar war. Probleme der Soziologie und der Menschenwissenschaften überhaupt, die beim bisherigen Stand der Theoriebildung verschlossen blieben, öffnen sich dem Zugriff. Physiker sagen bisweilen, daß sie die Zeit messen. Sie bedienen sich mathematischer Formeln, in denen das Maß der Zeit als benanntes Quantum eine Rolle spielt. Aber man kann die Zeit weder sehen noch fühlen, weder hören noch schmecken, noch riechen. Das ist eine Frage, die auf Antwort wartet. Wie kann man etwas messen, das man nicht mit Sinnen wahrzunehmen vermag? Eine Stunde ist unsichtbar. Aber messen denn nicht die Uhren die Zeit? Man kann Uhren gewiß dazu benutzen, um etwas zu messen. Aber dieses Etwas ist nicht eigentlich die unsichtbare Zeit, sondern etwas höchst Greifbares, etwa die Länge eines Arbeitstages oder einer Mondfinsternis oder das Tempo eines Läufers beim 100Meter-Lauf. Uhren sind sozial normierte Geschehensabläufe mit gleichmäßig wiederkehrenden Ablaufmustern, wie etwa Stunden oder Minuten. Wenn der Stand der gesellschaftlichen Entwicklung es erfordert und erlaubt, können diese Muster über ein ganzes Land, vielleicht über viele Länder hin, identisch sein. So kann man mit Hilfe von Uhren die Schnelligkeit von Flugzeugen vergleichen, die an ganz verschiedenen Orten die gleiche Raumlänge durchfliegen. Man kann mit ihrer Hilfe die Länge oder das Tempo von wahrnehmbaren Abläufen vergleichen, die ihrer Natur nach keinen direkten Vergleich zulassen, weil sie nacheinander vor sich gehen, also etwa die Länge von zwei Diskussionsreden, von denen die eine der anderen folgt. Wenn Menschen es nötig finden, das zu tun, benutzen sie einen gesellschaftlich standardisierten Geschehensablauf, um die nicht direkt vergleichbaren Abläufe indirekt zu vergleichen. Wozu Menschen das tun und auf welcher Entwicklungsstufe sie für Gemeinsamkeiten der Geschehensabfolgen, die sie indirekt durch den Bezug auf einen Standardablauf zu erfassen suchen, einen einheitlichen Begriff von der Synthesenhöhe des Ausdrucks »Zeit« entwickeln, bleibt zu untersuchen. Aber zu dem noch wenig untersuchten Problem, wie Menschen von begrifflichen Orientierungsmitteln auf relativ niedriger Synthese-Ebene zu Mitteln der Orientierung auf relativ hoher Syntheseebene gelangen, öffnen die folgenden Untersuchungen zumindest einen Zugang. Wessen man sicher sein kann, ist die Tatsache, daß Uhren selbst, ebenso wie reine Naturabläufe mit der gleichen sozialen Funktion, Menschen als Mittel der Orientierung im Nacheinander sozialer und natürlicher Abläufe dienen, in die sie sich hineingestellt finden. Vielfach dienen sie ihnen zugleich auch als Mittel der Regulierung ihres Verhaltens im Sinne einer Abstimmung aufeinander und auf reine, also nicht von Menschen verarbeitete Naturabläufe. Wenn sich auf früheren Entwicklungsstufen für Menschen die Notwendigkeit ergab, eine Antwort auf die Frage nach der Position von Ereignissen oder der Länge von Abläufen im Nacheinander des Geschehens zu finden, dann benutzten sie gewöhnlich als Standardablauf einen bestimmten Typ von natürlichen Abfolgen. Sie hielten sich an Naturabläufe, die zwar in Wirklichkeit, wie alles, was nacheinander geschieht, einmalig und unwiederholbar waren, deren jeweils späteres Auftreten aber ein ganz ähnliches oder das gleiche Muster aufwies wie das jeweils frühere. Solch ein wiederkehrendes Muster des Nacheinander, etwa im Falle von Ebbe und Flut, von dem Auf und Ab des eigenen Pulsschlags oder dem Kommen und Gehen von Sonne und Mond, konnten Menschen als Mittel der Abstimmung ihrer Aktivitäten aufeinander und auf außermenschliche Geschehensabläufe auf früheren Stufen in gleicher Weise verwenden wie Menschen späterer Stufen die wiederkehrenden symbolischen Muster auf den Zifferblättern der von Menschen geschaffenen Uhren. Im Rahmen der bisherigen Wissenssoziologie kommt die Entwicklung des Wissens, also der menschlichen Orientierungsmittel, ein wenig zu kurz. Dabei ist die Frage, wie Menschen lernen, sich in ihrer Welt zu orientieren, und zwar im Lauf der Jahrtausende besser und besser, gewiß für das Selbstverständnis der Menschen von nicht geringer Bedeutung. Die Entwicklung des Zeitbestimmens als Mittel der Orientierung in dem unablässigen Fluß des Geschehens ist ein Beispiel dafür. Die große gesellschaftliche Bedeutung der physikalischen Wissenschaften in unserem Zeitalter hat dazu beigetragen, daß Zeit mit einer gewissen Selbstverständlichkeit als eine Gegebenheit erscheint, die in den großen Zusammenhang des nichtmenschlichen Naturgeschehens gehört und daher als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen in den Kompetenzbereich der Physiker. Ein Blick auf die Entwicklung des Zeitbestimmens und seiner Mittel zeigt, daß diese Vorherrschaft der Physiker und der naturalistischen Vorstellung von der Zeit relativ jungen Datums ist. Bis zum Zeitalter Galileis war in der Tat das, was wir »Zeit«, und selbst, was wir »Natur« nennen, primär um Menschengruppen zentriert. Die Zeit war vor allem ein Mittel der Orientierung in der sozialen Welt, der Regulierung im Zusammenleben der Menschen. Die von Menschen verarbeiteten und standardisierten Naturabläufe fanden als Mittel zur Bestimmung der Position oder der Dauer von gesellschaftlichen Tätigkeiten im Fluß des Geschehens Verwendung. Erst in neuerer Zeit zweigte davon die Verwendung von Uhren als wichtigen Instrumenten der Untersuchung von reinen Naturabläufen ab. Das seit langem von Menschen empfundene Geheimnis der Zeit vertiefte sich damit. Im Vorbeigehen begegnet man hier einem Grundproblem der Soziologie: Aus dem Zusammenleben der Menschen geht etwas hervor, was sie nicht verstehen, was ihnen selbst als rätselhaft und geheimnisvoll erscheint. Daß Uhren Instrumente sind, die Menschen im Zusammenhang mit Erfordernissen ihres Zusammenlebens für ganz bestimmte Zwecke herstellen und gebrauchen, ist wohl nicht schwer zu erkennen. Aber daß auch die Zeit instrumentellen Charakter trägt, ist offenbar schwerer verständlich. Spürt man nicht, wie sie unerbittlich über die Köpfe der Menschen hin abrollt? Auch trübt wohl der Sprachgebrauch die Einsicht. Er läßt es so erscheinen, als ob die Zeit das geheimnisvolle Etwas sei, dessen Maß die menschengeschaffenen Instrumente, die Uhren, bestimmen. Wie sehr das Unvermögen, die sozialen Orientierungs- und Regulierungsfunktionen der Zeit in Betracht zu ziehen, zu den Schwierigkeiten beitrug, die Menschen bei dem Bemühen um eine konsensfähige Theorie der Zeit zu schaffen machten, zeigt sich besonders auch an den herkömmlichen philosophischen Lösungsversuchen des Problems. Im Mittelpunkt der langen philosophischen Diskussion über die Natur der Zeit standen – und stehen vielleicht noch immer zwei polar entgegengesetzte Positionen. Man begegnet im Rahmen dieser Diskussionen auf der einen Seite der Vorstellung, daß es sich bei der Zeit um eine objektive Gegebenheit der natürlichen Schöpfung handle. Ihrer Seinsart nach, so schien es den Vertretern dieser Anschauung, unterschied sich die Zeit nicht von anderen Naturobjekten, abgesehen davon, daß sie nun eben nicht wahrnehmbar war. Newton war vielleicht der prominenteste Vertreter dieser objektivistischen Vorstellung, die in der neueren Zeit schon früh ins Hintertreffen geriet. Im entgegengesetzten Lager herrschte die Vorstellung vor, die Zeit sei eine Art des Zusammensehens von Ereignissen, die auf der Eigentümlichkeit des menschlichen Bewußtseins oder, je nachdem, auch des menschlichen Geistes, der menschlichen Vernunft beruhe und die dementsprechend jeglicher menschlicher Erfahrung als deren Bedingung vorausgehe. Bereits Descartes neigte dieser Vorstellung zu. Sie fand ihren maßgeblichsten Ausdruck in der Philosophie von Kant, der Zeit und Raum als Repräsentanten einer Synthese a priori ansah. In weniger systematischer Form hat diese Auffassung, wie es scheint, über die gegnerische weithin die Oberhand gewonnen. Sie besagt, in schlichterer Sprache, ganz einfach, daß die Zeit eine Art von angeborener Erlebnisform ist, also eine unabänderliche Gegebenheit der Menschennatur. Die beiden polar entgegengesetzten Zeittheorien haben, wie man sieht, einige Grundannahmen miteinander gemein. In beiden Fällen stellt sich die Zeit als eine Naturgegebenheit dar, nur eben in dem einen Falle als eine »objektive«, unabhängig von allen Menschen existierende Gegebenheit und im anderen Falle als eine bloß »subjektive«, in der Natur des Menschen angelegte Vorstellung. In dieser Konfrontation einer subjektivistischen und einer objektivistischen Theorie der Zeit spiegelt sich eine der Grundeigentümlichkeiten der traditionellen philosophischen Erkenntnistheorie. Als selbstverständlich wird unterstellt, daß es einen universellen, sich ständig wiederholenden Ausgangspunkt, eine Art von Anfang des Erkennens gibt. Ein einzelner Mensch, so erscheint es, tritt ganz für sich allein vor die Welt hin, das Subjekt vor die Objekte, und beginnt zu erkennen. Die Frage ist dann nur, ob bei der Bildung menschlicher Vorstellungen, wie der von der Einbettung aller Ereignisse in den Strom der Zeit, die Natur des Subjekts oder die der Objekte den Vorrang habe. 13 „Zeit" bezieht sich immer auf bestimmte Aspekte des kontinuierlichen Ereignisflusses, inmitten dessen Menschen leben und von dem sie selbst ein Teil sind. Man mag sie die „Wann" — Aspekte nennen (auch wenn das nicht das ganze Feld abdeckt). Wenn alles stillstände, könnte man nicht von „Zeit" sprechen. Etwas schwieriger ist es vielleicht zu sehen, dass man auch in einem Universum, das nur aus einer einzigen Sequenz von Veränderungen besteht, nicht von Zeit sprechen könnte. Wenn man in einem einsträhnigen Universum dieser Art lebte, wäre man nie imstande, zu wissen oder auch nur zu fragen, wann irgend etwas geschieht. Denn „Wann" — Fragen zielen darauf ab, Ereignisse innerhalb eines kontinuierlichen Flusses von Ereignissen festzulegen, Meilensteine zu fixieren, die relative Anfänge und relative Enden innerhalb des Flusses anzeigen, eine bestimmte Spanne von einer anderen abzuheben oder beide in bezug auf ihre Länge durch das, was wir ihre „Dauer" nennen, zu vergleichen, und ähnliches mehr. Dies alles sind Spielarten des Zeitbestimmens. In einem einsträhnigen Universum könnten sie nicht vorgenommen werden. Alles geschieht dort eins nach dem anderen; zwei verschiedene Spannen einer kontinuierlichen Wandlungsfolge sind nie zusammen gegeben. Was man mit Hilfe von Zeitskalen tut, ist eben dies: Man baut Meilensteine, und damit relative Anfänge und Enden, in eine solche Sequenz mit Hilfe einer anderen Sequenz Man sagt zum Beispiel: „Wir fangen um acht Uhr an, wir hören um zehn Uhr auf"; oder, indem man die Dauer von Spannen innerhalb des kontinuierlichen Flusses vergleicht, die nicht zusammen gegeben sind: „Wir arbeiten zwei Stunden". Es ist darum nur möglich geworden, dies zu tun, weil Menschen andere Strähnen kontinuierlicher Veränderungen gefunden und später selbst ausgearbeitet haben, die als Standards der Zeitbestimmung ihrer selbst und der von ihnen gebildeten Gesellschaften dienen können. Zuerst gebrauchten sie kontinuierliche Sequenzen dessen, was wir Natur-Ereignisse nennen, und dann in zunehmendem Maße menschengeschaffene mechanische Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen als Mittel zur Bestimmung von Positionen in der Abfolge des Nacheinander ihrer selbst in ihrer dreifachen Eigenschaft — als biologische, soziale und persönliche Prozesse. Solange Menschen nicht gelernt hatten, andere Veränderungsabläufe als Bezugsrahmen für die Fixierung relativer Anfänge und Enden und damit zur Bestimmung von Spannen gleicher Dauer innerhalb des Wandlungskontinuums, das sie selbst bilden, zu gebrauchen, wußten sie zum Beispiel nicht — und konnten in der Tat nicht wissen -, wie alt sie jeweils waren; sie besaßen keinen anderen gemeinsamen Maßstab für den Beginn irgendeiner wiederkehrenden sozialen Tätigkeit als den ihrer eigenen unmittelbaren Impulse. Zeitbestimmen beruht demnach auf der Fähigkeit von Menschen, zwei oder mehr verschiedene Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen miteinander zu verknüpfen, von denen eine als Zeitmaßstab für die andere(n) dient Es ist eine Leistung der intellektuellen Synthese, die alles andere als einfach ist. Denn die Bezugssequenz kann substantiell sehr verschieden von der Sequenz sein, für die sie als Zeitmaßstab gebraucht wird. Die sich kontinuierlich verändernden Konfigurationen der Himmelskörper sind ihrer Art nach sehr verschieden von den sich verändernden Figurationen, die Menschen miteinander bilden. Trotzdem haben Menschen über Jahrtausende hin in der einen oder anderen Weise die ersteren als Mittel zur Zeitbestimmung der letzteren benutzt. Welche spezifischen Gemeinsamkeiten machen es möglich, die einen als Maßstab der anderen zu benutzen? Oder nehmen wir unsere Uhren: In der Substanz ist eine Uhr eine sich ständig bewegende kleine Maschine, die eine kontinuierliche Abfolge von Veränderungen in den Symbolkonfigurationen auf ihrem Ziffernblatt erzeugt. Als solche zeigt sie wenig Ähnlichkeit mit der kontinuierlichen Abfolge von Veränderungen im sozialen und persönlichen Leben von Menschen, die Uhren als Maßstab zur Gliederung und Koordination ihrer eigenen Tätigkeiten benutzen. In welcher Beziehung steht die Wandlungsfolge in der Gestalt von Uhren zu den kontinuierlichen sozialen und persönlichen Wandlungen von Menschen? Ihrer Art nach verschieden, was haben diese Sequenzen gemeinsam? Die Antwort ist täuschend einfach: die bloße Tatsache, daß sie sich in einer einigermaßen regelmäßigen Sequenzordnung kontinuierlich verändern (wenn sie endgültig aufhören, sich in dieser Ordnung zu verändern, sind Uhren keine Uhren mehr und Menschen keine Menschen). Der Begriff „Zeit" bezieht sich auf Eigentümlichkeiten, die Sequenzen kontinuierlicher Veränderungen gemeinsam haben, ungeachtet ihrer substantiellen Unterschiede. Was wir „Zeit" nennen, bedeutet also zunächst einmal einen Bezugsrahmen, der Menschen einer bestimmten Gruppe, und schließlich auch der Menschheit, dazu dient, innerhalb einer kontinuierlichen Abfolge von Veränderungen von der jeweiligen Bezugsgruppe anerkannte Meilensteine zu errichten oder auch eine bestimmte Phase in einem solchen Geschehensfluß mit Phasen eines anderen zu vergleichen, und vieles andere mehr. Das ist der Grund, weshalb der Begriff der Zeit auf ganz verschiedene Arten von Wandlungskontinuen anwendbar ist. Der scheinbare Umlauf der Sonne um die Erde kann in der Form eines Sonnenjahres standardisiert werden, und das derart standardisierte Sonnenjahr kann dann als Abfolgemaßstab für andere kosmische Abläufe, für ein Menschenleben oder für Staatsbildungsprozesse dienen. Man kann das vielleicht klarer sehen, wenn man nochmals zu der Verbform des Wortes „Zeit" zurückkehrt, zu der menschlichen Tätigkeit des Synchronisierens oder, wenn man so will, des „Zeitens". Es ist möglich, Positionen oder Spannen im Nacheinander eines Pferderennens, einer chemischen Reaktion, eines Besuchs oder eines Krieges zu bestimmen. Geschehensabfolgen auf allen Ebenen des Universums lassen sich synchronisieren: auf der physikalischen, der biologischen, der sozialen und der persönlichen Ebene. Das ist gemeint, wenn man davon spricht, dass der Begriff der Zeit sich auf Nacheinander-Sequenzen jeglicher Art beziehen kann, ungeachtet ihrer Spezifität. Nur bedarf es in allen Fällen der gesellschaftlichen Standardisierung einer bestimmten Geschehensabfolge als Maßstab, gleichgültig, ob sie physikalischer oder etwa auch geschichtlich-gesellschaftlicher Art ist. Daß sich bei der Untersuchung des Zeitbestimmens die scharfe begriffliche Trennung von „Natur" und „Geschichte" oder „Kultur" nicht mehr aufrechterhalten lässt, hängt gewiß mit dem instrumentellen Charakter des Zeitbestimmens zusammen; aber es weist zugleich auch darauf hin, dass die Schärfe dieser Trennung epochenspezifisch und überwindbar ist. 14 Was bei der Beschäftigung mit Problemen der Zeit besondere Schwierigkeiten macht, ist die weitverbreitete Tendenz, der „Zeit" selbst Eigenschaften jener Prozesse zuzuschreiben, deren Wandlungsaspekte dieser Begriff symbolisch repräsentiert. Wir sagen „die Zeit vergeht", wenn wir auf die kontinuierlichen Veränderungen unseres Lebens oder etwa auch der Gesellschaften, in denen wir leben, hinweisen. Dieser eigentümliche Fetischcharakter der Zeitbegriffe hängt damit zusammen, daß er eine intellektuelle Synthese, eine Verknüpfung von Ereignissen auf einer relativ hohen Synthese-Ebene repräsentiert. Er impliziert nicht allein die von Menschen einer bestimmten Bezugsgruppe hergestellte Verknüpfung zwischen kontinuierlichen Wandlungsabläufen, in deren Nacheinander man Positionen oder Spannen zu bestimmen sucht, und einem kontinuierlichen Wandlungsablauf, der als Maßstab für sie standardisiert ist; sondern er impliziert auch die Verknüpfung zwischen dem, was innerhalb ein und derselben Geschehensabfolge „früher" und was „später" geschieht. Ein Hauptschlüssel zu den Problemen der Zeit und des Zeitbestimmens liegt in der Tat in der spezifischen Fähigkeit von Menschen, das, was in einer kontinuierlichen Geschehensabfolge „früher" und was „später", was „vorher" und was „nachher" geschieht, zusammen ins Auge zu fassen und dadurch miteinander zu verknüpfen. Das Gedächtnis spielt bei diesem Vorstellungsakt, bei dem man zusammensieht, was nicht zusammen geschieht, eine grundlegende Rolle. Wenn ich derart auf die Fähigkeit von Synthese hinweise, dann beziehe ich mich hier besonders auf das Vermögen von Menschen, in ihrer Vorstellung etwas gegenwärtig zu haben, was realiter hier und jetzt nicht gegenwärtig ist, und es mit dem zu verknüpfen, was realiter hier und jetzt geschieht. Das ist gewiß nur eine Manifestation der Menschlichen Fähigkeit zur Synthese, aber sie spielt eine entscheidende Rolle bei allen Formen des Zeitbestimmens. Um es genauer zu sagen: Er wäre sinnlos, anzugeben, daß es jetzt vier Uhr ist, wenn man nicht zugleich im Auge hätte, daß es vorher zwei Uhr war und später sechs Uhr sein wird. Begriffe wie „früher" und „später" sind Manifestationen der menschlichen Fähigkeit, sich zusammen vorzustellen, was nicht zusammen geschieht und was auch von Menschen als nicht zusammen Geschehendes erlebt wird. Man nähert sich hier Aspekten des Problems der Zeit, die dessen Komplexität noch etwas deutlicher machen. Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als bezöge sich der Begriff der Zeit auf etwas, das ganz aus einem Guß und relativ einfach ist. Er mag den Eindruck erwecken, als ob sich der von ihm erfaßte Sachverhalt in wenigen Sätzen beschreiben ließe. In Wirklichkeit repräsentiert dieser Begriff, wie man sieht, eine durchaus nicht einfache instrumentelle Verknüpfung von Geschehensabläufen, die mehr oder weniger fest organisierte Menschengruppen für bestimmte Zwecke zwischen und innerhalb beobachtbarer Wandlungskontinuen mit oder ohne Einfluß des Kontinuums herstellen, das sie selbst sind. Bisher habe ich von der Synthese gesprochen, die Menschen vornehmen, wenn sie eine kontinuierliche Geschehensabfolge als solche symbolisch repräsentieren, wenn sie diese Sequenz einfach als einen kontinuierlichen Strom von Ereignissen wahrnehmen — von Ereignissen, die eines-nach-dem-anderen vor sich gehen. Man könnte dies die Verknüpfung des Nacheinander im Sinne der Eigenstruktur des Geschehensablaufs nennen. Die Rolle der Menschen selbst als derjenigen, die kraft ihrer Fähigkeit zur Zusammenschau des Nacheinander imstande sind, das, was nacheinander vor sich zu sehen und als Geschehensabfolge durch soziale Systeme zu repräsentieren, geht in diese Art von Symbolisierung der Sequenz nicht mit ein. Die Sequenz erscheint in diesem Falle einfach als ein kontinuierlicher Fluß von Ereignissen, die, wie wir sagen, „im Laufe der Zeit" vor sich gehen. Die Symbolisierung bezieht sich auf die Eigenstruktur der Sequenz. Die Erfahrung von Menschen und deren Fähigkeit zur Synthese wird bei dieser Art der Bildung von Zeitbegriffen in die Begriffe nicht mehr mit einbezogen. Es gibt jedoch noch einen anderen Typus häufig gebrauchter Zeitbegriffe, deren Bedeutung die menschliche Fähigkeit zur Synthese, zur Zusammenschau dessen, was zu verschiedenen Zeiten geschehen ist und geschehen wird, sehr wohl in Rechnung stellt. Ich meine Begriffe wie „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft". Ihre Funktion und Bedeutung werden bisher nicht gut verstanden, weil man es versäumt, den Unterschied — und die Beziehung — zwischen Zeitbegriffen wie ,Jahr", „Monat" oder „Stunde" und Begriffen wie „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft" klar und deutlich herauszustellen. Während Begriffe des ersteren Typs die Zeitstruktur des Geschehensablaufes als solchen repräsentieren, schließen die des letzteren Typs die synthesebildenden Menschen, die den Geschehensablauf und seine Zeitstruktur vor sich sehen, in ihrer Bedeutung ein. Das Rätsel, das sie unserer Intelligenz aufgeben, beruht vor allem auf ihrer fluktuierenden Zuordnung der Zeitstrukrur des Geschehensablaufes selbst. Die Zukunft von heute ist die Gegenwart von morgen und die Gegenwart von heute ist die Vergangenheit von morgen. Die Lösung des Rätsels ist einfach genug; man muß nur die spezifische Art der Verknüpfung bedenken, der man bei jeder Untersuchung der Erlebensweise von Menschen begegnet, und sich vor Augen führen, was für ein Kategorialapparat zu ihrer symbolischen Repräsentation nötig ist. „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft" weisen auf den Begriffstyp hin, dessen es zur Repräsentation dieser Art der Verknüpfung bedarf. Wenn die Bedeutung von „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft" in bezug auf die Wandlungsfolge, die man durch die geradlinige Zahlenreihe einer Ära-Zeitskala (1605, 1606, 1607 usw.) symbolisieren kann, ständig im Wandel begriffen ist, so ist der Grund dafür der, daß die Menschen, auf die sich diese Begriffe beziehen und deren Erfahrung sie zum Ausdruck bringen, ständig im Wandel begriffen sind und daß der Bezug auf Menschen, auf ihre Erfahrung, in die Bedeutung dieser Begriffe eingeht. Was Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist, hängt von den lebenden Generationen des Augenblicks ab. Diese sind in dem Fackellauf von Generation zu Generation immerzu in Bewegung; und ebenso bewegt sich die Bedeutung von „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft". Auch in diesen Begriffen äußert sich, wie in den einfacheren, reihenartigen Zeitbegriffen vom Typus »Jahr" oder „Monat", die menschliche Fähigkeit zur Synthese — in diesem Falle zur gleichzeitigen Erfahrung dessen, was nicht gleichzeitig geschieht. Aber Begriffe wie ,Jahr" „Monat" oder „Stunde" beziehen diese Fähigkeit, die sie gleichwohl vorraussetzen, nicht in ihre Bedeutung mit ein. Sie repräsentieren lediglich kontinuierliche Geschehensabfolgen verschiedener Länge als solche. Die Begriffe „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft" hingegen bringen die Beziehung einer erlebenden Person (oder Personengruppen) zu einer Wandlungsfolge zum Ausdruck. Nur in bezug auf einen Menschen, der ihn edebt, nimmt ein bestimmter Augenblick in einem kontinuierlichen Strom den Charakter einer Gegenwart an, gegenüber anderen mit dem Charakter einer Vergangenheit oder einer Zukunft. Als Symbole erlebter Zeiteinheiten repräsentieren diese drei Ausdrücke nicht nur - wie „Jahr" oder „Ursache und Wirkung" - eine Abfolge, sondern außerdem die gleichzeitige Präsenz der drei Zeiteinheiten in der menschlichen Erfahrung. Man könnte sagen, daß „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft", obgleich drei verschieden Worte, einen einzigen Begriff bilden. Lange Zeit war es Menschen ein Rätsel, daß die tatsächlichen Ereignisse innerhalb einer Sequenz und damit die sequenzbezogenen Zeiteinheiten - Stunden, Monate oder die Jahre einer ÄraZeitskala —, auf die man den Begriff „Gegenwart" anwendet, sich ständig verändern und deshalb auch die Scheidelinie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sich ständig verschiebt. Das scheinbare Paradox der drei erfahrungsbezogenen Zeiteinheiten wurde schon im Altertum bemerkt. So beschreibt Censorinus, nachdem er zunächst die „absolute Zeit" behandelt hat, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft folgendermaßen: Die absolute Zeit „ist unermeßlich, ohne Anfang, ohne Ende; sie war in derselben Weise immer und wird immer sein und bezieht sich nicht auf irgendeinen Menschen mehr als auf einen anderen. Sie teilt sich in drei Zeiten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Von diesen hat die Vergangenheit keinen Eingang, die Zukunft keinen Ausgang. Die Gegenwart aber, die in der Mitte liegt, ist so kurz und unfaßlich, daß sie keine Länge annimmt und nicht mehr zu sein scheint als die Verbindung des Vergangenen und Künftigen, und außerdem auch so beständig, daß sie nie am selben Ort ist; und alles, was sie durchläuft, nimmt sie von der Zukunft weg und legt es der Vergangenheit zu." Die Formulierung des Rätsels durch Censorinus ist ein wenig bizarr, macht es aber gerade darum leichter, den Grund für die Schwierigkeiten zu erkennen. Die drei Ausdrücke „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft" werden von ihm fast so behandelt, als ob sie für drei verschiedene Objekte „in Zeit und Raum" stünden. Er nähert sich ihnen — wie dies gelegentlich noch heute geschieht — mit dem Kategorialapparat, der Zusammenhänge auf der physikalischen Ebene repräsentiert, der sich aber kaum für die Untersuchung von Zusammenhängen auf der Erfahrungsebene eignet. Man sieht die Eigentümlichkeit der die Erfahrung der synthesebildenden Menschen mit einbeziehenden Zeitbegriffe (vom Typus „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft") vielleicht noch deutlicher, wenn man sie Begriffen wie „früher" oder „später" gegenüberstellt. Beide können sich auf die gleichen Geschehensabfolgen beziehen. Aber zum Unterschied von der Art des Zeitbestimmens, der etwa Einstein seine Aufmerksamkeit schenkte, ist das Zeitbestimmens von Ereignissen als „früher" oder „später" unabhängig von jeder bestimmten Bezugsgruppe. Was früher geschah, wird immer früher bleiben als das, was relativ dazu später geschah. Der Begriff der Gegenwart dagegen ist die Zeitbestimmung einer lebenden Menschengruppe, die weit genug entwickelt ist, um eine kontinuierliche Geschehensabfolge, gleichgültig ob naturaler, sozialer oder persönlicher Art, auf den Wandel zu beziehen, dem sie selbst unterworfen ist. Diesem Wandel entsprechend kann eine solche Gruppe oder jedes ihrer einzelnen Mitglieder, was hier und jetzt tun, was sie unmittelbar erleben und fühlen, als Gegenwart sowohl von dem unterscheiden, was vorbei ist und nur noch in der Erinnerung weiterlebt, wie von dem, was sie möglicherweise einmal tun, erleben oder erleiden können, also von Vergangenheit und Zukunft. Es gehört zu den Eigentümlichkeiten dieser auf den Wandel der jeweils lebenden Menschen bezogenen Zeitbegriffe, daß keiner von ihnen eine klare Bedeutung hat, wenn sie nicht alle zugleich im Bewusstsein von Menschen präsent sind. Man vergleiche Ausdrücke wie „früher" oder „später", bezogen auf fortschreitende physikalische Geschehensabfolgen, ob wiederkehrend oder nicht, mit Ausdrücken wie „jetzt", „heute" oder „Vergangenheit", „Gegenwart" und „Zukunft", bezogen auf dieselben Abfolgen. Zeitbegriffe des ersten Typs, Begriffe wie „früher" und „später" repräsentieren eine Verknüpfung verschiedener Positionen innerhalb einer Sequenz selbst, die für alle möglichen Bezugspersonen die gleiche ist; die Positionen im Flusse dagegen, die als „jetzt" oder als „Gegenwart" vorgestellt werden, ändern sich, wenn sich die Bezugsgruppen oder —personen ändern. Wie gesagt, die Scheidelinie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wandert ständig, weil diejenigen Menschen, die Ereignisse als vergangen, gegenwärtig und zukünftig edeben, sich wandeln oder wechseln. Sie wandeln sich persönlich, auf dem Weg von der Geburt zum Tod, und als Gesellschaften, mit dem Kommen und Gehen der Generationen (und noch auf viele andere Weisen). Es sind stets die Lebenden des Augenblicks, auf die bezogen Ereignisse den Charakter einer Vergangenheit, Gegenwart oder einer Zukunft haben. Die soziale Sequenz der „fortlaufenden Jahre" (von 1 bis 2000 und weiter) bewegt sich ebenso wie die Hauptsequenzen einer stellaren oder biologischen Evolution ohne Marksteine dieser auf bestimmte Menschen bezogenen Art fort. Allerdings verhält es sich mit sozialen Sequenzen in dieser Hinsicht etwas anders als mit außermenschlich-naturalen Sequenzen. Soweit es um menschliche Gesellschaften geht, kann das Erleben ihrer Prozeßstruktur per se eine mitgestaltende Rolle bei dem Ablauf der Prozesse spielen. Daher bildet das Edeben sozialer Geschehensabläufe einen integralen Teil des Stromes eines solchen Ablaufes selbst. Im Hinblick auf das, was wir „Natur" nennen, das heißt auf die physikalische Ebene des Universums, ist dies nicht der Fall. Die Klärung des oft verwirrenden Verhältnisses zwischen „Zeitbegriffen" vom Typus ,Jahr", „Monat" oder „Stunde" (oder auch „früher" und „später") und solchen vom Typus „Gegenwart", „Vergangenheit" und „Zukunft" führt also zu einer vielleicht unerwarteten Schlussfolgerung. Zeitbegriffe der letzteren Art lassen sich auf die physikalischen Ebenen dessen, was wir „Natur" nennen, als deren repräsentative Art der Verknüpfung, zu Recht oder zu Unrecht, die der mechanischen Kausalität gilt, nicht anwenden oder doch nur insoweit, als Menschen Ereignisse auf diesen Ebenen auf sich selbst beziehen. Auf das perpetuum mobile der Kausalketten — Natur lassen sich die Begriffe „Gegenwart", „Vergangenheit" und „Zukunft" allenfalls nur aufgrund einer anthropomorphen Identifizierung anwenden, also im übertragenen Sinne, etwa wenn man von der Zukunft der Sonne spricht. Genau betrachtet ist diese Natur eine kontinuierliche Sequenz von Veränderungen in den Konfigurationen von Energie/Materie. Innerhalb ihrer tritt der Helium-Meiler der Sonne als Phase in einer Geschehensabfolge oder überhaupt als Einheit nur deswegen für das menschliche Bewußtsein hervor, weil dieses Gebilde für Menschen von besonderer Bedeutung ist. Jenseits eines solchen Bezugs auf erlebende Menschen aber ist die Einteilung „natürlicher" Wandlungskontinuen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sinnlos. Vorwort (gekürzt) sowie Ausschnitte aus: Kapitel 13 und 14, In: Norbert Elias: Über die Zeit – Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Hrsg.: Michael Schröter, Frankfurt am Main 1984, S. 40- 51. Der Mensch leidet an seiner Zeit Krankheiten und Gesellschaftsordnung von Alexander Mitscherlich, 17.07.1952 Zwischen der jeweiligen Gesellschaftsordnung, in der Menschen zusammenleben, und den Krankheiten bestehen mannigfache Wechselbeziehungen. Es gibt Krankheiten, die dem geschichtlichen Wandel unterworfen sind, die sozusagen den Menschen im Laufe seiner Geschichte eine Zeitlang begleiten und die dann wieder erlöschen. Wir kennen eine große Zahl von Seuchen, die sich bis in die früheste Kulturgeschichte der Menschheit zurückverfolgen lassen, und wir kennen andere, die nur innerhalb eines kürzeren Zeitabschnittes Bedeutung gehabt haben. Beispielsweise hat die Syphilis nach ihrer Einschleppung in Europa wie eine akute Seuche mit hoher Sterblichkeit grassiert, bis sich im Laufe der Zeit ein neues Gleichgewicht zwischen dem Erreger der Krankheit und dem „Wirt“, also dem jeweils von ihr Befallenen, herausgebildet hat, und zwar in verschiedenen Bereichen der Welt in verschiedener Weise. Bei der Malaria ist hingegen keine Anpassung erfolgt. Der Malariakranke ist zu allen Zeiten ein Schwerkranker geblieben. Auch für die Tuberkulose gilt, daß sie einem deutlichen geschichtlichen Wandlungsprozeß unterliegt, indem sich in den großen städtischen Zentren der gegenwärtigen Zivilisation ein großer Prozentsatz der Einwohner in stummer Weise mit dieser Krankheit auseinandersetzt und sich zeitlebens gegen eine eigentliche Erkrankung immun macht. Es gibt aber auch noch andere Einflüsse in dem Wechselverhältnis zwischen Krankheit und Gesellschaftsordnung Von Bedeutung ist hier die sich verschiebende Alterszusammensetzung. In dem Maß, in dem im Laufe der zivilisatorischen Entwicklung bessere hygienische Verhältnisse hergestellt wurden und sich damit das Tempo der Generationenfolge wandelt, dergestalt nämlich, daß weniger Kinder sterben und mehr Erwachsene ein höheres Alter erreichen, treten auch hier wieder sehr charakteristische Krankheiten auf, die offenbar an das höhere Alter des Menschen gebunden sind. Die „Altersverschiebung im Aufbau der Bevölkerung“ hat also wiederum eine sehr deutliche Rückwirkung auf die Krankheiten. Aber es gibt auch soziale Veränderungen, die einen Einfluß auf die Erkrankungsformen des Menschen haben. Jede Gesellschaftsordnung verlangt von ihren Mitgliedern- einen mehr oder weniger umfangreichen Triebverzicht. Denn wenn ein Staatswesen „sich sozialisiert“, muß, es Verbote gegen das Ausleben triebhafter Wünsche von Seiten der Gesellschaft hinnehmen. Die Art des Triebverzichts, die die verschiedenen Gesellschaftsordnungen im Laufe der Geschichte vom Menschen verlangt haben, sind sehr mannigfach. Es gibt ausgesprochen triebfeindliche, der sinnlichen Erfahrung des Menschen abweisend gegenüberstehende, und triebfreundliche, dem einzelnen eine große Freiheit gewährende Gesellschaftsordnungen. Es ist interessant zu sehen, wie der Mensch sich nicht nur diese verschiedenen Verbote zum Zwecke seiner Sozialisierung erteilt, sondern wie er sich auch erfolgreich diesem Klima der Gesellschaft anpaßt. Kein Zweifel, daß die bisherige Geschichtsforschung diesem Gesichtspunkt eine viel zu geringe Bedeutung für die Lebensdauer, die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeit der verschiedenen Kulturen beigemessen hat. Gehen wir einen Schritt weiter: Wir wissen, daß die Art und Weise, wie ein Mensch sich in seine nähere Umgebung einfügt, mit ihren jeweiligen Anforderungen, ihn entweder in seiner Grundstimmung glücklich und frei macht oder unglücklich und unfrei. Aus sehr guten Untersuchungen der Organleistungen wissen wir, daß die Stimmungen eines Menschen einen ganz außerordentlichen Einfluß auf die Leistungszusammenhänge in seinem Organismus haben; daß er in einer fröhlichen, angstfreien Stimmung eine völlig andere Koordination seiner Organleistungen erlebt wie etwa in einer von Dauerangst beherrschten Stimmung. Der Mensch hat keine ein für allemal feststehende Umwelt, sondern er muß in immer neuen Anläufen versuchen, sich in der Welt zu beheimaten. Dies geschieht, indem er sich bestimmte Formen der Lebensweise auferlegt. Es ist erstaunlich, daß er so anpassungsfähig ist und die Möglichkeit hat, sich auf die verschiedensten inneren Klimaten einer Zivilisation einzuspielen, daß also seine biologische Mitgift über eine große Spiegelbreite verfügt. Trotzdem hat das seine Grenzen. Es gibt Beschneidungen der Lebenserwartung des Menschen, die in ihm so radikale Umstimmungen verursachen, daß diese andauernden, lastenden Zustände im Laufe der Zeit sich tief dem Habitus des Menschen „einbilden“. Die doppelte Bedeutung des Ausdrucks „Einbildung“ im Sinne einer nur vorgestellten Beeinträchtigung oder einer tatsächlich aus der Erlebnisweise des Menschen sich ins Organische eingegrabenen Spur sollte uns gerade auf solche Zusammenhänge aufmerksam machen. Nehmen wir ein Beispiel: Wenn eine Gesellschaftsordnung im Laufe einer kurzen Periode die soziale Rolle der Frau derart verändert hat, daß die verheiratete Frau und Mutter nicht mehr bei der Führung des Haushalts und der Pflege der Kinder ihre Beschäftigung findet, sondern daß sie in einer Rivalität und unmittelbaren Arbeitsteilung die gleichen sozialen Pflichten wie der Mann auf sich zu nehmen hat, so wird dadurch die Nest-Situation des Kindes oder sehr vieler Kinder innerhalb der Gesellschaft geändert. Wir können annehmen, daß bei einer relativ großen Zahl von Kindern sich dann ein besonders tiefes Bedürfnis nach stetiger Beschützung durch eine mütterliche Person entwickeln mag, eine Sehnsucht, von der man sagen muß, daß die Gesellschaft sie nicht zu befriedigen vermag. Wenn dann zu diesem Faktum noch eine Veränderung der Wertordnung tritt, etwa dergestalt, daß nur der Selbständige und Erfolgreiche im Rahmen dieser Gesellschaft eine soziale Geltung beanspruchen kann oder Aussicht auf eine solche soziale Geltung hat, so sehen wir, daß das Individuum in eine Zwickmühle zu geraten droht. Einerseits wünscht der einzelne Anlehnung und Schutz, die ihm von früh an entzogen werden, andrerseits möchte er im Rivalitätskämpf mit den Mitgliedern der Gesellschaft erfolgreich sein. Das Ergebnis mag nicht nur eine charakterliche Unausgeglichenheit sein, sondern auch eine Kompromißbildung im Sinne einer periodischen Erkrankung. Phasenweise mag ein solcher Mensch ein außerordentlich ehrgeiziger und angriffsfreudiger Zeitgenosse sein, der aber hin und wieder überraschenderweise von Attacken eines Magengeschwürs heimgesucht wird. In dieser Zeit seiner Geschwürs-Erkrankung pflegt ihn dann die Sozietät genau so, wie sie einen Säugling zu pflegen gewohnt ist. Der plötzlich Erkrankte wird ins Bett gelegt, gewärmt, häufig genährt, und eine Menge von Freundlichkeiten und Aufmerksamkeiten werden ihm entgegengebracht. Auf diese Weise befriedigt er also seinen geheimen und unbefriedigten Wunsch nach Geborgenheit. Solange man in einer derartigen Häufung von Magenerkrankungen, wie wir sie während der letzten Jahrzehnte und insbesondere im Zusammenhang mit dem letzten Krieg erlebt haben, allein äußere Einflüsse am Werke sah, konnte man zu einer erfolgreichen Bekämpfung dieser Krankheiten nicht gelangen. Man wird einsehen, daß die Medizin in Zukunft, wenn sie ausgesprochene „Zivilisationskrankheiten“ zu behandeln hat, nicht nur Therapie vom Biologischen, vom Körper her betreiben muß, sondern daß sie nach therapeutischen Ansatzpunkten in der Gesellschaft selbst zu suchen haben wird, daß sie also – mit anderen Worten – einen Sozialrevolutionären Anspruch wird anmelden müssen. Je länger der Mensch Zeit hat, sich an ein Klima sozialer Art zu gewöhnen, und je konstanter dieses Klima ist, desto stabiler pflegt der Gesundheitszustand zu sein, und desto mehr Menschen sterben an intercurrenten Erkrankungen, an Verletzungen oder Vergiftungen. Je rascher sich ein Klima sozial ändert, desto anfälliger pflegen die Mitglieder einer solchen Sozietät zu werden. Auch dies hatte die Medizin im Laufe ihrer Geschichte zu lernen: daß sie in dem Augenblick, in dem sie die großen Seuchen zu bekämpfen vermochte, sich neuen Erkrankungsformen gegenübersah. Wie viele davon reine Alterskrankheiten im Sinne der Abnutzung sind, wie viele aber in einem ausgesprochenen Zusammenhang mit der Stimmungslage und den widersprüchigen Anforderungen der Gesellschaft an den einzelnen stehen, das hat die Medizin noch nicht in vollem Umfang zuerkennen vermocht. Trotz der immer neuen und großartigen Erfolge etwa im Bereich der Chemotherapie aber liegt auch hier eine der vordringlichsten Aufgaben für die Heilkunde unserer Zeit: den Menschen umweltgebunden zu sehen und zugleich als den Gestalter seiner eigenen Umwelt. DIE ZEIT, 17.7.1952 Nr. 29, www.zeit.de/1952/29/der-mensch-leidet-an-seiner-zeit/komplettansicht Dr. Alexander Mitscherlich, Professor der Medizin an der Heidelberger Universität, hat verblüffende Untersuchungen darüber angestellt, daß jeder Gemeinschaftsordnung bestimmte Krankheits-erscheinungen zugeordnet sind, oder umgekehrt, daß sich in bestimmten Krankheitsbildern bestimmte gesellschaftlichpolitische Formen widerspiegeln. Eilkrankheit Der moderne Mensch hat keine Zeit. Er will auch keine haben, denn sonst könnte er zum Nachdenken über sich selbst kommen. Ein Verein versucht gegenzusteuern. Das Gespräch führte Inge Baldinger. Die alten Griechen hatten zwei Begriffe für Zeit: Chronos, die gleichförmig verstreichende äußere Zeit, die den "korrekten" Zeitpunkt angibt; und Kairos, die sich gefühlsmäßig einmal verlangsamende, ein andermal beschleunigende innere Zeit, die den "richtigen" Zeitpunkt angibt. Heute hat die Chronos-Zeitauffassung die Alleinherrschaft inne. Wider besseren Wissens und Empfindens wird ihr so gut wie alles untergeordnet. Zeit ist Geld – also muss immer mehr Leistung, immer mehr Nutzen in immer weniger Zeit erbracht werden. Und der Preis für diesen allgemein messbaren Erfolg oder Misserfolg? Zum Beispiel, dass das, was wir Arbeit nennen, von besagten Griechen "eher als Sklavenarbeit" bezeichnet worden wäre, sagt Philosoph Peter Heintel im SN-Gespräch. Und gleichzeitig: Dass nach diesem Muster nicht nur viel Fragwürdiges, sondern auch Arbeitslosigkeit produziert wird. Womit der in Klagenfurt lehrende Universitätsprofessor auch schon beim kapitalen Widerspruch des Systems angelangt ist: Einerseits hänge es mit der Ideologie des Kapitalismus zusammen, dass der Wert des Menschen durch (Erwerbs-)Arbeit definiert wird; zugleich "liegt die innere Logik des Kapitalismus in positiver Hinsicht in der Entlastung der Menschen von Arbeit, die von Maschinen durchgeführt werden kann." Jetzt: Wie soll das zusammengehen? Da die einen, die arbeiten und arbeiten, sich mithin alles kaufen könnten, aber leider für "nichts Zeit" haben; dort die anderen, die jede Menge Zeit, aber leider keinen Job und mithin kaum Geld haben. "Man müsste", sagt Heintel, "man müsste diese verdrängungsneurotische Innovationsraserei der Wirtschaft in den Griff kriegen." Der Jammer sei, dass der Zeitgeist genau in die entgegengesetzte Richtung wehe und die Politik dem nicht nur nichts entgegensetze, sondern diese Entwicklung (Zauberworte: Privatisierung, Deregulierung) sogar noch beschleunige. Der Philosoph erinnert an das von Heide Schmidts Liberalem Forum geforderte Grundeinkommen. Man habe das damals durchgerechnet, es wäre finanzierbar, sagt der Gründer der "Vereins zur Verzögerung der Zeit". Aber: "Dass Menschen nur für ihr Sein bezahlt werden und nicht für ihr Tun, das geht in die Köpfe nicht leicht hinein." Dabei ist Heintel überzeugt davon, dass das der richtige Weg wäre: "Es würde die Arbeitsideologie relativieren und damit Tätigkeiten aufwerten – es gibt ja genug Tätigkeiten, die nicht als Erwerbsarbeit bezahlt werden." Und es würde der Gesellschaft Zeit für Nachdenklichkeit geben. Vielleicht, so philosophiert Heintel weiter, würden die Menschen auch wieder mehr Freude finden. Etwa an Festen, die "ja nicht mehr stattfinden. Es gibt ja nur noch Events, diese Verschmelzungskompensation für das, was man nicht mehr zusammenbringt." Irgendwie typisch für die Turbogesellschaft, dass sie sich auch in der Freizeit unter Leistungs- oder jedenfalls Erlebnisdruck setzt. Bloß nie zum Stillstand kommen, möglichst viel hineinpacken in die freie Zeit, auf dass keine Sekunde ungenützt verstreicht. Sonst stellt sich womöglich dieses schwer erträgliche Gefühl der Leere ein; sonst drängt sich womöglich die Frage auf, ob einen die pausenlose Hetze wirklich voranbringt oder womöglich nur im Kreis herumwirbelt; sonst wird einem womöglich das eigene Ablaufdatum bewusst. "Warum sind die Handys so ein Renner?", fragt Heintel und gibt die Antwort gleich selbst: "Weil man alle Pausen damit ausfüllen kann." Das Problem sei aber, dass der Mensch diese Pausen brauche – "im Sinne szenischer Übergänge", sagt Heintel. Um gerade Vergangenes abzuschließen, kurz innezuhalten und sich bereit zu machen für das Kommende. Heintel nennt ein Beispiel: Früher sei man vor einem Theaterabend nach Hause gegangen, habe eine Kleinigkeit gegessen, geduscht, sich fein und auf den Weg gemacht. Und heute? "Vom Büro hetzt man ins Theater, findet keinen Parkplatz, kommt im ersten Akt zu spät und im zweiten schläft man schon." Diese "Überlagerungsphänomene", so Heintel, seien "zutiefst ungesund". Warum die Menschen im Stau stehen wollen? Unbewusst sei das vielen klar. Heintel: "Deshalb fahren ja so viele gerne mit dem eigenen Auto vom Büro im Stau heim. Das mildert den Übergang. Weil sonst kann mir doch keiner sagen, dass gefahren werden muss, wenn man ganz sicher weiß, dass es staut." Der Philosoph gibt deshalb auch Fahrgemeinschaften keine Chance – der Mensch brauche einfach ein wenig Zeit für sich allein. Auch sich zu wenig Zeit für andere zu nehmen, führe über kurz oder lang garantiert zu Verschleißerscheinungen – zu Unduldsamkeit und Kritikunempfindlichkeit. Zuhören kostet Zeit, diskutieren kostet Zeit. Schneller geht's, wenn man sich das alles spart – "das führt dann zu autoritärem Verhalten und zu einsamen Entscheidungen", so Heintel. Es sei schon paradox: Alle reden von Demokratie und Partizipation und beklagen zugleich, dass alles so lange dauert. Aber das sei notwendig. Es sei doch viel klüger, eine Sache durchzudenken, zu diskutieren und dann zu entscheiden, anstatt Schnellschüsse zu produzieren: "Zeitdruck gefährdet Demokratie." Demokratie war auch eine Erfindung der alten Griechen. Und sie wussten, dass es dafür zwei Zeiten braucht – Chronos und Kairos. Diese Balance ist das, was wir suchen müssen, sagt Heintel. www.eilkrankheit.de/Interviews/iv13.pdf Einladung zur Langsamkeit Über die Suche nach der richtigen Geschwindigkeit und die Rückeroberung der Muße von Ulrich Schnabel (16. Dezember 2012) Vor einiger Zeit war der Schriftsteller Pico Iyer zur Konferenz einer Werbeagentur nach Singapur eingeladen. »Trends von morgen« waren gefragt, und der viel reisende Iyer, der ständig zwischen den USA und Japan pendelt, sollte über globale Mobilität referieren. Doch bevor er dazu kam, wurde er mit einem Geständnis konfrontiert. »Kurz nach meiner Ankunft«, berichtet Iyer in der New York Times, »nahm mich der Chef der Werbeagentur zur Seite. Was ihn am meisten interessiere, so begann er – und ich stellte mich schon auf eine besonders geheimnisvolle Werbekampagne ein –, sei: die Stille.« Stille? Kein Trubel, keine Show, kein aufgeblasenes Marketing-Event, sondern einfach nur mal abschalten und Ruhe geben? Ist das der neueste Trend? Gut möglich. Denn je hektischer die Zeiten, je schneller die digitale Kommunikation und je größer der Drang, allzeit erreichbar zu sein, umso ausgeprägter wird der Wunsch, das alles einmal hinter sich zu lassen und abzuschalten. Und das gilt nicht nur für ruhebedürftige Werbechefs. Object 1 Häufig seien es gerade die kreativen Erfolgsmenschen, wie Pico Iyer erstaunt notiert, die sich vom Nachrichtenstrom abkoppelten und sich der permanenten Erreichbarkeit verweigerten. Manche legen übers Wochenende ein »Internet-Sabbatical« ein oder blocken per Freedom-Software stundenweise ihren Internetzugang, andere flüchten aufs Land, ins Kloster oder in eines jener teuren »black hole«Hotels, in denen man gerade dafür bezahlt, keinen Fernseher im Zimmer zu haben und nicht erreichbar zu sein. Klingt verrückt? Kaum weniger verrückt als der Schweizer Trendsetter Rolf Dobelli. Der Mitgründer der Firma getAbstract (die Managementwissen in komprimierter Form anbietet) hat sich radikal vom Nachrichtenrauschen abgekoppelt. Er habe sämtliche Zeitungs- und Zeitschriftenabos gekündigt, Radio und Fernseher entsorgt und die News-Apps von seinem iPhone gelöscht, berichtet Dobelli in seinem Bestseller zur Kunst des klugen Handelns. »Die ersten Wochen waren hart«, gesteht der Autor . »Sehr hart. Ständig hatte ich Angst, etwas zu verpassen.« Doch er habe durchgehalten. Denn die hektischen News seien ebenso störend wie irrelevant . Lieber habe er Bücher und Hintergrundartikel gelesen oder Gespräche mit Freunden geführt (echten, keinen Facebook-Freunden). Ergebnis? Heute, drei Jahre später, genieße er »klareres Denken, wertvollere Einsichten, bessere Entscheidungen und viel mehr Zeit«. Und das Beste sei: »Noch nie habe ich etwas Wichtiges verpasst.« Die ständige Hetze stellt letztlich das Funktionieren der Demokratie infrage Sind Leute wie Dobelli vielleicht gar nicht so spinnert, wie es zunächst scheint? Haben sie möglicherweise etwas Entscheidendes erkannt? Unbestritten ist der Bedarf nach Ruhe. Kaum etwas ist in unserer überhitzten Leistungsgesellschaft seltener (und wertvoller) geworden als Zeit und Muße. Zeit zum Denken und Reflektieren, Muße, um neue Ideen und Perspektiven entwickeln zu können – statt im ewig gleichen Hamsterrad zu strampeln. Dabei geht es um weit mehr als nur ein bisschen Wellness für die gestresste Seele; es geht darum, Zeit für das Wesentliche zu finden – sowohl im Arbeitsleben wie außerhalb. Wie schwer das ist, spüren besonders Politiker, die wie kaum eine andere Berufsgruppe unter Druck stehen. Sie sollen weitreichende Entscheidungen treffen und zukunftsfähige Gesellschaftsmodelle entwerfen – ohne dass sie dafür die nötige Zeit haben. Für den ehemaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering steht damit sogar das Funktionieren unseres politischen Systems auf dem Spiel. Mit der Geschwindigkeit der Finanzmärkte könne die Politik schlicht nicht mehr mithalten. »Deshalb müssen wir Tempo rausnehmen«, mahnte er in einem Interview mit dem Magazin Cicero. Schließlich setze Demokratie voraus, »dass per Wahl beauftragte Menschen Dinge diskutieren, dass sie auch streiten und dann Entscheidungen treffen«. Demokratie brauche also »eine menschenmögliche Geschwindigkeit, und die gibt es nicht mehr«, analysiert der ehemalige Vizekanzler, der seit seinem Ausscheiden aus der aktiven Regierungspolitik einen kritischen Blick auf das hektische Berliner Getriebe gewonnen hat. Wenn ein Parlament vor wichtigen Entscheidungen keine Zeit mehr habe, zu diskutieren und nachzudenken, »dann werden die autokratischen Systeme gewinnen, die auf niemanden Rücksicht nehmen«. Nicht nur in der Politik wäre eine langsamere Gangart notwendig. Auch in der Wirtschaft zeigen sich die negativen Folgen der Hektik. Zum einen, weil sich die Anzahl der Fehltage durch psychische Erkrankungen in fünfzehn Jahren fast verdoppelt hat, was laut Bundesarbeitsministerium zu jährlichen Produktionsausfällen in Höhe von 8 bis 10 Milliarden Euro führt. Zum anderen, weil eilig entworfene Produkte zunehmend als »grüne Bananen« auf den Markt kommen, die erst beim Kunden reifen. Klemmt dann beim neuen Auto Gaspedal oder Bremse, ist der Imageschaden immens. Sich Zeit zu lassen kann also enorm viel Zeit sparen. Eine ähnliche Erkenntnis macht sich bei der Deutschen Bahn breit: Statt mit Höchstgeschwindigkeit (und hoher Verspätung) fährt sie nun lieber langsamer (aber pünktlicher). Wäre es nur so einfach, das eigene Leben abzubremsen! Zwar werden uns allerorten zeitsparende Tipps und »schnelle Entspannungstricks« offeriert, doch leider sind diese keine Therapie, sondern ein Symptom der allgemeinen Hetze. (Wer sich »schnell entspannen« muss, steckt so im Stress, dass ihm die Zeit für echte Ruhepausen fehlt.) Und in Seminaren zum Zeitmanagement lernt man vor allem, Arbeitszeit effizienter zu nutzen – nicht aber, sich Zeit zu lassen. Das hat den paradoxen Effekt, dass man noch mehr Dinge in noch kürzerer Zeit erledigt und auf lange Sicht noch gestresster ist. Echtes Umdenken beginnt mit der Erkenntnis, dass man nicht individuell versagt, wenn einem die Zeit knapp wird. Im Gegenteil, das Leiden an der Zeitnot ist längst ein kollektives Problem, das uns alle verbindet – Angestellte wie Selbstständige, Politiker wie Manager, Unbekannte wie Prominente. Denn das Gefühl des Gehetztseins ist ein zentrales Charakteristikum unserer modernen »Beschleunigungsgesellschaft«, die durch ständig steigende Erwartungen und den Drang zum Immermehr und Immer-schneller gekennzeichnet ist. Der gesellschaftliche Anspruch auf Perfektion quält heute insbesondere Frauen, die das Gefühl haben, sie müssten Beruf, Kindererziehung und Familienglück gleichzeitig optimieren. Doch nicht nur dieser Spagat zwischen altem Rollenverständnis und neuen Ansprüchen sorgt für Stress. Dazu kommt die technische Beschleunigung, die uns mit ständig schnelleren Maschinen, Computerchips und Datenleitungen beglückt, sowie der wirtschaftliche Wettlauf, der in der globalisierten Welt keinem Unternehmen eine Atempause gönnt. Auch der Verlust an religiösen Bezügen kann zum Gefühl beitragen, keine Zeit zu haben. Wer keinen Umgang mit dem Tod und der eigenen Endlichkeit entwickelt, empfindet das Leben leicht als »letzte Gelegenheit«, wie es die Sozialwissenschaftlerin Marianne Gronemeyer formuliert. Mit anderen Worten: Man weiß zwar, dass man sterben muss, aber vorher versucht man, noch möglichst viel, unendlich viel zu erledigen. So verlagert sich der äußere Zeitdruck nach innen und verwandelt sich in den Drang, den Terminkalender randvoll zu packen, weil man ja sonst wertvolle Zeit vertrödelt. Deshalb träumen wir einerseits von unbeschwerten Aus- oder Mußezeiten, halten es andererseits aber nur schwer aus, wenn einmal nichts zieht und drängt, wenn nichts mehr bimmelt, klingelt und uns ablenkt. Der erste Schritt auf dem Weg zur Muße besteht daher darin, sich dieser äußeren und inneren Hindernisse bewusst zu werden. Der zweite Schritt wäre die Erkenntnis, dass innere Ruhe nichts mit der Zahl unserer Arbeitsoder Freizeitstunden zu tun hat, sondern mit einer inneren Haltung: Gelingt es, einmal ganz bei sich selbst anzukommen und wunschlos zufrieden zu sein? Am ehesten empfinden wir dies in Momenten, in denen wir selbst über unser Tun (oder Nichtstun) bestimmen und in denen wir uns ganz einer Sache widmen können. Der eine erlebt dies vielleicht beim Angeln, die andere beim Gärtnern, der Dritte im Punkkonzert oder, warum nicht, beim kreativen Arbeiten oder im Spiel mit Kindern. Kinder sind ohnehin geborene Müßiggänger, weil sie nicht – wie wir Erwachsenen – alles nach Effizienz und Nützlichkeit beurteilen, sondern viele Dinge einfach um ihrer selbst willen tun. In der Hinsicht kann man viel von ihnen lernen. In jedem Fall aber hilft es, Ausschau nach Gleichgesinnten zu halten. Nichts entspannt mehr als die Gegenwart entspannter Freunde; zugleich sind Verbündete unendlich wertvoll, um der allgemeinen Hetze zu widerstehen. Denn in einer Gesellschaft, die auf ständiges Wachstum und immerwährende Beschleunigung gepolt ist, muss man sich Ruheräume und Zeiten der Stille regelrecht erkämpfen (und dann, wie Rolf Dobelli, auch die Angst aushalten, etwas zu verpassen). Mit anderen Worten: Ruhe stellt sich nicht von selbst ein, sondern bedarf der sorgsamen Pflege. Ein guter Start dafür wäre die simple Frage: Wann ist eigentlich genug? http://www.zeit.de/2012/50/Entschleunigung-Langsamkeit-Musse Die Relativitätstheorie von Albert Einstein von Marlen Schott und Sandra Müller 1905 veröffentlichte Albert Einstein seine "Spezielle Relativitätstheorie". Sie erklärt, dass eine Stunde nicht gleich eine Stunde ist, sondern mal schneller und mal langsamer vergehen kann. Es kommt auf die Geschwindigkeit an, mit der man sich bewegt. 1916 veröffentlichte Einstein dann die "Allgemeine Relativitätstheorie", die sich mit der Raumzeit befasst. Oben: Geschwindigkeit des Passagiers, wenn er in Fahrtrichtung läuft. Unten: Geschwindigkeit des Passagiers, wenn er gegen die Fahrtrichtung läuft. Jeweils vom Haus aus gesehen. Einsteins spezielle Relativitätstheorie ist eine Weiterentwicklung des von Isaac Newton 1686 aufgestellten Relativitätsprinzips. Dieses Prinzip besagt Folgendes: Bewegt sich ein Zug zum Beispiel mit einer Geschwindigkeit von 80 Kilometern pro Stunde (80 km/h) und ein Mensch im Zug bewegt sich mit 5 km/h in Fahrtrichtung, so bewegt sich der Mensch vergleichsweise zum Bahnsteig (stehendes Objekt) mit der Geschwindigkeit 80 km/h + 5 km/h = 85 km/h. Dreht sich der Mensch nun herum und geht im Zug entgegen der Fahrtrichtung, so bewegt er sich vergleichsweise zum Bahnsteig mit der Geschwindigkeit 80 km/h - 5 km/h = 75 km/h. Man kann also solche geradlinigen gleichförmigen Bewegungen nur als Bewegung bezeichnen, wenn man einen weiteren Körper (Bahnsteig), der sich nicht bewegt, als Bezugspunkt hat. Die Geburt der Relativitätstheorie Albert Einstein widerspricht jedoch der Theorie Newtons. Ein wichtiger Ausgangspunkt für Einsteins Theorien war das so genannte Michaelson-Morley-Experiment. Die Physiker erkannten damit, dass sich das Licht eben gerade nicht so wie ein Mensch in einem Zug verhält. Eigentlich verhalten sich alle sehr schnell bewegenden Dinge nicht so wie ein Fußgänger im Zug. Ein kleines Gedankenexperiment soll das verdeutlichen: Wenn der Zug nicht 80 km/h sondern 1080000000 km/h schnell - also sehr, sehr schnell - wäre, würde der Mensch im Zug letztendlich nicht 1080000005 km/h schnell sein, sondern etwas weniger. Hier ein Beispiel mit kleineren Zahlen: Bewegt sich der Fußgänger im Zug (von sich aus gesehen) mit 5 km/h in Fahrtrichtung, so vergeht seine Zeit (vom Bahnsteig aus gesehen) langsamer. Das ergibt dann eine Geschwindigkeit (vom Bahnsteig aus gesehen) von etwas weniger als 80 km/h + 5 km/h. Bewegt sich der Fußgänger im Zug (von sich aus gesehen) dagegen mit 5 km/h entgegen der Fahrtrichtung, so vergeht seine Zeit (vom Bahnsteig aus gesehen) sogar etwas schneller, als die der anderen Passagiere im Zug, weil er vom Bahnsteig aus gesehen langsamer ist als der Zug. Dementsprechend hat er (vom Bahnsteig aus gesehen) keine Geschwindigkeit von 80 km/h - 5 km/h = 75 km/h, sondern eine von ca. 74.999999.... km/h. Warum ist das so? Einsteins Relativitätstheorie: In einem sich schnell bewegenden Objekt vergeht die Zeit langsamer als in einem starren Objekt. Für den Menschen im fahrenden Zug, der sich in Fahrtrichtung bewegt, läuft die Zeit (laut Relativitätstheorie) langsamer, als für einen, der sich nicht in dem Zug befindet. Der Unterschied ist allerdings so gering, dass er nicht wahrnehmbar ist. Hier ein weiteres Beispiel: Würde ein Mensch in einem Raumschiff mit sehr hoher Geschwindigkeit durch das Weltall fliegen und nach einem Jahr zurückkehren, so müsste er feststellen, dass auf der Erde schon viel mehr Jahre vergangen sind, als nur ein einziges. Unsere Raumschiffe erreichen jedoch bisher nicht solch hohe Geschwindigkeiten. Daher kann auch noch niemand auf diese Weise Einsteins Theorie widerlegen. Lichtgeschwindigkeit Das Licht ist so schnell, dass es 300.000 Kilometer in der Sekunde zurücklegt. Damit ist es schneller als alle anderen Dinge und kann auch nicht noch weiter beschleunigt werden. Wenn man zum Beispiel eine Taschenlampe in einem fahrenden Zug nach vorne richtet, ist das Licht, das dann von der Taschenlampe ausgeht, genauso schnell, wie wenn der Zug stehen würde. Warum kann man einen Körper nicht auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigen? Um einen schweren Körper zu beschleunigen, braucht man mehr Energie als bei einem leichteren. Je schneller sich ein Körper bewegt, desto mehr Masse (Masse = Energie) hat er. Das heißt, der bewegte Körper wird immer schwerer beim Beschleunigen. Irgendwann ist er so schwer, dass die gesamte Energie des Universums nicht ausreichen würde, um ihn noch schneller zu machen. Außer dem Licht selbst wird kein Gegenstand jemals Lichtgeschwindigkeit erreichen können. http://www.helles-koepfchen.de/albert_einstein/die_relativitaetstheorie.html Jorge Luis Borges Sinnfiguren der Schildkröte Es gibt einen Begriff, der Verderber und Vereitler der übrigen Begriffe ist. Ich spreche nicht vom Bösen, dessen begrenztes Herrschaftsgebiet die Ethik ist; ich spreche vom Unendlichen. Ich trug mich einmal mit dem Gedanken, seine wandelbare Geschichte zusammenzustellen. Die vielfache Hydra (dieses Sumpfungeheuer: Vorausbild oder Emblem der geometrischen Reihen) würde in ihrer Vorhalle gehörigen Schrecken verbreiten; gekrönt wäre sie von den schmutzigen Alpträumen Kafkas, und ihre zentralen Kapitel wären nicht unvertraut mit den Spekulationen jenes fernen deutschen KardinalsNikolaus von Krebs, Nikolaus von Kues –, der im Kreisumfang ein Vieleck mit einer unendlichen Zahl von Winkeln erblickte, und der schriftlich hinterließ, eine unendliche Linie sei eine Gerade, sei ein Kreis und sei eine Kugel (Dedoeta ignorantia, I, 13). Wenn ich fünf oder gar sieben Jahre bei der Metaphysik, der Theologie, der Mathematik in die Lehre ginge, würde ich (unter Umständen) befähigt sein, dieses Buch rühmlich in Angriff zu nehmen. Überflüssig zu bemerken, daß das Leben mir diese Hoffnung versagt, wie nicht minder dieses Adverb. Zu dieser illusorischen Biographie des Unendlichen sind auch diese Seiten irgendwie ein Beitrag. Es ist mit ihnen beabsichtigt, gewisse Sinnfiguren des zweiten Paradoxes von Zenon aufzuzeichnen. Rufen wir uns dieses Paradox zunächst ins Gedächtnis! Achilles läuft zehnmal schneller als die Schildkröte und gibt ihr einen Vorsprung von zehn Metern. Achilles läuft diese zehn Meter, die Schildkröte läuft einen; Achilles läuft diesen Meter; die Schildkröte läuft einen Dezimeter; Achilles läuft diesen Dezimeter, die Schildkröte läuft einen Zentimeter; Achilles läuft diesen Zentimeter, die Schildkröte einen Millimeter; Achilles, der Leichtfüßige, diesen Millimeter, die Schildkröte einen Zehntel Millimeter und so unendlich, ohne daß er sie je einholt . . . So lautet die übliche Fassung. Wilhelm Capelle (Die Vorsokratiker, 1935, p. 178) übersetzt den originalen Wortlaut bei Aristoteles: »Das zweite Argument Zenons ist der sogenannte >Achilles<. Es läuft auf den Gedanken hinaus, daß der Langsamste von dem Schnellsten nicht eingeholt werden kann, weil der Verfolger durch den Ort gehen muß, den der Verfolgte eben erst geräumt hat, so daß der Langsamste ihm stets um einen bestimmten Vorsprung voraus ist.« Das Problem hat sich, wie man sieht, nicht geändert; doch wüßte ich gern den Namen des Dichters, der es mit einem Helden und einer Schildkröte beschenkt hat. Diesen magischen Wettkämpfern sowie der Reihe 10+1+1/10tel +1/100tel +1/1000tel +1/10 000tel +.... dankt das Argument seine Verbreitung. So gut wie niemand erinnert sich noch an das vorangehende – das von der Rennbahn –, obwohl es nach dem gleichen Schema entworfen ist. Die Bewegung ist unmöglich (argumentiert Zenon), weil der bewegte Gegenstand, um ans Ziel zu gelangen, erst die Hälfte der Bahn zurücklegen muß, und vorher die Hälfte der Hälfte, und vorher die Hälfte der Hälfte der Hälfte, und vorher . . .1 Wir verdanken der Feder des Aristoteles die Mitteilung und die erste Widerlegung dieser Argumente. Er widerlegt sie mit einer vielleicht verächtlichen Knappheit, aber das Gedächtnis suggeriert ihm das berühmte »Argument vom dritten Menschen«, das sich gegen die platonische Lehre richtet. Diese Lehre will beweisen, daß zwei Individuen, die gemeinsame Attribute haben (beispielsweise zwei Menschen) lediglich rein zeitliche Erscheinungen eines ewigen Archetyps sind. Aristoteles stellt die Frage, ob die vielen Menschen und »der Mensch« – die zeitlichen Individuen und der Archetyp – gemeinsame Attribute haben. Bekanntlich trifft dies zu: sie haben die gemeinsamen Attribute des Menschseins. In diesem Falle, behauptet Aristoteles, erhebt sich die Notwendigkeit, einen weiteren Archetyp zu postulieren, der alle umfaßt und daraufhin einen vierten . . . Patricio Azcarate schreibt in einer Anmerkung seiner Übersetzung der Metaphysik einem Aristotelesschüler folgende Argumentation zu: »Wenn das, was man von vielen Dingen behauptet, zugleich ein Sein für sich ist, unterschieden von den Dingen, von denen man es behauptet (und das ist es, was die Platonjünger im Sinne haben), so muß es notwendig einen dritten Menschen geben. Etwas wird benannt, was auf die Individuen und auf die Idee Anwendung findet. Es gibt also einen dritten Menschen, der von den Einzelmenschcn und von der Idee unterschieden ist. Es gibt zu gleicher Zeit einen vierten Menschen, der sich im gleichen Verhältnis zu diesem und zur Idee der Einzelmenschen befindet; danach einen fünften und so bis ins Unendliche.« Postulieren wir zwei Individuen, a und b, die zusammen die Gattung c bilden. Das ergibt die Formel a+b=c Aber auch, nach Aristoteles a+b+c=d a+b+c+d=e a + b + c + d + e = f... Strenggenommen sind keine zwei Individuen nötig: das Individuum und die Gattung sind hinreichend zur Definition des dritten Menschen, den Aristoteles nachweist. Zenon verläßt sich auf die unendliche Regression, um gegen die Bewegung und die Zahl Front zu machen; der Philosoph, der ihn widerlegt, um gegen die universalen Formen Front zu machen.2 Das nächste Erscheinungsbild von Zenon, das meine wahllosen Notizen verzeichnen, ist Agrippa, der Skeptiker. Dieser verneint, daß sich irgend etwas beweisen lasse, da jeder Beweis einen vorausgehenden Beweis notwendig macht (Hypotoposes, I, 166). Sextus Empiricus argumentiert gleichfalls, daß die Definitionen eitel sind, da jedes einzelne der verwendeten Worte zuvor definiert werden müßte, um dann die Definition zu definieren (Hypotoposes, II, 207). Sechzehnhundert Jahre später sollte Byron in den Widmungsstrophen seines Don Juan von Coleridge sagen: »I wish he would explain His explanation.« Bis hierher hat der »regressus in infinitum« im Dienst der Verneinung gestanden: der heilige Thomas von Aquin beruft sich auf ihn (Summa Theologica, i, 2, 3), um das Dasein Gottes zu beweisen. Er stellt fest, daß es in der Welt kein Ding gibt, das nicht eine bewirkende Ursache hat und daß die Ursache selbstverständlich die Wirkung einer anderen voraufgehenden Ursache ist. Die Welt ist eine unendliche Verkettung von Ursachen, und jede Ursache ist eine Wirkung. Jeder Zustand kommt dem vorausgehenden her und bestimmt den folgenden, abe die Gesamtreihe könnte ebensogut nicht gewesen sein, da die Glieder, aus denen sie gebildet ist, bedingt, das heißt aleatorisch sind. Trotzdem ist die Welt; hieraus können wir auf eine nicht kontingente primäre Ursache schließen, und diese ist die Gottheit. So lautet der kosmologische Beweis; Aristoteles und Platon haben ihn vorgebildet; Leibniz entdeckt ihn wieder. 3 Hermann Lotze bemüht den »regressus«, um sich nicht dazu verstehen zu müssen, daß eine Veränderung des Gegenstandes A eine Veränderung des Gegenstandes B bewirken könne Er macht geltend, daß, wenn A und B eigenständig sind, eine Einwirkung von A auf B postulieren soviel bedeute wie ein drittes Element C zu postulieren, welches, um auf B wirken zu können, ein viertes Element D benötige, welches nicht wirksam werden könne ohne F . . . Um diese Multiplikation von Chimären auszuschalten, beschließt er, daß es in der Welt einen einzigen Gegenstand gibt: eine unendliche und absolute Substanz, die mit dem Gott Spinozas zu vergleichen ist. Die transitiven Ursachen werden auf immanente Ursachen zurückgeführt, die Tatsachen auf Manifestationen oder Modi der kosmischen Substanz.4 Analog, aber noch beunruhigender, liegt der Fall bei F. H. Bradley. Dieser Denker (Appearance and Reality, 1897, pp.19 bis 34) läßt es nicht bei der Bekämpfung der Kausalbeziehung bewenden; leugnet alle Beziehungen insgesamt. Er fragt sich, ob eine Relation mit ihren Relationsbegriffen verbunden ist. Diese antworten mit Ja; er schließt daraus, daß somit zwei weitere Relationen existieren, und daraufhin weitere zwei. In dem Axiom »Der Teil ist geringer als das Ganze« nimmt er nicht zwei Begriffe wahr nebst der Relation »geringer als«; er nimmt deren drei wahr (Teil, geringer als, Ganzes), die, wenn sie miteinander verknüpft werden, zwei weitere Relationen notwendig machen und so bis ins Unendliche. In dem Aussagesatz »Juan ist sterblich« nimmt er drei unkonjugierbare Begriffe wahr (der dritte ist die Copula), die wir nie in eine Einheit bringen werden. Er verwandelt sämtliche Begriffe in unverbundene steinharte Gegenstände. Dem widersprechen heißt, sich mit Irrealität beflecken. Lotze schaltet die periodischen Abgründe Zenons zwischen der Ursache und der Wirkung ein; Bradley zwischen dem Subjekt und dem Prädikat, sofern nicht zwischen dem Subjekt und den Attributen; Lewis Carroll (Mind, vol. IV, p. 278) zwischen der zweiten Prämisse des Syllogismus und dem Schluß. Er schildert einen endlosen Dialog, dessen Partner Achilles und die Schildkröte sind. Nachdem sie am Ende ihrer unendlichen Laufbahn angelangt sind, unterhalten sich die beiden Wettkämpfer friedlich über Geometrie. Sie vertiefen sich in den folgenden einsichtigen Gedankengang: a) Sind zwei Dinge einem dritten gleich, so sind sie auch untereinander gleich. b) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind gleich M N. c) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind einander gleich. Die Schildkröte erklärt sich mit den Prämissen a) und b) einverstanden, bestreitet jedoch, daß sie den Schluß rechtfertigen. Achilles versteht sich dazu, einen hypothetischen Satz einzuschalten. a) Sind zwei Dinge einem dritten gleich, so sind sie auch untereinander gleich. b) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind gleich M N. c) Wenn a) und b) gültig sind, ist auch z) gültig. z) Die zwei Seiten dieses Dreiecks sind einander gleich. Nach Abgabe dieser kurzen Erklärung akzeptiert die Schildkröte die Gültigkeit von a), b) und c), aber nicht von z). Entrüstet schaltet Achilles den Satz ein: d) Wenn a), b) und c) gültig sind, ist z) gültig. Carroll stellt fest, daß das Paradox des Griechen zu einer unendlichen Abstandsverminderung führt, während bei dem von ihm aufgestellten die Abstände sich erweitern. Ein letztes Beispiel, womöglich von allen das eleganteste, aber auch das von Zenon am wenigsten abweichende. William James (Some Problems of Philosophy, 1911, p. 182) leugnet, daß vierzehn Minuten vergehen können, weil zuvor sieben Minuten vergangen sein müssen und vor den sieben dreieinhalb und vor den dreieinhalb eindreiviertel und so bis ans Ende, bis an das unsichtbare Ende durch feingesponnene Labyrinthe der Zeit. Descartes, Hobbes, Leibniz, Mill, Renouvier, Georg Cantor, Gomperz, Russell und Bergson haben Erklärungen – nicht immer unerklärlicher und ohnmächtiger Art – des Paradoxes von der Schildkröte formuliert. (Ich habe einige wiedergegeben.) Nicht weniger reich ist, wie der Leser sich überzeugen konnte, die Vielfalt seiner Anwendungsmöglichkeiten. Die geschichtlichen schöpfen es nicht aus. Der schwindelerregende »regressus in infinitum« ist vielleicht auf alle Themen anwendbar. Auf die Ästhetik – ein bestimmter Vers bewegt mich auf Grund eines bestimmten Motivs, das Motiv auf Grund eines anderen Motivs . . . Auf das Erkenntnisproblem: erkennen ist wiedererkennen, aber um wiederzuerkennen muß man erkannt haben, aber erkennen ist wiedererkennen . . . Wie soll man diese Dialektik beurteilen? Ist sie ein rechtmäßiges Forschungsinstrument oder, gelinde gesagt, eine schlechte Angewohnheit? Es ist verwegen zu denken, daß eine Koordinierung von Worten (nichts anderes sind die Philosophien) mit dem Universum große Ähnlichkeit haben sollte. Verwegen ist es aber auch zu denken, daß von diesen erlauchten Koordinierungen nicht eine – vielleicht nur auf infinitesimale Weise - ihm ein wenig mehr ähnlich sehen sollte. Ich habe diejenigen untersucht, die einen gewissen Kredit genießen; ich muß bekennen, daß ich allein in jener, die Schopenhauer formulierte, einen Gesichtszug des Universums wiedererkannt habe. Im Sinne dieser Lehre ist die Welt ein Gemächt des Willens. Die Kunst verlangt – stets – nach sichtbaren Unwirklichkeiten. Um nur eine anzuführen: die metaphorische oder weitschweifige oder bewußt beiläufige Diktion der Gesprächspartner in einem Drama. Geben wir zu, was alle Idealisten zugeben: den halluzinatorischen Charakter der Welt. Tun wir, was bislang kein Idealist getan hat: suchen wir nach Irrealitäten, die diesen Weltcharakter bestätigen. Wir werden sie, glaube ich, in Kants Antinomien und in der Dialektik von Zenon finden. »Der größte Zauberer«, schreibt in denkwürdiger Weise Novalis, »würde der sein, der sich zugleich so bezaubern könnte, daß ihm seine Zaubereien wie fremde selbstmächtige Erscheinungen vorkämen. Könnte das nicht mit uns der Fall sein?« Ich glaube, daß es sich so verhält. Wir (die ungeteilte Gottheit, die in uns wirkt) haben die Welt geträumt. Wir haben sie geträumt: widerständig, geheimnisvoll, sichtbar, allgegenwärtig im Raum, feststehend in der Zeit, doch haben wir in ihrem Bau schmale und ewige Zwischenräume von Sinnlosigkeit offengelassen, um dessen eingedenk zu bleiben, daß sie falsch ist. 1 Ein Jahrhundert später stellte der chinesische Sophist Hui Tsu die Überlegung an, daß ein Stock, von dem man jeden Tag die Hälfte abschneidet, unaufhörlich ist (H. A. Gilcs: Chuang Tzu, 1889, p. 453). 2 Im Parmcnidcs, dessen zenonischer Charakter außer Frage steht, erörtert Piaton ein sehr ähnliches Argument, um zu beweisen, daß das Eine in Wirklichkeit Viele ist. Wenn das Eine existiert, hat es teil am Sein; daraus folgt, daß es in ihm zwei Teile gibt: nämlich das Sein und das Eine, aber jeder einzelne dieser beiden Teile ist das Eine und ist, weshalb er wiederum zwei Teile einschließt, die wiederum zwei Teile einschließen: unendlich so fort. Russell {Introduction to Mathematical Philosoph}, 1919, p. 128) setzt an die Stelle der geometrischen Progression Piatons eine arithmetische Progression. Wenn das Eine existiert, hat das Eine teil am Sein; da aber das Eine und das Sein voneinander unterschieden sind, existiert die Zwei; da aber das Sein und die Zwei voneinander unterschieden sind, existiert die Drei usw. Chuang Tzu (Waley: Thrcc Ways of Thougt in Ancient China, p. 25) beruft sich auf den gleichen unabschließbaren »regressus« gegen die Monisten, die erklärten, daß die Zehn Tausend Dinge (das Universum) ein Einziges seien. Von vornherein – so argumentiert er – sind die kosmische Einheit und die Behauptung dieser kosmischen Einheit bereits zwei Dinge: diese zwei und die Behauptung der Dualität sind bereits Drei, diese Drei und die Behauptung der Trinität sind bereits vier. .. Russell ist der Ansicht, daß die Unbestimmtheit des Terminus »Sein« hinreichend sei, den Beweisgang zu entkräften. Er fügt hinzu, daß die Zahlen keine Existenz haben, sondern bloße logische Fiktionen sind. 3 Ein Echo dieses Beweises, der heule erloschen ist, klingt im ersten Vers des Paradiso an: »La gloria de Colui che tulto move«. 4 Ich folge den Erläuterungen von James (A I'luralistic Universe, 1909, p. 55–60) Vgl. Wenlschcr: Fechner und Lotze, 1924, p. 166–171. Enthalten in: Borges, J. L.: Essays, 1932–1936. Gesammelte Werke, Band 5/1, Carl Hanser Verlag, München 1981, S. 122–129. Zenon, Achilles und die Schildkröte Der vergessene Denker Costabile Matarazzo 1869 veröffentlichte der botanisierende Mönch Gregor Mendel einen Aufsatz über Experimente, bei welchen er die Gesetze der Vererbung entdeckt hatte. Der Aufsatz des wissenschaftlichen Außenseiters Mendel blieb 25 lange Jahre lang unbeachtet. 1959 veröffentlichte der philosophierende Journalist Costabile Matarazzo einen Aufsatz über seine verblüffenden Überlegungen zum Zenon’schen Paradox von Achilles und der Schildkröte. Der Aufsatz des wissenschaftlichen Außenseiters Matarazzo blieb bis heute unbeachtet. Um der Wahrheit auf die Spur zu kommen, hat uns der griechische Philosoph Epimenides eine erlogene Geschichte überliefert. Ein Kreter habe einmal zu ihm gesagt: "Alle Kreter sind Lügner." Epimenides weist nach, daß diese Aussage eines Kreters über die Kreter in ein logisches Dilemma führt. Wenn es nämlich stimme, daß alle Kreter Lügner seien, dann müsse sein kretischer Gewährsmann selber einer sein, sei dessen Aussage folglich erlogen. Dann aber seien nicht alle Kreter Lügner, der kretische Gewährsmann könne also selbst einer dieser wahrheitsliebenden Kreter sein, was wiederum hieße, daß seine Aussage stimme, er selber also doch ein Lügner sei. Diese kleine Geschichte mit der sich im Kreise drehenden Schlußfolgerung verfolgt die abendländische Philosophie seit zweieinhalb Jahrtausenden. So richtig zufrieden ist man mit den vorgeschlagenen Lösungen bis heute nicht. Achilles und die Schildkröte Die lügnerischen Kreter sind ein Klacks im Vergleich zu dem Ärger, den ein Kollege des Epimenides, Zenon von Elea, mit seiner Geschichte von Achilles und der Schildkröte der Philosophie beschert hat. Sie kennen die Geschichte natürlich, werden sie aber wahrscheinlich nicht mehr in allen Einzelheiten parat haben. Achilles, der große Krieger, läuft mit einer Schildkröte über – sagen wir mal – 200m um die Wette. Da Achilles zehnmal schneller läuft als die Schildkröte, bekommt diese der Fairness halber einen Vorsprung von 100 m. Der Gesunde Menschenverstand beharrt darauf, und ist durch nichts von dieser Überzeugung abzubringen, daß Achilles die Schildkröte sehr bald eingeholt haben wird und damit den Wettlauf gewinnt. Und wenn der Gesunde Menschenverstand soweit reicht, lineare Gleichungen mit zwei Unbekannten zu lösen, dann wird er bei unseren Ausgangszahlen errechnen können, daß Achilles die Schildkröte nach 111,111...m eingeholt haben wird. In diese Selbstverständlichkeit bricht Zenon ein und beweist mit logikscharfem Besteck, daß Achilles die Schildkröte niemals einholen wird, niemals einholen kann. In dem Moment nämlich, argumentiert Zenon, da Achilles den Startpunkt der Schildkröte erreicht hat, ist diese ihrerseits 10 m weiter, also bei 110 m. Hat Achilles die 110 m erreicht, so ist er immer noch nicht bei der Schildkröte, denn die ist inzwischen wiederum 1 m weiter gekrochen, auf 111 m. Ist Achilles bei 111 m, so ist die Schildkröte bei 111,10 m, und so weiter, und so fort. Immer dann, wenn Achilles jenen Punkt erreicht hat, an dem die Schildkröte zuletzt war, ist die Schildkröte jeweils wieder ein Stück weiter, so daß Achilles im Laufe des Wettkampfes der Schildkröte zwar sehr, sehr nahekommen wird, sie aber niemals vollständig erreichen und logischerweise – also auch niemals überholen kann. Denn die Schildkröte bleibt immer um ein winziges – wenn auch mit jedem Schritte winziger werdendes – Stück vor Achilles. Der Vorsprung der Schildkröte wird, so schlußfolgert Zenon, im Laufe der Zeit zwar unendlich klein, völlig verschwinden aber wird er nie. Der schnelle Achilles bleibt also bei allem Strampeln stets hinter dem gemächlichen Tier. Dampfplaudereien Nicht nur Wissenschaftler, Mathematiker und Philosophen, haben sich im Laufe der Zeit mit dieser Geschichte befaßt. Anspruchsvollere Zeitschriften für das allgemeine Publikum greifen im Rahmen von philosophischen Plaudereien Zenons Rätsel gerne auf, wobei die konservativeren Blätter es häufig als Beispiel für die Begrenztheit menschlicher Vernunft benutzen. Aber auch in den seriöseren Blättern ziehen sich die Autoren gerne mit einigen allgemeinen Bemerkungen über "Paradoxien" und "Gesunden Menschenverstand" aus der Affäre. Zenons Paradox sei "nun mal nicht" (eine beliebte Floskel, wenn das Denken aussetzt) befriedigend aufzulösen, das habe noch keiner gekonnt, da könne man nichts machen. Aber immerhin sei es Zenons Verdienst, durch den Stachel seines Paradoxes die Entwicklung der Infinitesimalrechnung angeregt zu haben. Die Wissenschaft geht gründlicher an die Sache heran. Ein behördlich anerkannter Philosoph rückt der Sache mathematisch zu Leibe und verkündet zuversichtlich, Zenons Paradoxie von Achill und der Schildkröte sei schon lange gelöst. "Achill holt die Schildkröte nach 111,111... m = 100+10+1+ 0,1+...m ein. Der Anschein einer Paradoxie entsteht dadurch, daß Achill sich auch nach Zurücklegung beliebig vieler der positiven Strecken 100, 10, 1, 1/10, 1/100,... immer noch hinter der Schildkröte befindet. Aber die Länge dieser Strecken wird eben immer kleiner und konvergiert gegen 0. " Da hat er recht, der Philosoph. Die obige Formel ist so richtig, wie sie allbekannt ist. Kein Lehrbuch der Infinitesimalrechnung kann es sich verkneifen, einen Hinweis auf Achilles und seine Schildkröte einzuschieben. Stolz, den Trick mit der Unendlichkeit endlich kapiert zu haben, rechnet der Schüler die Gleichung nach, kommt zum richtigen Ergebnis und findet auf der nächsten Seite seines Lehrbuchs eine verschämte Anmerkung des Autors, ihm sei das Ganze trotz der mathematisch sauberen Rechnung immer noch irgendwie unheimlich. Das Unheimliche an Zenons Schilderung des Wettlaufs ist nämlich der – jeder Lebenserfahrung Hohn sprechende – Eindruck von unglaublicher Mühseligkeit und Anstrengung, mit der Achilles einen Wegabschnitt nach dem anderen läuft und läuft und dabei der Schildkröte immer nur näher und näher kommt, sie aber lange und lange nicht erreicht. Ein Eindruck, der auch mit der Infinitesimalformel im Kopf nicht verschwindet. [...] Costabile Matarazzo Elea, in dem Zenon als Philosoph wirkte, war 500 v. Chr. eine griechische Stadt. Es liegt in Italien, knapp 150 km südlich von Neapel. Knapp 30 km nördlich von Elea und zweieinhalb Jahrtausende nach Zenon wurde 1911 in Castellabate Costabile Matarazzo geboren. Er studierte in Neapel, später in Rom, Jura, Literaturgeschichte und Philosophie. 1959 hielt er in Vallo della Lucania - in Sichtweite des antiken Elea, was wörtlich zu verstehen ist einen Vortrag, in welchem er behauptete, das Zenon'sche Paradox von Achilles und der Schildkröte aufgelöst zu haben. Wiewohl Matarazzo als Journalist italienweit einen gewissen Ruf genoß, wurde er als philosophierender Journalist offensichtlich nicht recht ernst genommen. Dazu mag beigetragen haben, daß Matarazzo das schwierige Thema auf eine leicht verständliche, angenehm lesbare Art und Weise dargestellt hat, ein Umstand, der auch einen ausgewiesenen Wissenschaftler schnell in den Verdacht bringt, nichts Substantielles gesagt zu haben. Tatsache ist, daß weder Matarazzos Vortrag noch sein Aufsatz in der Folgezeit irgendeine Beachtung fanden.. 1996 ist Costabile Matarazzo in seinem Heimatort Castellabate gestorben. Die meisten Dinge sind einfach Nachdem Matarazzo das Problem dargestellt, seine Bedeutung herausgestrichen und die Grenzen der bisherigen Lösungsversuche aufgezeigt hat, kommt er zum Kern. "Unser Mathematiklehrer, hatte uns, die wir kurz vor dem Abitur standen, eine Hausaufgabe gegeben: Ein Spaziergänger will von Punkt A zum 5 km weit entfernten Punkt B gehen. Auf seinem Wanderhut sitzt eine Amsel, bereit, ebenfalls nach B zu fliegen. Der Spaziergänger geht mit einer gleichmäßigen Geschwindigkeit von 5 km/h, während die Amsel mit der zehnfachen Geschwindigkeit fliegt. In dem Moment, da der Fußgänger zu seiner Wanderung nach B aufbricht, erhebt sich auch die Amsel von seinem Hut. Wenn die Amsel bei B angekommen ist, dreht sie sofort um und fliegt zum Wanderer zurück. Ist die Amsel beim Wanderer, der inzwischen seinerseits ein Stück Weg zurückgelegt hat, angekommen, dreht sie sofort wieder um, fliegt nach B, dreht dort um, fliegt bis zum – inzwischen noch näher gekommenen – Spaziergänger usw. usf. – bis schließlich auch der Wanderer bei B angekommen ist. Die Frage lautete nun: Wieviel Kilometer hat die zwischen dem festen Punkt B und dem ständig sich verändernden Punkt F (gleich Fußgänger) hin– und herpendelnde Amsel zurückgelegt? Vor Eifer glühend schloß ich mich an diesem Nachmittag in meinem Zimmer ein, konzentrierte mich darauf, Bewegungsgleichungen für Fußgänger und Amsel aufzustellen. Mehrere Stunden lang hatte ich einen winzigen, aber entscheidenden Fehler im Ansatz, machte dann noch ein, zwei Rechenfehler und war schließlich – es war bereits weit nach Miitternacht – zum, wie sich herausstellte, richtigen Ergebnis gekommen. Unser Mathematiklehrer lobte mich am nächsten Tag für meinen Fleiß und meine Ausdauer, immerhin war ich der einzige in der Klasse gewesen, der das richtige Ergebnis gefunden hatte. Dann lächelte er uns an und meinte, es gebe noch einen anderen Ansatz. Der Fußgänger sei doch eine Stunde unterwegs? Wir nickten – ganz leicht auszurechnen. Also fliege logischerweise auch die Amsel eine Stunde. Wir mußten wieder nicken. Die Amsel erreiche 50 km/h, also müsse sie in der einen Stunde 50 km zurücklegen. Damals ging ich weinend von der Schule nach Hause. Meine bleibende Erkenntnis aus dieser ebenso bitteren wie prägenden Erfahrung läßt sich so formulieren: Die meisten Dinge sind einfach. Sie werden erst durch schlaue Leute zum Problem. Zenon und die Zeitlupe Und dann fährt er fort: Es wird nun Zeit, sich endlich auf das Problem selbst zu konzentrieren. Lassen wir das Rennen mehrmals - unter verschiedenen Blickwinkeln - vor unserem geistigen Auge ablaufen. Wie würde ein unbefangener, philosophisch oder physikalisch nicht vorgebildeter Beobachter die Szene beschreiben? *Beide Sportler laufen los, die Schildkröte langsam, Achilles erheblich schneller. Bald hat Achilles die Schildkröte eingeholt, überholt und wird schließlich überlegener Sieger. Nun stellen wir uns einen physikalisch geschulten Beobachter vor und bitten ihn, den Ablauf des Rennens möglichst präzise festzuhalten: *Achilles ist anfangs bei Punkt 0, die Schildkröte bei Punkt 100 und beider Ziel ist Punkt 200. Nach einer gewissen Zeitspanne t ist Achilles bei 50, die Schildkröte dagegen (sie hat nur ein Zehntels des Weges von Achilles zurückgelegt) bei 105. Nach der doppelten Zeit 2·t ist Achilles bei 100, die Schildkröte bei 110. Nach der dreifachen Zeit 3·t ist Achilles bei 150 und die Schildkröte bei 115. Achilles hat also die Schildkröte bereits überholt. Den Rest des Beobachtungsprotokolls können wir uns sparen. Zu guter Letzt lassen wir Zenon das Rennen beschreiben. *Achilles ist anfangs bei Punkt 0, die Schildkröte bei Punkt 100 und beider Ziel ist Punkt 200. Nach einer gewissen Zeitspanne t ist Achilles bei 100, die Schildkröte dagegen bei 110. Nach einer weiteren Zeitspanne 1/10·t ist Achilles bei 110, die Schildkröte dagegen bei 111. Nach wiederum einer Zeitspanne 1/100·t ist Achilles bei 111, die Schildkröte dagegen bei 111,10, zum Zeitpunkt 1/1000·t, schließlich ist Achilles bei 111,10, die Schildkröte dagegen bei 111,11 usw. usf. Achilles wird die Schildkröte niemals einholen. Merken Sie was? Merken Sie den Unterschied? Der normale, physikalisch geschulte Beobachter benutzt für seine Beschreibung gleiche Zeitabstände, Zenon dagegen wählt ein Beobachtungsintervall, das von Meßpunkt zu Meßpunkt kleiner wird. Lassen Sie es mich Ihnen noch etwas anschaulicher darstellen: Stellen Sie sich vor, das Rennen zwischen Achilles und der Schildkröte wäre mit einer Filmkamera aufgenommen worden und unsere Beobachter sehen sich jetzt den Film an. *Der naive Beobachter läßt den Film einfach ablaufen und freut sich dran. *Der physikalische Beobachter läßt den Film an vier - zeitlich gleich weit entfernten – Stellen anhalten, notiert sich die Zwischenstände und läßt dann jeweils weiter laufen. *Zenon hingegen sieht sich den Film bis zur Hälfte ganz normal an, schaltet dann den Projektor auf Zehnfach-Zeitlupe, stellt fest, daß Achilles (bei der Projektion) für den wesentlich kürzeren Weg nun genauso lange braucht wie zuvor für den langen, schaltet nun auf hundertfache Über-Zeitlupe, macht wiederum die gleiche Beobachtung von Achilles’ Langsamwerden und schaltet dann auf Super-, schließlich auf Giga-Zeitlupe usw. usf. Das heißt: Zenon "beobachtet" in diesem Gedankenexperiment gar nicht, daß Achilles die Schildkröte niemals einholen wird. Sondern? Sondern er weigert sich einfach, hinzuschauen, solange hinzuschauen, bis Achilles das Tier eingeholt hat. Indem er die Beobachtung, nur die Beobachtung, nicht den tatsächlichen Ablauf ad infinitum zerdehnt, kommt er zu seinem sensationellen, beunruhigenden Paradox "Achilles ist ganz knapp hinter der Schildkröte. So, in der Bewegung eingefroren, wie die beiden jetzt sind, lassen wir sie stehen und diskutieren die nächsten zweieinhalb Jahrtausende darüber, warum Achilles die Schildkröte nicht einholen kann." Hätte Zenon die Geschichte auf diese Weise erzählt, hätte er niemals Generationen von Philosophen und Mathematikern zum Narren halten können. So aber zwingt er sie mit einem Taschenspielertrick zu komplexen Infinitesimalgleichungen, wo Kopfrechnen – ach was!: – Nachdenken genügt hätte." Soweit Costabile Matarazzo. Das Bemerkenswerte an Matarazzos Aufsatz ist die Tatsache, daß er das philosophische Problem nicht mathematisch angeht, sondern eben philosophisch. Matarazzo lenkt die Aufmerksamkeit auf den Umstand, daß Zenon vorgibt, ein Bewegungsproblem konstruiert zu haben, während der ganze Ärger lediglich eine Sache der auf den Sankt Nimmerleinstag verzögerten Beobachtung ist. Zenon macht die Beobachtungsintervalle so klein und immer kleiner, daß er faktisch nie dazu kommt, einen Strich zu ziehen und sein "Jetzt ist’s passiert!" unter das Beobachtungsprotokoll zu schreiben. Oder, anders ausgedrückt: Matarazzo löst das Problem nicht, das seit Newton und Leibniz jeder Gymnasiast lösen kann, sondern er zerfetzt die Fragestellung. Zenons Problem braucht keine Lösung, weil das Problem nicht existiert. Und wenn ich die Geschichte der nachmittelalterlichen Mathematik noch richtig im Kopf habe, dann war es in der Tat nicht der Stachel Zenons, der die Infinitesimalrechnung aus den Hirnen hervorgekitzelt hat, sondern Newtons und Leibniz’ Notwendigkeit, die Bewegung der Planeten mathematisch in den Griff zu bekommen. […] http://www.freitag.de/autoren/wolfram-heinrich/zenon-achilles-und-die-schildkrote Michael Ende und die Schildkröten Man hat mich des öfteren gefragt, warum fast in jedem meiner Bücher eine Schildkröte vorkommt. Ich muss zugeben, dass mir diese Tatsache selbst erst durch die Frage auffiel. Eigentlich hat sich die jeweilige Schildkröte (Uschaurischuum, Morla, Kassiopeia, Tranquilla usw.) sozusagen immer ganz von selbst eingestellt, ohne meine Absicht. Aber vielleicht können einige Hinweise auf die Bildersprache der Mythen und Märchen die Frage wenigstens teilweise beantworten. In der Weltmythologie wimmelt es ja geradezu von Schildkröten. Der Noah der nordamerikanischen Indianer z.B. rettet sich nicht wie der biblische in einem Schiff, sondern auf dem Rücken einer riesigen Wasserschildkröte mit seiner Familie über sie Sintflut. Im indischen Mythos steht die Welt auf dem Panzer einer kosmischen Schildkröte. Wenn man das I-Ging, das chinesische "Buch der Wandlungen", aufschlägt, so wird man finden, dass die 64 UrHexagramme, von denen, wie es heißt, alle Schriftzeichen abstammen, von einem vorgeschicht-lichen Weisen aus den Mustern auf den einzelnen Platten eines Schildkrötenpanzers abgelesen worden sind. (Wer Momo gelesen hat, wird sich hier vielleicht an Kassiopeias Mitteilungshinweise erinnert fühlen.) Die Beispiele sind fast beliebig vermehrbar. Was mir persönlich an Schildkröten (ich spreche hier von der mediterranen Landschildkröte) so besonders sympathisch ist, das ist: 1 ihre vollkommene Nutzlosigkeit. Schildkröten haben weder Freunde noch Feinde in der Natur (außer dem Menschen, versteht sich, der ja inzwischen der gefährlichste Feind aller Kreatur geworden ist, aber ist kein "natürlicher" Feind). Sie nützen niemand und sie schaden niemand. Sie sind einfach da. Das scheint mir in einem Weltbild wie dem gegenwärtigen, in dem alles in der Natur vom Nützlichkeitsstandpunkt aus erklärt wird, eine bemerkenswerte und tröstliche Tatsache. 2 ihre Bedürfnislosigkeit. Schildkröten können mit fast nichts existieren. Täglich ein paar Blättchen, damit kommen sie über Wochen und Monate aus. 3 ihr Alter. Ich meine damit nicht nur, dass sie im einzelnen sehr alt werden können, sondern das Alter ihrer Spezies. Es hat sie schon gegeben, als der Mensch noch in Abrahams Wurstkessel schwamm, und es wird sie vermutlich noch geben, wenn wir längst wieder abgetreten sind. 4 ihr Gesicht. Haben Sie einer Schildkröte schon mal direkt ins Gesicht gesehen? Sie lächelt. Sie scheint etwas zu wissen, was wir nicht wissen. 5 ihre Form. Dies ist der am schwersten zu erklärende Punkt, weil er dem gegenwärtigen Denken ungewohnt ist: Wenn man eine Schildkröte einmal nicht anatomisch, sondern symbolisch betrachtet, also das ins Auge fasst, was ihre Gestalt ausdrückt, dann hat man es eigentlich mit einer wandelnden Hirnschale aus Horn zu tun. Die Hirnschale spielt in den Mythen der Welt ebenfalls eine bedeutsame Rolle. Nach der Edda wurde das gestirnte Himmelsgewölbe aus der Hirnschale des Ur-Eisriesen gebildet. In der Hirnschale befindet sich die Fontanelle, eine kleine Öffnung nach oben, die beim neugeborenen Kind noch für eine kurze Weile offen bleibt und sich dann nach und nach schließt. Das ist die Erinnerung des physischen Leibes, so sagen einige Quellen des alten Wissens, an eine Ur-Zeit, in der diese Fontanelle des Menschen sein Leben lang offen blieb. An dieser Stelle befand sich ein Organ (man kann seine eigentümliche Form noch jetzt an allen Buddha-Statuen als "Frisur" sehen), mit dem der Mensch wie träumend über die Welt von Raum und Zeit hinaus, also jenseits des Himmelsgewölbes, wahrzunehmen vermochte. Die Inder nennen es den "tausendblättrigen Lotos". Vielleicht sind sogar unsere Königskronen noch eine, inzwischen unbewusste, Nachbildung dieses Organs. Bei den Schildkröten ist die Schale geschlossen. Das denkende Ich ist mit sich allein und wird sich seiner selbst bewusst. Mit anderen Worten: "Sie trägt ihre eigene kleine Zeit in sich." http://www.thienemann.de/me/schildkroeten.htm Werner Onken: Die ökonomische Botschaft von Michael Endes „Momo“ Der Märchenroman „Momo“ von Michael Ende erschien 1973. Zuvor war Ende schon mit „Jim Knopf und die wilde 13“ berühmt geworden. Auch „Momo“ begeisterte eine große Leserschaft in vielen Ländern. Gemäß seinem Untertitel ist der Märchenroman „Momo“ eine „seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurück brachte“. Sie spielt in der Gegenwart des „Heute-Landes“. Ihre Wurzeln reichen zurück in die Vergangenheit des „Gestern-Landes“. Und sie richtet unsere Blicke auf ein zukünftiges „Morgen-Land“. Das „GesternLand“ und das „Heute-Land“ entsprechen dem biblischen Paradies und der von Gott abgefallenen Welt mit dem dazwischen liegenden Sündenfall. Das „Morgen-Land“ entspricht dem zukünftigen Reich Gottes auf Erden. Und Momo ist die Erlösergestalt, die den Übergang zwischen den beiden Zeitaltern herbeiführt. *** Die wohl bedeutendste Sehenswürdigkeit des „Heute-Landes“ ist die Ruine eines Amphitheaters, eines Überrestes aus dem vergangenen „Gestern-Land“. Darin hat sich das kleine elternlose Mädchen Momo eine bescheidene Wohnung eingerichtet. Früher war das Amphitheater neben den herrlichen Tempeln und bunten Märkten einer der schönsten Plätze, wo sich Menschen versammelten, um Theateraufführungen zu sehen und Reden zu halten und sie anzuhören. Heute ist es nahezu vergessen; nur ein paar Touristen kommen hin und wieder, um die Ruine zu fotografieren. Eine besondere Anziehungskraft übt Momo jedoch auf die Kinder der nahegelegenen Stadt aus. So gewinnt sie bald die Freundschaft zahlreicher Kinder und auch einiger Erwachsener, und die Ruine wird zu ihrem beliebten Treffpunkt. *** Seit dem Übergang vom „Gestern-Land“ zum „Heute-Land“ haben sich dunkle Schatten über der ganzen Stadt und ihrer Umgebung ausgebreitet.. Geräuschlos ist sie von den „Grauen Herren“,den Agenten des zur Macht gekommenen Geldes, erobert worden. Die Finanzwelt stiehlt den Menschen ihre Lebenszeit, ohne dass sie es merken und darüber nachdenken. Der Menschen Zeit wird zum Geld der Grauen Herren. Die Grauen Herren bemächtigen sich zuerst der Unternehmerschaft, die hier durch den Frisör„Herrn Fusi“ repräsentiert wird. Mit raffinierten Tricks überredet der „Agent Nr. XYQ/384/b“ Herrn Fusi, „ ... alles Überflüssige wegzulassen“ (S. 67), schneller zu arbeiten und Zeit zu sparen. Und mit falschen Versprechungen lockt er ihn, seine täglich eingesparte Zeit auf die von den Grauen Herren eigens dafür eingerichtete „Zeit-Sparkasse“ zu bringen und sich dort auf einem Konto gutschreiben zu lassen. Wenn er eine einmalige Summe nicht abhebe - so erklärt ihm der Agent –, wachse sie durch den Zins in nur zehn Jahren auf das Doppelte an. Und wenn er täglich zwei Stunden als Ersparnis zur Bank bringe, wachse sein Guthaben im Laufe der Jahre auf mehr als das Zehnfache seiner gesamten Lebenszeit. (S. 66 –72) Herr Fusi ist tief beeindruckt von dem großzügigen Angebot des Agenten. Bei solchen Ertragserwartungen möchte er selbstverständlich auch ein Konto bei der Zeit-Sparkasse eröffnen. Die Arbeitsweise der Zeit-Sparkasse hat er aber noch nicht ganz verstanden und bittet den Agenten deshalb noch um eine Erklärung. Aber der Agent erwidert nur: „Das überlassen Sie ruhig uns. Sie können sicher sein, dass uns von Ihrer eingesparten Zeit nicht das kleinste bisschen verlorengeht. Sie werden es schon merken, dass Ihnen nichts übrig bleibt.“ (S. 68) Geblendet von den Aussichten auf ein großes und immer noch mehr wachsendes Zeit-Vermögen verdrängt Herr Fusi die noch bestehenden Zweifel und macht sich mit Eifer daran, sein ganzes Leben zu rationalisieren und Zeit zu sparen: er unterhält sich nicht mehr mit seinen Kunden, sondern beschäftigt nun Arbeiter und Angestellte, die ihm beim Zeit-Sparen 'helfen'. Seine Kontakte zu Freunden und Verwandten bricht Herr Fusi ab (seine Mutter kommt in ein Altersheim, wo er sie nur noch einmal im Monat kurz besucht), weil sie ihn zu viel Zeit kosten. Aus dem gleichen Grund hört er auch auf, seinen kulturellen Interessen wie Singen und Lesen nachzugehen. So wie Herr Fusi sparen nun auch die anderen Menschen ihre Zeit, zum Beispiel der mit Momo befreundete Maurer Nicola. Er leidet sehr unter dem Stress des ZeitSparens und ist sich dessen bewusst, dass die Grauen Herren das Handwerk als eine Form der Kunst zerstören, indem sie es zeitsparend, d. h. rentabel industrialisieren. Er ertränkt dieses Gefühl im Alkohol, um seinen inneren Zwiespalt zu überdecken. Der Gastwirt Nino passt sich als kleiner Gewerbetreibender den neuen Gegebenheiten ebenfalls an. Wegen der höheren Pacht, die er nun zahlen muss, und der ständig steigenden Preise will er nur noch zahlungskräftiges Publikum aus gehobenen Schichten einlassen: „Mein Lokal ist schließlich kein Asyl für arme alte Tatterer.“ (S. 84) Bald erliegen alle kleineren, mittleren und größeren Unternehmer ebenso wie die Arbeiter und Angestellten den Einflüsterungen der Finanzagenten. Alle werden sie vom Zeit-Sparen wie von einer „blinden Besessenheit gepackt“. (S. 69) Bereitwillig folgen sie ihrer Fernbedienung durch die graue Macht des Geldes und verinnerlichen sie so sehr, dass sie ihre fremdbestimmten Verhaltensweisen als solche gar nicht mehr wahrnehmen und sie wie selbstverständlich als etwas Selbstgewolltes ansehen. Die wirtschaftliche Ausbeutung der Menschen durch den alltäglichen Diebstahl von Zins und Lebenszeit spielt sich ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage zwischen der Zeit-Sparkasse und ihren Kunden ein und wird unauffällig in die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung des Heute-Landes eingewoben. Die ganze Stadt nimmt nach und nach ihr wahrhaft modernes und fortschrittliches Gesicht an. War sie im Gestern-Land noch ein Ort menschlicher Geborgenheit, so ist sie im Heute-Land eine unbehagliche, gleichförmige, laute und hektische Geschäftsmetropole. Die Welt ist zu einer „Wüste der Ordnung“ (S. 69) geworden. *** Keiner der Erwachsenen will wahrhaben, dass der auf leisen Sohlen in die Stadt geschlichene moderne Kapitalismus sie in kleine Rädchen einer großen anonymen Finanzmaschinerie verwandelt hat und dass sie nun am Leben vorbeileben. Nur die Kinder, die noch nicht in den Sog der modernen Medien geraten sind, spüren es, denn für sie hat nun niemand mehr Zeit. Die Kinder merken, dass die von den Grauen Herren eroberte Stadt, in die sie hineinwachsen sollen, zutiefst unnatürlich ist. Ein besonders tiefes Empfinden hierfür hat die kleine Momo. Vor der Eroberung der Stadt durch die Grauen Herren hat sie abends oft auf ihrer Ruine gesessen und es ist ihr so vorgekommen „ … als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik.“ (S.21-22) Am Abend nach der Eroberung ist diese Harmonie der Schöpfung im Heute-Land nicht mehr vernehmbar, weil sie im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Herrschaft des Geldes über die Menschen gestört wird. Aber Momo wird die Grauen Herren in einem dramatischen Kampf besiegen; sie wird die Menschen von dieser Herrschaft befreien und der Schöpfung die verlorene Harmonie zurückgeben. Zwei ihrer Freunde begleiten sie dabei als ihre engsten Weggefährten. Sie sind ganz entgegengesetzte Charaktere, die sich aber freundschaftlich ergänzen. Der eine ist Beppo Straßenkehrer, ein schon etwas älterer Mann, den die Erfahrungen des Lebens zu einem besonnenen Realisten gemacht haben. Seine Lebensmaxime lautet: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, sondern immer nur an den nächsten Schritt.“ (S. 37) Beppo rät Momo, die soziale Befreiung nicht in einer Blitzaktion erzwingen zu wollen, sondern sich Schritt für Schritt vorwärts zu arbeiten und die jeweils erreichten Teilerfolge zu festigen. Gigi Fremdenführer, Momos anderer Freund, ist dagegen ein jugendlicher Stürmer und Dränger, der in Gedanken immer schon in der noch fernern Zukunft weilt und sich nicht klar macht, wie weit der Weg bis dahin noch ist. Voller Leidenschaft erzählt Gigi den zum Amphitheater kommenden Touristen Geschichten über die „Kaiserin Strapazia Augustina“, die von einer unersättlichen Gier nach goldenem Reichtum besessen ist, und über den „grausamen Tyrannen Marxentius Communus“. (S. 45-48) Die Namen lassen die Richtung ahnen, in der das Morgen-Land liegt: nämlich jenseits von Kapitalismus und Kommunismus. *** Der Übergang vom Heute-Land in das Morgen-Land beginnt mit dem Besuch des Agenten Nr. BLW/553/c bei Momo. Um sie mit dem geistlosen Materialismus der Grauen Herren zu infizieren und ihre innere Kraft zum Widerstand gegen die Herrschaft des Geldes zu brechen, bringt ihr der Agent die „vollkommene Puppe Bibigirl“ als Geschenk mit. Doch Momo erlebt durch sie zum ersten Mal das Gefühl der Langeweile. Um es ihr auszutreiben, schenkt der Agent ihr weitere Puppenkleider, lederne Handtaschen, Schminkutensilien, Tennisschläger und vieles mehr, denn so lautet seine hohle Ansicht über den Sinn des Lebens – „ ... man muss nur immer mehr haben, dann langweilt man sich niemals.“ (S. 92) Tatsächlich ist Momo zwischen den Gefühlen der Faszination und des Angeekeltseins hin- und hergerissen. Schließlich widersteht sie der Versuchung und lässt sich nicht von den oberflächlichen Verlockungen vereinnahmen: „Ich glaub, man kann die Puppe nicht liebhaben.“ (S. 93) Darauf kommt es nach Ansicht des Agenten überhaupt nicht an. Trotzdem wird er durch Momos Standhaftigkeit verunsichert. Für einen kurzen Moment verliert er die Kontrolle über sich selbst und verrät Momo das Geheimnis der Grauen Herren: „Nur solange wir unerkannt sind, können wir unserem Geschäft nachgehen, . . . ein mühseliges Geschäft, den Menschen ihre Lebenszeit stunden-, minuten- und sekundenweise abzuzapfen ... Wir reissen sie an uns, wir speichern sie auf. ... Ah, ihr wisst nicht, was das ist, eure Zeit! ... Aber wir, wir wissen es und saugen euch aus bis auf die Knochen. Und wir brauchen mehr, immer mehr.“ (S. 97-98) Erschrocken über sich selbst merkt der Agent, was für ein schwerwiegender Fehler ihm unterlaufen ist. Er fleht Momo an, all diesen „Unsinn“ schnell wieder zu vergessen, und ist im Nu mitsamt der Puppe und all ihrem Zubehör verschwunden. Die Grauen Herren sind also verwundbar. Momo vergisst ihr Geheimnis nicht und erzählt es ihren Freunden Beppo Straßenkehrer und Gigi Fremdenführer. In seinem jugendlichen Tatendrang hält Gigi die große Stunde für gekommen, die Grauen Finanzagenten zu besiegen und „die ganze Stadt zu retten“.(S. 99) Sich selbst sieht er schon in der Rolle des umjubelten triumphalen Befreiers. So wird in einer geheimen Versammlung von 50 - 60 Kindern auf Drängen von Gigi und gegen den Rat des vorsichtigen Beppo der Beschluss gefasst, die Öffentlichkeit über den wahren kapitalistischen Charakter der Zeit-Sparkasse aufzuklären. Die Überlegung, ob die Wissenschaften und die Polizei dabei helfen könnten, wird nach kurzer Zeit verworfen, weil beide keine Ahnung von dem Treiben der Grauen Herren haben. Die Kinder könnten diese Aufklärungsarbeit auch allein leisten. Sie sollten eine große Kinderdemonstration veranstalten, mit Plakaten und Transparenten durch die ganze Stadt ziehen und alle Leute zu einem Vortrag in das Amphitheater einladen. Gigi gibt sich den kühnsten Träumen hin: „Tausende und Abertausende werden herbeiströmen.“ (S. 107) Gesagt, geglaubt und getan. Aber zur bitteren Enttäuschung der Kinder kommen die Erwachsenen nicht – nicht ein einziger! Die Erwachsenen wollen von der Wahrheit in Ruhe gelassen werden. Theoretische Aufklärung ist demnach noch nicht der richtige oder zumindest nicht der einzige Weg, um die Grauen Herren zu besiegen. Mit ihr muss eine tiefgreifende geistig-seelische Umwälzung im Bewusstsein der Menschen einhergehen. *** Unterdessen bleiben die Grauen Herren nicht untätig. Auf einer großen Müllhalde draußen vor der Stadt sitzen sie über den Agenten BLW/553/c zu Gericht, der ihr Geheimnis an Momo verraten hat. Ihm „ ... wird unverzüglich jegliche Zeit entzogen.“ (S. 118) Anschließend beraten die Grauen Herren, was sie zur Sicherung ihrer Herrschaft unternehmen können. Dazu wollen sie Momo in ihre Gewalt bringen. Eine groß angelegte Fahndungsaktion führt jedoch nicht zum gewünschten Erfolg. Die Schildkröte Kassiopeia, die Momos Bündnis mit der Natur symbolisiert und das Geschehen der nächsten halben Stunde immer schon vorhersehen kann, kommt Momo zu Hilfe; sie führt sie aus der Gefahrenzone sicher durch das dichte Gedränge der Stadt bis zur »Niemals-Gasse« und von dort zum „Nirgend-Haus“, wo „Meister Hora“ wohnt und alle Lebenszeit ihren göttlichen Ursprung hat. Der Misserfolg der Verfolgungsjagd führt zu Unruhe und Ratlosigkeit in den Vorstandsetagen der Bankenwelt. In einer Krisensitzung äußert eines der Vorstandsmitglieder die Befürchtung, dass Momo geholfen worden sein könnte. Sie könnte in die Sicherheit des Nirgend-Hauses gebracht worden sein, wo sie dem Zugriff der Grauen Herren entzogen ist. Langsam kommt den Grauen Herren die Einsicht, dass die Gefahr für ihre Herrschaft nicht nur von dem kleinen Mädchen ausgeht, sondern auch von dem allmächtigen Meister Hora. Die Verfolgung Momos wird damit zu einem Duell zwischen Mammon und Gott mit Momo als Zünglein an der Waage. Momo hat offenbar den Weg zu Meister Hora gefunden, den die Grauen Herren bislang vergeblich gesucht haben. Deshalb beschließen sie, nicht mehr Momos Beseitigung anzustreben. Stattdessen wollen sie ihre Rückkehr abwarten und sich dann von ihr den Weg zu Meister Hora zeigen lassen. Sie wollen direkt mit ihm verhandeln und sind sich „... sicher, dass wir sehr schnell mit ihm fertig würden. Und wenn wir erst einmal an seiner Stelle sitzen, dann brauchen wir hinfort nicht mehr mühsam Stunden, Minuten und Sekunden zu raffen, nein, wir hätten auf einen Schlag die gesamte Zeit aller Menschen in unserer Gewalt! Und wer die Zeit aller Menschen besitzt, der hat unbegrenzte Macht! Wir wären am Ziel!“ (S. 140) *** Unterdessen bekommt Momo im himmlischen Nirgend-Haus bei Meister Hora unzählige Variationen einer wunderbar harmonischen Musik des Kosmos zu hören. Und sie sieht dabei wunderschöne Farben. Hier hat alles Leben seinen Ursprung. Der unermessliche, von goldenem Licht durchwebte Raum beherbergt unzählige Uhren, die alle verschiedene Zeiten anzeigen. Beim Lösen eines Rätsels lernt Momo ihre Bedeutung kennen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören zusammen und sind untrennbar ineinander verschränkt; alles Leben besteht aus Kreisläufen des gleichzeitigen Werdens und Vergehens. Der stetige Wechsel von Stirb und Werde ist das ewig gültige Gesetz, auf dem alles Leben und alle Zeit beruhen. Nachdem Momo dieses Gesetz des Lebens verstanden hat, führt Meister Hora sie an den Ort, „... wo die Zeit herkommt.“ (S. 160) Dort, tief in ihrem eigenen Inneren, erlebt sie, wie Knospen aus dunklem Wasser auftauchen, wie sie nacheinander zu farbenprächtigen und herrlich duftenden „Stunden-Blumen“ erblühen, wie diese Blumen wieder verwelken und im dunklen Wasser verschwinden. Und dazu vernimmt Momo jene Sphärenmusik, die sie manchmal leise und wie von fern gehört hat, wenn sie abends auf dem steinernen Rund ihres Amphitheaters im Gestern-Land saß und zu den Sternen aufblickte. Die im Rhythmus eines „Sternenpendels“ aufblühenden und wieder verwelkenden StundenBlumen sind wunderschöne Bilder für das Stirb und Werde allen Lebens. (S. 160–164) Diese überwältigenden Eindrücke, die Momo davon im Nirgend-Haus empfangen hat, stärken ihr Urvertrauen zum Weltengrund, das sie braucht, um nach ihrer Rückkehr auf die Erde den Kampf zwischen Mammon und Gott zum Guten entscheiden zu können. *** Tatsächlich haben Beppo, Gigi und die anderen Kinder noch eine Zeit lang auf Momos Rückkehr gewartet – ähnlich wie die Christen eine Wiederkehr des zum Himmel aufgefahrenen Christus erwarten. Doch dann sind sie in die Fänge der Grauen Finanzagenten geraten. Gigi wird unter ihrem Einfluss zu einem erfolgreichen Showmaster. Über Funk und Fernsehen unterhält er jetzt die Menschen mit kurzweiligen Geschichten, um jegliches Nachdenken über ihr sinnentleertes Dasein von vornherein zu ersticken. Er verdient gut dabei; mittlerweile bewohnt er eine Villa im Prominentenviertel und nennt sich nun vornehm Girolamo. Beppo geht zur Polizei, um Momo als vermisst zu melden. Dadurch gerät er in die Mühlen der Amtsstuben und landet von da aus schließlich in einer Irrenanstalt. Und die Kinder kommen – angeblich um ihre Verwahrlosung zu verhindern – in staatliche „Kinderdepots“, wo sie graue Uniformen tragen und zur Vorbereitung auf ihr weiteres Leben als Zeit-Sparer gerade das makabre Lochkartenspiel erlernen. Manchmal werden ihnen auch Buchstaben-Zahlen-Kombinationen zugeordnet. Dann werden ihre Karten gemischt und kommen in eine Datei. *** Als Momo zurückkehrt und ihren Freunden von ihrer Begegnung mit Meister Hora erzählen will, trifft sie sie nicht mehr an. Alle haben sich an die von den Grauen Herren geschaffenen Verhältnisse angepasst bzw. sind ihnen angepasst worden, so dass Momo auch eigentlich gar nicht mehr erwartet wird. Nur die Natur in Gestalt der Schildkröte Kassiopeia steht ihr hilfreich zur Seite. Aber auch sie verlässt Momo vorübergehend, als ihr Vertrauen zum Leben während ihrer Suche nach Gigi doch einmal ins Wanken gerät. Nach langen Monaten, in denen Momo von allen verlassen und in völliger Einsamkeit ganz auf sich allein gestellt ist, steht plötzlich einer der Grauen Herren vor ihr. Mit seiner Zigarre „ ... pafft er einen Rauchring, der sich wie eine Schlinge um Momos Hals legt“. (S. 218) Er erklärt ihr, dass sie dem Finanzimperium nun hilflos ausgeliefert sei. Die Agenten hätten ihr alle ihre Freunde genommen und könnten nun mit ihr machen, was sie wollten. Aber sie hätten es nicht auf ihr Leben abgesehen, denn Momo solle ihnen den Weg zu Meister Hora zeigen, damit sie ihn entmachten und endlich allein über die ganze Welt herrschen könnten. Selbstsicher erklärt er Momo: „Wir wollen die ganze Zeit aller Menschen. Die muss Hora uns überlassen. ... Wir werden die Welt beherrschen.“ (S. 226) Der Graue Herr kündigt Momo an, dass um Mitternacht eine Besprechung mit ihr über das weitere Vorgehen stattfinden solle. Dann verschwindet er. Und sie kommen zur vereinbarten Zeit, die Grauen Herren. Mit einem riesigen Aufgebot von Autos kommen sie aus allen Richtungen angefahren. Sie stellen sich im Kreis um Momo auf, strahlen sie mit ihren grellen Scheinwerfern an, bleiben aber selbst im Dunkeln. Angst und eisige Kälte beschleichen Momo. Aber dann erinnert sie sich an die prächtigen Farben und harmonischen Klänge im Nirgend-Haus, „... und im Nu fühlt sie sich getröstet und gestärkt.“ (S. 223) Die Frage, ob sie bei Meister Hora war, beantwortet Momo mit einem Kopfnicken. Die Grauen Finanzagenten wollen erfahren, ob es die Stunden-Blumen tatsächlich gibt und ob Momo sie gesehen hat. Denn diese Stunden-Blumen fürchten sie ganz besonders – sie sind nämlich das eigentliche Symbol des Grundgesetzes von allem Leben. Die Grauen Herren wissen genau, dass sie gegen dieses Grundgesetz verstoßen, wenn sie den Menschen ihre Lebenszeit stehlen und in Geldform „einfrieren“,so dass sie dem Kreislauf des ewigen Stirb und Werde entzogen ist. Dann spricht eine Stimme aus der Dunkelheit zu Momo, dass sie aus ihrer qualvollen Einsamkeit entlassen und ihre Freunde zurückbekommen würde, wenn sie den Grauen Herren den Weg zu Meister Hora weise. Aber Momo weigert sich: „Selbst wenn ich's könnte, ich tät's nicht.“ (S. 227) Sie kann es wirklich nicht, denn die Schildkröte Kassiopeia, die sie zu Meister Hora geführt hat, hat sie ja verloren. Sofort leiten die Grauen Herren eine Großfahndung ein, um Kassiopeia zu suchen. Kassiopeia, die immer schon eine halbe Stunde vorher weiß, was als nächstes geschieht, kehrt unterdessen zu Momo zurück und führt sie – diesmal auf Abstand verfolgt von einem Heer Grauer Herren – ein zweites Mal zu Meister Hora. Während die Grauen Herren das Nirgend-Haus von allen Seiten umstellen, erklärt Meister Hora Momo noch einmal die ganze ökonomische Problematik der Zeit und des Zeit-Diebstahls, des Lebens und der Ausbeutung der Menschen durch die ZeitSparkasse und gibt ihr die letzten Instruktionen für die alles entscheidende Auseinandersetzung mit den grauen Herrschern über das Geld. In diesem Gespräch möchte Momo von Meister Hora wissen, „warum die Grauen Herren so grau im Gesicht aussehen.“ – „Weil sie von etwas Totem ihr Dasein fristen. Du weißt ja, dass sie von der Lebenszeit der Menschen existieren. Aber diese Zeit stirbt buchstäblich, wenn sie von ihrem wahren Eigentümer losgerissen wird. Denn jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur so lange sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.“ (S. 152–153) „Jeder Mensch besitzt einen goldenen Tempel der Zeit, weil jeder ein Herz hat.“ (S. 240) Aus den Herzen der Menschen reißen die Grauen Herren die Stunden-Blumen heraus und frieren sie in Geldform in ihren Tresoren ein, „so dass sie weder richtig tot noch richtig lebendig sind und nicht zu ihren Eigentümern zurückkehren können. Manchmal nehmen die Finanzgewaltigen sich auch gefrorene Stunden-Blumen aus den Tresoren, reißen ihnen einzelne Blütenblätter ab und drehen sich daraus ihre Zigarren.“ Sie investieren also das akkumulierte Geld in Industrieanlagen mit großen Schornsteinen. Und mit dem Rauch vergiften sie dann die Zeit, um Meister Hora zu erpressen. (S. 240) „Dann sind die Grauen Herren also gar keine Menschen?“ fragt Momo. „Nein, sie haben nur Menschengestalt angenommen.“ – „Aber was sind sie dann?“ – „In Wirklichkeit sind sie nichts.“ (S. 152/153) Einerseits sind sie Menschen, andererseits sind sie von ihrem eigentlichen Menschsein dadurch entfremdet, dass sie gewissermaßen in einer Doppelrolle zugleich Agenten einer verfehlten, außerhalb der Natur stehenden Geldordnung sind. Indem diese Geldordnung das „Einfrieren“ von Geld zulässt, ermöglicht sie die Verlagerung von Einkommen der arbeitenden Menschen durch den Zins und Zinseszins zu anderen Menschen, die nicht arbeiten. Dadurch werden Teile der Lebenszeit, die Meister Hora allen Menschen zugemessen hat, von ihren „wahren Eigentümern abgerissen“ und in fremden Händen, die sie nicht erarbeitet haben, aufgehäuft. Und bei diesem Leben vernichtenden Diebstahl von Lebenszeit wirken die Grauen Herren in den Banken als Vollzugsorgane falscher Strukturen der Geldordnung mit. „Und wo kommen die Grauen Herren her?“ will Momo weiter wissen. „Sie entstehen, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit geben, zu entstehen. Das genügt schon, damit es geschieht. Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit, sie zu beherrschen. Und auch das genügt, damit es geschehen kann.“ (ebd.) Es genügte also, dass die Rechtsordnung des Heute-Landes die Macht des Geldes seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart gewähren ließ. So besteht sie noch immer und breitet sich, von der Polizei unbehelligt, weiter aus. „Und wenn die Grauen Herren keine Zeit mehr stehlen könnten?“ – „Dann müssten sie ins Nichts zurück.“ (S. 153) Wenn eine der Natur angepasste Geldordnung es den ‚grauen’ Kapitaleignern unmöglich machen würde, den Menschen durch den Zins und Zinseszins ihre Lebenszeit zu stehlen, würden sie von ihrer widersprüchlichen Doppelrolle befreit. Während sie in ihrer ‚grauen’ Eigenschaft als „funktionslose Investoren“ eines „sanften Todes“ (Keynes) sterben würden[1], könnten sie als befreite Menschen in Gerechtigkeit und Frieden neu aufleben. *** Nachdem Meister Hora Momo die Ursache der Zerstörung des Lebens erklärt hat, kann er nicht mehr länger tatenlos zusehen. Es wird Zeit für ihn zu handeln: „Bis jetzt habe ich darauf gewartet, dass die Menschen sich selbst von diesen Plagegeistern befreien würden.“ (S.242) Tatsächlich haben die Menschen ja auch selbst versucht, diese Plagegeister zu bändigen – aber vergeblich, denn die Hüter des freien Wettbewerbs hatten ebenso wenig wie die gewerkschaftliche Gegenmacht, die Polizei oder die Wissenschaften eine Vorstellung von den wirklichen Ursachen der Macht des Geldes. Alle Versuche der Menschen, sich allein aus eigener Kraft zu befreien, sind also gescheitert. Nach alledem will Meister Hora nicht mehr länger warten. „Ich muss etwas tun“, bevor die Grauen Herren das Leben ganz vernichten. Andererseits – auch er „kann es nicht allein.“ (S. 242) „Könntest du es nicht ganz einfach so einrichten“, fragt ihn Momo, „dass die Zeit-Diebe den Menschen keine Zeit mehr stehlen können?“ – „Nein, das kann ich nicht“, antwortet Meister Hora, „meine Pflicht ist es, jedem Menschen die Zeit zuzuteilen, die für ihn bestimmt ist. ... Was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sich auch selbst verteidigen.“ (S. 159) In Meister Horas Schöpfungsplan ist also weder eine Selbstbefreiung der Menschen vorgesehen noch ein Eingriff Gottes in das soziale Leben, mit dem es harmonisiert und in die kosmische Harmonie eingefügt werden könnte. Meister Hora weiß zwar, dass etwas geschehen muss; aber weder er noch die Menschen können die rettende Tat jeweils allein vollbringen. Dazu bedarf es der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Meister Hora und Momos Freundeskreis unter den Menschen, die sich ihm verbunden und für die übrigen Menschen und die Natur mitverantwortlich fühlen. Stellvertretend für sie erklärt sich Momo bereit, Meister Hora bei der Rettung seiner Schöpfung zu helfen. Nach seinen Anweisungen soll sie den Weg zu den Tresoren in der Zentrale der Zeit-Sparkasse suchen und die eingefrorenen Geldvorräte mit ihrer Stunden-Blume berühren. Sie soll die Schöpfung Meister Horas vollenden, indem sie anstelle der grauen, das Leben zerstörenden Geldordnung eine den kosmischen Ordnungsprinzipien entsprechende lebendige Geldordnung aufrichtet, die den Zeit-Diebstahl fortan unmöglich macht. *** Der neue Bund zwischen Meister Hora, Momo als Mittlerin zwischen ihm und den Menschen, ihrem Freundeskreis und der Natur erweist sich zuguterletzt als stärker als die das Leben zerstörende Macht des Geldes. Mit ihrer Stunden-Blume in der Hand und mit der Schildkröte Kassiopeia unter dem Arm nimmt Momo den Kampf gegen die Herrschaft des Geldes auf und besiegt sie schließlich auf wunderbare Weise. Es gelingt ihr tatsächlich, unbemerkt von den Grauen Herren bis zum Tresor vorzudringen und die eingefrorenen akkumulierten Geldvorräte mit dem letzten Blütenblatt ihrer schon welkenden Stunden-Blume zu berühren und „die ganze geraubte Zeit zu befreien“. (S. 244) Damit küsst Momo das schlafende Geld gleichsam wach.[2] Im Moment der Berührung vollzieht sich – im Sinne von Rudolf Steiners „alterndem Geld“ und Silvio Gesells „rostenden Banknoten“[3] – die Anpassung des Geldes an den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens. Nach dem Sieg über die Macht des Geldes und die Anpassung des Geldes an die Natur kehrt die „aufgetaute“ Zeit in die Herzen ihrer rechtmäßigen Eigentümer zurück. Nun setzt ein „warmer Frühlingssturm aus lauter befreiter Zeit“ ein (S. 263), den Momo in ihrer Freude über die Beseitigung des sozialen Missklangs aus der Harmonie des Kosmos wie einen „übermütigen Tanz nach einer herrlichen Musik“ empfindet. (S. 264) Während das graue Kapitalrentnertum eines „sanften Todes“ stirbt und ins Nichts zurückfällt, vereinigen sich die bisherigen Graue Herren als Menschen wieder mit den bislang ausgebeuteten Menschen zu einer freiheitlich und gerecht geordneten Gesellschaft, die sich ihrerseits mit der Natur wiedervereinigt. Geld und Güter fließen fortan dezentral und gleichmäßig durch die Gesellschaft, ohne dass sie noch länger in wenigen Händen akkumuliert werden können. Schließlich nimmt der warme Frühlingsstrom Momo auf und trägt sie fort in das Morgen-Land – dorthin, wo die Menschen im Einklang mit Gott, mit der Natur und mit sich selbst leben und den Sinn ihres Daseins wiederfinden werden. *** Michael Endes Märchen-Roman über die Macht des Geldes über die Menschen und über das kleine Mädchen Momo, das das Geld in einen Diener der Menschen verwandelt, ist eine literarische Komposition, in der jedes Wort sich wohlgeformt in das Ganze einfügt. Die Problematik des Geldes ist hier in ihren Gesamtzusammenhang von Ökonomie und Metaphysik eingebettet. Für uns, die wir mit der rauhen Wirklichkeit des ökonomischen Heute-Landes zurecht kommen müssen, liegt ihr großer Wert in der Zuversicht, dass das verwundete Heute-Land durch eine Änderung des Geldwesens heilbar ist und dass ihm ein in sozialer Hinsicht gesundes Morgen-Land folgen kann. Bekanntlich zweifeln aber die ökonomischen Fachleute an dem Gedanken eines in die Natur integrierten Geldes. Und für sie ist auch fraglich, ob denn ein Dichter überhaupt kompetent ist für die Beurteilung ökonomischer Zusammenhänge. Darauf hat Michael Ende in seinem Märchenroman „Momo“ selbst eine Gegenfrage gestellt: „Was macht es für einen Unterschied, ob das alles in einem gelehrten Buch steht oder nicht? Wer sagt euch denn, dass die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr?“ (S. 39) [1] Der „sanfte Tod des Kapitalrentners“ bzw des „funktionslosen Investors“ wäre die erste tiefgreifende soziale Umwälzung – Keynes sprach von einem „wirtschaftlichen Gezeitenwechsel“ – , bei der keine Köpfe rollen. Es findet keine gegenseitige Vernichtung von Klassen oder Rassen statt. Vgl. dazu John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1936, Kapitel 23 und 24. [2] Dieses schöne Motiv der Heilung durch ihre Berührung mit einer Blume begegnet uns auch in „Jorinde und Joringel“, einem Märchen der Gebrüder Grimm. Nachdem Jorinde und Joringel sich dem Schloss der bösen Hexe zu sehr genähert haben und die Hexe Jorinde verzaubert hat, träumt Joringel von einer „ seltsamen roten Blume, in deren Mitte eine große Perle lag“. Nach tagelangem Suchen findet er schließlich diese Blume. Er kehrt mit ihr zum Schloss zurück und erlöst mit ihr Jorinde vom bösen Zauber der Hexe. [3] Rudolf Steiner, Kernpunkte der sozialen Frage (1919), Dornach 1972. – Silvio Gesell, Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freiland (1916), in: Gesammelte Werke Band 11, Lütjenburg 1991.. http://www.sozialoekonomie.info/Weiterfuhrende_Informationen/Momo_UnendlicheGeschichte/m omo_unendlichegeschichte.HTM Kritische Stimmen: Phantasie und Vernichtung „Momo“ und die autoritäre Sehnsucht des Michael Ende Ein Lied mehr zur Lage der Nation Und zur Degeneration meiner Generation Zur Unentschlossenheit der Jugend Zur Verdrossenheit der Tugend Zu meiner aussichtslosen Lage Und zur Klärung der Schuldfrage Und darum klag ich an: Michael Ende, nur du bist schuld daran Dass aus uns nichts werden kann Du hast uns mit deinen Tricks Aus der Gesellschaft ausgeXt Mit den Eltern aller Schichten Willst du uns vernichten Michal Ende, du hast mein Leben zerstört Mit diesen treffenden Worten besang die Band Tocotronic im Jahr 1995 ein Gefühl, das Leuten, die in den 80er Jahren sozialisiert wurden, durchaus vertraut sein könnte: Abscheu vor den Gängelungen und Zumutungen durch Erwachsene, die ihre friedensbewegte und ökologische Weltanschauung an ihre Zöglinge weitergeben wollten. Dirk von Lowtzow, Frontmann der Band, beklagte damals in einem Radiointerview die „ständig aufgekocht(en)“ und mit den Worten „Das musst du lesen“ auf den „Präsentierteller gebracht(en)“ Literaturempfehlungen der Bücher Michael Endes als „symptomatisch für die Zeit“ der 80er Jahre. Die Aversion gegen Lehrer, die mit einem antiautoritärem „Ihr könnt mich duzen“ das Klassenzimmer betreten, um die von ihnen geschätzte „Alternativkultur von […] freundlichem Zusammenleben und Phantasie“ mit einem autoritärem „Du musst jetzt Phantasie haben“ und „Fernsehen ist eh‘ schlecht“ an den Schüler bringen, sei Auslöser für den Text gewesen. (1) Mittlerweile lässt sich die Schar der Ende-Verehrer nicht mehr auf das linksalternative Milieu eingrenzen. Es sind tatsächlich die „Eltern aller Schichten“, die ihren Kindern die Bücher des Schriftstellers nicht nur ans Herz, sondern auch auf den weihnachtlichen Gabentisch legen. Deren Lektüre muss Schülern dementsprechend nicht mehr durch Empfehlungen wollpullitragender Lehrer nahe gebracht werden. Vielmehr gehört der Autor seit etlichen Jahren zum festen Bestandteil des Literaturkanons an deutschen Schulen, seine Bücher sind als Schullektüre nahezu verbindlich geworden. Endes größter Erfolg wurde der bei Deutschlehrern besonders hoch im Kurs stehende Roman „Momo“, seit 35 Jahren eines der beliebtesten deutschen Jugendbücher. (2) Das Buch – 1973 erstmals und mittlerweile in der 47. Auflage erschienen und inzwischen in 39 Sprachen übersetzt – wurde mehrfach verfilmt und bereits ein Jahr nach seinem Erscheinen mit dem renommierten Deutschen Jugendbuchpreis ausgezeichnet. (3) Wie kein anderes Buch wird „Momo“ seit seinem Erscheinen mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben, der Utopie von einer freien Welt und vor allem mit der lebensnahen Darstellung von Phantasie, Kreativität und Sinnlichkeit in Verbindung gebracht. Endes Geschichten beflügeln den Einfallsreichtum der keineswegs nur minderjährigen Leserschaft, so der allgemeine Tenor. Dabei halten solche Qualifizierungen bezogen auf Endes gesamte Produktion und gerade im Hinblick auf „Momo“ noch nicht einmal einer ersten, kursorischen Überprüfung, geschweige denn gründlicher Textkritik stand. Doch die findet nicht statt. Als ob ein ungeschriebenes Gesetz existierte, welches besagt, dass über „Momo“ nichts als nur Gutes ausgesagt werden dürfe und mögliche Einwände schon im Keim zu ersticken wären, ist der legendäre Ruf dieses Buches seit seinem Erscheinen nahezu unantastbar. Vielleicht wagt schon deshalb keiner, auf die Drittklassigkeit des Autors und die Leblosigkeit seines Hauptwerks, seinen bedrückenden Mangel an Phantasie und die fade Schablonenhaftigkeit seiner Gestalten hinzuweisen, weil alle insgeheim wissen, dass Momo gar nicht als literarisches Kunstwerk, sondern als hochideologisches Traktat den Deutschen generationenübergreifend so unentbehrlich geworden ist. Es verwundert also nicht, dass das fürwitzige Michael-Ende-Bashing von Tocotronic schon zwei Jahre später von der Band mit Bedauern zurückgenommen und seither auch nicht mehr in die Konzertprogramme aufgenommen wurde. (4) Wahrscheinlich findet die Momo-Kritik aber auch deshalb nicht statt, weil Eltern und Lehrer, die es einem einst nahegebracht haben, mit ihrer Erziehungsleistung so durchschlagenden Erfolg hatten, dass sogar zur Kritik später Befähigte niemals vermuten würden, dass dieser Quell reiner Lesefreude ihrer Adoleszenz Gegenstand vernichtender Kritik zu sein hätte. Das mag seinen Grund auch darin haben, dass vielfach noch nicht einmal die Lektüre von Adornos „Notizen zur Literatur“ die Beschäftigung mit Weltliteratur nach sich zieht, was wiederum zu der verbreiteten Unfähigkeit führt, ein ausgesprochen triviales Volksbuch aus jener scheinbar besseren Zeit, als Willy Brandt Bundeskanzler war, wenigstens im Nachhinein als den gefährlichen Schund, der es ist, zu erkennen. Mignon und Momo Schon die Lieblosigkeit mit der Ende seine Titelfigur gezeichnet hat, sollte misstrauisch stimmen. Missmut aber müsste aufkommen, wenn man zum Vergleich einen Blick auf eine Gestalt wirft, die Goethe vor über 200 Jahren mit sehr viel Genauigkeit und Liebe kreiert hat, und bei der Ende offensichtlich Anleihen für seine Momo genommen hat: Michael Ende war so kühn, ausgerechnet die Mignon aus „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ als Rohstoff für Momo zu verwenden, weil er davon ausgehen konnte, dass niemand sein Geschöpf an einem Original messen würde, mit dem zumeist nicht mehr als ein zu Tode gesungenes und vielfach verballhorntes Zitronen-Lied und diffuses Herzeleid verbunden wird. Der Vergleich zwischen den Figuren Mignon und Momo lässt einen in einen Abgrund von schlechtem Geschmack und dichterischem Unvermögen schauen. Schon bei Mignons erstem Erscheinen tritt eine Figur in die Romanhandlung ein, die mit Geheimnissen, Rätseln und einer sonderbaren, feierlichen Fremdheit eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den Romanhelden ausübt, der sich ihr nicht entziehen kann. Die Kindfrau Mignon ist zwischen 12 und 13 Jahren alt und auf den ersten Blick wird nicht ganz klar, ob sie Knabe oder Mädchen ist. Goethe zeichnet sie als reizvolles Geschöpf, das Sinnlichkeit, Wehmut und Trauer, Unschuld und leidenschaftliches Begehren in sich vereint. Mignons Sehnsucht nach Italien, dem Land ihrer Herkunft, von dem ihr seit ihrer gewaltsamen Verschleppung durch eine Gauklerbande nur die dunkle Ahnung einer glücklichen Kindheit blieb, vermischt sich mit ihrer ebenso unerfüllbaren, mehr ahnungsvollen als bewussten Sehnsucht nach Wilhelm, der ihr nur väterliche Liebe zu geben bereit ist. Von ihrer brennenden Begierde wird sie verzehrt, und sie stirbt an gebrochenem Herzen. Momo taucht ebenso plötzlich wie Mignon im „Wilhelm Meister“ in Michael Endes italienischer Stadt auf. Um sie ranken sich jedoch keine Geheimnisse, denn sie hat einfach keine Geschichte. Während Mignon über ihre Herkunft schweigt, die Neugier über ihre rätselhafte Fremdheit vom Autor durch Andeutungen und kleine Hinweise genährt und erst am Ende der Geschichte vollends befriedigt wird, wird das Geheimnisvolle und Faszinierende, das Momo umgebe, lediglich behauptet, ohne dass der Autor zur Begründung mit einem außergewöhnlichen Schicksal aufwarten würde. Wo keine Vergangenheit ist, fehlt die Persönlichkeit und entsprechend gelingt Ende nicht mehr als die Beschreibung eines charakterlosen, langweiligen und kontaktgehemmten Mädchens ohne besondere Eigenschaften, einer Person also, von der unmöglich die unterstellte Faszination auf ihre Umgebung ausgehen kann. Lediglich ein Merkmal zeichnet sie aus: sie hört sich die Probleme der Leute immer geduldig an, was in Zeiten, in denen immer mehr Leute gegenüber Wildfremden ihr Innerstes nach außen kehren, noch nicht einmal eine Eigenschaft ist. Auch von Sinnlichkeit und Sexualität findet sich bei Momo keine Spur. Sie ist zwar etwa im gleichen Alter wie Mignon, wird aber völlig geschlechtsneutral geschildert. Da ist weder Begehren noch die Fähigkeit, andere zu bezaubern (Mignon ist dagegen zum Beispiel eine faszinierende Sängerin); im Vergleich zu Momo verfügt selbst Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf über mehr Koketterie, Reiz, Witz und Charme. Momo ist nicht mehr als die Projektionsfläche für das Manifest eines anthroposophischen Ideologen, der geahnt haben muss, dass er mit einer reinen Erbauungsschrift nur einer jener belächelten Idealisten geworden wäre, die ihre autoritären Sehnsüchte zur Menschheitsbeglückung im Selbstverlag herausbringen. If the kids are united... Ende ist von dem Wunsch nach einer harmonischen, widerspruchslosen und konfliktfreien Gemeinschaft umgetrieben, die den Einzelnen unter ihre wärmenden Fittiche nimmt und ihn vor den Zumutungen der bösen Welt zu schützen hat, und da Gemeinschaft ohne Führer nicht zu haben ist, fällt Momo diese Aufgabe zu. Sie ist die Verkörperung von Sinnstiftung, die von vornherein Erkenntnis und Selbstreflexion abwehrt. Ihre Funktion besteht darin, ein sich, mit ihrer Ankunft in einem Wohnbezirk der Stadt, wundersam konstituierendes Kollektiv zusammenzuhalten. Das gelingt durch ihr „übernatürliches“ Talent: das Zuhören. Durch ihre bloße Anwesenheit lösen sich Streitereien in nichts auf und der Frieden kehrt in die Gemeinschaft zurück. Droht einer einmal an seiner eigenen Ohnmacht zu verzweifeln, sorgt Momo dafür, dass diese schmerzhaft aufblitzende Erkenntnis sofort einer die Harmonie wieder herstellenden Lüge weicht. Ihr gelingt es, den Abweichler ins Kollektiv zu reintegrieren, denn sie stiftet neue Hoffnung und spendet Kraft zum Durchhalten: „Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle [!] Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.“ (Ende 2005, S.15) Die Gemeinschaftsvorstellung in Michael Endes Roman steht im krassen Gegensatz zu jenen Kinderbanden, die in der Kinder- und Jugendliteratur so häufig anzutreffen sind. Erscheint dort die kindliche Gemeinschaft oftmals als Notwendigkeit, sich gegen die triste und langweilige, mitunter auch bedrohliche Welt der Erwachsenen zu behaupten, ist dieser Widerspruch bei Ende schlichtweg nicht existent. Vielmehr zeichnet er eine kleine Welt, in der es Kinder, die das Bedürfnis haben, sich von Erwachsenen abzugrenzen, gar nicht erst gibt. Ein Generationskonflikt wird somit im Buch gar nicht erst möglich. „Mit den Eltern aller Schichten/ willst du uns vernichten“ sang Tocotronic und hat damit recht gut erkannt, dass es bei intergenerativen Pädagogikveranstaltungen gleich welcher Art um die Auslöschung der Kindheit durch die brutalstmögliche pädagogische Zurichtung ganz kleiner Menschen zu alters- und geschichtslosen Mitgliedern einer freudlosen Gesellschaft geht, der „Degeneration einer Generation“ und eines ganzen Lebensabschnitts eben. Neben der Mär von der ach so phantasievollen literarischen Welt des Michael Ende wird eine weitere Lüge in Hinblick auf „Momo“ ständig aufs Neue kolportiert. Ende würde, so kann man von seinen begeisterten Anhängern immer wieder hören, in „Momo“ eine Gesellschaft entwerfen, die über die jetzt bestehende hinausweise. Im Buch hätte er die Utopie von einem besseren Leben verwirklicht, das mit etwas Gemeinsinn im Hier und Jetzt durchaus auch realisiert werden könne. Wie dürftig die Endesche Utopie tatsächlich ist, offenbart sich am Schluss des Buches. Das Happy End gestaltet sich, nachdem Momo das Böse besiegt hat, so: „Und in der großen Stadt sah man, was man seit langem nicht mehr gesehen hatte: Kinder spielten mitten auf der Straße und die Autofahrer, die warten mussten, guckten lächelnd zu und manche stiegen aus und spielten einfach mit. Überall standen Leute, plauderten freundlich miteinander und erkundigten sich ausführlich nach dem gegenseitigen Wohlergehen. Wer zur Arbeit ging, hatte Zeit, die Blumen in einem Fenster zu bewundern oder einen Vogel zu füttern. […] Die Arbeiter konnten ruhig und mit Liebe zur Sache arbeiten, denn es kam nicht mehr darauf an, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit fertig zu bringen. Jeder konnte sich zu allem so viel Zeit nehmen, wie er brauchte und haben wollte, denn von nun an war ja wieder genug davon da.“ (Ebd., S. 296) Es ist keine Utopie die Ende da zeichnet; es gibt kein befreiendes Moment, nichts was auch nur ansatzweise über die bestehende Ordnung hinausweisen würde. Ende schreibt lediglich die bestehenden Verhältnisse fort und gibt vor, dass dem sinnlosen Treiben und Getriebensein mit ein wenig mehr Gemütlichkeit, Zeit und einem klein Bisschen weniger Hektik der Sinn doch noch einzuhauchen sei. Letztlich fällt Ende noch weniger ein, als Heinrich Böll zehn Jahre vor dem Erscheinen „Momos“ in seiner „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“, einer Ironisierung der alltäglichen Jagd nach Geld und Erfolg im WirtschaftswunderDeutschland, vorzubringen vermochte. Bölls Bild vom (natürlich italienischen) Fischer, der zufrieden mit sich und der Welt dösend am Hafen liegt, ohne den Ehrgeiz, mehr zu erwirtschaften, als er von der Hand in den Mund braucht, ist wenigstens als Widerwort gegen einen Touristen, der ihn zu mehr Leistung anspornen will, sympathisch. Problematisch wird die Parabel dort, wo nicht nur, entgegen den tatsächlichen Verhältnissen, behauptet wird, dass in südlicheren Gefilden wegen permanent schönen Wetters und überquellender Fanggründe der Kampf ums physische Überleben unnötig sei. In der Fischerfigur taucht zugleich einer auf, der mit seiner überreichlich vorhanden freien Zeit offensichtlich nichts anzufangen weiß, also weder sich selber noch anderen Vergnügen zu bereiten vermag. Aber immerhin: Bölls italienischer Fischer hat nicht vor, andere an seinem Wesen genesen zu lassen. Ende ist viel realistischer und damit bösartiger als Böll in seinem Gleichnis vom Fischer, den weder Ehrgeiz noch sine Fru anspornen. In „Momo“ herrscht eine zutiefst deutsche Vorstellung von Arbeit vor, die um ihrer selbst Willen betrieben wird, was die Momo-Italiener auf intensive Suche nach dem Sinn ihrer täglichen Plackerei gehen lässt. Arbeit erscheint in Momos Gemeinschaft nicht als von den Verhältnissen aufgezwungene Notwendigkeit, um die eigene körperliche Existenz zu sichern, sondern als identitätsstiftend für die Einzelnen. Diese haben sich nach Endes Vorstellungen ruhig und fügsam ins gesellschaftliche Ganze einzupassen und aus ihren miesen und unterbezahlten Jobs gefälligst Sinn und Freude zu ziehen. Sie dürfen, als Belohnung dafür, dass sie die Verhältnisse nicht in Frage stellen, auch mal etwas langsamer und gemächlicher vor sich hin werkeln. Sinnbild dieses Arbeitsethos ist die Figur des Straßenkehrers. Beppo, der „seine Arbeit gern und gründlich“ tat und „wusste“, dass „es [...] eine sehr notwendige Arbeit“ war, bringt Endes Vorstellungen folgendermaßen auf den Punkt: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken […]. Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. […] Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ (Ebd., S. 37f.). „Der Weg ist das Ziel!“ hatten italienische Faschisten in den frühen 20er Jahren ihr futuristisches Programm vom ständig angespannten, dynamischen Volkskörper überschrieben. Heute ist die Beppo-Ideologie schon lange nicht mehr die von Straßenkehrern oder Mussolinis Schlägertrupps, sondern die von anthroposophisch geschulten deutschen Führungskadern, die beim autogenen Training genauso wenig an „die ganze Straße“ denken wie bei ihren Leitungsaufgaben oder beim Radsport. Ruhig atmen, in kleinen Schlucken drei Liter Wasser am Tag niedermachen und den demenzkranken Vater schrittweise aufs Heim vorbereiten, das macht Freude, dann macht man seine Sache gut. Es verwundert wenig, dass in Endes Buch Luxus und Wohlstand als verdammenswert gelten. Momos Freunde sind zwar arm, aber dafür umso glücklicher. Die Leser, die lernen sollen, wie die sprichwörtlichen Schuster bei ihren Leisten zu bleiben, erfahren anhand verschiedener Protagonisten des Buches, dass materieller Reichtum das „Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter“ (Ebd., S. 78) werden lässt. Die Allgemeinplatz gewordene Binsenweisheit vom charakterverderbenden Geld wird von Momos Freund Gigi formuliert, dessen Traum von Wohlstand und Ruhm in Erfüllung ging: „Ich sage dir eines […], das Gefährlichste, was es im Leben gibt, sind Wunschträume, die erfüllt werden.“ (Ebd., S. 230) Denn wahres Glück lässt sich nicht in materiellen Gütern finden, sondern nur in der Gemeinschaft: „Es gibt Reichtümer, an denen man zugrunde geht, wenn man sie nicht mit anderen teilen kann.“ (Ebd., S. 237) Ende denunziert nicht etwa die Vorstellung, Glück ließe sich erreichen, wenn man nur eifrig und verbissen genug an der eigenen Karriere und dem damit verbundenen gesellschaftlichen Aufstieg bastele. Ihm geht es vielmehr darum, dem Wunsch nach Veränderung selbst seine Berechtigung abzusprechen, und der drückt sich zunächst in dem Ehrgeiz aus, Armut und Elend hinter sich zu lassen. In diesem Ehrgeiz sieht Ende zu Recht die größte Bedrohung für seine Gemeinschaftsutopie begründet – die man heute „gewachsene soziale Milieus“ nennt und erfolglos unter Naturschutz zu stellen versucht. Das Netz der Blutsauger Und so zieht Momo aus, um das zu bekämpfen, was seiner zersetzenden Wirkung wegen, als das Böse schlechthin gebrandmarkt wird. Es sind die grauen Herren, die nicht nur als Angestellte eines Bankinstituts mit dem Geld identifiziert werden, sondern auch mit eleganten Autos und guten Anzügen die Moderne repräsentieren. Sie – die von außen in die heile Welt der Endeschen Phantasie einbrechen, wie „ein Schatten, der wuchs und wuchs“ (Ebd., S.43), einem Krebsgeschwür gleich in die Gemeinschaft hineinwuchern, sich „unauffällig [...] im Leben der großen Stadt und ihrer Bewohner festgesetzt“ (Ebd., S. 62) hatten – sind der teuflische Gegenentwurf zu Momos Gemeinschaft. Während es vor der Ankunft der Bösewichter in der Stadt ruhig und beschaulich zuging, verwandelt sich diese Gemütlichkeit mit der Ankunft der grauen Herren in Hast. Sie „huschten“ (Ebd., S. 149) umher und gingen „rastloser Tätigkeit“ (Ebd., S. 87) nach, die Menschen werden unter ihrem Einfluss „nervöser und ruheloser“ (Ebd., S. 75) und eine „blinde Besessenheit“ (Ebd.) befällt sie. Den Einfluss der grauen Herren – der die naturwüchsige Gemeinschaft im alten, eher dörflichen Stadtviertel zerstört, ihre Mitglieder anstiftet, ihrem Herkunftsort den Rücken zuzukehren und sie, vereinzelt und auf sich allein gestellt, in die große, ständig wachsende Metropole hinausschleudert – kann sich Ende dann auch nur als groß angelegte Verschwörung vorstellen. Die grauen Herren verstanden es, sich „auf unheimliche Weise […] unauffällig zu machen“, „im Geheimen (zu) arbeiten“ (Ebd., S. 43) und so ihrem „Geschäft nach(zu)gehen“ (Ebd., S. 106), auf das sie sich so gut verstanden, „wie Blutegel sich aufs Blut verstehen“ (Ebd., S. 61). Sie sitzen im Verborgenen und weben die Fäden, in denen die Menschen sich wie Fliegen zappelnd verfangen: „Das Netz, das sie über die große Stadt gewebt hatten, war [...] dicht und – wie es schien – unzerreißbar.“ (Ebd., S. 207) Ende ist zwar einfallslos, aber in der Beschreibung und Charakterisierung des Typus des geldgierigen Geschäftemachers äußerst beredt. Neben der mehrfachen Verwendung des Verbs „raffen“, rundet Ende die Beschreibung der grauen Herren mit folgender Darstellung ab: „Sie trugen runde steife Hüte auf den Köpfen und rauchten kleine aschenfarbene Zigarren.“ (Ebd., S. 44) Das Werkzeug der Vernichtung Im Gegensatz zu Mignon tritt Momo nicht als handelndes, mit einem eigenen Willen ausgestattetes Subjekt der erzählten Geschichte auf. Praktisch alles geschieht ohne ihr Zutun; sie hat nahezu keine eigenen Bedürfnisse, die sie zum Handeln im eigenen Interesse verleiten könnten. Sie ist so identisch mit der Gemeinschaft, dass sie nur dann zufrieden und glücklich sein kann, wenn diese reibungslos funktioniert. Momo ist nicht Individuum, sondern willenloses Instrument des Schicksals. Der hässliche und autoritäre Kern der Endeschen Vision tritt in der Figur von Meister Hora zutage, dieser gottgleichen, gütigen Vaterfigur, die immer weiß, wo’s langgeht, die alle Antworten parat hat und Momo auf ihre Mission schickt. Hora klärt Momo über den wahren Charakter und die schändlichen Ziele der grauen Herren auf und schärft ihr ein, dass sich „die Menschen [...] von diesen Plagegeistern befreien“ (Ebd., S. 270) müssten. Während in spannenden Kinderbüchern der Held durch Klugheit und Witz, Einfallsreichtum und Raffinesse den Bösewichtern immer fair das Handwerk legt, sie verjagt, oder sie gar durch Überzeugungskraft von ihren finsteren Plänen abbringt und vom Bösen zum Guten bekehrt, geht es in „Momo“ um etwas ganz anderes. Zur physischen Vernichtung des als Gemeinschaftszersetzer und -schädling stigmatisierten Gegners gibt es keine Alternative; sie ist „die einzige und letzte Möglichkeit“, wie Hora Momo gegenüber betont. (Ebd., S. 272) Momo ist die vom Schicksal Auserwählte, eine von kosmischen Mächten gesandte Erlöserin, die allein in der Lage ist, „Stimmen aus undenkbaren [!] Fernen und von unbeschreibbarer [!] Mächtigkeit“ (Ebd., S. 181f.) zu hören. Sie ist das von Ende ersehnte Werkzeug der Vernichtung, das ohne eine Spur von Gnade oder Erbarmen den totalen Feind auslöscht. Italiensehnsucht und Artenschutz Die Frage, wen Ende vor den grauen Herren schützen möchte, lässt sich beantworten, wenn man sich vor Augen führt, wo die Handlung von „Momo“ angesiedelt ist. Es ist Mignons Herkunftsland, in dem er seine Figuren in Aktion bringt und in das er 1970 seinen Hauptwohnsitz verlegte. Endes Italiensehnsucht ist eine ordinär deutsche. Er halluziniert sich Italien als einen Hort der Ursprünglichkeit, an dem sich – um es im Jargon seiner Fans auszudrücken – der Mensch noch nicht von sich selbst entfremdet hat. Die Charakterisierung der Figuren in „Momo“ offenbart, wie sehr Italien als geographischer und ideeller Ort allein der Endeschen Sehnsüchte fungiert und anders als bei Goethe keine Entsprechung im wirklichen Italien hat. Im Momo-Italien herrscht noch echte Gemeinschaft, Solidarität und kollektive Wärme, hier kann sich der Einzelne noch sicher vor den Zumutungen der Individuation und Vereinzelung wähnen. Ende schreibt den Italienern einen Nationalcharakter zu, der sich in nichts von den platten und dümmlichen So-sind-Land-und-LeuteBeschreibungen alternativer Italienreiseführer unterscheidet. Er zeichnet die Italiener als lebenslustige und sonnige Gemüter, immer fröhlich, grundehrlich und genügsam von Natur aus. Mit anderen Worten: Momos Freunde sind im Grunde naive und unschuldige Kinder, letztlich liebenswerte Tölpel, die, weil sie niemandem etwas Böses antun können und wollen, Gefahr laufen, ahnungslos und blind in die durch die grauen Herren personifizierte Gefahr zu rennen. Es sind „einfache Leute“ und Träumer, wie der Friseur Fusi, der Maurer Nico und der Restaurantbesitzer Nino, die leicht um ihre Identität gebracht werden können und also schutzbedürftig sind – nicht zuletzt vor falschem Begehren in sich selbst. Momo tritt als Artenschützerin auf, die den „Italienern“ zeigen soll, wie sie ihren von Ende imaginierten „Volkscharakter“ gegen wurzellose Gesellen verteidigen können. Solch fragwürdiges Kontrastieren von ursprünglicher, „menschlicher“ Vorstadt mit kalten Neubaukolossen ist seit den späten 50er Jahren auch in der italienischen Literatur und mehr noch im Film anzutreffen, vermag aber wegen der genau und häufig auch ironisch gezeichneten Charaktere und der stringent erzählten Geschichten in der Regel als bloße ideologische Zutat das Kunst- oder häufiger Kulturbetriebsprodukt selber nicht nachhaltig zu beschädigen. Italiener mögen von deutscher Ideologie überreichlich gekostet haben, eine so hanebüchene Selbstcharakterisierung wie Ende sie vorgenommen hat, verböte ihnen schon die bloße Selbstachtung. Was Mignon von Momo unterscheidet – und damit Goethes Italien von dem Michael Endes – ist der Gegensatz von regressiver Sehnsucht, die doch nichts weiter will, als an einen niemals wirklichen Ort verklärter Kindheit zurückzukehren, und einer Sehnsucht, die sich eine Ahnung von der Möglichkeit der Versöhnung von Sinnlichkeit und Zivilisation bewahrt hat. Endes Italienbild hat nichts mit der Sehnsucht Goethes nach dem „Land, wo die Zitronen blühn“ gemein, dem es eben nicht um rohe Natur, Ursprünglichkeit und traditionelle Bindungen an Sippschaft und Boden zu tun war. Schon allein der Verweis auf die Zitronenbäume deutet auf eine Vorliebe für Kulturlandschaften statt für deutschen Wald. Die Sehnsucht erscheint bei Goethe als etwas Unauflösbares, dass auf keinen Fall preiszugeben ist. Mignons Sehnsucht bleibt unerfüllt und unerfüllbar, würde sie eingelöst werden, wäre es endgültig vorbei mit dem Zauber, der von ihr ausgeht. Mignon stirbt und mit ihrem Tod bleibt ihre Sehnsucht als eben auch bittere Erinnerung an das erst noch einzulösende Glücksversprechen schmerzlich bestehen. Von Momo hingegen bleibt am Ende nichts übrig. Da sie ihre Mission erfüllt und mit der Ausrottung der grauen Herren zugleich die Aussicht auf einen Zustand jenseits der schlechten Verhältnisse vernichtet hat, verliert sie ihre Funktion und könnte sich ebenso wie ihre Feinde ins Nichts auflösen. Pädagogik des Wahns „Was will uns der Dichter damit sagen?“ Diese Frage beschäftigt heute noch wie seit Generationen deutsche Pädagogen, gleich ob sie den Schülern ein Meisterwerk wie „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ oder ein Machwerk wie „Momo“ andienen. Hat man bei Goethe immerhin noch einige lästige Fragen ästhetischer Natur abzuarbeiten, darf man sich also auf Handlung und Botschaft allein nicht beschränken, zumal die Botschaft des Wilhelm Meister irgendwie vertrackt, ja eigenartig vage und doppeldeutig ausfällt. So bietet sich die Ausdeutung Momos wie ein Befreiungsschlag an: Mit Momo sagen, was man sich über Dichtung und Wahrheit immer schon so gedacht hat. Wirft man einen Blick in das wohl wichtigste Handwerkszeug von Deutschlehrern, mit dessen Hilfe sie den von den Kultusministerien empfohlenen Literaturkanon pädagogisch aufbereitet an die Schüler bringen – in diesem Fall also in die Lehrerbegleitliteratur zu Endes „Momo“ –, wird man feststellen, dass der regressive Wahn des Kinderbuchautors zwar höchst differenziert gedeutet, jedoch zutiefst affirmativ geteilt wird. Dietrich Steinbach, Autor zahlreicher literaturdidaktischer Schriften, spricht in einem Lehrerbegleitheft (5) mutig aus, was er immer schon gegen Goethe und Konsorten vortragen wollte, aber nicht darf und bringt im uneingeschränkten Lob Michael Endes „positiv“ zum Ausdruck, dass er das autonome Kunstwerk und seine Aura nie verstanden aber immer schon verachtet hat: Endes Bücher würden „keineswegs allein in der frei stehenden Schönheit ihrer ästhetischen Existenz ruhen“, sondern sie „verkünden Lehren“. (Ebd., S. 9) Die Lehre, die aus „Momo“ zu ziehen sei, ist die der „Heilung des Menschen durch die Rettung der ihm zugemessenen individuellen Zeit“. (Ebd.) In diesem Sinne sei „Momo“ ein „Buch des Widerstandes gegen die Vernichtung der individuellen und subjektiven Zeit […], durch die vermeintlich objektive ökonomische und zweckrationale Zeit, die allein der Beschleunigung und dem Mehrwert des Produktionsprozesses gehorcht.“ (Ebd., S. 19) Seine Kollegin Astrid Gathmann wird im gleichen Heft noch drastischer. (6) Momo kämpfe „gegen die lebensvernichtenden Kräfte der Gleichgültigkeit, Passivität, Dummheit, Leere, die dem Menschen auflauern wie Räuber in der Nacht“. (Gathmann, S. 25) Auch sie warnt vor tödlichen Anschlägen auf die Zufriedenheit: „Die Flucht in die Zukunft und die vorauseilende Begierde, immer mehr haben oder sein zu wollen, töten das Bewusstsein für das Hier und Jetzt.“ (Ebd., S. 23) Doch es gibt ja Momo, die stellvertretend für uns alle „gesellschaftliche Zwänge […] mutig bekämpft“ (Ebd., S. 22), indem sie ausgerechnet das „Hier und Jetzt“ affirmiert und es sich und ihren Freunden verbietet, von einer Flucht in ein „Draußen, irgendwann später“ wenigstens zu träumen. „Ihren Traum vom Leben“ sieht Astrid Gathmann zusammen mit Momo in einer bescheidenen Existenz verwirklicht, in der nicht „äußerer Glanz oder äußerer Schein, sondern Wahrhaftigkeit und Intensität […] wichtig sind“. (Ebd.) Wo allein könnte der Quell solcher in sich ruhenden Innerlichkeit liegen? Es kann nur der Deutschen mythische Urheimat sein, wo stille Veilchen über stolze Rosen den Sieg davon tragen und nur die ganz stillen Wasser als tief gelten. In jener Welt also, wo angeblich weder Ehrgeiz noch falsches Begehren den Menschen zum Opfer künstlicher Paradiese, mithin ihm wesensfremden Verhältnissen machen: „Momo verkörpert die Sehnsucht nach etwas Vergangenem, nach authentischem, einfachem, ehrlichem Leben, dessen Gesetze von der Freiheit und den vielfältigen Möglichkeiten eines menschlichen Daseins Kunde geben.“ (Ebd., S. 23) Im Roman ließe sich „ein utopischer Entwurf einer Gesellschaft“ (Ebd., S. 24) finden, in der nicht „Angst und Hetze und Perfektion […] die herrschenden Maßstäbe (sind), sondern Gefühle wie Freude, Brüderlichkeit, Geborgenheit in einer Gemeinschaft freier Menschen.“ (Ebd., S. 25) Vor der Gefährdung solcher Geborgenheit kann nicht schrill genug gewarnt werden. „Die Bedrohung der Freiheit ist vielfältig. In welchen Erscheinungsformen sie uns begegnen kann, verdeutlicht Ende in den grauen Herren. Sie sind unsichtbar und doch Wirklichkeit. Sie sind die Allegorie des Bösen, das die Freiheit und das Leben der Menschen vernichtende Potenzial, das im Menschen selber steckt. Es ist konkret, es kann tödlich sein.“ (Ebd., S. 24) Gegen diese imaginierte tödliche Bedrohung hilft nach Ansicht Gathmanns nur eines: Selbst ein wenig wie die Romanfigur zu werden, und wie diese „nach innen, in den Herz-Innenraum“ zu hören. (Ebd., S. 22) Man kann nur hoffen, dass die Kinder von Frau Gathmann für sich rechtzeitig Tocotronic entdeckt haben und gegen das regressive Bedürfnis ihrer Mutter nach ewig währender Infantilität, die sie ihnen aufherrschen wollte, erfolgreich polemisiert haben. Denn gegen Leute, die die „Wahrheit und […] Wahrhaftigkeit des Kindseins“ in einer „Stärke“ erkennen, „die aus dem Mut zur Phantasie erwächst“ (Ebd., S. 24), bestehen Kinder nur unter Aufbietung eines Höchstmaßes von Selbstverteidigung. Alle Mittel der Subversion, von der Playstation bis hin zur exzessiven Nutzung der Kinder-Chatrooms im Netz sind Ausdruck legitimer Notwehr gegen die Zumutungen, die Christiane Michaelis (7), Autorin eines anderen Lehrerbegleitheftes zu „Momo“, den Kindern andient. Sie agitiert gegen die verdorbene Phantasie des „Lügner(s) Girolamo, der seine Geschichten kommerziell ausschlachtet, um sich seinen Traum von Ruhm und Reichtum zu erfüllen. Doch diese Geschichten haben mit kreativ-originärer Fantasie nichts mehr zu tun.“ (Michaelis, S. 13) Gegen diese von Ruhmsucht und Profitgier verdorbene Phantasie breitet sie schon einmal jene Folterwerkzeuge sprachlicher Verderbtheit und rigorosen Verbots aus, mit denen versucht wird, die Kindheit „auszuixen“: „Positiv-produktive Fantasie ist unabhängig von materiellen Gütern und frei von zweckorientiertem Handeln. Dies verkörpert Momo insbesondere durch ihr unkonventionelles Aussehen und ihren inspirativen Einfluss auf die Kreativität ihrer Freunde […]. Moderne Spielsachen […] oder die kommerzielle Vermarktung von Geschichten wirken dagegen kontraproduktiv, denn sie beschränken die Freiräume der Fantasie und verursachen durch mechanisch-künstliche Stereotypie eher Langeweile.“ (Ebd., S. 13f.) Erziehung und Barbarei In seinen pädagogischen Reflexionen aus den 1960er Jahren, knüpfte Adorno die Hoffnung, dass die Einrichtung zivilisierter Verhältnisse in der postnazistischen Bundesrepublik möglich sei, an die schulische Erziehung, wenngleich er sich durchaus dessen bewusst war, dass sich diese Hoffnung an etwas zutiefst Prekäres heftete. (8) „Sicherlich ist, solange die Gesellschaft die Barbarei aus sich heraus erzeugt, zum Widerstand dagegen die Schule nur minimal fähig.“ (Ebd.) Jedoch unter der Voraussetzung einer geübten „Kritik am Erziehungsprozeß selbst, der […] bis heute im allgemeinen misslingt“ (Ebd., S. 81), also unter der Voraussetzung, dass auf die barbarischen Momente, die in der Erziehung angelegt sind, reflektiert würde, könnte Schule „unmittelbar auf die Entbarbarisierung der Menschen hinzuarbeiten“. (Ebd., S. 86) Die Begeisterung für Endes „Momo“ von Lehrern, die im Literaturunterricht in miserablem Deutsch gegen die autonome Kunst wettern, die ihnen in der „frei stehenden Schönheit ihrer ästhetischen Existenz“ als mindestens so artfremd erscheint, wie Girolamos „Lügengeschichten“ bekräftigen die Zweifel Adornos daran, dass seine Kritik bei ihren Adressaten etwas bewirken könnte. Die in der Lehrerbegleitliteratur zu „Momo“ herauspräparierten Unterrichtsentwürfe und -ziele laufen auf die unhinterfragbare Identifizierung der Schüler mit dem „Hier und Jetzt“ in seiner missvergnügten, ideologischen Variante hinaus, auf den Appell, die widerspruchsfreie und damit vollends autoritäre Gemeinschaft einzurichten. So sollen schon die Grundschüler bei der gemeinschaftlichen Lektüre des Romans „Momo“ lernen, dass „gemeinsames Lesen […] Spaß (macht)“, um „über das Lesevergnügen […] den Zauber gemeinsamen Zuhörens und Erlebens“ zu „erfahren“. (Gathmann, S. 26) Diese „Erfahrungen“ sollen ihnen vermitteln, wie „wichtig“ für den Einzelnen der „Zusammenhalt in der Gruppe“, also einer „Gemeinschaft, in der einer dem anderen am Herzen liegt“, zu sein hat. (Ebd., S. 29) Sekundarschülern wird nahegelegt, dass egoistisches Verhalten und das Streben nach „Reichtum und Erfolg“ (Michaelis, S. 11) schlimme „Konsequenzen […] sowohl für den Einzelnen (Verlust der Identität) als auch für die Gemeinschaft (Momo verliert einen Freund)“ hat. (Ebd., S. 52) Angesichts einer praktizierten Gemeinschaftserziehung, die ihre wesentlichen Motive aus einem antisemitischen Kinderbuch zieht, wirken Adornos Forderungen nach einer „Erziehung zur Entbarbarisierung“, die in erster Linie Aufgabe der Schule sein sollte, scheinbar naiv. Und doch sind Adornos Forderungen gegen Lehrer, die mit „Momo“ in der Hand die gesamtgesellschaftliche Regression beschleunigen, aktueller denn je. Die professionellen Lehrer in ihrer Mehrheit kommen als Adressaten dieser Kritik, gar als Akteure, die in ihrem Bereich aktiv gegen den Rückfall in die Barbarei kämpfen würden, allerdings nicht in Betracht. Eine Erziehung gegen „Momo“ wird sich notwendig gegen die Schule zu richten haben. Peter Siemionek (Bahamas 55/2008) C. und A. gewidmet, die Michael Ende totgesungen haben. Für wertvolle Hinweise danke ich Justus Wertmüller. Anmerkungen: 1) Nachzulesen unter: www.tocotronix.de/lesezeichen/aufsatz_dirkvspostoptimisten.php. 2) Michael Ende: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. Schulausgabe mit Materialien. 47. Aufl. Stuttgart 2005. 3) Der Preis wurde 1981 in Deutscher Jugendliteraturpreis umbenannt, dessen Sieger, nur soviel am Rande, neben dem Preisgeld eine Bronzeplastik erhalten, die Endes Romanfigur Momo nachgebildet ist. 4) Nachdem die ansonsten völlig humorresistente Taz im August 1995 den Tod Michael Endes mit einem Abdruck des Tocotronic-Textes angemessen gewürdigt hatte, bewies die Band, dass es ihr mit ihrer Kritik nie wirklich ernst war. Auf einmal wollte man alles gar nicht mehr so gemeint haben und selbstverständlich sei man völlig missverstanden worden. Die Aktion der Taz sei „total drastisch“ und „blöd“ gewesen, so Lowtzow in einem Interview aus dem Jahr 1997. „Das ist genau so ein Beispiel dafür, daß was man ganz ernst und ganz traurig meint dann so als Schenkelklopfer mißverstanden wird. […] Da stirbt der Mann, und dann hat so eine Zeitung nichts Besseres zu tun als zu denken: Höhö, das paßt ja jetzt super. Also den Tod von dem Mann haben wir nun wirklich nie gewünscht.“ Er und die anderen Bandmitglieder hätten die Bücher Endes damals genossen und es „ging in diesem Stück eben auch nicht darum, ein Haßpamphlet zu verfassen, sondern sich zu erinnern, was einen in der Kindheit eigentlich geprägt hat.“ Bezeichnenderweise ist besagter Song seit Endes Tod auf keinem Konzert der Band mehr zu hören: „Wir spielen das überhaupt nicht mehr – aus Pietätsgründen!“, so die Aussage des Sängers auf einem Konzert in Bremen am 25.10. 1997. Dass die Band von Michael Endes Werken nicht nur geprägt wurde, sondern mittlerweile in seine Fußstapfen getreten ist, wird deutlich, wenn man sich ihre Aussagen zum neuen Album betrachtet. Gelang es ihr in der Vergangenheit hin und wieder in einigen Songs eine Ahnung von der Langeweile in der spätkapitalistischen Gesellschaft auszudrücken (man denke an „Samstag ist Selbstmord“ oder „Let there be rock“), befindet sie sich mittlerweile auf dem Weg zu einer romantischen Innerlichkeit Endescher Prägung. Und so möchte Lowtzow den Titel „Kapitulation“ des aktuellen Albums dann auch verstanden wissen: „Aber das Wort ‚Kapitulation‘ ist für uns ein durchaus positiv besetzter Begriff. Wir haben ihn thematisiert, weil das Aufgeben eine sehr interessante Wirkung entfalten kann. Es ist immer ein Kampf, auch als Strategie des Sich-Entziehens aus dieser Leistungsgesellschaft, in der wir leben.“ (Nachzulesen unter: www.intro.de/magazin/musik/23011215, unter: www.intro.de/platten/kritiken/23022641 und unter: www.ard.de/kultur/musik/pop/tocotronic/-/id=454310/nid=454310/did=626792/1x5x5zk/index.html) 5) Dietrich Steinbach: Michael Ende. Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. Lehrerbegleitheft. 5. Aufl. Stuttgart 2005. 6) Astrid Gathmann: Momo. Eine Unterrichtseinheit im Deutschunterricht der Unterstufe., In: Steinbach 2005. 7) Christiane Michaelis: Michael Ende. Momo. München 2001. 8) Theodor W. Adorno: Tabus über den Lehrerberuf., In: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. 21. Aufl. Frankfurt a. M. 2004. http://www.redaktion-bahamas.org/auswahl/web55-2.html Eva Bormann, Junges Theater Marburg, September 2013