L1608/43

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L1608/43
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/43
d. 23. April 1887
Liebster Gustav!
Eine frühe Morgenstunde, in der Damen noch schlummern, will ich benutzen, Dir zu schreiben.
Wenn es irgend geht, würde ich viel lieber an Deine Adresse in le Havre direkt schreiben! Solltest
Du übrigens noch in Paris sein und Zeit haben, so besorgst Du mir vielleicht aus dem Geschäft: Au
bon marché den ausführlichen Katalog direkt an meine Adresse, unter + Band. Es ist dies durchaus
nicht nothwendig, würde mir nur von Interesse sein. Zeit darfst Du deshalb nicht opfern. Die
Unterhandlungen mit dem Engländer sind wohl noch nicht abgeschlossen? Von den hiesigen
Angelegenheiten erfahre ich seit lange garnichts mehr, das macht, ich habe lange Niemand von den
Deinen gesehen. Unser Besuch, Lisens Freundin, macht, daß ich nicht viel herauskomme. Seit
einigen Tagen ist mit ihrer jüngsten kleinen Tochter meine Schwägerin aus Metz in Berlin. Die
Veranlassung ist eine traurige, ihr Vater ist durch eine schnell zunehmende Gehirnkrankheit gehörsprach- und bewegungslos geworden, aber trotzdem ist unsere Freude sehr groß, sie und das
reizende kleine Elschen nach so langer Zeit einmal wieder zu sehen. Else ist etwas jünger als
Annchen, aber geistig viel entwickelter und bedeutend größer. Leider wird Anna nur 14 Tage in
Berlin bleiben, da mein Bruder sie nicht länger entbehren will. Die Vergißmeinnicht haben bis
gestern noch geblüht, wir alle haben uns darüber gefreut. Du leidest am Katarrh? Vielleicht thut die
Luftveränderung Dir gut. Du wirst mir doch recht häufig von Havre aus schreiben. Besonders, wenn
im Geschäft etwas Wichtiges vorfällt? Daß bei D.s die Lage wieder so traurig ist, ist wirklich
schrecklich, um so mehr, als dabei garnichts zu ändern ist. Mit der Dummheit kämpfen Götter selbst
vergebens! Und, selbst, wenn Fr.D. noch so viel Grund zur Eifersucht hätte, wäre es das
Allerdümmste, wenn sie dies merken läßt. An wirklich unglücklichen Ehen, vorausgesetzt, daß der
Mann kein schlechter Mensch ist - - -da hätte ich mich eben vergalloppiert! Ich wollte sagen, sind
immer die Frauen schuld. Dabei fällt mir aber ein naheliegender Fall ein, wo die Frau
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vorzüglich war und der Mann gewiß kein schlechter ist, und die Ehe doch nicht glücklich war. Der
französische Roman hat mich zum Schluß doch etwas abgekühlt. Was ich mit diesen Französinnen
gemein habe ist der Hang zum romantischen und zuviel Phantasie! Mariens Brief hat mich nicht
geärgert. Ein bischen derbe Ausdrücke kann ich ja sehr gut vertragen. Verletzen thut mich viel mehr
eine rohe Gesinnung, und davon ist in diesem Briefe ja garnichts darin. Du liest aus ihrem Brief
auch noch manches Andere heraus, das zu erkennen, es mir an Spürsinn mangelt. Die Zeit wird es ja
lehren, ob Du Recht hast. Mir erscheint sie nach diesem Briefe als ein gesunder Charakter, der mit
Energie bestrebt ist und dem es gelungen ist, allen Widerwärtigkeiten und Anfechtungen des Lebens
eine tüchtige Resistenzkraft entgegen zu setzen und gefällt mir daher besser wie früher. Daß sie
mich noch immer nicht beachtet, kenne ich nun schon an ihr und hat mich das nicht eben
überrascht. Sich immer wieder von Neuem über etwas, das man einmal als Thatsache anerkannt hat,
ärgern, halte ich für sehr unzweckmäßig und einiges von dem Ballast, der die Entwicklung
hemmend beeinflußt. Leider kann man schwer dagegen manchmal ankämpfen. Aber das ganze
Leben ist ja nur ein Kampf; und Glück und Leiden nur ein Aufmunterungsmittel darin, das erstere
das Muth- das letztere das Kraft-gebende Prinzip! In voriger Woche habe ich den Freischütz gehört!
Im Opernhause bei guter Besetzung. Wunder, wunder, wunderschön! Ich habe wieder große Lust
zum singen bekommen und fühle wieder recht, wie wenig ich kann! Wenn mein Leben 100 Jahre
währte, ich könnte es ganz gut mit lernen ausfüllen- dabei denke ich noch immer, ich werde nicht
alt. Gründe habe ich garnicht dafür. Aber gerade weil ich die nicht habe, können mir auch
Gegengründe nichts nutzen.- Die arme Martha, Deine Cousine, ist auch garnicht gesund. Könntest
Du nicht Otto dahin bringen, daß er ihr 3-4 Flaschen Chinawein mit oder ohne Eisen verschafft? Ich
mag ihm das nicht sagen, selbst kann ich es noch nicht thun, habe aber die feste Überzeugung, daß
ihr dies Mittel sehr gut thun würde. Wer so gesund ist, kann
[3]
sich schwer in einen nervösen, bleichsüchtigen Körper hineindenken. Aber ich kenne dies aus
Erfahrung und habe erst vor einigen Jahren die Bleichsucht überwunden. Gerade die schönen Jahre
anfang der 20 ger so hinbringen müssen und dazu noch immer eine gut gemeinte aber oft trotzdem
grausame Anfeuerung von Seiten anderer ertragen müssen, ja selbst nicht zu wissen, ob man faul
oder krank ist, dies ist ein muthloser Zustand, dem das eben angeführte Mittel nicht immer, aber
meistens auf längere Zeit beseitigt. Jedenfalls ist es eine Kräftigung, die dem armen Mädchen gut
thun wird. Du mußt aber die Anregung dazu von Dir ausgehen lassen (wenn Du überhaupt nichts
dagegen hast). Mit 12-15 Mrk ist die Sache gethan und das Opfer wäre für Otto nicht so groß. Ich
kann es aus manchen Gründen nicht gut thun, was Du gewiß auch einsehen wirst.- Aber bitte, fange
die Sache ein bischen listig an. Es ist wohl ein bischen viel verlangt, Dich mit solchen Dingen, die
eigentlich Frauensachen sind, zu behelligen, noch dazu jetzt in dieser schweren Zeit. Aber so eine
Krankheit wächst und artet schließlich in die ihrer Schwester aus, wenn nicht rechtzeitig etwas
geschieht. Meine beiden Schwestern brauchten auch nicht so leidend zu sein, wenn sofort etwas für
sie gethan wäre. Das ist meine feste Überzeugung. Ich habe mich, trotzdem ich immer damit
ausgelacht wurde, selbst kuriert und fühle mich als gesund und lebensfrischer wie vor 10 Jahren.
Die letzten Spuren hast Du allerdings erst verwischt. Glück ist das beste Heilmittel, und obgleich
jetzt die Schattenseiten davon uns reichlich heimsuchen, kann man mit etwas Trotz und geballten
Fäusten immer noch warm dabei werden. Und wo Wärme ist, da ist auch noch Leben und wo noch
Leben ist, da ist auch noch Glück, und wo das Glück ist, da bist Du auch noch bei mir, wenn auch
räumlich so weit! Etwas Ärger, soviel zur Gesundheit erforderlich ist, besorgst Du ja auch, da Du
meistens meine Fragen unbeantwortet läßt. Ich beschränke mich, um Dir nicht lästig zu fallen;
schon auf die nothwendigsten. Du mußt Dir nur merken: Fragen, auf die ich eine Antwort haben
will, werde
[4]
ich unterstreichen, dann hast Du es bequemer und brauchst den Brief nicht noch einmal
durchzulesen.- Von den jetzt so häufig vorkommenden Unglücksfällen zur See habe ich gelesen.
Wie wirst Du in H. zurecht kommen, wenn Du der Sprache so wenig mächtig bist ?! Über Deine in
Paris gemachten Beobachtungen der Franzosen bin ich ganz erstaunt. Sind sie ein Volk im
Niedergehen? Das wäre für Deutschland nicht schlecht.- Daß Dittmar so ruhig ist, ist ein wahres
Glück. Davon mußt Du Dir auch noch etwas angewöhnen, für einen Geschäftsmann dringend
nothwendig! Die meisten Fehler macht ein Mensch, wenn nicht aus Dummheit, aus Übereilung,
hervorgerufen durch innere Unruhe. Und das Wort ist sehr wahr, das Papa so oft anführt: Kleine
Fehler bestrafen sich im Leben oft viel härter, als große Vergehen!
Heute ist der erste Tag, an dem es am Morgen schon warm war! Wir wollen heute nach
Charlottenburg. Ich bin durch unseren Besuch immer noch ziemlich in Anspruch genommen. Hier
sind nun zu Hause, was Essen anbelangt, ebenso viele Geschmacksrichtungen wie Menschen. Der
eine will die Kartoffeln in Stücken, der andere sie gequetscht „aber dick“, der dritte sie „aber dünn“
haben u.s.w. Ich erhebe mich in dieser Beziehung nicht so hoch über unsere 4 füßigen Verwandten
und bin mehr plebejischer Natur, wobei ich mich garnicht so schlecht fühle.
Mein Muth hält nur knapp 8 Tage, immer von Brief zu Brief, also schreibe bald. Manchmal denke
ich, ich mache mir garnicht so viel aus Dir! Wie ist das eigentlich? Sage Du mir's. Jetzt läuft die
Feder mit mir weg. Darum schnell adieu, od. Meinetwegen
Deine
Anni
Lebewohl
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/44
Berlin, d.6.5.87
Liebster Gustav!
Ich beantworte Dir nun zwei Briefe. Der von Härre ist gestern d.5. in meine Hände gelangt. Ich war
zu Agnes' Geburtstag draussen in Lichterfelde. Es ist heut wieder ein Frühlingsmorgen, aber er hat
für mich nicht Gold im Munde, wie neulich. Warten und Geduld bleibt die Losung noch eine gute
Weile für mich, während draußen Alles grünen und blühen darf! - - Es ist mir manches Mal fast unmöglich, den inneren Gleichmuth wieder zu finden und habe ich
mitunter schlimme Tage, an denen ich mit Gewalt nur einer reizbaren Stimmung Herr werden kann.
Wahrhaftig nur aus Rücksicht für Andere unterdrücke ich diese bösen Anwandlungen, mir selbst
wäre wohler, wenn ich mich einmal von Herzen aussprechen könnte! Ich habe schon allen Glauben
an eine gute Zukunft verloren. Wenn dies und jenes und der nicht wäre, ich hätte Dir schon längst
zugeredet, nach Deinem geliebten „Victoria“ zurück zu gehen, wo noch etwas von der Freiheit „die
wir meinen“, zu finden sein wird. Diese alte Welt kann nichts Großes mehr hervorbringen, alles
vertrocknet und verrostet allmählig im Sumpfe eines unverzeihlichen Phlegma's! Auch ich, auch
ich! Ich fühle selbst mit Entsetzen, wie ich von Tag zu Tag unliebenswürdiger werde. In diesem
ewigen Gedanken an meine eigenen Angelegenheiten, diesem immerwährenden Gutzureden zu sich
selber, bildet sich, bei mir wenigstens, ein richtiger Egoismus heraus, der mich kalt und
unempfindlich gegen Andere macht. Ich wollte mich ja auch gedulden, wenn sich die Wolken am
Himmel nur ein bischen lichteten, und einem Sonnenstrahl Raum vergönnten. Aber ich sehe gar
kein Ende in der Sache, es kommt immer mehr und mehr hinzu. Nun muß ein zweiter Rechtsanwalt
angenommen werden, in Leipzig, um die Nichtigkeitsklage in II. Instanz durchzuführen. Seid Ihr
schließlich am Ende noch Sieger in dem Prozeß., so könnt Ihr schließlich wie Pyrrus ausrufen, als
er gegen die Römer gesiegt hatte:„Noch ein solcher Sieg und ich bin verloren.“ Fürwahr, der
Gedanke an eine Übersiedelung nach Melbourne kommt mir immer wieder, wenn mein Papa nicht
wäre, ich hätte den Gedanken schon längst näher in's Auge gefaßt.
[2]
Das Pariser Geschäft, an dem Du Deinen Antheil hättest, bliebe Dir ja doch und D. kann dies mit
Thorén allein besorgen. Du hättest dort Deine gute Stellung, die Dir so viel Zeit läßt, für Dich zu
leben und einmal zur Besinnung zu kommen. Sollte ja der Prozeß zu Deinen Gunsten am Ende aller
Dinge sich entscheiden, was vielleicht mit Hinzurechnung der III. Instanz nach 2 Jahren sein kann,
so hindert uns ja nichts, nach menschlicher Berechnung, der Heimath wieder treu zu werden. Wenn
ich Dich so unaufhörlich hier um unsere Existenz ringen und kämpfen sehe, kommt es mir fast vor,
als wäre die Verantwortung darin für mich zu groß und ich müßte Dir diesen Vorschlag schon längst
gemacht haben. Aber hier zu Hause würde mir die Trennung so schwer gemacht werden und Papa
würde sie, fürchte ich, nie verwinden. Es kann mir darin Niemand rathen und helfen als Du eben.
Nun sehe ich Dich aber, anstatt im Austausch der Meinungen traulich mir gegenüber, weit von mir,
so mit dem Kampf um's Dasein beschäftigt, so ganz von ihm in Anspruch genommen, daß ich es
kaum wage, Dich mit anderen Angelegenheiten zu stören. Meine Natur ist nicht so einfach wie die
von Agnes angelegt. Sie thut das, was sie will und möchte, ohne vieles Nach- und Bedenken. Ich
traue aber meinem Willen und Wünschen erst die Berechtigung, dieselben mit Energie
durchzusetzen, dann zu, wenn ich sie gehörig hin und her überlegt habe. Weit schneller zur Klarheit
und Wahrheit kommt man aber durch aussprechen und da fehlst Du mir gar zu sehr. Agnes und
Otto, so reizend sie sind, sind - wie soll ich sagen, zu glücklich in ihrem Leben, als daß sie sich in
das Gegentheil hineinversetzen könnten.Wer das Unglück nicht aus eigener Erfahrung kennt, weiß
Leiden bei Anderen auch nicht richtig zu würdigen. Dasselbe gilt von Krankheit. Wer immer gesund
war, wird gegen Kranke leicht ungerecht.- Gestern war ich in L. zu Agnes Geburtstag. Diese
Vernachlässigung, die Ihr Alle Euch an Euren gegenseitigen Geburtstagen angedeihen laßt, werde
ich Euch noch abgewöhnen, das gefällt mir nicht. Otto II hat die Masern, anscheinend nicht
schlimm. Vermuthlich bekommt Annchen sie auch. Fritz ist
[3]
ein prächtiger kleiner Rüpel geworden, ganz mein Fall. Er ist mehr drollig wie gerade hübsch zu
nennen. Sehr nette Augen, Form von Agnes, Ausdruck von Otto. Leider ist er fast kahlköpfig.
Scheint desto mehr im Kopf zu haben. Agnes betreibt den Gartenbau mit derselben Gründlichkeit
wie die Wäsche u.s.w. Nun weiß ich auch endlich, daß die Zollbehörde abschläglich beschieden hat.
Dich habe ich schon 3 x umsonst gefragt.- Mir wäre Agnes Garten, so schön er ist, als Eigenthum
zu kostbar.Ich will lieber mit wenig Mitteln viel erreichen. Mit viel Mitteln viel erreichen, ist ja
auch ein Erfolg, aber einer, den man dann eben den Mitteln verdankt. Viel und viel deckt sich,
bleibt nichts übrig. Viel und wenig, deckt sich nicht, da bleibt eine Menge, was ich mir selbst zu
danken habe, und das muß ich tun um vollen Genuß zu haben, können.- Jetzt sehe ich Martha mit
Victor kommen. Es ist nämlich schon Abend. Darum ade, mein Lieb! Du meine Wonne, Du mein
Schmerz! Du meine Seele, Du mein u.s.w.
d.7. Deine Reise habe ich mit großem Interesse verfolgt. Bon Marché hat auch geschickt. Hertzog
in Berlin stattet seine Kataloge feiner aus, war mir aber doch interessant, zu vergleichen. Unser
Elschen ist noch bei uns und nimmt uns sehr in Anspruch. Mit Annchens Vater kann es sich nach
Aussage des Arztes noch einmal so weit bessern, daß er vielleicht im Zimmer auf Krücken laufen
kann. Ein schlimmer Trost!
Wenn nur die Gerichtsferien nicht noch kommen, ehe der II. Termin war!
Wie geht es mit Deiner Gesundheit? Wie geht das Geschäft in Paris? Sind die Verhandlungen mit
dem Engländer zum Abschluß gekommen? Passiert denn in der Welt rein garnichts mehr?
Bedenke, daß Briefe von Dir das Einzige sind, was mir Abwechslung in diese Eintönigkeit bringt
und schreibe recht bald
Deiner treuen
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
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Berlin d.14.5.87
Liebster Gustav!
Das Erste, was mir heute gerade einfällt, ist die Frage: Hattet Ihr das Recht, Thorén alle Eure
gefährdeten Patente, Maschinen u.s.w. zu übertragen, nachdem Ihr den ersten Termin verloren
hathet? Könnte nicht R. hernach einmal mit Hilfe seiner allzu bereiten Helfer einmal heraustüfteln,
daß Ihr nicht das Recht hattet und Thorén ebensowenig die Erlaubniß, Sachen als von Euch auf ihn
übertragen, anzunehmen, nachdem dieselben durch die Erkenntniß der Richter zu Euren Ungunsten
als quasi nicht mehr Euch gehörend erkannt sind? - Ich komme soeben von Thorén und habe mich
an dem rüstigen Gange der Steinfabrikation von Herzen erfreuen können. Deine Verlegenheit hat
wohl schon aufgehört, ehe mein Brief in Deine Hände gelangt. Th. meint, die Schuld trüge man in
Paris, von wo ihm nicht rechtzeitig die Bestellung zugeflossen wäre. Hat Dir Otto seine Begegnung
mit dem „Sachverständigen“ mitgetheilt? Der Name fängt mit einem P. an. Er wird nämlich in der
II.Instanz figurieren in seiner geweihten Würde eines gerichtlichen Sachv. Da O. aus Erfahrung
weiß, daß dieser Mann gerade diese Eure Sache schon einmal ungünstig für Euch beurtheilt hat,
ging er geraden Weges zu ihm und sagte ihm ungefähr so: Mein Bruder hat ja sein Todesurtheil in
der Taschen, wenn Sie bei Ihrer ersten Meinung beharren. Die Sache ist vom Kammergericht und
Patentamt aber seitdem anders aufgefaßt, wollten Sie sich vielleicht davon überzeugen u.s.w.? Der
Mann hat sich gedreht und gewunden, bis Otto ihn - richtig verstand und ihm für seine „bisher
gehabte Mühe“ und dafür, daß O. ihn durch „seinen Besuch gestört“ hatte, 300 Mark auf den Tisch
legt, was die Folge hatte, den Sonnenschein seines Wohlwollens wieder über Euch leuchten zu
lassen. Ein Strahl davon glänzte noch auf O-s Antlitz, als er mir seinen Triumpf erzählte. Auf mich
läßt er sich aber nicht übertragen, denn der Gedanke, daß von einem solchen Wesen nun Euer Wohl
und Wehe abhängt, ist nicht ermuthigend. Von unparteiischem Urtheil ist natürlich keine Rede, es
wird davon abhängen, wer das Meiste bieten kann, und wer das sein wird, ist kaum mehr eine
Frage. Daß von dem zweiten Termin noch keine Rede ist, ist
[2]
unheimlich! Vielleicht aber will das Kamm. Ger. die Entscheidungen des P.A. abwarten und diese
Behörde läßt sich gute Zeit.- Soviel von hier, nun zur Beantwortung Deines Briefes.- Deine
Meinung, das deutsche Geschäft sei nicht profitabel, stimmt mit der von O. nicht überein. Auch ist
die Behauptung, Ihr könntet hier mit R.s Preisen nicht konkurrieren, ganz neu, denn bis jetzt habe
ich immer nur gehört, daß Ihr viel billiger fabrizieren könntet. Ferner kann ich nicht recht einsehen,
weshalb Ihr den Gedanken einer Einrichtung der Fabrik in demselben Lande, in dem Ihr handelt, so
ganz von Euch werft. Das eine Ding wird doch nicht im Stande sein, Eure immer größer werdenden
Bedürfnisse zu decken. Ihr müßt doch einmal eine zweite Maschine bauen. Da D. doch davon einen
großen Nutzen hätte, könnte er doch die Sache in die Hand nehmen? Nun zur Hauptsache. Ich bin
mit Amerikanischen Verhältnissen absolut garnicht bekannt, denn was ich von Papa und Viktor über
dieses Land und seine Bewohner aburtheilen höre, kann ich nicht so nennen. Ich habe also kein
Vorurtheil, weder im guten, noch im schlechten Sinn. Aber die Versicherungen eines Amerikaners,
den sein Beruf noch dazu mit kaufmännischem Wesen wenig od. garnicht in Berührung bringt,
können, liebes Herz, für uns noch nicht so schwerwiegend sein, um unser Geschick danach zu
entscheiden. Was war es eigentlich, daß Dich so schnell damals von der Idee, dorthin zu gehen,
zurück brachte? Du sagtest damals, gerade in Amerika böten sich Dir für die Steinfabrikation
größere Hindernisse, als in irgend einem anderen Lande. War nicht von einem Vertrage die Rede?
Subventionsvertrag oder so ähnlich? Ich habe die Details vergessen. Wenn der Reingewinn größer
ist, als in Frankreich, so ist auch das Leben in New York sicher bedeutend theurer wie hier zu
Lande. Jedenfalls stelle ich die Sache Deiner eingehenden Prüfung anheim. Wie gesagt, dem Urtheil
eines Amerikaners, noch dazu einem Maler, vertraue ich mein Schicksal vor der Hand noch nicht
an. Wenn Du Dein amerikanisches Pat. verkaufen könntest, wäre es schon besser. Die Idee, in
Deutschland eine annehmbare Stellung zu finden, kommt Dir wohl garnicht? Ich traue Dir im
Ganzen ein besseres
[3]
Urtheil über das Für und Gegen zu. Du bist oft genug im Leben getäuscht worden, um daraus
gelernt zu haben, die Dinge mit Bedacht und Vorsicht anzugreifen. Sollte sich Dir nach ruhigster
eingehendster Überlegung nur dieser Ausweg bieten, so würde es natürlich meine Pflicht sein, Dir
dorthin zu folgen, wo Du eben nur Wurzel fassen kannst. Eine andere Pflicht aber, liebes, theures
Herz, bindet mich hier zu Hause. Einem alten Vater für alles Gute dadurch zu danken, ihm an
seinem Lebensabend ein tiefes Leid anzuthun, ist eine Sache, die ich mit meinem Gewissen nur
verantworten kann, wenn - es eben nicht anders geht. Kannst Du Deine Existenz hier nicht finden,
so gehe und ich werde die Kraft haben, mich von hier loszureißen. Lenkt aber hauptsächlich der
Wunsch und die Sehnsucht, nach einem regeren freieren Leben Deinen Sinn von der Heimath
(einen Sinn, den ich nur zu gut verstehe und nachfühlen kann), so muß ich es erst noch überlegen,
ob ich Dir zureden darf, einen Schritt zu thun, dessen Consequenzen für mich später
Gewissensbisse und für Dich ein melancholisches Heim sein würden.- Gestern Abend brachte ich
das Gespräch auf New York und Amerikaner. Da hättest Du Papa's hartes Urtheil hören sollen über
dieses Land, in dem die Hefe der alten Welt sich sammelt, das zusammengesetzt ist aus einer
Gesellschaft von Betrügern und Schwindlern, in dem der Schwindel so recht zu Hause ist u.s.w.- Es
ist nothwendig, daß Du erst einmal in unserem Hause Dich einbürgerst, daß die gegenseitigen
Eigenthümlichkeiten sich abschleifen und Ihr Euch verstehen lernt. Möglicherweise ist Alles leicht
und glatt, aber ich wiederhole Dir, P. ist nicht zu berechnen. Noch ist es möglich, daß ihn das
Interessante einer Reise in's Ausland so reizt, daß er unsere Pläne in keiner Weise kreuzen will und
mag. Überhaupt ist an seiner Einwilligung in der Hauptsache garnicht zu zweifeln. Meiner etwas
unbequem angelegten Natur kommt aber Alles darauf an, daß er dieselbe freudig giebt, denn ein
Opfer mag ich nicht annehmen und Zweifel und Mißtrauen gegen den Mann, der mir einmal ganz
und allein genügen soll, würde ich von dem, der mir bis jetzt am höchsten stand, von meinem Vater,
nicht ertragen. Ist das nicht eine zu stolze Sprache? Aber es ist so, nicht die Sprache ist es, sondern
die innerste Seele ist es. So lange ich erwachsen bin, ja selbst in
[4]
Kindertagen schon habe ich es oft mit Schmerz empfunden, daß ich anders wie die anderen bin.
Vieles, was sie freute, genügte mir nicht und Dinge, die mich entzückten, fanden bei ihnen kaum
eine Beachtung. Darum ist es mir so oft passiert, daß ich Freundschaften anknüpfen und wieder
fallen ließ, in den Ruf der Treulosigkeit kam, weil ich immer wieder mich in der oft heiß genährten
Hoffnung, gleichgestimmte Seelen zu finden, getäuscht fand. Im Innersten war ich allein. Wie
beneide ich diese Mädchen und Frauen, die viel mehr leisten können und viel mehr im Stande sind,
glücklich zu machen wie ich, weil „der angebornen Farbe der Entschließung des Gedankens Blässe
bei ihnen nicht angekränkelt wird“. Und was kommt heraus bei diesem Bedenken? Die Wahrheit ist
eine reife Frucht, die wir durch schütteln und klettern am Baum nicht erreichen können, sie muß uns
schließlich doch nur in den Schoß fallen. Glücklich sind, die da glauben können! Da geht jetzt die
Braut meines Vetters, des Missionars Lange, den Du auch kennst, nach Brasilien ihm nach, ohne
Bedenken, ohne Murren, denn sie glaubt an ihre göttliche Mission. Natürlich ist die
Religionsschwärmerei ein Unvollkommenes, aber sie ist eine Handhabe für das Leben. Und wer ist
so kühn, sagen zu können: Ich brauche keine Handhabe, ich kann mich auf mich selbst verlassen,
ich finde in meiner Brust keine Rätsel? Ich nicht, ich nicht!
d.15. Gestern wurde ich dreimal durch Besucher zurückgehalten, meinen Brief zu beenden. Wir
haben heut einen schönen etwas kühlen Sonntagmorgen. Ich könnte Dir auf Deine stolze Regung,
die so garnichts von mir annehmen will, Manches erwidern. Du magst diesen Punkt mit Papa später
besprechen und wird es mir in diesem Falle nicht unangenehm sein, wenn Du aus diesem Kampfe
als der Besiegte hervorgehst. Da ich Dich so kenne, als ob Du dem Ideal als auch dem Praktischen,
beiden gleichmäßig, ihr Recht in anderen Sachen läßt, hoffe ich, Du wirst mich auch hierin nicht
enttäuschen und Dich in die Verhältnisse fügen. Jedenfalls habe ich keinen Grund, ein Geschenk,
das mein Papa vielleicht geben will, zurückzuweisen und werde es
[5]
auf alle Fälle nehmen, da es Papa's Verhältnisse erlauben. Solltest Du auf Deinem Querkopf
beharren, so würde ich mir -Bonbons dafür kaufen, aber genommen wird es.
Ich freue mich sehr zu dem Katalog des Printemps. Wollte Dich schon darum bitten. Der Zettel
„Avis“ ist recht jämmerlich! Ohne Deine Pfade damit direkt kreuzen zu wollen, magst Du wissen,
daß ich nächst Melbourne am meisten Zutrauen zu England habe. Dort würde ich am liebsten leben,
wenn es die Heimath nicht sein kann. Würdest Du dort keine Stellung finden? Alles sind nur Ideen
und Pläne. Alles ist hinfällig, wir wollen nun ruhig die II. Instanz abwarten. Dann kommst Du und
dann wird die Sache mit Papa abgemacht und dann wird mit Otto über die Zukunft gründlich
berathen. Er muß doch auch eine Stimme dabei haben, denn er quält sich hier sehr für Deine
Angelegenheiten. Ich verspreche Dir, Dich nicht wieder mit Klagen aufzuregen und mich frisch und
jung zu erhalten. Was sind eigentlich Docks? Meiner Reise nach Stettin stellen sich in Ottos
Besuch, der zu Pfingsten sein wird, wieder Hindernisse entgegen.
Lebe wohl für heute und schreibe bald
Deiner
Anna.
Ich schreibe wieder Communauté.
Das Wort Communaunoté finde ich
in meinem Lexikon nicht.
Ist auch so lang genug.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/46
Berlin d. 25.5.87
Liebster Gustav!
Ich wußte schon, weshalb ich dieses Mal so lange auf Nachricht von Dir warten mußte! Du fühlst
Dich etwas gekränkt durch mich, daß ich Deinen Plänen nicht sogleich freudig zugestimmt habe.
Da wir nun ja entschlossen sind, bis zum 2 ten Termin ruhig zu warten, d.h. bis die Zeit der
mündlichen Auseinandersetzungen kommt, hat es eigentlich keinen Zweck, in diesem Sinne noch
einmal den mißlichen schriftlichen Weg zu wählen. Ich muß mich aber dann doch ein bischen
vertheidigen. Ich weiß nicht, wo Du heraus gelesen, daß ich „immer noch“ glaubte, in Deutschland
dürften überhaupt keine Steine nach Eurer Verurtheilung gemacht werden. Jedenfalls habe ich das
nicht sagen wollen. Daß Du ohne Steine bist, begreife ich absolut nicht, denn von Otto bekomme
ich immer die Antwort: Alles geht vorzüglich, die Presse, der Transport, Deine Verlegenheit kann
nur eine augenblickliche sein usw. Ebenso behauptet er, Ihr könntet hier noch mehr, als in den
Preisen mit Richter concurrieren. Nehme ich nun dazu noch die hier zu Hause herrschende
Stimmung, von der ich ab und zu etwas merke, nämlich, einiges Mißtrauen gegen die Haltbarkeit
des Steingeschäftes an und für sich, so stehe ich jetzt zwischen drei Feuern und ist es mir nicht zu
verargen, wenn ich nicht mehr weiß, was ich denken soll. Dich freut mein Antheil, den ich an dem
Geschäft nehme, aber ich komme zu der Überzeugung, daß es seine Gefahren hat, Frauen einen
Einblick darein zu gestatten. Einmal kommt doch die Grenze. Bei Dir ist sie schon gekommen. Du
schickst mir Ottos Brief nicht, weil Angaben darin sind, die ich nicht zu wissen brauche. Ich finde
das von Otto ganz natürlich, aber ich meine eben, einen Überblick kann ich doch nicht darüber
gewinnen, und deshalb ist es wohl besser, ich verzichte auf die Details und begnüge mich mit dem
allgemeinen Stand der Dinge. P. hat sich übrigens auch fraglich von einigen nobleren Seiten
gezeigt. Daß ich ein Vorurtheil über Amerika habe, ist nicht so ganz unnatürlich, es ist dies eine
Eigenschaft, die ich mit manchem Anderen theile (Siehe die Beilage)! Wie weit
[2]
Du die Überlegung bei dem Plan zu Rathe gezogen, kann ich aus dem Brief an mich nicht ersehen,
Du sagst selbst, daß Du eingehender darüber an Otto als wie an mich geschrieben hast. Damit Du
aber nun nicht glaubst, ich hätte Deine Ideen für leichtfertig gehalten, will ich Dir was erzählen. Ich
sagte zu Otto, daß Du die Absicht hättest, nach Amerika zu gehen und setzte hinzu, ich fände das
garnicht so schlecht, aber er lachte mich förmlich aus und sprach ziemlich unwillig über diese Idee.
Meinen Vetter trieb ganz sicher der Glaube an seine göttliche Mission nach Brasilien, wo Du Dir
die Zustände anders denkst, als sie sind. Er hatte sein gutes Auskommen auch so, aber er wanderte
mit seiner ganzen Gemeinde aus Polen aus in ein Stück Urwald, das von den Kolonisten überhaupt
erst urbar gemacht werden muß, ja das die von Tigern sogar erst säubern müssen. Er ist Mitte
Zwanziger und übernimmt die Verantwortung für eine über 100 Mann starke Gemeinde, die nur das
Allernöthigste haben. Von Damenbekanntschaften ist gar keine Rede. Sobald die Braut das Schiff
verläßt, findet die Trauung statt. Ich werde das junge Mädchen nächstens sehen, sie ist jetzt in
Berlin. Warum glaubst Du denn nicht an höhere Impulse beim Menschen, als das gute Auskommen?
Ich kenne Dich garnicht von dieser Seite! Ich traue den Leuten gerne das Beste zu und lasse mich
lieber enttäuschen, als in dem Grau des Materialismus dahin zu leben. Doch ich weiß ja Du thust
das auch. Wenn brieflich einige Mißverständnisse entstehen, so hat das weiter keine Bedeutung, wir
werden uns immer wieder finden. Es kann doch nicht anders sein, als daß Du jetzt schon Steine
hast. Wie ist denn das Geschäft in Paris? Ich bitte Dich, mir in großen Umrissen das Wissenswerthe
zu melden. Was Du zu meiner eigenen Charakteristik sagst, ist für mich sehr tröstlich und freut es
mich sehr, daß Du Dir die Mühe gabst, mich so zu durchschauen, aber ich fürchte, Du wirst selbst
noch einmal finden und zugeben, daß in meiner Brust Räthsel sind. Fürchte bei mir keine
sentimetale Religionsschwärmerei, es wird sich schon alles glätten. Stürme, die manchmal kein
Gott in ihrem Toben stillen kann, hat schon oftmals eine liebe Hand beschwichtigt.
[3]
Mit Lisen habe ich jetzt eine Art Kur angefangen, des Morgens reibe ich sie mit nassen und
trockenen Laken ab, dann gehen wir gleich nach dem Kaffe heraus u.s.w. alles ganz pünktlich nach
der Uhr. Ich habe die stille Freude, daß sie wirklich ein bischen frischer und heiterer ist. Heute nun
haben wir von Papa die Erlaubniß ausgewirkt, daß sie ihrer Freundin nach nach Bertesgaden im
Salzkammergut reisen kann. Denke nur, die Alpen! Anfang Juni denkt sie zu reisen. Ich bin dann
wieder sechs Wochen allein. Doch freue ich mich für Lisa sehr, es wird eine rechte Erfrischung für
sie sein.
Agnes und ich, wir kommen uns mit jedem Male innerlich näher. Sie hat in ihrer Ehe einen
schweren Anfang gehabt, denn sie kam für Dich als Störenfried in das Verhältniß von Euch zwei
Brüdern. Das muß für eine junge Frau schrecklich sein und kann ich mir denken, daß sie gewiß
manchmal schwere Stunden gehabt haben mag. Mir wird ein leichteres Los zu Theil, denn die
Verhältnisse haben das Band zwischen Euch nun doch schon so gelockert, daß für unsereinen noch
die Möglichkeit da ist, sich dazwischen zu drängen.
Ich schicke Dir am Montag die Fortsetzung des Aufsatzes über Amerika. Ich lege übrigens mein
Schicksal von heut an in Deine Hände und bitte Dich nur, Papa eine Stimme darüber später einmal
zu gönnen, ich selbst will darin keinen Willen mehr haben, da ich eine Überzeugung darin nicht
gewinnen kann, und so schließe ich jetzt in der Hoffnung, daß Du mit diesem Beweise meines
Vertrauens zu Dir beruhigt bist und wieder in Frieden gedenkst
Deiner
Ann.
Heut schreibst Du wieder
Commnauté
heißt es nicht
Communauté?
Ich schreibe so wie immer.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/47
Berlin d.5.-6. Juni 1887
Lieber theurer Gustav!
Selbst Dir zu Liebe kann ich meine Schläfrigkeit, die mich am Frühaufstehen des Morgens hindert,
nicht überwinden. Heute hatte ich einen so starken Rückfall davon, daß ich meine fest vorgesetzte
Absicht, früh am Morgen Dir in einem ungestörten Stündchen zu schreiben, aufzugeben, schwach
genug war. Jetzt ist nun schon wieder 8 Uhr und damit die schönste Zeit des Tages vorbei! Dein
Brief riß mich endlich aus großer Unruhe. So lange hatte ich noch nie zu warten brauchen, ich war
schon ganz ärgerlich auf Dich.Montag. Es war mir unmöglich, gestern weiter zu schreiben. Mein Bruder nimmt, wenn er hier ist,
uns gänzlich in Anspruch. So habe ich denn gestern die schöne Zeit, die ich Dir widmen konnte, mit
Spazierengehen verbummelt. Vormittags in der Stadt und Nachmittags in Treptow. Da habe ich zum
1 ten Male den großen Spielplatz im Park gesehen, amphiteatralisch gebaut und wunderhübsch mit
Weinguirlanden dekoriert. Auf dem großen weiten grünen Rasenplatz saßen die Leute
familienweise zusammen, oder spielten, alle behaglich einmal frei unter freiem Himmel, keine
Kneipe, nur ein guter Brunnen in der Nähe – ein Bild von Harmlosigkeit und anständiger
Natürlichkeit, das einem in Berlin nur selten wird.- Deine Maschine zum schnellen berechnen
großer Zahlen interessiert mich natürlich ungeheuer, wenn ich da so zusehen könnte, wie Du das
machst? Aber wie steht es denn mit den Steinen. Hast Du denn nun welche? Wie geht es denn mit
der Ausstellung in Härre? Vorläufig ist doch dieses Geschäft noch unser Anker. Hast Du nun Steine?
Schreibe mir das doch! Von P. habe ich nichts anderes gehört, als das was O. mir gesagt hat, und das
ist nur, daß P. ihm die 300 Mark zurückgeschickt hatte mit dem Bemerken, O. könnte darüber
anders verfügen. Nun hat aber O. durch Stargardt sie ihm wieder angeboten, weil er (O.) ihn (P.) in
seinem Fache noch öfter als Sachverständigen gebrauchen würde, wofür er ihm einstweilen diese
Kleinigkeit anböte. P. hat es nun genommen, was eine
[2]
rechte Beruhigung für uns sein kann.- Sage mal, strengst Du Dich auch nicht zu sehr an? Du
schreibst ab und zu von Katarrh und Husten, was soll das bei einem so gesunden Menschen, wie Du
bist, bedeuten? Was hast Du nun wieder für einen ungemüthlichen Aufenthalt! Laß nur, wir holen
die Gemüthlichkeit nach, und zwar kann man diese Göttin mit wenigen Mitteln erringen. Bei einer
behaglichen Einrichtung kommt es viel weniger, wie so oft im Leben, auf das „was“ wie auf das
„wie“ an. Darum ist auch eine Erziehung, die einem von Kind auf Manieren beibringt, so werthvoll.
Z.B. Alles Glück bei Frauen hängt davon ab, wie ein Mann ist, wie er das ist, was er ist.- Doch ich
schweife ab! Es ist keine Zeit zum philosophieren jetzt. Vorläufig gilt nur das Praktische für uns.
Vergiß nur nicht, mir zu schreiben, ob Du nun Steine hast, Du hättest das nicht vergessen sollen, Du
Bösewicht!- Welches entsetzliche Unglück in Paris! Mein erster Gedanke war sogleich, es ist gut,
daß ich Dich in Sicherheit in Härre wußte! Ich strenge vergebens mein Gehirn an, womit ich Dir
den Aufenthalt in Deiner häßlichen Stube freundlicher machen könnte! Die Blume kam wohl ganz
verwelkt an und hatte wohl außerdem den Brief noch fleckig gemacht! Solche kleinen Versuche
mußt Du mir schon gestatten, es würde mir Spaß machen zu erfahren, wie diese Kleinigkeiten
angekommen sind. Morgen fährt Lisa ab, am Sonntag unser Otto. Es hat sich wieder eine ganze
Menge Arbeit aufgesammelt, flicken, nähen u.s.w., denn mein Fleiß tritt wie alle meine Tugenden
nur periodisch auf. Du kannst bei mir alle die Tugenden finden, denen Du auf der Käferdecke
symbolisch Ausdruck gabst, nur haben dieselben, damit sie sich immer frisch und stark erhalten, bei
mir manchmal Ferien.- Agnes hat Dich übrigens nicht bei mir verleumdet. Ja, daß ich Dir es
gestehe, ich fange manchmal selbst davon an, Dich ein bischen schlecht zu machen, eigentlich wohl
aus Übermuth, sonst würden sie nie etwas darüber sagen. Von der ersten Zeit ihrer Ehe sprach sie
auch nur auf meinen Wunsch. Da erzählte sie mir, aber ohne jede Bitterkeit, daß Du Otto des
Abends immer aufgefordert hättest, „na baben“ zu kommen und sie hätte dann allein gesessen.
Erwähne ihr gegen[3]
über nur nichts davon, sonst wird die Geschichte noch groß. Du hast nie die Absicht gehabt, den
Frieden zu stören. Ein Dritter ist aber immer störend und wenn es ein Engel vom Himmel wäre. A.
ist klug genug, um im Grunde recht viel von Dir zu halten, und daß eine Frau die Pflicht, wichtigen
Interessen ihres Mannes, die außerhalb ihres Kreises liegen, nachzustehen erst üben muß, um sie
leichten Herzens auszufüllen, ist eine Wahrheit, die ich in diesen 14 Tagen, wo ich per Draht wußte,
daß Du an einer neuen Erfind. arbeitest, aber direkt garnichts von Dir hörte, ebenfalls empfunden
habe. Vielleicht bin ich etwas blind für Agnes eingenommen, aber bedenke, daß sie bis jetzt das
einzige weibliche Wesen ist aus Eurer Familie, die mir wohl will. Weißt Du, Menschen sind wie
Pflanzen. Sind sie erst einmal angewachsen, können sie etwas rütteln und schütteln wohl vertragen,
da schadet es nichts. Aber, wo sie erst Wurzel fassen sollen, muß man sie ein bischen behutsam
behandeln, sonst wird da nichts draus. So ist 's bei mir mit Agnes und Marie. Aber Deine kostbare
Zeit! So sind Evastöchter, wenn sie einmal anfangen von sich zu sprechen, hören sie nur auf, wenn
ihren Ergüssen gewaltsam ein Ende gemacht wird. Da Du mir nun diese Wohlthat nicht angedeihen
lassen kannst, will ich den beschränkten Raum dieses Bogens zum Mahner nehmen und aufhören.Mit dem Amerikanischen Aufsatz scheint mir die Sache nach Nr.II wackelig. Es widerspricht dem
ersten in vielem. Die Zeitung hätte nun meiner Ansicht nach die Verpflichtung dies „Eingehend“ zu
veröffentlichen. Statt dessen giebt sie eine Kritik einer Sache, die man garnicht zu lesen bekommt?
Partei! Das Wort, Alles, was ist, hat eine Berechtigung zu sein, gefällt mir. Liegt ein tiefer religiöser
Gedanke darin! Die Kiefern in Ottos Garten gefallen mir nicht. Stört den Eindruck des Ganzen zu
sehr. Torte mit Häringssauce kann man nicht essen, wenn auch einzeln beides gut schmeckt. O. hat
viel Noth mit dem Brunnen. Kein Trinkwasser, dabei schon 500 M. dafür ausgegeben. Am Mittw.
kauft Wally in Berlin ihre Ausstattung, ich gehe mit, um zu lernen, woraus Du gleich ersehen magst,
daß ich bis jetzt noch auf meinem Kopf bestehe. Nun zum Schluß einen Kuß
von
Deiner Anna.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/48
Berlin d.l4.Juni 1887
Liebster Gustav!
Sollten sich unsere Briefe kreuzen, so warte meine Antwort nach diesem Brief vom 14 ten ab, sonst
kommen wir nicht in Ordnung. Dein Brief vom 6 ten hat aber so vieles angeregt, daß ich mich zur
Beantwortung getrieben fühle, ehe Dein versprochener Brief eintrifft. Ich habe noch nicht die Muße
gefunden, mich in die Rechenmaschine zu vertiefen, werde dies aber nach besten, darin leider
schwachen Kräften, bei nächster Gelegenheit thun. Thatsächlich existieren schon mehrere Arten
von Rechenmaschinen. Du hast Dich doch wohl mit diesen bekannt gemacht um zu wissen, daß
sich eine Konkurrenz damit lohnt? Gestern war ich in Lichterfelde, wo ich Agnes in großer Wäsche
und Besorgniß um die Kinder traf, die den Stickhusten, aber nicht bedeutend, haben. Sie hat nun
ihre beiden Schwestern da, aber immer von häuslichen Sorgen in Anspruch genommen. Da nun ihr
Mann den ganzen Tag nicht zu Haus ist, kann sie sich ja ganz nach Gefallen einrichten. An Ottos
Geburtstag hat Niemand gedacht. Ich habe ihm eine Karte gezeichnet und geschickt,- mußte ihn
aber gestern endlich geradezu fragen, ob er sie überhaupt erhalten hätte, und da sagte er mir noch:
Eine Freude hätte ich ihm damit nicht gemacht, da er solche Aufmerksamkeit nie erwidern wird. Ich
bin wahrhaftig nicht für Formen, aber die Geburtstagsfeier ist ein Stückchen Poesie, die einen Theil
von dem in dem alltäglichen häuslichen Leben ausmacht, was einen aufrischt, einen aus der
Gewohnheit, die ein tägliches Beisammensein zu einem alltäglichen macht, herausreißt und uns
'mal wieder zu Gemüthe bringt, wie gut man sich ist. Frauen besonders besitzen in der Wahrung
vieler anscheinend unnützer unwichtiger Dinge einen Talisman, den sie, sich zum Schaden, nur zu
oft fortwerfen und noch dazu mit einer gewissen Erhabenheit, die ihren Sitz aber nicht in der Größe
ihres Verstandes sondern, ganz im Vertrauen gesagt, in der Leere ihres Herzens hat.
Du mußt eine sehr gute Idee mit dem Lesespiel haben, wenn Du Otto's gute noch zu überflügeln
gedenkst. Für den Viertelpreis? O's war ja schon so sehr billig herzustellen! Wenn Du im Interesse
Deines Strebens nach Verbesserungen die Bootfahrt unter[2]
unternehmen willst, so darf ich natürlich nichts dazu sagen. Ich würde auch nicht mich ängstigen,
wenn ich nicht mein ganzes Glück auf einen Wurf gesetzt hätte. Es giebt ein kleines Gedicht von
Göthe, das ich früher immer ziemlich dumm fand, das ich aber jetzt verstehe. (Das ist überhaupt die
Großmuth der Natur, daß sie uns für allen Schmerz in irgendeiner Weise entschädigt, wir müssen sie
nur verstehen lernen.) Es heißt: 0 brich nicht Steg, Du zitterst sehr, o stürz nicht Fels, Du drönest
schwer, Erde steh nicht stille, Himmel, fall' nicht ein, eh' ich mag bei meiner Liebsten sein!- Das ist
aus derselben Stimmung heraus geschrieben, man ängstigt sich schließlich vor dem Unmöglichen!
Marie's Brief lege ich Dir hier bei. Ich habe mich sehr darüber gefreut und werde Dich nächstens
bitten, Ihr meine Antwort zukommen zu lassen, ich will mir nur noch erst ein Bild nachbestellen.
Daß ich, wie sie schreibt, an Deiner Energie und an Deinem endlichen Gelingen nicht zweifele, ist
ganz wahr, trotzdem aber kann ich mir von der Zukunft der nächsten Jahre gar kein Bild machen.
Wie denkst Du Dir eigentlich die Lage, wenn Du, wir wollen einmal den günstigsten Fall
annehmen, nach Gewinnen der II.Instanz zurückkommst. Es ist doch dann immer noch möglich, die
dritte zu verlieren. Wir wollen einmal rücksichtslos darüber sprechen. Ehe der Prozeß nicht aus der
Welt ist, können wir nicht heirathen. Die Möglichkeit des Verlierens der II.Inst., von der Otto nichts
wissen will, ist doch da. Denke den Fall, daß Du einen Hausstand gegründet hättest und die
Entscheidung des Reichsgerichtes Dir nun das Handwerk, von dem wir leben müssen, legte! Wenn
Otto jetzt das Wagestück machen wollte und von seiner sichern Stellung zu der Gründung einer
eigenen Fabrik ohne Mittel übergehen wollte, würde ihm dies jetzt viel schwerer glücken, wie vor 8
od.9 Jahren. Ja, er würde dies garnicht riskieren. Daß er immer den Vorschlag macht, Du könntest
auf alle Fälle in Thoréns Fabrik Dich anstellen lassen, will mir garnicht recht in den Kopf. Es liegt
etwas daran, was mir absolut nicht gefällt und für Dich ein Druck werden würde. Im besten Falle
[3]
würde in den ersten Jahren das Steingeschäft nur ein Mittel sein, Schulden zu bezahlen. So gern ich
Dir eine Unabhängigkeit wünsche, immer komme ich zu dem Schluß, daß für Dich, auch selbst,
wenn Du ganz allein für Dich nur zu sorgen hättest, das Beste wäre, Du bemühtest Dich um eine
Stellung. Du kannst Dich ja leicht davon lösen, wenn die Verhältnisse es erlauben. Du würdest das
erstrebte Freiheitsgefühl viel mehr haben, wenn Du Deinen Nacken unter das Joch eines Prinzipals
beugen müßtest, als wenn Dein ganzes Wesen unter dem Druck, den Dir die von Otto
vorgeschlagene 2 deutige Stellung unter Thorén, wenn Deine und die Existenz derer, für die Du die
Verantwortung übernimmst, von den sogenannten Gerechtigkeitsgefühlen der Gerichtsbehörden
litte und abhängig wäre! Mit 800 Mk . höchstens 1000 könnten wir vorläufig auskommen.
Miete 600 Mark
Abg.
150 ''
Unter 3000 Mark würde es wohl nicht
Essen u.
gehen. Ich habe aber auch manches zu
Trinken 1200 ''
hoch gegriffen. Ich wollte Dir nur
Kleidung 300 ''
ungefähr so angeben -- was Du wahr2850
scheinlich besser weißt. Kleidung
Feuerung 100
brauchte ich z.B. im ersten Jahre gar2950
nicht, denn diese mitzubringen, wirst Du mir ja wohl erlauben. Mach, daß Du aus Harre
herauskommst! Da ist man in dem geschmähten Deutschland doch weiter! Was Du Dein
Steckenpferd nennst, verdient eine bessere Bezeichnung, denn eine Spielerei wie dieses ist es nicht.
Natur hat zu tief in den Vorrath gegriffen, als sie Dir ihr Theil Schaffensdrang zuertheilen wollte.
Sie hätte davon 10 Menschen speisen können. Mir nicht unlieb. Aber Du mußt nun auch bedenken,
daß sie um auszukommen, bei denen, die nach Dir kommen, zu denen auch der Jahrgang von 1858
gehört, knausern mußte!-Wenn Du später einmal bei unserem gemeinschaftlichen Arbeiten Deinen
Mund so viel gebrauchen willst, werde ich meine Hand, und zwar die rechte, stärkere gebrauchen!
Da vorläufig noch keine Gelegenheit dazu ist, will ich Dir heute einen ganz sanften wehmüthigen
Gruß senden. Wie konnte Deine Großmama so etwas sagen!
[4]
Soeben zieht das erste Gewitter herauf, Blitz und Donner auf einmal! Unser Mädchen kommt ganz
erschreckt aus der Küche. Erde, steh nicht stille, Himmel fall' nicht ein, eh' ich mag mit meinem
Liebsten sein!
Ich habe hier etwas für Dich fertig, was Dich freuen wird. Jetzt ist es bald ein Jahr her, daß wir in
der Ausstellung waren! Wie schnell die Zeit vergeht!
Deine
A.
Papa ist nicht guter Laune, seine
Papiere sind gefallen. Das kann
uns nicht passieren!
Entschuldige die Verunstaltung von
M's Brief. Aber was thut man nicht
alles um 20 Pf.! Ann.
Immer über 15 Gr! Wie unpraktisch
so schweres Briefpapier wie das von
Marie's Brief!
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/49
Berlin d. 22. Juni 1887
Theurer Gustav!
Schon öfter als 1 x ist mir die Versuchung gekommen, Dich für Dein langes Schweigen und die
große Angst und Unruhe, die Du mir dadurch machst, abzustrafen, indem ich Dich nun auch so
lange warten lasse. Leider aber fehlt mir ein Sinn, den man „Nachtragen“ nennt und somit aber auch
das Mittel, Dich zu bessern. Du kannst Dir wohl garnicht denken, wie ich in diesem letzten
Zeitraum auf Nachricht von Dir gewartet. Dein letzter Brief mit dem Versprechen, bald zu
schreiben, war am 6 ten geschrieben. Seitdem weiß ich Dich in einem von ansteckender Krankheit
heimgesuchten Hause - und mit der Erlaubniß, Wasser fahren zu dürfen. Außerdem hatte ich eine
Menge Fragen an Dich gerichtet, manche schon zum dritten Male, glaube ich und da glaubte ich
wirklich, Du würdest mir eher schreiben. Da ich nun aber täglich vergebens wartete, kam ich in
meiner Einsamkeit auf schwarze Gedanken, die sich, je länger Du mich auf Nachricht warten
ließest, steigerten. Erst gestern Abend, am 21 ten wurde ich von meiner wirklich gräßlichen Unruhe,
Dir könnte irgend ein Unglück zugestoßen sein, befreit. Nun läßt aber auch die Spannung nach und
ich bin heute trotz der Freude über einen so lieben Brief, wirklich nicht wohl. Du brauchst nicht
lange zu schreiben, aber laß mir nur auf irgend eine Weise ein Zeichen zukommen, daß Du Dich
wohl befindest und nicht besondere Gründe vorliegen, die Dich schweigen lassen, wenn Du 1 x
extra lange, wie dieses x Dich in dieser „goldenen“ Kunst übst. Ich kann es nämlich wirklich nicht
vertragen, sonst sind es zuviel der Worte über diesen Punkt! Ich bin weder robust noch habe ich
eine Ahnung von Fischblut in mir!- Beinahe etwas ängstlich macht mich Deine ungeheure Energie
und wenn Du schreibst, Du hast Deinen Körper so ziemlich in der Gewalt, so fühle ich, daß ich
darin nicht mit Dir mit kann. Ich erstrebe dies ja auch, aber fühle doch bald eine Grenze. Du mußt
Dir nicht zuviel von meiner Stärke darin versprechen.
[2]
Man muß doch, wie Du, schon von Kind auf so gezogen sein, um erwachsen, es so weit bringen zu
könnnen. Menschen sind wie Bäume! Ich fürchte mich vor keiner Arbeit, aber Ruhe dazwischen
wenn auch wenig, aber so absolute Ruhe, in der ich mich selbst um weiter nichts als mich selbst,
finden und betrachten kann, ist mir ein Lebensbedürfniß, das mir die Fähigkeit zum Weiterstreben
wiedergiebt, wenn sie einmal erlahmt. Denke Dir es nicht so leicht! Es ist anders, eine Frau oder
einen guten Kameraden zu haben. Unsere und Eure Naturen können zusammenleben und sichergänzen und sich verstehen, aber vollständig im Leben zusammen gehen können sie nicht. Und ich
bin zwar, wie ich glaube, eine gesunde und zähe Natur, aber keine robuste, wie ich es körperlich
von Marie und geistig von Agnes glaube. Ich werde Dir Liebster vielleicht in manchen Stücken
förderlich, aber auch oft hindernd zur Seite stehen. Mir ward durch Erbschaft eine Gabe, die mich
stolz macht, weil sie nicht oft einem bescheert wird:(Laß es arogant klingen, ist mir egal!) Ich kann
das Wesen der reinsten wie soll ich sagen - der - nun eben der reinsten Kunst verstehen, der Poesie.
Aber ich bin der Meinung, diese Fähigkeit erkauft und erhält man sich nur durch ein gesteigertes
Empfinden, durch ein leicht vibrirendes Nervensystem! Sie verschafft einem mehr als irdische
Genüsse - aber sie macht uns auch empfindlich und empfänglich für jeden Mißklang, jeden
unzarten Ton, der aus Menschenseelen hervordringt. Versteh' mich recht, ich meine natürlich Ton in
höherem Sinne.- Aber ich reite auf meinem Steckenpferde herum und das sind Selbstbetrachtungen.
Ich wiederhole Dir , denke Dir es nicht so leicht mit mir und vor Allem glaube mir, daß Du oft
Schonung wirst anwenden müssen, wo Du auf die Energie Deiner Frau rechnen zu können glaubst.
Du bist die deutsche Eiche, ich bin eine Waldpflanze darunter – sieh wie verschieden die weise
Fürsorgerin Natur für beide sorgt!
Härre macht nach dem kl. Bild einen großartigen Eindruck. Diese Bilder täuschen aber sehr. Wir
werden jedenfalls ehe Du zu Papa gehst, nach Deiner Rückkehr in Lichterfelde erst vernünftig
unsere Angelegenheiten besprechen. Von dem thätigen
[3]
Antheil, den ich an dem Geschäft nehmen sollte, reden wir dann auch besser mündlich. Nimm es
mir nicht übel, wenn ich nicht mit „Ja“ antworten kann. Ich sage ja auch nicht „Nein“. Natürlich
weiß ich, daß es „legale“ Sachen sind. Ohne dieses Vertrauen, was wäre meine Liebe zu Dir! Aber
ganz offen, mir ist das Vertrauen zu den Vorschlägen, überhaupt zu allem, was in's Juristische Fach
schlägt, theils durch jahrelange Gewohnheit und den Einfluß von Hause, theils durch die letzten
Ereignisse, die Euch betreffen, so erschüttert, daß ich große Angst habe, Ihr könntet einen Punkt
übersehen, der verhängnisvoll ist. Aus diesem Grunde kann ich noch nicht, und gölte es Deine gute
Meinung von mir, direkt Ja sagen. Ich werde aber keine Gelegenheit vorübergehen lassen, mich auf
diesem Gebiete zu unterrichten. Sollte ich Dich ärgern, so denke, daß ich selbst ja am meisten
verliere, wenn ich auf Deinen Vorschlag dummer Weise verzichtete, der uns ja aus aller Noth hülfe
und uns an das ersehnte Ziel brächte!- Mit Viktor sprach ich neulich über Rechenmaschinen.
Weshalb? fragt er. Hat Gustav L. eine konstruiert? Nein, lüge ich, aber Lilienthals haben früher 'mal
so eine Idee gehabt. Da sagt mein vorsichtiger Viktor: Ach, da soll er man nichts hereinstecken, die
hat man ja schon so viel! Näher beschreiben konnte er mir aber nur eine, die er gesehen hat. Da
steckt man oben die Aufgabe hinein und unten kommt das Resultat heraus. Ich hatte den Eindruck
einer Wurstmaschine und war ebenso klug. Ernst Lange aber, der Vorsteher eines Bureaus hier sagt
aber neulich: Sage mal, wenn Lilienthals solche technischen Genies sind, so sage ihnen doch, sie
sollen mal eine Multiplikationsmaschine erfinden! Aus den Musikstunden bei Weiss wird nichts,
das weiß ich schon. Außerdem habe ich jetzt einige angenehme Arbeiten vor. Für Wallys Hochzeit
im August male ich ein Album. Und dann will ich Marien mit einer größeren Handarbeit zum
Ausschmücken ihren kahlen Hauses irgend eine Freude machen. Oder sind wohl leichte Kleider für
den Jungen angebracht? Ich bitte um Antwort! Auch will ich nun absolut wissen, wie die kleinen
Sachen, so kleinlich sie Dir auch vorkommen, angekommen sind. Ich bitte um Antwort! Schickt
sich
[4]
das? Warte, ich schicke Dir nie mehr etwas!
Zu Deinen Bestrebungen wünsche ich Dir alles Glück. Möchtest Du so glücklich im Leben sein,
wie Du es verdienst. Soeben hat mich die liebe Wally verlassen, es war mir ein ordentlicher Genuß,
mich einmal aussprechen zu können. Du bist aber dabei ziemlich schlecht weggekommen,
wenigstens gestern, wo ich noch keine Nachricht von Dir hatte. Vergiß nicht, mir Mariens Brief zu
schicken, ich will ihn beantworten. Überreize Dich nicht mit dem ununterbrochenen Grübeln, es ist
schon oft vorgekommen, daß sich schließlich eine Schraube löst und ein Draht reißt, wo man es am
allerwenigsten erwartet. Raunt Dir von den kleinen Kobolden, die in Deiner Klause geschäftig sind,
nicht auch mal einer zu: Ist's denn wirklich ein Gelingen, solch ein Anni zu erringen!
Nun ade.
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/50
24.6.1887
Liebster Gustav!
Mir war neulich sehr schlecht zu Muthe, als ich Dir schrieb. Nun habe ich heute so ein unsicheres
Gefühl, als ob mein Brief wieder einmal einer von denen war, die besser ungeschrieben blieben.
(Aber das, was ich über Dein langes Schweigen sagte, bleibt voll bestehen.) Ich will überhaupt
nichts groß widerrufen, denn ich weiß meine Worte garnicht so genau, aber mir ist nachher noch
manches eingefallen, was ich Dir sagen möchte.- Ich habe gestern Abend mich in die
Rechenmaschine vertieft und bin in ihre Geheimnisse nach Kräften eingedrungen. Es war ein saures
Stück Kopfarbeit. Ich beuge mich vor Deinem kräftigen Verstand, der so Schritt vor Schritt zum
logischen Ziel kommen kann! Ja, dabei gilt kein Sprünge machen, was ich so gern thue, mit
Empfindung und Fantasie, meine beiden Hülfsmittel, auf die ich mir etwas zu Gute that, stiegen
herunter von ihrer Höhe. Es ist eine mir völlig ungewohnte Art zu denken, wenn ich Dir so auf dem
Wege der Maschinen (wird denn eigentlich Maschine mit ie od. blos mit i geschrieben?) folgen
will.Aber ich werde es lernen. Wenn Du mich ein bischen zähmen könntest mit „dem kleinen
Druck“ von dem Du sprichst, ich glaube, das würde mir sehr gut sein. Du glaubst nicht, wie es oft
innerlich in mir kocht. Die Wolken möchte ich manchmal durchdringen - und schaffe mit diesem
kühnen Streben nichts, als höchstens einen ganz kümmerlichen Vers. Meinem Verstand fehlt, glaube
ich, die Ordnung. Ich bin ganz glücklich, doch noch soviel herausgekriegt zu haben, daß ich so
ungefähr mit der Maschine Bescheid weiß. Was nennst Du „die Vielfachen des kl. l x 1?- Ich spende
Dir willig den Lorbeer, daß Du so weit gekommen bist. Da wir aber von Lorbeeren nicht satt
werden können, so wollen wir 'mal zusehen, was die eventuellen Abnehmer der R.M. sagen würden.
Ich denke mir, sie würden meinen, das Rechnen auf diese Weise erfordert nicht viel weniger Zeit als
der Kopf eines geübten Rechners. Erstens müssen sie sich ihre Aufgabe nicht nur im Gehör, sondern
auch so, daß sie sie zu sehen glauben, ich meine kurz die äußere Form eines Exempels
[2]
einprägen. Also z.B. nicht etwa 4591 x 236 sondern 4591 und dann das Zergliedern: 1 x 6 - 9 x 6 x 236
5 x 6 u.s.w. Dann erfordert das Aufsuchen der Knöpfe, horizontal und senkrecht auch Zeit. Wegfällt
eigentlich nur die Addition, und das geht am schnellsten. Mir ist's immer als ob das, was Du
Außenansicht nennst, eigentlich noch ein Inneres sein müßte, eine Art von Zwischenwand. Sieh'
Dir doch 'mal diese Seite ganz allein an, vielleicht fällt Dir noch daran irgend eine Vereinfachung
für den Rechner ein. Mir schwebt so eine mathematische Geschichte vor - - - ich habe gut reden
nicht wahr?
Was nun die Geschichte mit dem A.R. u. G.L. betrifft, so ist mir die Tragweite einer solchen
Handlung ganz unbekannt. Unklar dabei ist mir, ob Du unsere Namen nur abkürzest oder ob
dieselben überh. nur als Chiffre gelten sollen. Mein Name wäre ja dann doch nicht mehr A.R.? Wir
müssen dies mündlich besprechen. Wann wird dies sein? Heute lese ich in der Zeitung , die
Gerichtsferien dauern vom 15.Juli bis - Ende oder Mitte September. Vermuthlich wird der Termin
erst nach den Ferien sein. Einige unaufschiebbare Sachen werden auch in den Ferien verhandelt so
z.B. „Sachen mit einstweiliger Verfügung“. Heißt das auf gut Deutsch, auch solche, die der Euren
gleicht? Schicke mir nun bald Maries Brief. Mein Bild habe ich schon besorgt.- Das Radfahren
braucht Du Dir nicht abgewöhnen, das ist kein kostspieliges Vergnügen und für mich eine Freude,
Dich fahren zu sehen. Aber ich werde mir wohl das Schreiben abgewöhnen müssen, ich habe
ungefähr schon 1200 Pfennige für Marken nach Frankreich ausgegeben. Doch das wird mir nicht so
schwer werden, wenn Du erst bei mir bist. Bei mir bist, ich glaube schon garnicht mehr daran. Aber
diese ganze Nacht habe ich von Dir geträumt.
Lebe wohl, Hoffnung wird uns ja nicht ewig zum Narren halten.
Deine A.
Berlin d. 24.Juni 1887.
In Antwerpen hat sich eine Aktienges. gebildet, die frisches Fleisch aus Australien in eigens dazu
gebauten Dampfern importiert. Der erste Dampfer enthielt 7058 Hammel, 950 Lämmer und 1100
Hammelkeulen. Kann dies nicht von Einfluß auf die Landwirthschaft in Neu-Seeland sein?
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/50a
Berlin d.l.Juli 1887
Liebster Gustav!
So greife ich denn wieder zum letzten Bogen meines Papier-Vorrathes! Möchte es doch der letzte
sein! Aber da wird wohl noch mancher Bogen verschrieben werden, zwischen uns beiden die
Verbindung aufrecht zu erhalten.- Vor allem habe herzlichen Dank für Deine beiden Briefe! Wie
Deine Verhältnisse jetzt stehen, sind vielleicht die Briefmarken, die Du mir opferst, schon eine
Ausgabe für Dich? Wenn es irgend geht, bitte ich Dich aber doch, es so einzurichten, daß ich
ungefähr alle 8 Tage Nachricht von Dir habe.
In Frankreich trifft man ja allerhand Vorkehrungen, den Ausländern den Aufenthalt in diesem
gelobten Lande zu erschweren. Natürlich gilt dies in doppeltem Maße von den Deutschen und
werdet Ihr wohl auch davon zu merken bekommen. Mir geht es wieder besser. Ich habe
augenblicklich keinen Hang zum Philosophieren noch zu Gedichten und das ist für mich immer der
beste Beweis, daß hier innen alles in Ordnung ist. Singen thue ich jetzt sehr wenig, ich habe absolut
keine Lust dazu, aber das Spielen lasse ich nicht ganz liegen. In dieser Zeit, angeregt durch Deine
Aufforderung, habe ich eine Weile gründlich geübt, auch Fingerübungen, aber ich bin doch zu dem
Endschluß gekommen, daß meine Begabung dafür nur gering ist. Nun habe ich den Kram von
Übungen bei Seite geworfen als etwas , „das Hans nimmermehr lernt“, und beschränke mich darauf,
nette leichte Stücke möglichst gut spielen zu können. Mehr ist Thierquälerei! Das Album für Wally
verspricht nett zu werden. Ich möchte aber Deinen Rath einmal hören. In der Mitte ist ein Bild, eine
Kindergestalt mit Blumen beladen, darstellend Haideröslein. Die Umrandung der ganzen Platte
besteht in einem reichen Ornament, das rahmenartig wirkt. Nun ist aber das Bild nicht den
Verhältnissen dieses Rahmens entsprechend geformt und hat an und für sich wieder gerade so
anmuthige Form , daß ich es nur ungern verändern möchte. Das Verhältniß ist ungefähr so: --Kannst Du es Dir nun nett denken,der
besser gesagt: Ist es
richtig, wenn ich die beiden
sich oben und unten als
leer ergebenden Stellen getrennt
von dem Ganzen, vielleicht
mit einem Querornament ausfülle? Gieb mir mal
einen Rath. Wie gesagt, das Bild möchte ich nicht ändern.-Das
[2]
Ornament ist von bewegten, lebhaften Formen. Schreibe mir doch bitte auch, ob das Klima in Neu
S. so beschaffen ist, daß der Junge überhaupt wollene Kleidchen tragen kann, oder ob nur Kattun,
oder - vielleicht garkeins? An die Chokolade sowie an die Blumen habe ich Dich nicht erinnert, um
den fälligen Dank dafür einzukassieren. Es macht mir Spaß, in dieser Weise zu experimentieren,
was man alles im Briefe schicken kann, und rein aus diesem Interesse will ich wissen - nicht ob sondern wie die Sachen angekommen sind. Es ist die Worte über diesen winzigen Punkt garnicht
werth, aber ich will hierin meinen Willen haben, der Wissenschaft wegen. Also das nächste Mal
schreibst Du mir wie!
So verschieden die Menschen sind, glaube mir, sieht auch die Liebe eines Jeden aus. Du meinst, wo
keine Liebe ist, da sieht man die kleinsten Fehler und Schnitzer. Mir geht es gerade umgekehrt. So
lange ich mich für einen Menschen nur interessiere, wie z. B. für jenen Mann aus Australien, den
Du noch besser kennst wie ich, habe ich an seine Fehler garnicht gedacht, erst als ein wärmeres
Gefühl für ihn entstand, wurde ich, wie Du sagst, hellsehend. Für jeden kleinen Fehler, den Du
machtest, z.B. einmal beim Singen mit Otto, dann in dem Avis, das nach Leipzig wandern sollte,
wie habe ich mich da an Deiner Statt geärgert! Wenn also Deine Liebe blind sein sollte, so wäre das
für mich ja ein großer Vortheil, aber rechne man nicht darauf, daß die meine auch so ein Invalide ist,
der nicht sehen kann! Wenn mir nicht im Ehestandskrieg ein Sinn zum Krüppel wird , was in
Deinem Vergleich mit einer Festung ganz gut paßt, so rechne nicht auf meine Gnade. Der Mann
wird nicht erst zum Mann, wie Du meinst, nein er muß sich der Frau gegenüber immer als ganzer
Mann bethätigen. Der Frau gab die Natur Euch gegenüber eine Waffe, und das ist die List einer
Schlange. Und diese Schlange wohnt in jeder rechten Evastochter, und Dein „heller Stern“ hat ein
tüchtiges Stück davon. Otto will von einem intellektuellen Unterschiede zwischen M.u.F. nichts
wissen. Aber wieviel Frauen kennt denn auch Otto! Wie könnten wir uns denn ergänzen, wenn wir
nicht
[3]
verschiedene Naturen wären!Mundt's Verhältnisse haben schließlich ihre Ordnung gefunden, ohne daß Wally ihren Namen
hergeben brauchte. Wir sprachen über Deinen Fall und sie meinte, sie würde an meiner Stelle einen
solchen Schritt ohne Bedenken thun. Ich kann nicht glauben, daß R. Thorén garnichts anhaben
kann. Ihr habt nur ein Patent auf Stronzian-Kitt! Auch ein Beispiel zum deutschen Schneckengange:
Vor einem Viertel Jahr stürzte ein armer Dachdecker, der in unserem Hause wohnte, vom Dach und
brach das Genick. Nun existiert für seine Witwe eine sogen. Versicherung. Aber was hat die Frau
für Mühe, ihr gutes Recht zu bekommen! Noch jetzt hat sie das Geld nicht, sondern unaufhörlich
Laufereien, Termine, Verhöre u.s.w., die ihr die Zeit und somit einen großen Theil ihres Verdienstes
nehmen, die ihr natürlich Niemand ersetzt. Über meine Empfindungen, als ich die Ankündigung
von den Gerichtsferien las, schweige ich. Allmählich könnte man ja anfangen, sich recht
unglücklich zu fühlen, wenn einem der Trotz nicht eine Widerstandskraft gäbe! Und dann, wenn so
ein Brief von Frankreich kommt, in dem sich so Alles Feste und Gute und Schöne, was der Mensch
nur haben kann, ausspricht, zu mir sich ausspricht, kann man da etwas Anderes fühlen, als ein
reines, ein großes Glück!? Wenn ich nicht irre, war es der 2 te Juli, der Tag in der Ausstellung.
Morgen wird es ein Jahr und ich kann nun alle die schönen Tage, die danach kamen, in der
Erinnerung noch einmal durchleben, schöne, wenn auch kurze Tage hinter mir, schönere vor mir,
das vergoldet wohl auch die trübste Gegenwart. Das danke ich nun wieder meiner Fantasie.- Den
Künstler geht es wie den Gelehrten, um auf eine Stelle Deines Briefes zurück zu kommen. Sie
werden auch nicht verstanden, vielleicht noch weniger als die Gelehrten, weil die Gel. auf den
Verstand rechnen, die Künstl. aber auf das Gefühl rechnen. Und ich wenigstens finde den ersteren
mehr gepflegt und verbreitet als das feine, richtige und tiefe Gefühl.
Ich werde an Marie am Montag früh absenden und mir die Adresse via Triest von Otto machen
lassen. Schreibe mir bald und vergiß nicht das Australische Klima mir zu melden.
[4]
Ich glaube, aus dem kleinen Otto wird mal ein großer Otto. Der Junge ist garnicht wie andere
Kinder, hat Hang zur Einasamkeit, ist lebhaft nur bei seinen Büchern und Studien. Er sitzt in der
Schule der Erste worauf Agnes nicht wenig stolz ist. Endlich haben sie nun Trinkwasser, ich glaube,
sie haben gebohrt, bis sie fast auf der anderen Seite der Erde wieder herauskamen. Immer gründlich
wie Lilienthals überhaupt. Lebe nur nicht zu schlecht und stelle Deine Gesundheit auf keine zu
große Probe. Das Schicksal ist doch zu hart - doch nun ade. Gedenke meiner, ich thue Dir ein
Gleiches täglich, stündlich!
Immer
Dein
Ann.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/51
Berlin d.8.Juli 1887
Mein lieber Gustav!
So bist Du wieder in Paris angelangt! Wenigstens vermuthe ich es nach Deinem letzten Briefe.
Vermuthlich wirst Du nun eine andere Wohnung beziehen, als die alte in der Rue d'Amande, (oder
so ähnlich). Ach nein, da wohnte Papa.
Erwarte in dieser Zeit von mir keine besonderen Briefe, so lange die Gerichtsferien dauern, sind mir
so recht alle Nerven durchschnitten! Nun tritt die Verpflichtung an mich heran, zu Wally's Hochzeit
ein kleines Stück, das Klara Hanscher und ich aufführen wollen, zu schreiben, und mir fehlt ganz
der Sinn jetzt dazu. Deinen letzten Brief holte ich mir aus Lichterfelde am Mittwoch! Du magst hin
und wieder auf das meinen Brief einschließende Papier schreiben: Sogleich zu bestellen od.so
etwas! Die Mühe, den Brief bald in den nahen Kasten zu stecken, scheint mir in einem Hausstand
von 4 immer anwesenden weiblichen Personen nicht zu groß, sie zu beanspruchen zu sein! Otto
fühlt sich nach seinen oft wiederholten Aussagen „riesig“ wohl in Lichterfelde. Nun haben sie
Hühner, Tauben, einen Igel, auch mit dem Gedanken an eine Ziege gehen sie um. Agnes und ihre
Schwestern pflanzen Kohl und alle Arten von Gemüse. So schön dies alles klingt, so möchte ich
doch einmal ein kleineres Grundstück haben, das, um es auszunutzen, mich nicht zu Gemüsebau
verpflichtet. Einen pekuniären Vortheil hat dies nicht, im Gegentheil. Ich kann mir auch denken,
daß es ganz nett ist, seinen eigenen Kohl zu pflanzen, aber es giebt doch vieles, was noch netter und
in meinen Augen auch noch wichtiger ist, und dafür bleibt absolut keine Zeit. Ich habe neulich
einmal die Rede darauf gebracht, stieß aber auch bei Otto auf entschiedenen Widerspruch. Ich
glaube, das Bedürfniß nach der Beschäftigung mit „dem Höchsten“ ist ihnen durch lange
Gewohnheit schon ein bischen verloren gegangen. Doch da ist mir ein Wort entschlüpft, das Unheil
anrichten kann, könnte, wenn ich nicht wüßte, daß der, für den es bestimmt ist, mich immer richtig
und immer mit Güte und Milde beurtheilt. Und im Vertrauen darauf will ich Dir noch etwas sagen:
Ich denke mir unseren Hausstand und unser Zusammenleben
[2]
doch noch ein bischen - anders, unsere Häuslichkeit muß eine andere Phisionomie, meinetwegen
auch, um mit Fremdworten fortzufahren, eine andere Psychologie haben, als die, welche Agnes mit
so gutem Willen zu schaffen bemüht ist. Überhaupt weiß ich garnicht, ob ich es besser machen
werde. Besser nicht, aber anders, darauf kannst Du Dich verlassen. Fritz ist ein sehr
liebenswürdiges Kind und immer vergnügt. Anna wird jetzt so mädchenhaft. Jetzt sitzt sie in
gerader Haltung neben der Mama auf dem Sopha wie eine Dame und fragt dann ebenso gesetzt wie
diese: Was sagtest Du? was wolltest Du? u.s.w. Sie ist sehr manierlich, das kleine Wesen!- Sehr
danke ich Dir für die Zeichnung, die ich fast ganz so benutzt habe, wie Du sie entworfen. Was Du
über die List der Frau u. die Biblische Auffassung schreibst, gefällt mir nicht. Erstens wollte ich
nicht sagen, daß ich jemals die Absicht habe, Dich zu überlisten. Unsere Natur ist im Vergleich mit
Euch darauf mehr gerichtet. Hier gebe ich zu, daß man nicht aus freiem Willen, sondern von
unfaßbarer Macht getrieben handelt. Die Bibel steht mir als Hort der Religion nicht so hoch, als mir
dieselbe als ein kulturgeschichtliches Werk, das urälteste, als Ausdruck vieler, tief in der
menschlichen Natur begründeten Wahrheiten, interessant ist! Das ist sie von Anfang an gewesen
und erst die Kirche hat sie für ihre Zwecke benutzt, und vieles dabei verdorben. Wenn man aber die
Spreu vom Weizen sondert bleibt ein urgesunder Kern, der nicht zu verachten ist. Wenn doch
einmal erst so ein Wintersonntag-Nachmittag gekommen wäre, an dem wir uns zu gemeinsamen
Studien vereinen könnten in allem, was der Menschen reger Geist geschaffen hat! Das Interesse und
ich darf sagen das Verständniß für Literatur (das Du allerdings den Menschen als Gemeingut
gehörig betrachtest) liegt in Papa's und meiner sel. Mama Familie. Und wenn auch beider
Neigungen leider so auseinander darin gingen, daß auch in dieser Beziehung kein rechtes
Zusammenleben möglich war, so ist doch uns Kindern eine Anregung dazu schon von Klein-auf
von beiden Seiten zu Theil geworden. Wie gönnte ich Agnes und Otto einen tieferen Blick in die so
hochinteressanten Entwicklungsgeschichten der Völker u.s.w., aber Du sollst sehen, sie werden nie
die Zeit dazu
[3]
haben! Du mußt nun nicht denken, daß ich darin mich für besonders beschlagen halte, aber schon
mit dem bloßen Streben erreicht man viel. Kommen wir denn überhaupt weiter, als zum Streben?
Verzeih'- und wenn ich zu viel sage, so denke, daß ich es nicht arg meine. Mache ich einmal
schlimme Streiche mit der Feder, so wirf die Schuld dem Schicksal vor, daß mich noch immer
darauf anweist, sie zu gebrauchen als einziges Hilfsmittel meiner Verbindung mit Dir. Wie
manchem Wort würde zur rechten Zeit durch einen Blick von Dir Halt geboten werden können.
Aber wo ist diese Fessel? Frei und zügellos wie ich noch bin, macht mein Denken die gewagtesten
Sprünge und bricht sich dabei wohl 'mal ein Bein!- Marie schickt das Bild ihres Jungen an Agnes.
Ein netter Junge! Mir gegenüber ist sie noch immer voll Vorsicht. „Sie scheint ja ein ganz gutes
Mädchen zu sein.“ Meinen Brief mit Photographie habe ich am Montag Nachmittag abgeschickt.
Wann muß an Marie spätestens abgeschickt werden, damit sie die Kiste zu Weihnachten erhält?Vom Geschäft heut garnichts! Was soll ich auch darüber schreiben. Daß Ihr durch Stronzian Patent
geschützt seid, glaube ich, weil Du es sagst, aber einsehen und begreifen kann ich es nicht,
Immer
Deine
Ann
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/52
18.7.87
Liebster Gustav!
Bei der mühsamen und etwas verdrießlichen Arbeit, die ich mir mit Wally's Album mache und die
mir, wie heute, durch meine eigene Dummheit, die mich ein verunglücktes Farbenexperiment
machen ließ, doppelt blüht, denke ich immer an Deine Unverdrossenheit und Ausdauer, die ich noch
lange nicht erreiche, wenn ich ohne Murren wieder die Arbeit von vorn anfange, und so wird mir
die Sache viel leichter!- Noch einmal so gern richte ich meine Briefe nach England. Ich habe mich
bei Deinem ersten Brief, der mir Dein Entrinnen aus dem Lande der grande nation berichtete, sehr
gefreut und hätte Dir am liebsten gleich geschrieben - aber wohin? Es ist ordentlich, als verspüren
wir wieder einen frischen wohlthuenden Luftzug, nicht wahr? Wie freue ich mich, daß Du
wenigstens wieder einige angenehme und freundliche Eindrücke erhältst, und wenn dieselben auch
von einer jungen Dame ausgehen, ich bin nicht eifersüchtig! In London hast Du jedenfalls Deinen
Freund B. besucht und hast Dich einmal wieder aussprechen können.- Also auf Deinen Wegen quer
und durch London muß ich überall mit? Nun weiß ich auch, wovon ich manchmal so müde bin! Du
schreibst, Du hast erst 25.000 Steine verkauft, ist das nicht eine ganz hübsche Zahl? Mit der
Nachricht, daß P. diese Steine als absolut anders, sowohl nach Masse als nach Einrichtungen
definitiv erklärt hat und daß in Folge dessen der Termin auf den 28 ten Oktober festgesetzt ist, sage
ich Dir gewiß nichts Neues, denn da ich diese Nachricht schon am Donnerstag hatte, wirst Du durch
Otto schon davon unterrichtet sein. Ich saß gerade unten in der Laube, als Otto mit den Akten, die
dies schwarz auf weiß bewiesen, ankam. Er hielt sich bei einem Glas Bier dort unten bei mir
längere Zeit auf und wir verlebten seit langer Zeit wieder einmal eine glückliche Stunde. Otto kam,
sanguinisch wie immer, gleich mit den Worten an: Der Prozeß ist gewonnen - -. Nun so weit sind
wir noch nicht! Dich möchte ich auch recht dringend bitten, nicht die Besonnenheit und das uns in
dieser Sache noch sehr nothwendige kalte Blut zu verlieren, denn es geht darüber noch mancher
Tropfen
[2]
in's Meer und die Erwartungen und Hoffnungen sind uns darin ebenso trügerisch als dem Landmann
die auf eine gute Ernte, wenn das Korn gut aufgegangen ist. Wenn nun die Gerichte wieder den
Contrakt so auslegen, daß Ihr überhaupt keine Steine machen mehr dürftet, ist P.'s Behauptung,
diese wären anders, von keinem Einfluß! Aber es ist immerhin ein Lichtstrahl und wir können uns
getrost von ihm wärmen, nur nicht blenden lassen. Ich habe ordentlich Angst, mich in eine sichere
Hoffnung hineinzuwiegen- und trotz dieses Widerstrebens hat sich mich doch so viel erfaßt, daß ich
wieder neue Lebenskraft und Frische geschöpft habe. Wie es auch kommen mag, eines ist sicher:
Wir werden diesen Winter wieder zusammen Schlittschuh-laufen! Ich habe mir gestern schon die
Schwedische Eisbahn daraufhin angesehen. Jetzt sieht sie allerdings nicht sehr danach aus, aber
dieser Sommer muß zu Ende gehen- ich werde ihn ohne Betrübniß scheiden sehen. Schnee und Eis
wird dieses Jahr mein Herz aufthauen, widerspenstig wie es ist, erlaubt es sich, selbst der Natur
entgegen, sich so zu benehmen.- Mitte August wird W's Hochzeit wohl erst sein können. Von
Eberswalde aus fahre ich dann mit nach Stettin und komme vor dem September nicht wieder. Klara
wird mir wohl etwas mit Neckereien zusetzen, schadet aber nichts.
In der Fabrik machen sie jetzt das Pyth. Spiel. Möchtest Du diese Steine nicht mit Mustern versehen
im türkischen oder assyrischen Geschmack? Otto meint, gravierte Stempel oder so - Du wirst schon
wissen. So ein Krimskrams Muster in Linien, fortlaufend, bis eine am Rand aufsteigende scharfe
Kante dasselbe unvermittelt abschneidet, müßte gut wirken. Die Stronzianmasse soll ja wunderbar
hart sein, da läßt sich später gewiß alles Mögliche daraus formen, z.B. Damenbrett-Steine u. dergl.
Wie geht es denn bei Dittmars. Verspricht das Geschäft etwas in Paris? Hat Dittmar guten Muth?Daß unsere Neigungen übereinstimmen, wußte ich schon, als Du noch in Melbourne warst. Wenn
ich an diese wunderbare Fügung denke, so ist es mir wie ein Traum! Durch welche Klippen ist mein
Lebensschiff glücklich hindurchgesegelt!- Wenn es
[3]
so kleine Baustellen nicht geben sollte, so nehmen wir, wenn die Mittel so weit reichen, eine
größere und geben das übrige Land für ein billiges an einen Gärtner ab, meinetwegen unter der
Bedingung, daß er uns das Gemüse frei liefert - bis wir es an jemand, der auch nach einem kleinen
Grundstück sucht, verkaufen können. Auf dem anderen Theil aber bauen wir uns ein Luftschloß,
denn so weit sind wir noch lange nicht! Wie schön, daß Du in England bist, England, das Ziel
meiner Wünsche! Jetzt mehr wie je! Was bist Du für ein veränderliches Wesen! Im Anfang unserer
Bekanntschaft „Herr“, dann wurdest unter Französischem Einfluß Monsieur und nun bist Du Mister
Lilienthal. Ich habe nichts dagegen, wenn Du wieder zur ersten Metamorphose zurückkehrst, denn
das Ende vom Liede wird doch für mich sein, wie der Anfang, Du wirst „mein Herr“ werden. Rede
nicht dagegen, ich weiß, was Du sagen willst! Oberster soll er sein, anders geht es nicht. Bitte, fahre
fort, so pünktlich zu schreiben, wenn Du auch nicht lang schreiben kannst. Die Braut meines Vetters
in Brasilien ist noch in Berlin. Sie ist ein sehr kluges interessantes Mädchen, die große Ansprüche
an das gesellschaftliche Leben machen kann. Erinnert an Wally! Meine Wally möchte sie doch
glücklich werden! Ich zweifle bei jedem Mädchen, das sich verheirathet, jetzt daran, weil ich mir
einbilde, daß der Beste nicht mehr im Stande ist, eine von ihnen glücklich zu machen, denn dieser
Eine ist schon für die Lebenszeit dingfest gemacht von
Deinem
A.
Berlin d.18.Juli 1887
Über Marie gräme ich mich nicht mehr, sie meint es gut mit mir, das fühle ich jetzt heraus.
Außerdem hat die Arme ihre Last. Wenn Du bei Deinen Wanderungen an mich denkst, so begegnen
sich unsere Gedanken, dessen kannst Du sicher sein.
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/53
d. 20. Juli 1887
Abends spät!
Liebster Gustav!
Heute habe ich mir Deinen lieben Brief aus L. geholt. War mir eine große Freude. Diese Nacht ist
die letzte, in der ich ohne Lisa bin, morgen kommt sie zurück.- Ich muß Dir noch ein paar Zeilen
schreiben, kann sonst nicht einschlafen. Du lieber, Liebster, ich kann Deine freudige Zuversicht
noch nicht theilen! Nähere Erkundigungen bei Otto haben mich außerdem gelehrt, daß wir noch in
der alten vorsichtigen Weise zu Werke gehen müssen. Otto ist mit Deinem zu eifrigen Vorgehen in
Engl. unzufrieden, er wird Dir selbst schreiben. Jedenfalls unternimm nichts, was einem Deutschen
Steinhandel ähnlich sieht, nichts, in Hinsicht auf Dein Deutsches Patent, das definitiv noch nicht
heraus ist, und gegen das R. immer von Neuem zu Felde zieht. O. schreibt Dir heute ausführlicher,
und Du wirst daraus ersehen, daß es noch recht zweifelhaft mit unserem Wiedersehen ist. Daß Du
bei B. so angenehme Stunden verbracht, freut mich sehr und bin ich der Frau vom Hause, die sie
Dir bereiten half, ordentlich dankbar dafür.- Ich bin gesund und fühle mich bei meiner Religion, die
in dem Worte seinen Ausdruck findet: Kommt Dir ein Schmerz, so halte still, und frage, was er von
Dir will, die ewige Liebe schickt Dir keinen, blos darum, daß Du mögest weinen, ganz wohl. Es
giebt noch manches, worin ich stärker werden muß, und mit dem Bestreben, diesen od. jenen Fehler
abzulegen, verkürze ich mir die Zeit, ach, die so lange Zeit!- Verkaufe nicht mehr Steine als Du zu
liefern im Stande bist.Haben wir so lange ausgehalten, können wir es auch noch eine Weile. Es ist unglaublich, wie lange
ein Mensch von der Hoffnung leben kann - und von der Liebe. Aber davon allein kann man nicht
leben, wie alle klugen Leute sagen. Aber glücklich allein kann man nur in ihr leben, und so
glücklich ist und bleibt Deine
ferne
Anni
Die Stellung ist zu unbequem, muß aufhören. Gute Nacht meinem treuen Lieb!
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/54
B.d.30.7.87
Lieber, guter Gustav!
So schreibe ich denn heute 'mal an Dich ganz hinein in's Blaue! - oder Graue? oder Grüne? Wo
meine Gedanken Dich suchen sollen, weiß ich nicht, denn in B. bist Du wohl nicht mehr? Gestern
erhielt ich Deine Blätter mit der netten Skizze, die gerade in der Manier gemacht ist, wie ich selbst
sie habe! Aber auch Deine Reise selbst habe ich mit großem Interesse verfolgt. Wie nett muß es sich
in England leben! Wenn ich so unsere schönen Plätze mit dem tadellosen Rasen sehe, so thut es mir
doch immer noch leid, daß derselbe nur zum Ansehen, garnicht zur Benutzung dem Volke dient.Du bist nun jetzt wohl im Besitze des Schriftstückes, das Otto und ich (auf seine Aufforderung)
unmittelbar nach Empfang Deines Briefes am Mittwoch verfaßten. Es hat mir ganz furchtbar weh
gethan, so zu schreiben, wie ich es gethan habe, aber angesichts der drohenden Gefahr und unter
dem Einflusse von Ottos sehr dringlichen Vorstellungen konnte ich nicht anders und kann auch
heute nichts davon zurücknehmen. Da ich mir aber denken kann, daß es nicht sehr schön geklungen
hat, so will ich heute, um eine klangreichere Saite des Instrumentes, nach dessen Tönen wir nicht
zusammen durch's Leben tanzen wollen, anzuschlagen, Dir nur sagen, - was Du eigentlich schon
weißt, - Du bist und bleibst doch immer mein einziges Glück, mein Hoffnungsstern. Wie oft, ach
wie oft scheint es mir unmöglich, noch so lange alle Sehnsucht still zurückzudrängen, alle bangen
Sorgen um Dich im Innern zu verschließen! Das Netz, das der Prozeß um Euch gewoben, zieht
seine Maschen nun enger und enger zusammen, wird es im Oktober zerreißen und wir frei werden wird es sich fest zusammenziehen? Wer weiß es? Meine freudige Zuversicht dauert nur so lange,
wie ich Otto so sprechen höre, schon wenn ich aus Lichterf. nach Hause komme, kehrt der Alp
wieder bei mir ein. Arbeit vom Morgen bis zum Abend, Arbeiten ist das einzige Mittel, seinen
Gedanken zu entrinnen. Sie und Deine Briefe sind mein Glück in dieser schweren Zeit. Lisa ist
wieder
[2]
hier; etwas abgeschwächt noch, und aber langsam aber sicher kehren mit der Berliner Luft ihre
trübsinnigen Fantasien, ihre Schlaffheit, ihr unstetes, unbefriedigtes Wesen wieder, für sie sowohl
wie für ihre nächste Umgebung ein aufreibender Zustand. Ich thue, was ich kann, ich reibe sie des
Morgens mit nassen Tüchern ab, gehe mit ihr dann auf dem Mariannenplatz spazieren. Heute hatten
wir schon um sieben Uhr 18° im Schatten. Meine Reise hängt von Wally's Hochzeit ab. Ich schiebe
sie gern noch hinaus, denn ich werde außerhalb Berlins nicht viel Ruhe haben. Nun ist der Juli
wieder um! Wieder ein Schritt weiter. Wenn wir nur mit dem August auch erst fertig wären! Man
geht an diesem Sommer ganz empfindungslos vorüber. In meinem Gärtchen, in dem ich
augenblicklich schreibe, blüht jetzt schon die selbst gesäte Kresse. Ich kann nicht wiederstehen, Dir
davon zu schicken, obgleich ich vermuthe, sie kommt als nasser Fleck bei Dir an.
Immer wieder schweifen meine Gedanken in eine Zukunft voll Glück und Sonnenschein, wie sehr
ich sie auch als nicht zeitgemäß zu verbannen suche. Den Schmerz von jetzt erträgt man leichter,
wenn man glaubt, sich damit das Glück einer schönen Zukunft zu verdienen. Und ist nicht ein
Glück nur voll, wenn es verdient ist? Ein oft gebrauchtes Wort: „Unverdientes Glück“ ist eigentlich
ein Widerspruch in sich.- Wäre übrigens doch möglich, daß ich einmal zu Weiss ginge um bei ihm
ein paar Theorie Stunden zu nehmen. Je mehr ich spiele, um so nöthiger erscheint es mir, sich damit
etwas vertraut zu machen. Es sollte bei allem Unterricht vor allem auf das Wesen der Sache gesehen
werden. Könnte man die Komposition verfolgen, sich gewissermaßen von dem Schöpfer des
Werkes selbst belehren lassen, würde sich vieles von selbst einem erschließen, was man so auf dem,
für mich wenigstens, allerschwersten Wege, nämlich dem mechanischen, gewinnen, erlernen muß.
Meine Stimme rostet ein. Ich singe garnicht mehr, leider ist dieselbe immer von meiner Stimmung
abhängig. Daher kommt es, daß Einige meine Stimme „sehr schön“ finden, manche mir aber auch
das Gegentheil schon gesagt haben. Wollen wir sie einstweilen ruhen lassen. So lange nur meine
Hand, nur den Verkehr mit Dir zu unterhalten im Stande ist,
[3]
soll auch sie nur meine Musik machen, kann ich zu Dir einmal wieder mit der Stimme sprechen,
wird sie auch wieder im Stande sein, mich und vielleicht auch andere im Liede zu erfreuen.Knorres sind in Georgenthal in Thüringen. Von dort erhielten wir die Verlobungsanzeige des
jüngsten Bruders, genannt Doda, dem Chemiker. Die Braut ist mir unbekannt, soll ein ganz junges
Mädchen sein.- Ich mache jetzt allerlei Sparexperimente. Ich würde, glaube ich, im Stande sein, mit
ziemlich wenig auszukommen. Ich fühle mich körperlich ganz wohl und hoffe von Dir das Gleiche.
Nächstens werde ich einmal die indiskrete Frage an Dich richten: Wovon lebst Du eigentlich?
Eigentlich ist es lächerlich und eine falsche Regung des Ehrgefühls, wenn Du in Deiner Lage Dich
sträuben wolltest, von denen, die Dir am nächsten stehen, zu borgen z.B. von mir. Ich kann mein
Kapital doch nicht besser anlegen, aber ich glaube, vor solcher außerordentlichen Zumuthung
schreckt selbst Dein unabhängier Geist zurück. Wenn Du es thätest, würde ich es so auffassen, als
wenn Du durch freimüthige Annahme eines so niedrigen Gegenstandes, wie Geld ist, mir ein Opfer
brächtest und es vollständig zu würdigen wissen.
Dein zweites Ich
A.
Postkarte Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/56
Gruß
vom Hermannsdenkmal
--------------------------------------Immer fliegt auf allen Wegen
Rastlos Dir mein Herz entgegen.
Immer bleibt es bei dem Gruß!
Daß ich einsam wandern muß!
Schön ist wohl die Erde hier Aber schöner noch bei Dir!
A.
Hermannsdenkmal, d.12.8.1887
C. Reineke, Gasthof zum Hermannsdenkmal.
Welt-Postkarte
An Mr. Gustav Lilienthal
General Post Office
Glagow
-------------
Postkarte Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/57
In der Stadt des Rattenfängers
Denk ich meines frischen Sängers Denk, daß auch dieser Mann
Es den Mädchen angethan.
Hier in Hameln - laß' das Bangen,
Soll mich sicher keiner fang eno
Träf ' ich auch den Zauber-Sänger,
Ist's doch nicht mein Rattenfänger!
Deine
dem Käfig entflohene Ratte!
Hameln d. 14.8.87
---------------------Deutschland-Allemagne
Postkarte. - Carte postale.
Weltpostverein.- Union postale universelle.
Mr. Gustav Lilienthal
Edinburgh
General Post Office
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/58
Grabow bei Stettin d. 24.August 1887
Liebster Gustav!
Seit dem Freitag voriger Woche bin ich in Stettin bei Hamschens. Mein Ausflug nach Minden und
den in dieser Gegend gelegenen sehenswürdigen Ortschaften wie Hildesheim, Hameln, Bückeburg,
Oenhausen u.s.w. war am Dienstag beendigt. Ich blieb dann noch 2 Tage zu Hause und bin nun
endlich an dem seit lange schon in's Auge gefaßten Ziele meiner Reise angekommen. Ich bin zum
Theil mit meinem Bruder Otto, zum Theil aber auch ganz allein, in der Welt herumgeschweift und
habe viel neue Eindrücke, viel Erinnerungen an Lieblichkeit der Natur, an eigenartige
Wohnungsverhältnisse, an besondere Menschen, an interessante Städte davon mitgebracht.- Leider
fand ich zu Hause meinen Papa nicht recht wohl und sehr verstimmt. Seine Erkältung, die die
Veranlassung dazu war, besserte sich, so daß ich ruhig abreisen konnte. Er fürchtete sich jetzt schon
vor der Unruhe, die der im Oktober mit Bestimmtheit zu erwartende Besuch von Hans mit Familie
mit sich bringen wird. Da auch Lisens Nerven einer länger dauernden Störung der altgewohnten
täglichen Hausordnung nicht gewachsen sind, wird die Zeit wohl ziemlich unerquicklich für mich
werden. Doch begrüße ich gerade in dem für uns so inhaltschweren Oktobermonat Jedes, das mich
von dem Hauptangelpunkt meiner Gedanken abzieht, mit Freuden!- Hier in Grabow fühle ich mich
nun sehr wohl. Es ist hier ein zu reizendes Familienleben. Alles ergiebt und giebt sich so einfach
und zwanglos! Klara hat noch 3 Schwestern, die jünger sind als sie. Die nächste ist Alice, ein stilles,
sehr gewissenhaftes, liebenswürdiges Mädchen, dann kommt Anna, die Braut von 17 Jahren. Sie ist
schon seit einem Jahre mit einem weitläufig Verwandten, hier im Orte Kaufmann, verlobt. Da er
erst 24 Jahre ist, passen beide vortrefflich zusammen und interessiert es mich natürlich ganz
besonders, diesen Liebesfrühling im Stillen zu beobachten. Mieze ist die Jüngste und noch
unentwickelt, geht noch zur Schule. Unter den Schwestern ist das reizendste Verhältniß, was bei so
vielen, dem Alter nach ziemlich gleich
[2]
berechtigten, recht selten vorkommt.- Stettin ist mir mit seinem sehr belebten Hafen, in den auf
maich' ein überseeisches Schiff einläuft, recht interessant. Heute wollen wir uns so einen Koloß von
innen ansehen, worauf ich mich sehr freue.- Wally's Hochzeit wird ungefähr am 14 ten September
sein und bleibe ich bis dahin noch hier. Briefe an mich schicke nach wie vor nach Lichterfelde. Ich
habe nur zwei Briefe von Dir noch unbeantwortet, den letzten aus Edinburgh. Außer der Karte vom
Hermann schickte ich Dir kurz vorher eine aus Berlin, später eine aus Hameln. Schreibe mir, ob Du
dieselben erhalten hast.Daß Otto Dir so unpräcise über das Patent berichtet hat, sodaß Du in dem Irrthum befangen warst,
so lange, es wäre definitiv ertheilt, ist wirklich unverantwortlich und so wenig kaufmännisch wie
möglich. Ich bin längst seinen hoffnungsreichen Berichten gegenüber mißtrauisch geworden und
nehme sie, mit der in dieser Beziehung, ihm gegenüber durchaus nothwendigen Zurückhaltung
entgegen. Es ist mir stets eine große Beruhigung, Dich maßvoller in Hoffnungen, Plänen und
Entwürfen zu wissen, als er. Denn, so vortrefflich O. ist, wäre mir ein nahes Zusammenleben mit
ihm für mich ein ruheloses.Vor meiner Abreise hierher besuchte ich Agnes, die ich zu meiner großen Freude munter und in
liebenswürdigster Stimmung fand. Die kleine Helene ist eine rechte Lilienthal. Die Ähnlichkeit
mit Deiner Schwester ist geradezu lächerlich. Otto fährt nun schon ganz sicher auf Deinem
Zweirad, bleibt aber ein eigenthümlicher, und wie alle geistig ungewöhnlich bedeutenden Kinder,
nicht sehr liebenswürdiger Junge. An Fritz wirst Du Deine Freude haben. Furchtbar rüpelig. Zu
Hulda sagt er: „Hulda, Du bist ein Affe“ u. dergl. Agnes Schwestern sind nette Mädchen, nur ist
ihnen leider auch die Art, mit Kindern in richtiger, ihnen eigener Weise zu verkehren, versagt. Doch
will ich das mit Vorbehalt sagen, denn vielleicht gedeihen Kinder, wenn man sie geistig ganz in
Ruhe läßt, wie dies bei der in Lichterfelde üblichen Methode der Fall ist, am besten. Ich glaube, die
Kinder wachsen z.B. ganz ohne die Poesie der Märchen auf! Freilich muß man ja still sein, wenn
Jemand einwendet, daß ein poetisches Empfinden
[3]
dem Menschen ebenso oft hinderlich ist in der Praxis des Lebens, als es ihm Genüsse bereitet, aber
ist denn das Praktische unser Lebensziel? Ist es nicht blos ein Mittel zum Zweck? Habe nur keine
Angst, daß ich dies vernachlässigen werde! Dazu fühle ich mich in der gewissenhaften Übernahme
einer Last, einer Pflicht im Gegensatz zum Angenehmen, viel zu wohl, ja sie ist mir
Lebensbedürfniß; aber trotzdem mich manchmal ein richtiger Scheuer- und Wirthschaftsteufel
erfaßt, hoffe ich doch immer eingedenk zu bleiben, daß Martha sich viel Sorge und Mühe machte,
und daß Maria das Bessere Theil erwählt hatte.Wie kommt es nur, daß ich noch immer voll frohen Muthes der Zukunft, unserer Zukunft
entgegensehe. Nirgends sah ich noch eine Ehe, die mich befriedigt hat und überall muß ich hören:
so gut wie jetzt hast Du es nie wieder! Sollte auch ich einst mit allen Idealen brechen müssen, auch
wir einst so völlig ernüchtert im Einerlei des Lebens uns verlieren müssen, ach, dann möchte ich
überhaupt nicht mehr leben! Aber ich kann es nicht glauben. Natur ist doch überall gut. Sollte sie
uns Menschen, denen sie doch selbst den Weg, den man mit dem „Ehejoch“ wandert, anzeigt, ein
Verderben bereiten! Nein, und wenn 100 Frauen zu mir so sprechen, ich bin immer noch geneigt,
ihnen zu antworten: Wo wir nach Naturgesetzen handeln müssen wir doch auch die Kraft haben, uns
über Wasser zu halten! Das Leben ist überhaupt nicht leicht zu nehmen, so oder so, wir müssen
immer unser ganzes Können einsetzen.Deine Reiseberichte verfolge ich natürlich mit großem Interesse. Wäre nicht die Bewahrung des
Geheimnisses nothwendig, ich hätte Frau Barns Einladung angenommen und wir könnten uns heute
mündlich sprechen. Bitte, schreibe bald!
Mit bestem Gruß an Frau Barns
bin ich immer
Deine Anni.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/59
Grabow d.2.9.87
Linden-Str. 52
Mein lieber Gustav!
Sage nur Deiner Wirthin gleich Bescheid, sonst wird die Sache doch noch unerquicklich für Dich.Wir leben hier das harmlose friedliche Leben fort. Ich bleibe nun noch bis zum 14 ten September
hier. Am 15 ten ist Walli's Hochzeit in Eberswalde, zu der wir alle herüberreisen, und ich von da aus
direkt nach Hause. Ich bitte Dich recht, Walli zu ihrer Hochzeit eine Gratulation zu schicken. Nur
ein paar Zeilen. Du würdest mir eine specielle Freude damit machen. Also zum 15 ten Sep. nach
Eberswalde, Düppel-Strasse.- Die Porta Westphalica, wie sie auch jetzt noch heißt, ist Dir ganz
richtig in der Erinnerung. Die Weser muß früher ein gewaltiges Wasser gewesen sein, daß sie das
Gebirge so durchbrechen konnte- jetzt fließt sie zwischen den Bergen in einem sehr weiten
Wiesenthal so unschuldig hin, fast nicht größer wie ein Mühlbach.- Nich weit von Minden, den
Fluß abwärts, liegt das Bad Oenhausen, das Otto mit mir des Sonderbaren wegen, das so ein
ausschließlich für Rheumatismus und hauptsächlich Rückenmarkkranke bestimmtes Bad hat,
besuchte. Überall nichts wie Fahrstühle mit Kranken, denen ein schweres hoffnungsloses Leiden
auf den Zügen steht! Fast noch schrecklicheren Eindruck machen die Rückenmärker, die
einherwandeln mit einem für ihr Leiden ganz charakteristischen Gang (Otto hat mich darauf
aufmerksam gemacht; sie vermeiden es consequent, mit den Zehlen aufzutreten, weil sie darin das
Gefühl verloren haben). Dadurch verlieren sie den Schwung, mit dem wir uns von einem Tritt zum
anderen das Gehen erleichtern. Es hat mir einen fürchterlichen Eindruck gemacht. Meistens
erdfahle Gesichter mit einer erkünstelten Lebenslust und Heiterkeit auf dem Gesicht! Wer
verurtheilt ist, dort als Gesunder einige Zeit leben zu müssen, der muß ja vom bloßen Sehen krank
werden!
Wenn ich mir denken soll, daß dies der letzte Monat sein sollte, in dem Du nicht in der Nähe, nicht
in Berlin bist, so scheint es mir fast unmöglich, daß es mir bescheert sein soll,
[2]
nach so langer Zeit niederdrückenden Unglücks ein so großes Glück zu gewinnen. Gustav, wir
sollten wieder zusammen plaudern können, wie damals, nicht mehr in meiner Phantasie, nein,
leibhaftig würdest Du wieder unter meinem Fenster vorbeigehen- nein, nicht vorbeigehen. Du
würdest heraufkommen als sehr berechtigt dazu und ich brauchte nicht, bevor ich Dir die Thür
öffnete, mir zurufen, schweig' still, mein Herz. Nein, und wenn ich in den Augen der Welt jede
Weiblichkeit einbüßte, wenn mir noch viel mehr, als sie sahen, gesagt wurde- Du mußt
zurückhaltender sein - ich kann es nicht. Mag endlich einmal der Kampf aufhören, ich muß mich
geben können, wie ich bin, nur auf diese Weise werde ich vielleicht, wie ich sein müßte. Die Ehe ist
eine Färbebrühe! Famos! Wenn sie uns man nicht schwarz färbt!- Nun ist fast die ganze Familie
Hamscher um mich versammelt und mit dem Schreiben wird's wohl nicht mehr viel werden. Die
Nachricht von der definitiven Patentertheilung hat mich sehr erfreut, ich erfuhr dies von Dir zuerst,
denn aus Lichterfelde hat mir Niemand davon geschrieben, obgleich sie es mir versprochen hatten.
Auf meiner Reise habe ich sehr viel Schönes gesehen. Ich würde Dir auch noch mehr davon
erzählen, wenn ich nicht fürchtete, Dich damit zu langweilen. Aber Du kennst fast die halbe Welt
und so viel Schöneres!- Aber neulich habe ich mir hier ein recht großes Auswandererschiff
„Slowonia“ mit Namen, angesehen. Es hat mich dies ungeheuer interessiert. Alles ist so praktisch,
zierlich und auch doch wieder großartig eingerichtet, daß man zu einer Reise über den Ocean große
Sehnsucht bekommt. Nur die an jeder Bettstatt am Kopfende angebrachten Schaalen geben auch
von den Schattenseiten eines solchen Unternehmens trübe Kunde. Du hast ganz Recht, ein Schiff ist
ein mächtiger, erhebender Anblick und kann ich mir nun auch die Begeisterung erklären, die so
einen Jungen treibt, sich dem Seedienst, trotz allem, zu weihen.- Ich freue mich recht, daß Du nun
wieder in London bist und gewissermaßen ein Heim hast. Auch der Verkehr mit Deinem Freunde B.
muß Dir so wohlthuend sein! Hat Mieze wieder einmal geschrieben? Frau Hamscher hat
[3]
sie noch als junges Mädchen in sehr gutem Andenken. Verzeih! Theresens Andenken wird hier hoch
gehalten. Vor mir auf dem Schreibtisch z.B. steht ihr Bild im Rahmen mit von Alice gemalten
Blumen geschmückt. Sie ist noch in voller Gesundheit, wodurch die Ähnlichkeit mit Dir mehr
hervortritt als in der Zeit ihrer Krankheit, in der ich sie hauptsächlich gekannt habe. Darüber hängt
das Bild von Martha Hamscher, die nun auch schon todt ist. Wer kommt nun an die Reihe!?- Fort
mit diesen traurigen Gedanken, die zu garnichts führen. Voll froher Zuversicht will ich der
verschleierten Zukunft entgegensehen, denn da mein Lebensschiff einmal in das richtige
Fahrwasser gelangt ist, wird’s ja wohl nicht sobald an einer Klippe zerschellen.-Nichts geht über die
Freude, im Briefkasten an der Thür einen Brief mit der lieben Handschrift zu finden! Und Freude
macht gesund und stark. Mache gesund und stark
Dein
Ann
Schicke den nächsten Brief direkt an meine Adresse:- Oder ist's am Ende doch anders besser, wie
Du denkst.
Postkarte Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/60
An
Mr . Gustav Lilienthal
London
Aldersgate-str. 102
M.l.G.
Habe heute selbst für Dich keine Zeit! Wir haben mit Hochzeitsvorbereitungen noch allerhand zu
thun. Auch leide ich seit einigen Tagen an den Folgen einer Erkältung und fühle mich etwas
angegriffen. Wird schon wieder besser werden. Sollte noch Zeit sein, so lege doch in den Brief an
Walli ein paar Zeilen für mich ein. Es ist dies ein ganz sicherer Weg, und würde ich mich sehr
freuen, an diesem Tage einen Gruß von Dir zu erhalten. Über Deine malerischen Bestrebungen habe
ich mich sehr gefreut! Bestelle der mir unbekannten Freundin meinen besten Gruß. Hoffentlich
versteht sie deutsch, sonst würde ich noch englisch lernen müssen. Na, das Unglück wäre ja auch
nicht so groß!
Nimm mit diesem Wenigen heute fürlieb! Ängstigen brauchst Du Dich meinetwegen nicht. Unkraut
vergeht nicht!
Dein Kamerad
A.
Grabow d.9.9.87
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/61
Berlin d.22. Sept. 1887
Lieber Gustav!
Dein Brief, der heute in meine Hände gelangte, hat die große Verstimmung, die ich Dir gegenüber
seit längerer Zeit hege, nicht gehoben. Warum hast Du eigentlich an Wally's Hochzeit nicht ein paar
Zeilen für mich übrig gehabt? Ich hatte Dich extra darum gebeten und selbst wenn dies, wie es
scheint, kein Grund für Dich war, die Feder für mich anzusetzen, so mußte nach meinem Gefühl die
Poesie einer Hochzeitsfeier, an der ich in jedem Sinne so innigen Antheil nahm, für Dich eine
Aufforderung dazu sein! Ich habe ganz bestimmt erwartet, daß Du an jenem Tage Dich gezwungen
fühlen würdest, mir zu schreiben. Dein letzter Brief ist noch vom August. Es ist dies, die
Nichterfüllung meiner ersten, oft wiederholten Bitte ein Beweis für mich, wie so gar keinen Einfluß
ich auf Dich habe. An Walli's Hochzeit aber so gar keinen Gruß für Dein Mädchen zu haben, von
der Du wußtest, daß sie darauf wartete, in das Haus, in dem Du mich sicher auch wußtest, einen
langen Brief zu schreiben, ohne auch nur ein Wort für mich zu haben, das kann ich bei einer Liebe,
die nicht ganz nüchtern ist, nicht begreifen.- So ein Brief von Dir wäre mir ein Talisman gewesen
gegen manche Versuchung, der ich ohne diesen Schutz, ja mit Hülfe von dem Groll, den ich gegen
Dich hatte, anheimgefallen bin. Es ist einem Mädchen immer von großem Eindruck, wenn sie sehr
gefällt und mit aller mir innewohnenden Aroganz sei es gesagt, das ist mir an jenem Tage mehr
gezeigt, als es mir gut war.Deine Sendung und Dein Schreiben ist von Walli sehr gut aufgenommen worden.- Nun weiter:
„Deine letzte Nachricht von Dir war eine Karte“ - weiter hast Du davon keine Erinnerung! Mein
Gott, ich würde sogar von mir Fernstehenden ein paar Worte der Theilnahme erwarten, wenn ich
ihnen schreibe, daß ich krank bin. Ich weiß nicht, ob ich zuviel verlange, aber mir scheint, wahre
Liebe ist in solchem Falle mit etwas weniger Ruhe und Gleichgültigkeit, als Du sie auf die
Nachricht hin, daß ich nicht wohl bin, an den Tag legtest, gepaart.[2]
Vieles kommt zusammen, mich glauben zu lassen, daß Dein Empfinden für mich wenig, wenig
leidenschaftlich, allzu nüchtern und praktisch ist. Wie konntest Du sonst mein Bild, das einzige, das
mich im Gegensatz zu dem anderen, das ich, wie Du weißt, nicht leiden kann, so wiedergibt, wie
ich bin, in Frankreich lassen! Ich kann das absolut nicht verstehen. „Aus Furcht, es zu
beschädigen!“ Was einigen Werth für uns hat, das hütet man auch wohl einmal gern einige Tage,
besonders, wenn es nichts Größeres als eine Photographie ist. Statt dessen zeigst Du noch das
andere Bild bei Deinen Bekannten und ich habe das unangenehme Gefühl, daß sie sich eine ganz
falsche Vorstellung von mir machen.- Ferner: Du hast einen bestimmten Entschluß gefaßt, was
Deine Rückkehr anbetrifft.- ich muß zwar ein kleines Opfer bringen - oder vielmehr - Du willst das
Opfer von mir nicht mehr annehmen. Was soll ich nun daraus machen? Wenn Dein Entschluß so
„bestimmt“ ist, warum theilst Du ihn mir nicht gleich mit? Meinst Du, daß es angenehm für mich
ist, mich mit noch mehr Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten herum zu schleppen.- Alles
Kleinigkeiten! Wirst Du nach Beendigung dieses Briefes sagen. O nein, das sind keine
Kleinigkeiten, denn alle zusammen ähneln sie sich untereinander. Alle Zusammen tragen sie einen
Zug, der für Deine Liebe charakteristisch ist. Du kannst denken, wie aufgeregt ich bin. Ich schreibe
nur gerade heraus, ohne jede Rücksicht, weil ich das für das Beste halte. Es hatte sich eine ganze
Menge Zündstoff angesammelt und der Brief von heute war der Funken im Pulverfaß. Du baust auf
meine Liebe, die ich Dir bis jetzt treu bewahrt habe. Sie ist doch aber keine Thatsache -wie soll ich
mich ausdrücken- ich will nur sagen, daß Du in letzter Zeit wenig thust, Dir dieselbe ungeschwächt
zu erhalten, weil Du selbst Dich so gleichgültig zeigst. Jene sogenannte Neigung aber, die sich blos
noch an dem einmal gegebenen Wort hält, ist nichts für mich. Sie ist ein genügendes Glück und
Zufriedenheit für viele Mädchen, die weniger leidenschaftliche
[3]
Naturen sind, wie ich das nun einmal von Grund der Seele bin. Sie sind bequemer, angenehmer und
vielleicht besser, wie ich, (ich habe Dir dies oft gesagt).- Prüfe Dich jetzt recht genau und frage
Dich einmal gewissenhaft und ernstlich, Warum Du mir nicht geschrieben, warum Du mein Bild
nicht mitgenommen, warum Du es kaum bemerkt hast, daß ich Dir, weil ich nicht wohl war, nur
eine kurze Karte schreiben konnte. Sage Dir einmal, ob sich das mit warmer Liebe verträgt. Mit der
meinen nicht, und ich kann von Dir ebenso viel verlangen, als ich gebe. Meine Neigung nach
Deiner abschwächen, kann ich und will ich nicht, lieber garnichts!
Agnes hat mich recht rücksichtslos behandelt. Von den Lichterfeldern sehe ich wohl vorläufig
nichts, denn zu mir kommt keiner und eher fahre ich nicht heraus. Es fällt mir wie Schuppen von
den Augen, ich hätte für Euch alle durchs Feuer gehen können und wie wenig bin ich Euch!
Anna.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/62
Berlin d. 1.10.87
Lieber, theurer Gustav!
Das erste Werk dieses sonst etwas grauen Tages soll sein, Dir zu schreiben und so uns beide wieder
zu vereinen. Ich fühlte gestern nach Empfang Deines lieben Briefes weder Reue über den meinen,
noch Beschämung, noch sonst irgend welche Gewissensbisse. Nur Stolz und Freude über Dich, o
Du mein Glück! Jede andere Empfindung schwieg und ich hätte am liebsten diese wackeren Hände,
die dies Alles so fest und ruhig niedergeschrieben, geküßt. Auf die Thatsachen, die ich in meinem
Briefe berichtete, komme ich nicht mehr zurück. Abgethane Sache! Nicht wahr! Sollte noch ein
kleiner Schatten für Dich darüber liegen, so löse ich ihn Dir, wenn Du zurückkommst. Mit Deinem
Vorschlag brauchtest Du nicht so ängstlich zurückhalten. Im Gegentheil! Denke nur, ich wollte Dir
ganz denselben auch machen, konnte mich aber Deinetwegen nicht recht dazu entschließen und
dachte zuletzt, Du würdest schon am besten wissen, was zu thun. Ich bin vollkommen damit
einverstanden und würde, einmal überzeugt, das Richtige zu thun, auch die Folgen nicht fürchten,
selbst wenn diese unangenehmer Art sein sollten. Ich werde im Laufe dieses Monats wieder mehr
von Dir sprechen und Papa auf Deine Rückkehr und auf die Möglichkeit Deines Besuches in
unserem Hause leise vorbereiten. Nicht mehr, als daß ihn Dein Erscheinen nicht allzu sehr
überrascht! Du kannst ruhig sein, daß ich keinen diplomatischen Fehler machen werde. Sprich mit
Papa, wie es Dir um's Herz ist, Du kannst es, Du kannst auch erwähnen, daß wir uns schon vor
Deiner Abreise das Wort der Treue gaben, nur von unserem Briefwechsel erwähne in der ersten
Stunde nichts, das soll er später von mir erfahren, aber die Stunde dazu passe ich erst gut ab!
So kindisch bin ich doch nicht, daß ich nicht noch ein bischen warten könnte, ehe ich Dich
wiedersehe. Danach brauchst Du Deinen Plan nicht einzurichten.- Was das Datum Deines Briefes
anbetrifft, so habe ich allerdings einen vom 5. ten datierten von London erhalten. Ich sah aber beim
Durchblättern der Briefe als Beweis meiner „Anklage“ nach den Daten, und da Du den Fehler
gemacht hattest, und nur eine 8 anstatt 9 als Septemberzahl gemacht, verfiel ich in den Irrthum. Agnes war nun
[2]
bei mir! Sie hat zu viel übernommen. Wir wollen einmal ja nicht in dasselbe Geleise treten und
unser Federvieh, unseren Kohl und Salat ein Hemmnis sein lassen, der sich den Sachen
entgegenstellt, die uns doch noch mehr Vergnügen machen sollen und für unser Theil auch thun. In
nächster Woche fahre ich nach L. und höre dann auch wieder über den Stand der Dinge. In
Rudolstadt scheint nichts von Belang vorgefallen zu sein. Ich bin begierig zu erfahren, welchen
Aufschwung Dittmar mit dem Geschäft nimmt. Unseren Zeitungen nach kann ein Deutscher in
Paris absolut nicht vorwärts kommen und muß froh sein, mit heiler Haut davon zu kommen.
Jedenfalls denke bei Deinem Aufenthalt daran, Dich als Engländer zu legitimieren, der Pöbel dort
scheint ja zu allem fähig zu sein. In den nächsten Tagen erwarten wir unseren Bruder aus Metz.
Seine Familie ist bereits hier. Ich male und schneidere für Lisen um die Wette. So wird man auch
durch den schwersten aller Monate für uns durchkommen.
Nicht ohne Absicht habe ich den rosigen Bogen gewählt. Du weißt schon warum! Nicht mehr grau
in grau, nicht wahr? Mein treues Lieb?
Deine
Anna.
Marie hat ja wieder einen Jungen. Ich freue mich, daß alles wieder munter ist!
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/63
9.
Oktober
l887
----------------------------------------------------------------Mein lieber Gustav!
Hätte ich nicht diese Zeichnung schon angefangen gehabt, ehe ich Deinen prächtigen Entwurf
erhielt, und hätte ich überhaupt etwas Anderes für Dich, ich würde mich garnicht mit meiner
Stümperei hervortrauen. Nimm sie nur hin, ich komme sonst ganz mit leeren Händen. Sie sind mir
dadurch, daß Du wieder in Paris bist, ganz gebunden, denn ich weiß ja, wie unbequem eine
Sendung nach Frankreich selbst für den Empfänger ist. Ich war ganz darauf gefaßt, Du würdest
meinen Geburtstag vergessen und war daher doppelt überrascht und erfreut, als Agnes mir Deinen
Brief mit dem kleinen großen Kunstwerk brachte. Agnes hatte sich selbst übertroffen. Sie kam mit
den beiden Ältesten. Beide mit Blumen, Agnes mit Obst und Gemüse aus ihrem Garten! Ich habe
mich über Alles sehr gefreut, am meisten aber natürlich über die freundliche Absicht, wie Du Dir
wohl denken kannst.- Annchen hat sich hier bei uns alle Herzen erobert und das will viel sagen,
denn unsere kleinen Nichten auszustechen, ist nicht so leicht. Sie kamen beide mit Blumen, eine
brachte mir eine von Knospen besäte Myrthe. Blumen habe ich noch jetzt so viel, daß ich sie kaum
zu bergen weiß! Für Deinen Geburtstagsbrief sage ich Dir Dank in des Wortes vollster Bedeutung!
Aber er ist einer von denen, die mich zaghaft machen, berührt er doch wieder den Kampf: Wille
oder kein freier Wille! Bei Dir ist die Überzeugung, die Du eines Abends im Anfange unserer
Bekanntschaft an den Tag legtest, fest eingewurzelt, und ich muß erst mein ganzes Lebensideal über
den Haufen werfen, um Dir darin gleich zu sein.- Du sprichst von der Ehe so bestimmt, als ob Du
mindestens zehn Jahre verheirathet gewesen wärst. Weißt Du.- Ich denke, man kennt nur das, was
man an sich
[2]
selbst erfährt, keine Theilnahme für andere Menschen läßt sich vergleichen mit der Beachtung, die
wir für unser eigenes Ich haben. Unser Ich sei schon aufgelöst meinst Du? Wenn Du das so
empfindest, was ich kaum im Grunde annehmen kann, so fühlst Du tiefer wie ich es jetzt kann.
Erschrick nicht vor meiner Ehrlichkeit, die Empfindungen eines Mädchens sind aber anders wie die
Deinen. Ich hätte überhaupt nicht die Courage, mir ein fertiges Bild meines künftigen Lebens zu
machen. Und seien unsere Grundsätze noch so fest, und hätten wir unseren Charakter in
Lebensschicksalen noch so sehr gestählt. Sie werden immer beeinflußt von den Eindrücken, die wir
als in der Gegenwart empfinden, nicht von Plänen, die wir für die Zukunft schmieden. Glauben,
Vertrauen, Liebe, das sind die Handwerkzeuge, mit denen wir unser Glück bauen können, und die
müssen wir in uns pflegen und erhalten. Bestimmt wissen wir nur, daß wir dadurch zum Glück
kommen, aber wie und welcher Segen uns daraus entspricht, wie er aussieht, zu bestimmen, das ist
etwas das sich unser Schöpfer selbst vorbehalten hat, das birgt ein Schleier, den kein Mensch lüftet
und lüften soll. Ich komme auf diese Sache so ausführlich zurück, weil sie mit einem Zuge Deiner
Natur, der mir durchaus nicht mißfällt, aber der mich manchmal ängstlich macht, eigenthümlich ist.
Ich finde das rechte Wort dafür kaum. Ich möchte es zu viel Selbstvertrauen nennen. Nur ein
Beispiel: Als wir eines 'Abends von Knorres nach Hause gingen, sprach ich von meiner Furcht vor
dem Tode zu Dir. Da sagtest Du ungefähr so: Der Tod kommt dem Menschen, wenn er alt ist, wie
einem Müden der Schlaf, ruhig und schmerzlos. Aus Stettin schrieb ich Dir von der Galerie
Verstorbener, worauf Du schriebst, wir wollen uns schön hüten, diese Galerie zu vergrößern---. Ich
bin wohl mehr weitschweifig wie klar? Ich meine nur, Du setzest Dein ganzes Glück auf Deine
Kraft und willst es zwingen, ich schaffe mir das meine mehr mit Hülfe des Glaubens, der jede
Schickung ruhig verträgt in dem Gefühl nicht nur einer weisen, sondern auch einer gütigen
Weltregierung.
Nun zu etwas anderem. Richters Patent ist gefallen und somit eine Schranke, die uns trennt. Papa
hat Otto neulich sehr freundlich aufgenommen, er beschäftigt sich sowie unsere uns
(Du nimmst garnicht an, daß wir auch jung sterben können.)
[3]
besuchenden Bekannten mit dem Pytagoras-Spiel, das ihn sowie alle auf das lebhafteste
interessiert.- Der Horizont lichtet sich immer mehr. Mein Bruder Hans muß leider am 30 ten
Oktober, wieder zurück. Im Falle Du dann kämest, würdet Ihr gerade an einander vorbeireisen. Du
möchtest von Wally's Hochzeit hören und erzählen von Thatsachen in Briefen ist, wie Du vielleicht
schon gemerkt hast, garnicht meine Sache. Wally war eine sehr nette ruhige Braut. Am Abend
vorher traf ich, in Begleitung von Hamschers aus Stettin kommend, mit den Meinen aus Berlin in
Eberswalde zusammen. An diesem Abend führten Klara und ich einen von mir verfaßten Scherz
auf; wir stellten die alte Kinderfrau und die Milchfrau von Knispels in Neudamm vor. Ich konnte
viel in Knispels Hause vorgefallene komische Geschichten in dieser Scene vorbringen und den
beiden Alten viel Redensarten aus jener Zeit und Anspielungen aller Art in den Mund legen, so daß
mir die Sache recht gut gelungen war. Aber auf einen so stürmischen Beifall war ich doch nicht
gefaßt gewesen. Am Hochzeitstage, wo wir das Stück wiederholen mußten, habe ich soviel
Lorbeeren geerntet, daß ich mir fast den Magen verdorben habe. Besonders ein Onkel von Wally,
der vermöge seines sicheren, überlegenen Wesens als Backfisch in vergangenen Zeiten großen
Eindruck auf mich gemacht hatte, kargte nicht mit seiner Liebenswürdigkeit, und war mein
Tischnachbar und da nun die Anderen außerdem noch immer berichteten, was er hinter meinem
Rücken von mir sagte, wurde die Neckerei schlißlich ein bischen zu weit getrieben und sie hatte mir
meinen Kopf zuletzt noch mit den Worten, ach, laß man sein, also, ich wollte sagen, den Kopf ein
bischen verdreht. Du weißt nun schon, daß er wieder auf der alten Stelle sitzt, und nicht wahr, Du
hältst mich doch darum noch nicht für ein eitles Mädchen? Ich bin dies im Grunde nicht. Von Wally
habe ich einen so hübschen Brief. Ich schicke ihn Dir mit, damit Du dieses selten liebenswürdige
Wesen noch näher kennen lernst. Wenn Du wieder hier bist, wollen wir bald einmal die kleine Fahrt
zu ihr machen und Tante Knispel, die schon bei Wally ist, wird Dich kennen lernen, worauf sie sich
schon so sehr freut. Ich wünschte, ich hätte auch einen
[4]
Lampenputzer! Eine Frage: Darf ich mir wohl von dem Pytagoras-Spiel einige Exemplare von
Thorén holen und sie verschenken? Z.B. an meinen Bruder in Metz? Vergiß nicht, mir diese Frage
zu beantworten!- Ich bin jetzt in Anspruch genommen durch unseren Besuch. Die Kinder kommen
alle Nachmittage und dann ist an keine Arbeit mehr zu denken. Mit Lisa könnte es besser gehen. Ihr
Kopf ist gar zu schwach. Eine Nacht mit gutem festen Schlaf gehört bei ihr zu den Seltenheiten.
Jetzt liegt ihr nun schon der Gedanke an die Zukunft, die hier im Hause manches ändern wird, in
den Gliedern. Überhaupt führen wir hier ein ernstes Leben, es ist so manches nicht wie es sein
sollte. Wenn aus meinen Briefen vielleicht öfter eine ungleiche Stimmung zu Tage tritt, so lege dem
weiter kein Gewicht bei. Äußere Widerwärtigkeiten sind immer die Ursache davon. Ich denke, daß
ich mich im Grunde immer nennen kann
Deine vernünftige und
treue
Anni.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/64
Berlin d.16 ten Oktober 1887
Mein theurer Gustav!
Meine Gedanken sind, wie dies leider so oft der Fall sein muß, zwischen Dir und allerlei widrigen
Hausangelegenheiten getheilt. Dennoch will ich Dir schreiben. Der Gedanke, daß Du wirklich in 14
Tagen hier sein solltest, erscheint mir ganz verwegen! Es ist kaum zu glauben und hüte ich mich
wohl, die Hoffnung darauf zu groß werden zu lassen.- Was Deine Ideen über die Höchsten Dinge
anbetrifft, so habe ich dieselben mit dem größten Interesse gelesen und geht es mir damit, wie mit
anderen Klängen aus einer besseren Welt, nennen wir dieselben nun Kunst, oder Zeichen einer
edlen Seele, ich mag mir den feierlichen Eindruck nicht zerstören, indem ich sie zergliedere,
sondern lasse sie einfach und ganz auf mich wirken. Oft habe ich gedacht, später nehmen wir uns
die Briefe als Abendlektüre einmal vor.- In diesem Monat bin ich ganz aus meiner bis dahin tapfer
erkämpften Ruhe gekommen. Nach den letzten Entscheidungen in Leipzig scheint es doch nicht
mehr verwegen, auf ein günstiges Ende zu hoffen. Eine Enttäuschung, die bei der
Unberechenbarkeit der Gerichte doch nicht unmöglich ist, würde ein harter Schlag für uns sein.- Du
meinst, der Glaube, der sich dabei beruhigt, was wir leiden, schickt uns Gott, führe zur Trägheit.
Kannst Du recht haben, jedenfalls zur Resignation. Aber bleibt uns Frauen denn oft etwas anderes?
Wir sind, das kannst Du glauben, darauf angewiesen, uns zu fügen. Und wenn wir dabei zu Grunde
gehen müßten, wir müssen nachgeben und uns dem Willen beugen, gleich, ob er gut oder das
Gegentheil davon ist. Aus dieser Klemme uns herauszuwinden, den Lebensmuth zu behalten, hilft
uns eben nur der Glaube, daß die ewige Liebe uns zu unserem Wohle den Schmerz schickte. Ich
habe wohl bei Deinen Worten die Empfindung, daß dies kein stützender Baum, nur ein Strohhalm
ist, aber der Ertrinkende greift eben danach! Damit Du nun aber ungefähr weißt, wie mein
anscheinend so ruhiges, und wie die Oberflächlichkeit so gern ein pekuniär gesichertes Leben
nennt, sorgenloses Dasein zu solchen Schlüssen kommt,
[2]
will ich an dieser Stelle nur andeuten, daß wir, Lisa und ich, in unserem innersten Wesen
Antipathien gegen gewisse Eindrücke von außen hegen, die sich täglich, täglich wiederholen, und
die zu beseitigen Papa allein die Macht hat, der für unsere Empfindungen in dieser Richtung gar
kein Ohr hat. Es ist nun aber eine alte Sache, daß große Schicksalsschläge die Gesundheit des
Geistes und bei L. auch des Körpers weniger untergraben, wie kleine, feine tägliche Nadelstiche,
obgleich die Menschen für erstere ihre volle Theilnahme, für letztere indessen meistens ein
Achselzucken haben. Wenn Du einmal hier bist, wirst Du uns vielleicht rathen können, denn Lisa,
die ja später, da ich dann aus dem Hause bin, die Nächstbetheiligte ist, hat ein fast kindliches
Vertrauen zu Dir und vor allem, zu Deinem besseren Verständniß, Frauencharakteren gegenüber,
wie z.B. bei unseren drei Doktoren!- Aber mit einem kleinen Vorbehalt stimme ich dieses Mal in
das Lob meines lieben Theuren mit ein. So ganz weiß er doch noch nicht, mit uns umzugehen, sonst
hätte er mir nicht Miezes Brief geschickt. Der Brief ist übrigens zwei Mal an die falsche Adresse
gelangt. Nach meinem Gefühl war Agnes die einzige passende Vertraute für diesen Frauenbrief!
Denke doch, ich bin nicht was man prüde nennt, das magst Du daraus sehen, daß ich überhaupt
diese Sache so weit berühre- aber Du kannst doch auch nicht in jedem Falle sagen, was natürlich ist,
ist auch schicklich. Hier aber ist die Grenze zwischen Natürlichkeit und Schicklichkeit entschieden
überschritten, zuerst allerdings von Marie.-
d.l7. Noch manches hätte ich Dir zu schreiben, aber die Zeit ist zu knapp bemessen, da ich selten
allein bin. Daß D. Dir soviel Kummer macht, ist recht unangenehm; aber wie steht die Aussicht des
französischen Geschäftes überhaupt?- Daß R's Patent gestürzt ist, ist eigentlich gar kein so großer
Vortheil für Euch. In Lichterfelde ist Alles recht munter, auch die Kleinste gedeiht. Dies ist ein so
stilles, artiges Kind, das man garnicht hört, immer lachend.Meinen beiden Schwestern geht es nicht besonders. Bis auf
[3]
den Kampf mit einigen rebellischen Nerven, aus dem ich schließlich doch als Sieger hervor zu
gehen hoffe, geht es mir gut, wenn ich von mir jetzt überhaupt dies Prädikat gebrauchen kann. Dein
letzter Brief war der 72 te! Also ungefähr 72 Wochen geht es mir nicht sehr gut.
Schreibe bald
Deiner Anna.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/65
Berlin d. 25 ten Oktober 1887
Lieber Gustav!
Dies ist nun voraussichtlich mein letzter Brief! (denn daß der Termin noch einmal vertagt wird, ist
nicht gut anzunehmen). Er müßte nun eigentlich auch besonders nett und schön sein, wird aber
vermuthlich das Gegentheil! Meine Ruhe und der tapfer erkämpfte Gleichmut läßt mich fast im
Stich und ich wünschte nicht, daß uns eine noch längere Prüfungszeit vorbehalten wäre.- Der
Termin ist übrigens nicht am Freitag, sondern am Sonnabend.- Die Angelegenheit mit Papa lege ich
in Deine Hände. Ich will nicht wissen, wann Du kommst. Vielleicht wäre es gut, Du meldetest Dich
schriftlich einen Tag vorher bei ihm an. Wenn nicht, so mußt Du Dich ihm jedenfalls erst zu
erkennen geben, denn er hat ein schlechtes Personengedächtniß. Mache Dir nur keinen Plan und laß
den Augenblick auf Dich wirken, nur den einen Wink: Sei nicht gleich zu cordial, sondern warte ein
wenig ab. Die Sache braucht Dir kein Herzklopfen zu machen, P. ist nur sehr eigenartig und muß er
richtig genommen werden, aber ein anderes, in ihm tiefer liegendes Hinderniß ist nicht vorhanden.
Noch l x mache Dir keinen Plan!- Ich werde P. erzählen, daß Du in nächster Zeit zurückkommst und
ihn meine Freude darüber merken lassen. P. wird nicht sehr überrascht sein und wahrscheinlich
ruhiger, wenn die Sache geschehen ist. Ein ganz klein wenig Egoismus mischt sich in seine
Empfindung, er hält mich hier im Hause nämlich im Übermaße seines väterlichen Stolzes für
unentbehrlich! In der That ist dies aber nicht der Fall.- Was Du über Lustigkeit und Ernst, den Du
entschuldigen zu müssen glaubst, sagst, bringt mich dazu, Dir zu erklären, daß ich im Allgemeinen
eine ernste Stimmung für berechtigter halte, wie eine ausgelassene. Das Leben stellt uns Aufgaben
und darin liegt, daß es ernst ist und ernst genommen werden muß. Sich der Aufgabe mit Freude zu
unterziehen , ist die Heiterkeit, die dem Menschen gut kleidet. Ausgelassenheit ist eigentlich nur
natürlich als Moment im Leben, aber ein sogenannter lustiger oder
[2]
ausgelassener Mensch, besonders ein Mann, würde mir schlecht gefallen. Wenn ich dem Glück
künstlerisch bildend eine Gestalt geben wollte und könnte, es würde anders aussehen als das „auf
rollendem Ball“ schwebende auf dem berühmten Bilde von Henneberg.- Daß Du nicht tanzen
wolltest, ist mir garnicht aufgefallen.- Ich wollte nur soviel sagen: Äußere Lustigkeit und
Fröhlichkeit ist in meinen Augen absolut kein Verdienst, wohl aber eine heitere Lebensanschauung,
denn die muß man sich erringen.- Und nun wundern wir uns nur nicht über uns selbst, wenn wir,
trotz des langen brieflichen Verkehres, erst wieder uns von neuem kennen lernen müssen. Wir
werden uns fremder geworden sein, als wir es ahnen, Du hast eine ähnliche Empfindung in Deinem
Brief schon ausgesprochen. Aber gerade die erste Zeit des sich Kennenlernens, die schöne, noch
einmal durchleben zu können, muß schön sein! Das Blatt hat mich ebenso überrascht wie erfreut!
So grün ist es geblieben, so frisch! Möge es ein gutes Zeichen sein! Ich bin für den Sonnabend auf
Alles gefaßt, nur nicht auf eine Vertagung des Termines. Noch eins! Wenn Du Deine Anwesenheit
wegen Abwartens der Sendung aus Härre für wichtig hältst, so bleibe doch noch die paar Tage, auch
wenn die Entscheidung günstig ist. Darauf kommt es nicht an und in Paris vielleicht viel. Am
Dienstag ist mein Bruder übrigens wieder in Metz, am Mittwoch würde ihm Dein Besuch sehr
willkommen sein. Bank-Str.l8.- Papas Sprechstunden sind Vormittags von 8-10 und Nachmittags
von 3-6 Uhr! Denke Dir die Sache nicht so schwierig! Wir wissen ja beide, was wir wollen und das
ist die Hauptsache. Ich bin überzeugt, daß Du späterhin P. sehr viel sein wirst, werdet Euch aber
beide erst aneinander gewöhnen müssen.- Du könntest eigentlich noch einmal schreiben, im Falle
Du erst heut über 8 Tage, am Dienstag, reisetest. Vielleicht schreibe ich in dem Falle auch noch ein
Mal. So lebe denn wohl, Alles Andere „mündlich“.
Deine glückliche
Anna.
Die Kinderschar tobt um mich herum,
dabei soll Einer schreiben!
[3]
d. 26 ten!
Ich öffne den Brief noch einmal. Möchte Dir noch sagen: 1. Wenn Dir die Fahrt nach Metz in irgend
einer Weise unangenehm ist, meinetwegen brauchst Du sie nicht zu unternehmen. 2. Wenn Du
durch Minden kommst und dort ein bischen Aufenthalt hast, Otto kommt gern nach der Bahn.
(Adresse: Stabsarzt Dr. Rothe.) 3. Schicke ich Dir Miezes Brief wieder, das Bild hebe ich Dir auf.
4.-möchte doch erst der Sonnabend vorüber sein!
In Eile
Deine
Anna.
Den Passus, Lisen betreffend, hast Du
falsch verstanden! Oder habe ich mich
so ausgedrückt. Dieses Mal wollte ich
etwas Anderes sagen! Ade, ade!
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/65a
Berlin d.2.Nov. 1887
Mein theurer Gustav!
Einmal muß ich nun doch noch die Feder nehmen und die Eintönigkeit dieser bangen Woche
unterbrechen! Wenn überhaupt die Zeit Deines Wegseins für mich ein Dasein war, in dem man das
eigene Leben kaum in sich spürte, so ist es diese Woche in ganz besonderem Maße! Das Uhrwerk
ist in der Spannung und Erregung des 29 ten Oktober rein abgeschnürt und steht nun ganz still, bis
es am nächsten Sonnabend wieder aufgezogen wird. Otto hat die besten Hoffnungen, ich habe nicht
mehr den Muth, solche zu nähren, einmal werden die Flügel doch lahm. Wenn Ihr jetzt gewinnt, ich
habe wohl kaum die Kraft, mich von Herzen darüber zu freuen! Du mußt nun nicht auf eine
jämmerliche Stimmung meinerseits schließen, aber - -alle Unanehmlichkeiten, das traurige Gefühl,
im engen Familienkreise mit seinen Bestrebungen, seiner innersten Empfindung allein stehen zu
müssen, habe ich ruhig und tapfer ertragen. Immer war mein Trost, der 29 te Oktober, und nun, da
er ohne Resultat vorüber ist, klappt meine Energie etwas zusammen. Das ist wohl eine natürliche
Folge und ist es eigentlich Unrecht, Dir in solchem Augenblick zu schreiben. Ich sollte wohl
weniger selbstsüchtig sein und Dich mit Klagen verschonen. Bin aber doch einmal eine vom
schwachen Geschlecht, so hoch mein Wollen auch manchmal fliegt!- Seit Montag sind die
Geschwister wieder fort. Ich wiederhole Dir noch einmal, daß ich in Betreff Deiner Besuche bei
meinen Brüdern keinerlei Wünsche habe, die so stark sind, daß sie Dich beeinflussen sollen.
Reistest Du nach Metz, so würde dies doch nur auf kurze Zeit sein und Ihr würdet gegenseitig Euch
nicht kennen lernen, sondern nur die etwaige Neugierde befriedigen. Zu einem längeren Aufenthalt
aber rede ich Dir nicht mehr zu, denn nun ist es bald Zeit, daß Du kommst.- Der Lampenputzer
bewährt sich als recht praktisch, ich wäre neugierig zu erfahren, wie er sich in Frankreich einführt.Immer wieder reißt mir der
[2]
Faden- ich glaube, mein Sack mit Inhalt für Briefe ist nun leer, schon aus dem Grunde mußt Du
bald zurückkommen.- Du entsinnst Dich meines Vetters, der nach Brasilien ging. Der hat ein
rechtes Unglück gehabt. Nachdem er ein schönes Ziel mit großer Anstrengung erreichte, d.h. sich
ein Haus im Urwald baute, seine Braut heimführte, und das Paar mit Hülfe von einer großen viel
Kosten und Mühe verursachenden Ausstattung, die aus Deutschland glücklich hinübergeschafft war,
sich wohnlich eingerichtet hatte, brennt ihnen das ganze Haus herunter. Nach zweitägiger
Abwesenheit nach Hause kommend, stehen sie vor den rauchenden Trümmern. Mir fiel dabei gleich
das Pariser Unglück ein! Was hast Du Alles durchgemacht! Wollte der Himmel, ich wäre im Stande,
Dir die Alles einmal zu vergelten. Aber ich fürchte, die Sorgen, die ich hier im Hause zurücklasse,
werden ihren Schatten auch in mein neues Leben hinein werfen. Wenn ich nur nicht den Schwestern
ähnlich werde. Das kümmert so herum, hat das Glück so nahe, daß es mit Händen zu greifen ist und
erreicht es nicht. Und ich möchte helfen und kann nicht, ich möchte noch so vieles Andere und kann
weiter nichts, als mit Geduld ertragen und warten. Meine Religion, die ich mir zusammenstellte, ist
doch wohl nichts, Du hast auch mächtig daran gerüttelt, so habe ich augenblicklich keinen anderen
Halt, als meine eigene Kraft und die muß sich erst üben, weil ich sie bei meiner Art von Religion
weniger brauchte. Sie wird wohl die einzige Stütze sein, die nie wankt, aber erst muß man sie
haben, augenblicklich ringe ich nur danach!
Na, das ward ein netter Brief! und Du wirst aus vollem Herzen sagen, möge dies der letzte sein. Du
schreibst wohl noch einmal. Den Tag, an dem Du zu uns kommst, will ich aber nicht wissen!
Lebe wohl, ich bin nicht eher froh, als bis Du wieder hier bist!
Immer
Deine
Anna.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/66
Berlin d.11.Nov. 1887
Mein theurer Gustav!
So wären wir denn wirklich wieder auf den brieflichen Verkehr angewiesen! Ein ganz
widernatürlicher Zustand, dem ich aber nun nichts mehr entgegen setzen will, nicht, weil ich es
einsehe, sondern weil Du es für richtig hältst. Papa hat wirklich nichts unter meiner Stimmung zu
leiden und leben wir, als ob garnichts vorgefallen wäre. Ich habe jetzt wenigstens wieder Lust zur
Arbeit und damit wieder einen guten Talisman gegen alle möglichen körperlichen und geistigen
Leiden. Ich habe gestern Abend so viel wie möglich aus dem Fenster geschaut, nach Dir, nach Dir!
Die Beschreibung zum Lampenputzer werde ich am Sonntag Deinem Urtheil vorlegen. Komme nur
nicht zu spät, nicht nach 5 Uhr. Du kommst doch wohl nicht mit O. Zusammen.
Am Abend denke ich mir Dich in Deinem Zimmer sitzen, wenn wir doch nur uns über die
Ereignisse des Tages besprechen könnten, doch ich will ja nicht daran denken, was sein könnte.
(Sitz nur nicht so krumm, das ist ungesund, abgesehen davon, daß es schlecht aussieht.) Schon
darum müßte ich Dich eigentlich garnicht aus den Augen lassen.- Zur Unterhaltung schicke ich Dir
2 Briefe mit von meinen beiden Freundinnen. Käthe Schübler ist eine Schulfreundin. Du wirst
schon sehen, wieviel näher mir Wally steht. D.h. Käthe hat sonst auch nicht so dumm geschrieben.
Sie ist eigentlich ein sehr gediegenes Mädchen, ich begreife ihre faden Bemerkungen und
Betrachtungen über die 28 und 40 Jahre garnicht.
Solltest Du vielbeschäftigter fleißiger Mann noch ein Stündchen Zeit für mich haben, so zeichne
mir ein Monogramm, so, wie ich es in Wäsche verwenden kann in einfachen klaren Linien. Ein
Monogramm, als Ornament in einem Wäschestück wirkend, mag ich nicht. So etwas muß
bescheiden, diskret wirken.Der Brief war eine herrliche Idee von Dir! Mir ist gleich ganz anders zu Muth, wieder trifft mich
der Sonnenschein,
[2]
und das will heute gewiß viel sagen.
Nun ade, mein treues Lieb! Auf Wiedersehen am Sonntag! Es hofft auf guten Erfolgen morgen bei
Klapper.
Deine Ann.
O.S. Ich entdecke soeben, daß Käthe schreibt,
Ende 40 er, da liegt die Sache etwas anders,
wenn ich ihr auch nicht gerade bestimme.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/67
Milkau d.11.4.88
Liebster Gustav!
Deine Karte empfing ich erst heute, am Mittwoch! Über die guten Nachrichten darin habe ich mich
sehr gefreut. Ich bin nun sehr begierig, mehr zu hören und auch, wie die Pappen-Angelegenheit
verlaufen ist. Der Zufall führte mich am Sonntag Nachmittag in die Seidelstr. Dein Lokal in der
Wall-Str. konnte ich nicht öffnen, da die Schlüssel am Sonntag natürlich nicht zu haben waren. Ich
hielt die Sache aber doch für sehr eilig und versuchte mit Hülfe eines dort im Hause wohnenden
Schlossers die kleine Hinterthür zu öffnen. Mußte aber auch dies aufgeben, und nachdem ich noch
ein Eisenblech für das eine bei dem Klopfen herausfallende Fenster machen ließ, die ganze Sache
am nächsten Morgen Otto übergeben, der sie wohl bald geordnet hat.-Hier in Milkau traf ich Clara
und Alice Hamscher nebst einem Fräulein Forke, eine sehr lustige Gesellschaft. Wally ist leider oft
nicht wohl, heute geht es ihr wieder besser. Ich liege seit gestern mit meinem Magen wieder im
Streit, was wohl daher kommt, daß mit Butter, Speck und Sahne hier in riesig verschwenderischer
Art gewirthschaftet wird. Milkau liegt niedlich zwischen sanftem Hügelland; das Gutshaus, ein alter
Bau mit gewölbten Decken, tiefen Fensternischen, mit wohl 3 Fuß starken Mauern, ist ganz
prächtig und würde Dir gefallen. Auch große, weite Räume, aber wie anheimelnd im Vergleich zu
Marthas Räumen in der Linden-Str.Meine Gedanken schweifen oft zu Dir, wie Du Dir wohl denken kannst. Oft, fürchte ich, würdest
Du nicht gerade zufrieden mit mir sein. Wir amüsieren uns hier fast ausschließlich mit sogenannter Frauenunterhaltung, (um nicht einen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen). Du aber gestattest dem
Geiste kein solches sich-Gehenlassen, sich Ausruhen im Schweifen in unwichtigen Dingen und
scheinbaren und oft wirklichen Kleinigkeiten! Nicht einmal dem schwachen Geschlecht. So lange
Ihr nicht zwischen „Euch“ und „uns“ noch mehr individualisiert, werden wir wohl oft um Eure
Nachsicht bitten
[2]
11.4.88
müssen. Ich weiß nicht, ob ich darin Recht habe, ich weiß nur die Thatsache, daß es uns oft schwer
werden mag, mit Eurem stürmischen Drängen nach Vervollkommnung Schritt zu halten. Sie werden
leichter müde, nicht nur körperlich, sondern natürlich auch geistig! Daß ich gerade jetzt darauf
komme, hat seinen Grund darin, daß ich mir dieser Schwäche immer klarer und stärker bewußt
geworden bin, je länger wir verlobt sind. Ich finde, das Leben, wenn man es ernst nimmt und
gründlich zu verstehen bemüht ist, ist an und für sich schon eine beständige Übung der geistigen
Kräfte, die ihre Ruhestunden haben will. Denke doch nur ja nicht, daß ich Dir irgend welchen
Vorwurf machen will, aber mich ängstigt es manchmal, Dich die Überzeugung aussprechen zu
hören, daß Du Dein Ideal in mir gefunden hättest, weil ich weiß, was Du von einem solchen Wesen
verlangst, daß diesen Namen verdient.
Clara H-s indiskrete Seele läßt mich diesen Gedankengang zum Glück abbrechen. Sie will
hauptsächlich wissen, ob - - nun ist Cl. endlich verscheucht.- Tante Knispel wünscht nichts so sehr,
als Dich hier zu haben und Dich kennen zu lernen, auch Emil Mundt. Da die Damen hier viel
Handarbeiten mit vielem Unsinn darin fabrizieren, kann ich meine Kenntnisse in diesem Punkt gut
anbringen. Aber imponieren thue ich damit nun garnicht, denn sie meinen immer: Das hast Du doch
natürlich von Deinem Bräutigam aufgeschnappt!
Ich hoffe sehr, bald etwas mehr von Dir zu hören. Schreibe mir dann auch von meinem Liebling,
der Rechenmaschine, die wohl ihr Publikum noch finden mag. Alle lassen Dich herzlich grüßen.
Von mir einen ganz besonderen Gruß!
Dein Quälgeist.
Bis gestern lag hier die Natur noch im weißen Kleid!
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/68
Milkau b./ Neustädtel
Reg. Bez. Liegnitz
d.13.4.88
Theurer, lieber Gustav!
Die auch heute
morgen erwartete
Karte ist ausgeblieben,
und ich bin nun dummer
Weise gleich wieder in Angst,
es könnte Dir irgend etwas Unangenehmes
passiert sein. Du läßt mich gewiß nicht zu lange ohne Nachricht. Bitte, schreibe doch jeden Abend
eine Karte, wenn Du gewiß auch immer sehr müde bist, wie ich mir wohl denken kann.
Bist Du ganz gesund? Heute am Freitag, neigt sich Dein Aufenthalt in L. schon sehr seinem Ende
zu und Du bist über den Erfolg schon ziemlich im Klaren, während Deine letzten Nachrichten, vom
Dienstag und Montag nur, an mich gelangt sind.
- Daß die Rechenmaschine nicht gehen sollte, kann ich mir garnicht recht denken. Wie geht Thoréns
Sachen? Ich bin wieder ganz gesund, auch ist seit gestern das Wetter wärmer, Wally wieder wohl,
und der Schnee hat sich endlich auf ein bescheidenes, für den April aber immer noch zu reichliches
Maß zurückgezogen.- Die Landwirthschaft spielt sich aber noch zum größten Theil im Hause und in
den Ställen ab, so daß man das Bild rührigen Schaffens und fröhlicher Arbeit, das den Gutshof im
Sommer so reizend erquickend belebt, leider entbehren muß. Ich werde nun Agnes lieber nicht
einladen, her zu kommen. Wann ist Ottos Termin?Wir haben gestern Abend viel gesungen. In diesen Räumen singt sich sehr schön. Es war mir sehr
sympathisch, zu hören, daß W. und ihr Mann auch das gemeinschaftliche Singen pflegen wollen.
Aber ich habe bemerkt, daß Wally beim Üben noch ungeduldiger und unliebenswürdiger ist, als ihre
Freundin, die Du gut kennst. Überhaupt wird mir manchmal Angst und Bange. Frau-sein hat aus
einem so vortrefflichen Mädchen, wie Wally sie als Braut war, eine ziemlich scharfe „Herrin“
gemacht, was wird da aus mir werden, die mit weniger Tugenden
[2]
13.4.88
von Natur ausgestattet ist, wie Wally? Ich muß Dir mündlich noch später von hier erzählen, ich
fürchte fast, W. ist nicht ganz befriedigt, was ich darum nicht erwartet habe, weil sie ja nach einer so
langen Brautzeit, im täglichen Zusammenleben mit Emil genau wissen mußte, was sie von ihm
erwarten und verlangen konnte. Es ist hier ein Mißverhältniß - 2 gegen 1. Die beiden Frauen immer
einig gegen ihn, das reizt ihn und macht ihn natürlich auch ungerecht und dickköpfig. Wenn Tante
nicht gleich von Anfang an hier wäre, hätten sich die Eheleute wohl besser eingelebt.- Die Dinge
hier haben in mir den Entschluß geweckt: Wir ziehen, wenns irgend sich machen läßt, nicht in mein
väterliches Haus.
Ich freue mich schon unendlich auf unser Wiedersehen! Möchten doch recht guter Erfolg in Leipzig
Deine unermüdlichen, wackeren Kämpfe krönen! Leute, die gegen Deine Verdienste blind sind,
thuen sich selbst schon den größten Schaden, sonst würde ich ihnen am liebsten einen anthun!
Ade, mein Lieb, denke auch in freien Augenblicken daran, daß Du außer dem Geschäft auch
angehörst
Deiner getreuen
A.
Schreibe:
Reg. Bez. Liegnitz, nicht Kreis.
Es soll dies zweierlei sein.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/69
Berlin d.21.September 1888
Tag- und Nacht-Gleiche.
Mein lieber Gustav!
Vorgestern war Olgas Geburtstag und ich in Ch. gestern zu Tante Kistenmachers Geburtstag war ich
in Potsdam, darum hast Du nur so spärlich Nachrichten von mir erhalten. Ich bin täglich mindestens
einmal in der Ausstellung und im Geschäft. Die Jungen scheinen ihre Sache ganz flott zu machen,
soweit ich dies beurtheilen kann. Da ich bauen soll und keine Keile da sind, werde ich einen der
vorräthigen Kästen anreißen? Oder sollen die Jungen sich die Furniere von Franke holen? Auf der
Ausstellung ist freihändig nur 2 Kästen Nr. II verkauft, einen dritten konnte sie gestern verkaufen,
hatte aber keinen. Ich habe heut sofort wieder 2 hingeschickt. Fast jeder Besucher aber ist entzückt
von den Sachen und merkt sich dieselben für Weihnachten. Du scheinst leider mit Deinen Erfolgen
in Leipz. nicht ganz zufrieden zu sein. Gestern in Potsdam überhäuften sämtliche Verwandten mich
mit Anerkennungen der Baukästen. Tante Kistenm. möchte so gern einen haben, um selbst damit zu
spielen. Ich habe versprochen, ihr einen zu schicken, kann aber kein Geld von ihr nehmen. Welchen
soll ich ihr schicken?
Eine größere Firma in Kopenhagen will mit Dir Geschäfte machen und wartet auf Dein Kommen.
Der Herr war öfter in der Ausstellung. Ebenso ein Herr Kempinski, der einen Sohn in Brasilien hat,
für den die Sache etwas ist. Ich schrieb Dir schon davon. Ein Kerl von R. hat Frau H. öfter mit
schnöden Redensarten über die neuen Sachen und über die Bausteine belästigt, ist aber von ihr gut
abgefertigt.- Die Prospekte werden kaum reichen, ich habe Fr. H. schon gesagt, sie müßte etwas
sparsamer damit umgehen. Viele treiben den albernen Sport und sammeln von jeglichem Tisch
Karten und Prospekte ein! Soll ich vielleicht Frau H. auszahlen? Vielleicht braucht sie nöthig Geld?
Ihr Mann scheint im Sterben zu liegen. Habe heute die Steuer für Dich nach dem Amt gebracht,
acht Mark für Baumeister G.L. stimmt doch? Kassenbestand nachdem noch ungef. 50 Mark. Paket
nach Stuttgart noch denselben Tag abgegangen.[2]
21.September 1888
Mein Vetter Kistenmacher in Friedenau, der die Luxuspapierfabrik hat, will Dich auch gleich nach
Deiner Rückkehr besuchen. Er hat Lust, seinem Reisenden, der ja auch die Spielwarenhändler alle
kennt, Deine Sachen mitzugeben und will darüber mit Dir sprechen.- Ferner ist von der PapierZeitung eine Anfrage gekommen, die ich Dir mitschicke. Ein Herr daher war auch bei Fr. H. und hat
sie aufgefordert, wir möchten eine Besprechung einsenden. Engels Vertreter, bei dem ich mich nach
dem Wie und Wielang erkundigte, hat mir kurz zusammengefaßt, geantwortet: Kann lang sein, die
Leute streichen schon, was sie wollen, und es muß vom Standpunkte eines objektiven Beschauers
berichtet werden. Die Zeitung ist permanent, also nicht von der Dauer der Ausstellung abhängig.
Willst Du etwas aufsetzen, oder giebst Du mir den Auftrag, so will ich es versuchen!- Die große
Kiste Wall-Str.68 kann nicht mehr auf dem Hofe stehen, Otto läßt sie nun einstweilen zu sich
abholen.
Soviel vom Geschäft: daß, da sonst alles beim alten ist, das Wissenswerthe für Dich in sich schließt.
Auf der Ausstellung ist noch mehr Besuch, als ich erwartet habe. Gestern war Concert oben auf der
Galerie. Frau H. und ihre Nachbarin sind fast ohnmächtig geworden von dem Dröhnen der
Posaunen. Auch ein Photograph, der mit seinem Gukkasten umherschleicht und alle 10 Minuten
dem Publikum ein energisches „Halt“ zuruft, macht die Ausstellung unsicher. Am Sonntag ist
Schluß. Wenn Du am Mittwoch zurückkehrst, findest Du Lisa noch nicht. L. sieht relativ recht
frisch aus. Lebe wohl!
Immer
Deine Anna.
Hab Dank für die pünktlichen Karten! Alle 4 trafen
mit dem Glockenschlag 1/2 10 an 4 aufeinander folgenden
Tagen ein. Go on in this manner!
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/70
Berlin d.23. Februar 1887
Bester Gustav!
Heute, nach Empfang Deines Briefes, und nachdem sich die erste Erregung bei mir gelegt hat, sehe
ich die Sache so ruhig an, daß ich ganz liebenswürdig geworden bin und sage: Du hast ganz recht
gethan. Daß Du keine großen Briefe schreiben konntest, hätte ich mir überlegen können! Aber mein
erster Gedanke war, was wohl Papa dazu sagen würde und dann die Angst, daß er es nur nicht
erfährt. In diesem Sinne verschwieg ich ihm alles und wußte nachher, als er von Dir kam nicht, wie
ich mich heraus reden sollte, um mein Verschweigen zu motivieren. Das hat mich einige Lügen und
ein bischen viel Schamröthe gekostet und das ist schon genug, um so ein empfindsames
schwächliches Ding, wie ich bin, zu verstimmen. Ich habe Dein Leiden immer für eine Kleinigkeit
gehalten, so eins, mit dem man sich amüsieren kann und erschrak natürlich sehr, als ich erfuhr, zu
welchem ernsten Schritt es Dich veranlassen mußte.- Von Lisen kam gestern ein langer Brief, sie
hat den Entschluß gefaßt, wohnen zu bleiben, wenn die Zimmer verlegt werden und der
Schankwirth unten heraus kommt. Ich werde nun Lise so lange zurück halten, bis ich die
Umkramerei hinter mir habe. Dann kann sie kommen und werde ich dann die letzten Wochen ganz
für unsere neue Häuslichkeit erübrigen können. Ich vertreibe mir die Zeit so gut es geht mit Arbeit,
unterbrochen durch Klavierspiel, wodurch ich die airs hoh.? schon so ziemlich im Kopfe, oder
richtiger in den Fingern habe. So mache ich entweder durch die Nähmaschine oder durch das
Pianino mir beständig Lärm vor, einmal um die Einsamkeit, ein anderes Mal um die „lieblichen
Töne“ von unten herauf, zu übertäuben.- An Papas Geburtstag waren wir nur 10 Personen, aber es
war recht gemüthlich. Agnes brachte Papa frische Eier mit, die sie sehr zierlich zwischen Blumen
verpackt hatte. Sie war überhaupt sehr fidel und hielt sogar eine kleine Rede.Ich habe jetzt die Vetiera in der Photographie gesehen und bin sehr enttäuscht über diese, jedenfalls
naturgetreuere Wiedergabe ihrer Erscheinung. Vielmehr bin ich beruhigt, denn um diese
[2]
23.Februar 1887
war es am Ende nicht so schade, wie um jenes reizende Wesen, die mich damals fast bezaubert hat.
Wie furchtbar leicht geht doch noch immer die Fantasie mit mir durch, Du glaubst garnicht, wie viel
leichter mir das Leben würde, wenn mir ein nüchternes einfaches Denken von der Natur beschieden
wäre. Ich fürchte fast, ich werde immer damit im Kampfe liegen! Denn die Jahre haben mich nach
dieser Richtung hin durchaus nicht abgeschliffen. Jetzt lachst Du darüber, weil wir noch nicht alles
mit einander zu theilen haben, wie aber, wenn du direct erst unter meinem, ich fühle es, oft
abnormen Wesen zu leiden hast? Wohl den Menschen, die den Weg gehen wollen und können, der
ihnen schon von anderen, größeren, so schön geebnet ist! Meine Wahl ist ein unbetretener Weg, wo
ich mir durch Dorn und durch Wurzel einen Weg schaffen muß und sollte ich mir die Hände
zerreißen! Sage mir, was treibt mich eigentlich überall im Leben zu dieser für mich so unbequemen
Wahl! Aber ich kann nichts nachmachen, niemandem, wer er auch sei!- Wie komme ich denn
eigentlich darauf. Dies soll ja so quasi ein Krankenbrief sein, so eine Art Mehlsuppenbrei! Doch,
dich regt er sicher nicht auf, im Gegentheil, ich weiß, du lächelst über mein Philosophieren - was
mir eigentlich auch nicht recht ist. Wenn ich nur wüßte, was mir eigentlich recht ist! Daß ich schon
im Mai mich so ganz Dir zu eigen geben soll, ist mir nicht recht- daß ich noch bis zum Mai warten
soll, ehe ich mich unter deinen oft ziemlich energischen Willen zu beugen habe, ist mir auch nicht
recht. Daß Du mir die neueste Sache verschwiegst, war mir nicht recht, hättest du mir sie vorher
mitgetheilt, wär es mir auch nicht genehm gewesen. Wenn nicht diese Verlobungszeit, in der man,
nicht, wie gesagt wird, im rosigsten Himmel, sondern zwischen Baum und Borke lebt, daran Schuld
ist, sondern ich, ich selbst oder gar meine Ahnen, die mir anstatt Gelder wohl allerlei schöne
Tugenden hinterlassen haben könnten, so steht es, du lieber armer Kerl, um dein Eheglück, schlimm
genug. Aber es ist eine alte Geschichte: Die besten Männer kriegen immer die schlechtesten
[3]
23. Februar 1887
Frauen. Und das ist auch richtig. Denn was würde aus der Welt, wenn alle Guten und alle
Schlechten immer nur zusammen kämen? So erfüllt eine schlechte Frau eigentlich nur ihren Beruf,
wenn sie den besten Mann an sich zu fesseln sucht? So ist es und so will ich denn endlich meiner
Feder Halt gebieten und nicht noch mehr schreiben, was ich nicht verantworten kann. Aber du
glaubst garnicht, wie wohl das thut, einmal sich auf dem Papier so auszutoben. Papa meint,
Apfelsinen könntest du essen! Es ist Sorte Nr. I.
Always Your
Ann.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/71
24.02.89
Lieber Gustav!
Mit Freude höre ich soeben, daß Du möglicherweise schon am Mittwoch entlassen wirst. Bleibe
aber lieber zu lange als zu kurze Zeit in Deinem Sanatorium, dessen Carboldüfte ich mir gestern
einen Moment habe übers Angesicht wehen lassen. Es war gerade kein poetischer Gruß von Dir,
aber es war doch immer einer. In der Noth frißt der Deibel Fliegen, sagt ein Sprichwort mehr
treffend als fein. Ich freue mich schon auf die schön eingeräucherten Apfelsinen, die Du
wahrscheinlich, da Du sie nicht selbst essen darfst, mir von Deiner „Reise“ mitbringen wirst.
Laß mal' wieder etwas von Dir hören. David C. ist nett, und wunderbar geschrieben, nicht wahr?
Dein
A.
Let the snow be down on earth,
Let the trees be dry!
Soon of spring will b e the birth
Where the sorrows flyl
And how rnerry will I be,
As you like it so!
Nature rnakes the spirits free,
Let the waters flow!
Being although twenty-ten
Living out of town
I arn strong enough to run
Just rny husband down!
24. Febr. 1889
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/72
Berlin d.27.Febr.1889
Liebster Gustav!
Leider der letzte der netten Briefbogen! Sie haben aber doch fast ein Jahr hingereicht! Dein Bericht
beunruhigt mich etwas. Ich werde mal mir selbst Bescheid von Deinem Doctor holen. Was hast Du
denn für ein kleines Unglück gehabt? Deine Ansichten über unser Verhältniß zur Destillation sind
mir wieder einer von den vielen Beweisen, wie fein und ritterlich Du auf die weiblichen
Bedürfnisse einzugehen verstehst. Daß Du mir darin Gerechtigkeit widerfahren läßt, erkenne ich um
so mehr an, als Du selbst gleichgültiger, wie Du sagst, gegen diesen Lärm bist. Du würdest es aber
auch nicht sein, wenn hier dies bei uns Dein „Heim“ sein sollte! Doch genug hiervon.- Ich borgte
mir neulich, da ich Besorgungen hatte, und das Geld mir ausgegangen war, von Carl 3 M. All right!
Otto und Emil entlassen! Wer tritt an ihre Stelle? Kundtke ist jetzt aus dem Hause. Die Frau, bei der
er jetzt wohnt, hat aber hier schon angefragt, ob es wahr ist, daß er bei Lilienthal sei und monatlich
80 Mark Gehalt hätte? Papa kann Dich heute nicht besuchen, morgen wird er wohl kommen. Wie
gern würde ich Dir Gesellschaft leisten! Aber gieb mir bald bessere Nachrichten. Auch laß mich
wissen, was Du an „derben Genüssen“ zu haben wünschest. Ich fürchte nur, ich treffe nicht das
Richtige, sonst hätte ich Dir schon längst etwas Erfrischendes (bei diesem Wetter sehr nötig)
gesandt. Es ist dies ja das Einzige, was ich jetzt für Dich thun kann und darfst Du mir
vorkommenden Falls die Freude nicht vorenthalten. Lise ist übrigens noch nicht zu Hause. Lies '
mal von Geibel „Ada“. Geibel hatte eine ganz junge Frau, die Tochter einer Schauspielerin
geheirathet. Er gab ihr, da sie poetisch reich begabt war, als ganz junges Mädchen metrischen
Unterricht und faßte Neigung für sie, als sie fast noch ein Kind war.- Die Abende ohne unseren
Vorleser und tapferen Schmalz-und Reste-Verzehrer sind gar zu öde! Denke, daß bei jedem guten,
und besonders bei jedem süßen Bissen, sowie bei jeder interessanten Stelle aus Streckfuß meine
Gedanken doppelt lebhaft zu
[2]
27.Febr.l889
Dir fliegen. Ein Fliegen, das Du ja auch erfunden hast!- Toni Riehl wird die Decke in HolbeinTechnik, die ich gemacht habe, auch arbeiten. Ich will morgen die Utensilien dazu mit ihr besorgen.
Sie wird den Maskenball als Mönchguterin, wie wir sie in Göhren gesehen, mitmachen. Ich habe
das Kostüm auf einer Photographie und ziemlich im Kopf. Es macht mir das Verfertigen dieses
Anzuges fast ebenso viel Vergnügen, als wenn ich selbst mit dabei sein könnte! Wir sind im
Streckfuß jetzt bei dem Vater Friedrich d.G. Ein Besuch Peters d.G. und Katharinas ist sehr
ergötzlich geschildert. Man erstaunt doch, wie viel die Zeit von damals bis jetzt vorgeschritten ist.
Jede Kultur, jeder Edelmuth, Kunst, Wissenschaft steckte damals noch in den ersten Kinderschuhen
und hat nun schon das Alter der Über-Kultur erreicht! Es wäre eigentlich reizend, wenn wir für den
nächsten Winter mit Agnes und Otto regelmäßige Leseabende einrichteten, und dann solche Sachen
läsen. Nich wahr? Und wie gut würde Agnes das thun! Tonis neunjähriger Bruder hat selbständig
sämtliche Modelle des Kastens II gebaut. Besser wie die Großen, sagte Toni. Eine erwachsene
Freundin hat gesagt, das erste, das sie sich wünscht, ist so ein Baukasten.
Ich habe bei Schimpff einige Sachen eingekauft und mich wieder von der Billigkeit überzeugt. 1
Paar Salatgabeln (für Anna Hamscher), die bei Lademann 5 M. kosten, k. bei ihm nur 3 M. Ich habe
gestern mir übrigens auch noch 10 Ctm Draht und Eisen bei Lademann spendiert und verzichte auf
den Anspruch der Bescheidenheit, im Weltall einen kleineren Raum einnehmen zu wollen wie Du.
Ich schicke Dir das bestellte Kranzgedicht für Mieze Hamscher mit. Es ist nur ein ganz triviales
Reimgeklingel, aber in Deiner augenblicklich wenig anregenden Lage macht Dir das vielleicht ein
bischen Spaß.Das Andenken Deiner Mutter ist mir so heilig wie Dir! Ich finde, Deine Schwester hat lange nichts
von sich hören lassen! Ich bin fleißig beim Nähen. Jetzt kommt das amerikanische Nachtgewand an
die Reihe.
Es grüßt Dich innig
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/73
Berlin d. 28 Febr. 1889
Liebster Gustav!
Vielen Dank für Deinen heutigen Brief, der wieder mit dem Glockenschlag pünktlich hier eintraf.
Ich lese ihn immer gerade, wenn Papa beim Frühstück ist, und denke dabei, wie angenehm es ist,
daß ich das jetzt nicht mehr hinter seinem Rücken zu thun brauche. Bald fällt nun auch die letzte
Scheidewand. Dein Brief war so lustig, daß ich Dich ordentlich dabei sehe! Aber du machst in der
Poesie entschiedene Fortschritte! Die Fantasie wenigstens treibt schon mächtige Blüthen; eine
Klinik vergleichbar einem Paradiese! Alle Achtung! So weit hat's Schiller und Göthe nicht einmal
gebracht!- Daß ich mir Sachen anschaffe, die unnütze Arbeit machen, befürchte nur nicht. Ich kaufe
mir vorläufig überhaupt noch nichts. Wo soll ich es denn lassen?
Heute war ich bei Frau Habisch! Die arme Frau ist bestohlen worden. Man hat ihr die besten
Kleidungsstücke von sich und ihrem Sohne genommen. Sie hat keine Spur von dem Thäter, und
wird wohl nichts wieder bekommen.
Wie froh bin ich, daß wir uns so bescheiden einrichten, und wir darin eines Sinnes sind. Wir
brauchen wenigstens armen Leuten gegenüber kein schlechtes Gewissen zu haben.- Ich gebe meine
Chaiselongue auf, bin vielmehr auf einen ganz bequemen Stuhl aus. Für die Wäsche ist nichts
nöthig! Du ziehst ja auch wohl immer l Stück übers andere, das ist der beste und zugleich der
sicherste Aufbewahrungsort!
Ich will nun schließen, sonst erhältst du meinen Brief zu spät und mir wird's auch zu spät. Denn ich
gedenke nämlich des Deutschen Reichs Post wieder um 10 Pf. zu betrügen und den Brief selbst zu
besorgen. Ich habe heute schon 2 Br. verfaßt, an die Brüder, die schon wieder alles Mögliche
dachten, wie es hier wohl aussähe. Nun, in diesen beiden Monaten muß ja Alles zu Recht kommen
und All is well, that ends well.
Zu meiner Beschämung muß ich gestehen, daß ich von der englischen Politik so wenig Ahnung
habe, daß ich nicht einmal weiß, ob Homerole ein Mensch oder ein Gesetz oder sonst was ist. Nun
leb' wohl! Du wirst nun auch noch über die letzten Tage hinwegkommen.
Bleibe nur fein
geduldig!
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/74
März d. 1. 1889
Liebster Gustav!
Heute schreibe ich nicht sehr lang, weil meine Augen etwas entzündet sind. Das kommt von dem
langen Vorlesen des Abends. Mir ist in Folge dessen auch der blendende Schnee draußen so
unangenehm, daß ich garnicht herausgehen möchte. Mit Papa ist nichts besonderes los. Er ist im
Gegentheil ganz nett, allerdings mache ich augenblicklich ja auch gar keine Ansprüche an ihn. Ihn
hat bei Dir vielleicht das Carbol wieder verstimmt, wovon er ein erbitterter Feind ist. Die ferneren
10 Tage , auf die Du gefaßt bist, sind doch wohl nur in deiner Befürchtung vorhanden? Ich sinne
vergebens auf eine Zerstreuung für dich, finde aber nichts. Du hast ja übrigens immer soviel
Denkstoff, daß der Dämon der Langeweile garnicht solche Gewalt über dich haben wird.- Heute
Abend kommt Sophie Bournot mit Martha und Victor, 's giebt Kartoffeln und Sauerkohl. Von
Neuigkeiten ist nur zu melden, daß sich der älteste von den Jahns, der Kaufmann, Carl, mit einem
mir unbekannten Fräulein Helene Schröder aus der Moritz-Straße verlobt hat. Ich verliere jetzt
keinen Augenblick Zeit und arbeite den ganzen Tag an dem letzten Rest meiner Ausstattung. Ich
merke, daß nachher noch genug zu thun sein wird.
Wie hängen denn die Engländer ihre Thüren ein? Dein „eigner Weg“ zur Heilung scheint mir etwas
wässrig zu sein, sonst kann ich nichts dazu sagen. Mach' aber nicht Experimente, die weniger
harmlos sind, als dieses, darum bittet dich ganz dringend
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/75
Berlin d.2.März 1889
Liebster Gustav!
So nett Dein Brief war, so hat er mich doch betrübt, da vorläufig gar keine Aussicht zu sein scheint,
daß du aus der Falle heraus kommst. Ich wollte eigentlich heute 'mal selbst zu Dr. G. gehen, aber
das will Papa durchaus nicht, und so muß ich's lassen. Meine Augen sind besser, gestern Abend die
Ruhe hat ihnen gut gethan, denn Martha und Victor waren hier, und da brauchte nicht gelesen zu
werden, wie du weißt. Was du über die Tante Vossen sagst, ist ganz meine Meinung, ich habe den
Enthusiasmus der Anderen nie recht theilen können. Besonders ist mir auch schon lange
unangenehm, daß sie sich damit abgiebt, aus anderen Zeitungen das abzudrucken, was ihr nicht
gefällt. Sie sollte dieses Reizmittel, das für einen Leserkreis gilt, der eigentlich nicht der Nobelste
ist, lieber verschmähen, und ihre Leser mit dem erbauen, was ihr wirklich gefällt!
Adalieder gefallen dir nicht! Den Grund, den du angiebst, lasse ich nicht gelten. Gerade das macht
doch den Dichter, daß ihm es gegeben ist, das auszusprechen, was wir nicht mehr in Worte kleiden
können! Das ist doch für uns Lesende der einzige große Genuß eines lyrischen Gedichtes, von
einem anderen das in eine künstlerische Form gefaßt zu sehen, was wir nicht auszusprechen
vermögen. Das ist ja grade das, was wir darin suchen, und du sagst, dir gefallen diese Lieder nicht,
weil sie etwas aussprechen, wofür du keine Worte hast. Ist's noch nie bei einem lyrischen Gedicht
wie eine Erlösung über dich gekommen, wenn er das in Worte faßt, was du nur fühlst?
Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab' mir ein Gott, zu sagen, was ich leide!
Das charakterisiert den ganzen Lyriker!
------------Ich fange nun auch bald an, die Geduld zu verlieren. Ist's nicht auch am Ende schlimmer, als du mir
sagst? Wenn ich wüßte, daß du nichts wieder sagst, würde ich mich über den lieben Otto bei dir ein
bischen beklagen, daß er in dieser Zeit seine
[2]
2.März 1889
Schwägerin in Spe nicht einmal aufsucht. Innigere verwandtschaftliche Gefühle werde ich ihm
später erst noch beibringen müssen. Liebes Herz, schreibe mir doch recht genau, wie es dir geht, hat
dich der Apetit noch nicht bei dem ewigen Liegen verlassen? Es kann doch nur noch ein Paar Tage
dauern. Sage doch dem Doctor, du wärst nicht mehr im Stande, länger die Pension zahlen zu
können. Vielleicht heilt er dich dann schneller. Das Blatt für deinen christlichen Herren-Verein
kannst du nun auch wohl nicht mehr machen. Giebt es wohl noch ein Exemplar der Post, in dem das
Referat Eures Vortrages war? Eins habe ich noch. Aber ich möchte sehr gern beiden Brüdern eins
schicken. Gönne mir diesen kleinen Triumpf , und ihnen - die Freude.
Es hat heute gut mit der Arbeit geschafft. Ich arbeite jetzt immer nach der Uhr, das Bringt das Blut
ordentlich in Wallung und fördert die Arbeit. Fühle mich überhaupt körperlich viel wohler, als eine
Zeitlang, wo ich immer müde und angegriffen war. Ich muß viel zu thun haben, solche Arbeit, die
Energie erfordert und Erfolg sehen können. Darum wurde mir das viele Herumlaufen ohne zu
kaufen, auch manchmal zu viel. Und doch war es gut so.
Dodas Hochzeit wird nun doch nicht bei Martha, sondern bei der Schwester von Eva sein, sie will
sich nun wohl doch nicht von Martha den Rang der Liebenswürdigkeit streitig machen lassen.
Daß Du nach solchen Sachen, wie D.C. ist, nichts nach fragst, ist mir ein Beweis, daß ich mit
meiner Behauptung, unsere Zeit spannt Euch Männer zu sehr an, Recht habe. Sonst wär's garnicht
zu entschuldigen, Du!
Es grüßt Dich innig
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/76
Berlin d.3.März 1889
Liebster Gustav!
Ich habe heute keine Nachricht von dir und glaubte daher, du kämest am Ende selbst. Da es nun
aber bereits anfängt zu dämmern, muß ich meine Hoffnung wohl aufgeben und wieder zur Feder
greifen. Diese ist aber heute wenig ergiebig, denn die Zeit vergeht mir so absolut monoton, daß
mein Stoff nun zu Ende geht. Ich sprach gestern deine Pflegerin unten auf dem Hof vor der Klinik.
Sie hatte gleich heraus, wer ich sei! Die schwärmt nun auch wieder für dich! Es ist merkwürdig,
was du, bei alten Damen für Glück hast. Mich mit eingerechnet?
Heute ist ein Mädchen aus unserem Hause nach der Polizei beordert, um sich ihr Geschenk
abzuholen. Sie hat nämlich mit Kaiser Wilhelm II auf einen Tag Geburtsfest, ihm gratuliert, und
erhält nun den Dank. Nun sind sämtliche Proletarier in unserem Hause entzückt und fühlen sich
unter dem Scepter dieses großmüthigen Herrschers geborgen. An die Millionen, die er kürzlich
beansprucht hat, denken sie nicht. Man kriegt überhaupt von dem ruhmreichen Geschlecht der
Hohenzollern eine aufgeklärte Meinung, wenn man Streckfuß liest. Diese Wirthschaft unter den
ersten Königen! Es ist unglaublich, was das Volk sich gefallen läßt.- Unser Kaiser hat zwei Minister
im Militär avancieren lassen. Den einen vom Vice-Feldwebel zum Secondelieutnant, den andern
zum Major. Das Militärische giebt auch einem Minister erst die rechte Weihe.- Ich sehe immer noch
nach den vorüberfahrenden Droschken, ob du nicht darin bist. So ein langweiliger Sonntag! Mit
dem Clavierspielen bin ich fertig, lesen oder malen kann man bekanntlich an Sonntagen bei der
Begleitung bei uns nicht - was macht man nun? Wenn ich nur erst die Stuben-Umkobolzerei hinter
mir hätte. Aber bei diesem Wetter kann man noch lange nicht an das große Reinmachen denken!
Am 17.März in der Singakademie Concert von Helene Jordan-Concert Wolff, lese ich zu meiner
Überraschung heute in der Zeitung. Da hinzugehen hätte ich große Lust. H. Jordan ist die
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d.3.März 1889
junge Dame, die wir damals bei Wolffs sahen.- Heute in der Zeitung ein hübscher Artikel über
Kaiserin Friedrich.- Der Battenberger hat sich verheirathet mit einer Opernsängerin Fräulein
Loisinger, die schon die Dame seines Herzens gewesen zu sein scheint, als er um die Hand der
Prinzessin Victoria warb.
Daß ich heute keine Nachricht habe, liegt wohl nur daran, daß die Post an Sonntagen nicht auf dem
Posten ist. Deine Freundin, die ja sehr genau Bescheid zu wissen scheint, hat mich wenigstens ganz
beruhigt.- Die Nachbarschaft der schwerkranken Frau muß recht niederdrückend sein. Heute hast du
gewiß Besuch von deinem treuen Bruder Otto. Victor war auch wohl bei dir. Victor kam vor einigen
Tagen, als er, der und Otto wieder einmal „geflogen“ sind, mit ganz dicken Kopf nach Haus.
Lieber Gustav! Das Chaiselongue gebe ich auf, aber den kleinen Hücker will ich haben! Mach' dich
darauf gefaßt, in deiner streng logischen Häuslichkeit dieses in deinen Augen unmotivierte Ding
anwesend zu finden, als ein Beweis, daß deine Frau auch einmal etwas gegen deinen Wunsch thun
kann. Eigentlich lohnt's garnicht, so darum handeln zu müssen!
Da sind die 4 Seiten wieder voll, man übt sich beim täglichen Schreiben.
Es grüßt dich
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/77
d.4.3.89
Mein lieber Gustav!
Mein liebster Gustav kann ich doch nicht sagen, das klingt ja, als wenn ich noch zwei andere dieses
Namens hätte! Deine beiden Briefe erhielt ich heute zu gleicher Zeit, Sie waren, das Couvert, beide
vom 3.3. datiert. Carl hat am Sonnabend wohl die Besorgung vergessen. Mach' ihm nur deswegen
keine Vorwürfe, ich habe mich weiter nicht geängstigt.- Daß Frau Habisch dich verläßt, überrascht
mich ungemein. Wenn sie nicht ganz triftige Gründe hatte, so fände ich es geradezu gemein von ihr,
jetzt, wo du noch unfähig bist, das Geschäft zu beaufsichtigen, daraus fortzugehen. Was hat sie denn
für Gründe? Sind die nicht ganz zwingend, so kann sie mir für immer gestohlen bleiben, denn dann
ist sie mit ihrer stets zur Schau getragenen Anhänglichkeit eine Heuchlerin gewesen.- Ich denke
mir, sie hat vielleicht die Absicht, sich wieder zu verheirathen und da geht sie dann an einen Ort, wo
sie ihre Erscheinung präsentieren kann. Den für sie passenden Jahrgang kann sie bei Dir allerdings
nicht finden! Ich kann mich immer noch nicht daran gewöhnen, das Verhältniß zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern als ein rein geschäftliches aufzufassen. Es ist mir immer ein
bischen schmerzlich, wenn einer von deinen Leuten so mir nichts dir nichts von dannen geht. Ganz
besonders natürlich bei dieser anscheinend anständigen Frau! Daß Wien und Spranger bestellten, ist
ein gutes Zeichen und hat mir viel Freude gemacht. Am Mittwoch bist du nun 14 Tage in der
Klinik! Komme am Donnerstag jedenfalls zu uns und bleibe den ersten Tag ruhig hier. Ich nehme
dir die Gänge zu Carl in's Geschäft gern ab. Das Liegen im Bett kannst du ohne Übergang
unmöglich mit der Temperatur deiner Werkstatt vertauschen! Du kannst dir dabei eine ganz
gründliche Erkältung zuziehen. Also setz alle Rücksichten bei Seite und komme hierher!
Ich bin mit deinem poetischen Bedürfniß ganz zufrieden. Es kann sogar sein, daß ein rechter Mann
immer mehr zum Epischen neigt! Ich will nur, daß du individualisierst, was du ja thust, und auch
anders gestimmten Naturen ihr Recht und ihren Genuß am
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4.3.89
rein Lyrischen gönnst. Es ist sogar möglich, daß gleiches Leben uns auch in dieser Beziehung noch
gleichgestimmter macht, und wenn ein kleiner Unterschied bleibt, so ist es vielleicht der in der
Natur begründete, und dann richtig und gut. Daß du bis Donnerstag bleibst, finde ich ganz richtig.
Wieviel Baukästen müssen wir verkaufen, um die Kur zu bezahlen?
Ich will heute noch gehen und den Laden einsetzen lassen zum l. Juli. Es kam heute schon Einer
danach, er wollte keine Destille aber ein Restaurant. Der Unterschied ist der, daß die Dest. Um 11,
die Restauration erst tief in der Nacht schließen muß.
Morgen ist in Stettin Hochzeit. Ich will noch die Salatgabeln abschicken, ich würde sie viel lieber
spenden, wenn meine Hochzeit vor dieser gewesen wäre. Gerade für den Sommer werden sich am
Ende Kinder nicht leicht zum Zählen der Nadeln finden lassen.- Ich glaube kaum, daß Leonhard
sein „Ideal“ finden wird, denn Mädchen, die einige Ansprüche machen- (man soll ja eigentlich nicht
auf Schönheit sehen,) suchen sich doch einen anderen Mann aus. Daß er so wenig Selbsterkenntniß
hat und nicht einsieht, daß er froh sein muß, wenn ihn überhaupt eine nimmt. Er kann ja unser Haus
kaufen. Schade, daß ich nicht mehr zu haben bin, da wäre ihm sonst vielleicht gerade mit gedient.Ich möchte so gern noch 1 Exemplar der „Post“ haben, kannst du es mir verschaffen? Victor muß
man nicht zumuthen zu fliegen, er ist zu schwerfällig und hat außer seinen 220 Pfd. noch den – na,
ich will man lieber nichts sagen, er ist ein anständiger, guter Mensch und ich weiß ja eigentlich
garnicht, daß Ihr Recht habt, ich weiß nur, daß Ihr bis jetzt noch keine Dummheit gemacht habt,
aber sehr viel Gescheidtes! Außerdem übe ich mich ja seit einiger Zeit an deinem idealeren
Egoismus und glaube dem gemäß das, was mir das Angenehmste ist. Mir ist es natürlich
angenehmer, daß Du Recht hast, als ein Anderer- ich natürlich ausgenommen. Im Grunde ist mir
auch das ganz lieb, aber ich lasse mir nicht allzeit auf den Grund der Seele blicken!
Otto v. Schulz, Waldmeisters Brautfahrt, Das Wort der Frau, sind gar keine lyrischen Gedichte, du
Heide!
Ich freue mich sehr auf Donnerstag, du mußt aber noch ein Weilchen artiges Kind sein!
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/78
vermutlich: 6.3.89
Liebster Gustav!
Heute muß ich per Post meinen täglichen Gruß an Dich senden. Mich plagen schon die ganze Nacht
und auch heute noch schauderhafte Magenschmerzen, hervorgerufen durch einen Diät-Fehler
gestern Abend. Spät schwere Sachen essen und dann wie angerammt fest sitzen bekommt auch so
einem guten Magen, wie der meine ist, nicht, wie es scheint.- Der Winter fängt noch einmal von
vorn an! Heute früh sollen 8° Réaumur gewesen sein. Ich merke schon, daß deines Bleibens in der
Klinik wohl noch länger als bis Donnerstag sein wird. Die Gänge nach dem Geschäft werde ich
machen, auch nach der Friedrichstraße, nur heute wird's wohl noch nichts werden. Vorläufig sende
ich dir das eine Exemplar der Post, welches ich noch habe. Nein, ich will dir lieber den Ausschnitt
davon schicken.
--------------Morgen ist mir besser! Ängstige dich nur nicht, es ist nur der Magen, aber sehr unangenehm.
In inniger Liebe
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/79
Berlin d.7.März 1889
Liebster Gustav!
Heute ist mir viel besser, ich habe wieder Lust, etwas zu thun, habe etwas gegessen. Es wäre mir
recht in die Quere gekommen, wenn ich krank geworden wäre, gerade jetzt. Ich hatte heute
Vormittag schon Besuch von Otto, worüber ich mich recht gefreut habe. Aber fast noch mehr über
den Besuch des funkelnagelneuen Ehepaares Hansche aus Stettin. Sie machen eine kleine
Hochzeitsreise und kamen freundlicherweise zu mir mit heran, um sich für das Geschenk und
Gedicht zu bedanken. Beide strahlen vor Glück! Sie ist 18, er wird wohl 24 Jahre sein, beiden hat
das Leben noch gar keine traurige Erfahrung gebracht und sie gehen so muthig in's Leben, als ob's
überhaupt garnichts Schweres geben könnte. Schade, daß du nicht hier warst, das niedliche Ehepaar
hätte dir Spaß gemacht.
Heut war Martha hier, sie geht ganz auf in den Charlottenburger Angelegenheiten, jetzt ist der Mann
von Eva's Schwester schon wieder unartig gewesen! Er hat nämlich gesagt, er fände es unpassend,
daß Doda und seine Frau keine Hochzeitsreise machten. Worüber es auch sei, ich freue mich immer,
wenn Martha frisch und angeregt ist, da ich weiß, daß sie einen geheimen Kummer hat.Ich werde deinem Doctor mal deinen Brief von heute hinschicken, in dem du so unehrerbietig über
„die Kerls“ redest! Er hat gestern Papa im Verein gesprochen und diesem gegenüber die
„liebenswürdige Geduld“ seines künftigen Schwiegersohnes gerühmt. Die Post, die du mir heute
sandtest, riecht ganz nach Carbol, ich könnte dich garnicht besuchen, ohne daß Papa es merkte!
Ich habe Lust, Martha aus Greifswald zu unserer Hochzeit zu bitten. Das Reisegeld würde ich ihr
schicken und logieren müßte sie Agnes. Ich denke, dem armen Mädchen macht so etwas Spaß und
hat sie ja auch nicht viel Anlaß zum Lustigsein. Was meinst du? Ich glaube, deine Tante freut sich
mehr, wenn du
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7.März 1889
Martha, als wenn du sie selbst einlädst.
Du bist unverbesserlich! So lange es dir erbärmlich ging, war dir mein Geibel gut genug, aber kaum
siehst du die Erlösung vor Augen, als du auch den ganzen Kram wieder undankbar bei Seite wirfst.
Die armen lyrischen Dichter! Ihr ganzes Wesen, ihr innerstes Denken und Fühlen geben sie den
Augen der Welt preis und werden völlig anerkannt eigentlich nur von Menschen, die irgendwo
etwas angekränkelt sind. Aber für solche sind sie oft eine Heilung, und das muß man ihnen nicht
vergessen!- Es ist übrigens nicht richtig, wenn man sagt, energische körperliche Arbeit ist das, was
den Menschen gesund erhält. Dann müssen die Künstler, den Bildhauer ausgenommen, alle zum
Kranksein verdammt sein. Nein, gesund macht den Menschen das Feld, auf dem er etwas zu leisten
im Stande ist, und auf diesem allerdings energische Arbeit! Körperliche Arbeit, als Erholung, ja
Sport! Aber nicht umgekehrt.
Ich habe jetzt wirklich Hoffnung, daß du am Sonnabend entlassen wirst. Dann haben wir einen
netten Sonntag vor uns, denke ich!
Ich will nun schließen, damit du den Brief noch zeitig erhältst.
Lebe wohl und komme bald
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/80
Berlin d.8.März 1889
Liebster Gustav!
Dies ist nun hoffentlich der letzte Brief! Wir sind oder werden ein Paar recht verschwenderische
Leute, nicht einmal haben wir die Paket-Fahrt-Post benutzt! Die gute Nachricht von dem Prozeß
freut mich sehr. So ohne Weiteres wird sich R. aber noch nicht geben. Die „Post“ habe ich noch
nicht erhalten.- Wie Winter und Frühling jetzt kämpfen. Die Sonne hat schon zuviel Macht und
wenn die Nächte noch 6° Kälte haben, so schafft sie's am Mittag doch zu 12° Wärme, wie heute. Ich
soll heut ein bischen ausgehen. Bin schon wieder fleißig bei der Arbeit. Ich habe mich recht über
deine Ansichten über Geibel und Göthe gefreut. Ich habe dir im Stillen, wie ich sehe, oft Unrecht
gethan. Ich bin nämlich, was die Schätzung der Poesie anbetrifft, bei allen Menschen, besonders
beim herrlichen Geschlecht, etwas mißtrauisch und empfinde diesen Mangel ja immer schmerzlich.
Nun sehe ich ja aber, wie fein du auch darin fühlst und erkläre dich also nun ganz und gar für mein
Ideal. Es ist wunderbar, wie uns das Schicksal geführt. Dich wollte es in Australien fesseln, mich in
Rußland und nun hat es unseren Lauf so geändert. Ich fürchte mich nur vor Krankheit, sonst habe
ich für mein Glück nicht das geringste Bedenken, und das magst du als Lob hinnehmen, denn ich
mache, wie du weißt, große Ansprüche an dasselbe! Aber im Punkt der Gesundheit ist den Rothes
nicht recht zu trauen!
Gustav, nun kommt der Frühling, bald können wir rufen: Der Frühling ist da!
Dein immer dasselbe
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/81
Berlin d.3.Mai 1889
Liebster Gustav!
Nach einem anstrengenden Schneider-Tage noch einen Gruß, einer der letzten von deinem
Mädchen! So schlimm die Braut-Zeit war, sie hatte doch auch ihre Poesie und das ist für mich, wie
du weißt, Alles, was ich zum Wohlbefinden brauche, fast Alles; oder wenigstens Poesie immer
immer dabei, wenn ich mich wohl fühlen soll.
Das Geschäft ist anders, als im vorigen Jahr, aber, wenn du alles, was die nicht bestellenden alten
Kunden sagen, für bare Münze nehmen kannst, nicht eigentlich schlechter. Etwas Positives wäre für
uns ja eigentlich in dieser Zeit besser, aber, wenn du wirklich dich über den guten Eindruck nicht
täuschst, bin ich auch so beruhigt. Ich glaube, die kleinen Kästen werden sich doch einbürgern,
darüber wundere ich mich eigentlich, daß dies nicht der Fall schon jetzt ist.
Einen Wagen haben wir schon bestellt, du mußt nun noch mit dem Kutscher sprechen, wann und
von wo er dich abholen soll.
Jetzt sind die Gardinen im Quartier, manches wird wohl noch geändert werden müssen. Ich glaube,
die Stühle von Thoms drücken etwas durch die Lehne, aber mit einem Kissen sind sie sehr schön.
Ist der braune Spiritus-Lack nicht zu roth für das Bad. Der Zink-Einsatz kostet 13 Mark. Die
Aufwärterin, eine Schuhmacherfrau ohne Kinder, vis a vis der Kaserne, berechnet eine Stunde
Arbeit mit 15 Pfennig! Bedienung würde so ungefähr monatlich 2 Mark kosten.
Mein Kleid kriegt eine Riesenschleppe. Mein hartes Kämpfen dagegen ist ganz nutzlos. Die
Schneiderin betrachtet mich bei der Gelegenheit nicht anders als das Gestell, auf dem sie ihr
Meisterstück präsentieren kann und da muß ich alles über mich ergehen lassen.
Papa liegt mit Treff auf dem Sopha und findet es, glaube ich, höchst überflüssig, daß ich an meinen
Bräutigam schreibe.
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3.Mai 1889
Streckfuß ist außerordentlich interessant wenigstens. Königin Louise ist mit Recht der Genius der
Deutschen genannt. Unsere Urgroß-Tante, die Giftmischerin, taucht bei dieser Geschicht auch
wieder auf!
Nun gute Nacht! Die Tage fliegen! Wohin?
Dein
A.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/82
d. 15. März 1890.
Liebster Gustav!
Wirklich sind nun fast 2 Tage um, daß ich dir nicht schrieb. Wenn ich denke, daß du umsonst nach
dem Postamt gegangen und dich, wenn nichts für dich da war, dich am Ende gar geängstigt hast,
meinetwegen, so schlägt mir das Gewissen! Ich habe aber in den 3 letzten Tagen so viel vor gehabt,
daß ich nicht dazu kam, dir zu schreiben. Das klingt nun eigentlich schauderhaft, denn eine Frau
muß immer Zeit finden für ihren Mann, nicht wahr? Nun, denken thue ich beständig an dich, und
wenn ich mir immerzu zu schaffen mache, so ist dies, um nicht melancholisch zu werden. Am 13
ten waren wir bei idealem Frühlingswetter in Friedenau. (B. Kistenmacher) Kamen um 10 Uhr zu
Hause an, was für mich aber nichts mehr ist. Gestern, 14. mußte ich nach Berlin, bin aber um 6.06
wieder gekommen. Heute hatten wir Besuch von Olga Knorre mit ihrer Nichte Ännchen. Dies ist
ein reizendes und kluges Mädchen, wenn mein Ehemann auch nichts davon gemerkt haben will.
Olga brachte mir eine von Frau v. Knorre gearbeitete Wagendecke und ein kleines Kunstwerk von
einem gehäkelten Lätzchen mit. Letzteres hat mir die arme, gelähmte Tante Annette gemacht, denke
nur!
Die nächstfolgenden Tage will ich mich nun ganz ruhig verhalten, nur morgens vielleicht einen
Spaziergang zu Agnes machen und ihr den Salat bringen. Agnes geht es immer noch nicht so recht.
Sie fühlt genau denselben Druck, wie vor der Operation. Wir haben hier so warmes Wetter, daß wir
hinten garnicht mehr heizen, und vorn nur wenig. Das Maiglöckchen wird gelb und gelber, ich weiß
nicht, womit ich's ihm angethan habe. Das thut mir zu leid, wie du dir wohl denken kannt.
Ich gehe alle Morgen in den Badeschrank und stehe zwischen 1/2 7 und 7 Uhr auf. Lisa natürlich
auch. Augenblicklich spielt sie Klavier und ist ganz fidel. Mir geht es gut, und wenn es mir schlecht
geht, so bin ich immer selbst daran Schuld, meistens Diätfehler, wie du weißt. Auch gehe ich
ungern lange aus dem Hause und weiß daher auch noch nicht, ob ich Martha's
[2]
15 März 1890
Einladung annehmen werde. Eine Woche liegt ja nun schon hinter uns ! Wenn es dir nicht zu viel
Umstände macht, bringe mir doch wieder „Gleanings“ und „pretty Maid“ mit. Letzteres habe ich,
weil ich in Verlegenheit war, Wally zu ihrem Geburtstag geschickt, und möchte es gern wieder
haben. Kaufe aber sonst nichts für mich.
Ernst Lange's Frau ist einige Tage bedenklich krank gewesen, und zwar durch etwas, was keine
noch so große Vorsicht vermeiden kann. Sie hat einen Traum gehabt, als ob sie Ernst vom Ertrinken
retten müßte und sich dabei einen so starken Ruck gegeben, daß sie in Folge dessen eine Art
Blutsturz nach unten gehabt hat. Sie soll aber jetzt außer Gefahr sein!
Von unseren hiesigen Bekannten habe ich außer Schwann's nichts mehr gesehen. Dir steht übrigens
noch ein Genuß in der Bekanntschaft mit der kleinen 3 jährigen Gertrud Schwann bevor. Die älteste
baut immer noch eifrig, sie muß die Sachen alle ganz allein herauskriegen, aber an den Ecken des
Hauses ist sie gescheitert. Die Leisten sind etwas rauh. Läßt sich dies nicht vermeiden? Was sagen
die Leute zu den großen Kästen? Der Knarre-Hohenlohe hat übrigens bei Söhlke damals einen
Modell-Baukasten gekauft, wie Olga zu meinem Erstaunen erzählte.
Heute gegen Abend habe ich deine Karte aus Utrecht erhalten, die ja viel enthielt. Schreibe recht
bald wieder. Also der Schirm macht seine Fahrt für sich. Nun, wenn's nur der Schirm und nicht
eines Tages auch einmal der Koffer ist, geht's ja noch.
Nun gute Nacht! Bist du in high spirits? Komm nur gesund zurück, wenn das Geschäft dann auch
nicht so brillant war, schadet nichts.
Immer
Dein A.
Den Vorhang habe ich noch nicht angefangen.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/83
d. 18.3.1890.
Liebster Gustav!
Ein freundliches Bild und eine freundliche Überschrift! Damit ist, fürchte ich, meine
Liebenswürdigkeit aber heute erschöpft! Heute morgen erhielt ich deinen Brief aus den Haag, der
mir den Eindruck macht, als ob das Geschäft sich nicht so recht heben will. Dann möchte ich immer
gleich am liebsten den ganzen Kram über Bord werfen und mit dir nach Melbourne gehen, wo du
unabhängig von den Leuten warst, mit denen Du hier, trotzdem sie doch unter dir stehen, so sehr
rechnen mußt. Was sagt man denn zu den giant' s toy? Wollen sehen, was in England los ist. Daß du
die Pappen verbesserst, ist sehr gut, aber auch die kleinen Leisten müssen noch ansprechender
aussehen. Wenn die Löcher gebohrt werden könnten, würden die Leisten nicht angefeuchtet zu
werden brauchen, was ihnen eine unnobele Rauheit giebt. Ich grübele schon den ganzen Morgen
darüber, wie man die einzelnen Elemente noch ansprechender machen kann. Es muß die Kinder
zum Spielen reizen, noch ehe sie etwas damit gebaut haben.
Agnes ist, scheint es mir, wieder besser. Von ihren häuslichen Einrichtungen geht sie aber auch
nicht ein bischen ab, ich glaube, mit dem neuen Fräulein wird es auch nichts. Warum giebt man der
Dame nun nicht die Giebelstube, die doch leer steht, damit sie ein Plätzchen für sich hat! Danach
verlangt doch jeder Erwachsene Mensch, und wenn es auch nur für Augenblicke des Tages ist, man
hat doch seine Welt für sich. Aber wir wollen es uns ernstlich vornehmen, nicht mehr drein zu
reden. Schließlich haben sie ja Recht, sich ihren Haushalt nach eigenem Gutdünken zu gestalten.
Sie sind ja bis jetzt glücklich gewesen, wir wollen sehr vorsichtig sein, und nicht daran rütteln. Es
ist doch auch viel besser, Otto setzt Zweifel in das, was wir für richtig halten, als in das, was seine
Frau arrangiert! Gestern war Fräulein mit den 3 Kleinen auf einen Augenblick hier, um mir einen
Brief von Leip. zu bringen, der glücklicherweise diesmal nicht an meine Adresse direkt gelangte. L.
äußert sich zwar anerkennend und durchaus nicht ungünstig über Lisens
[2]
d.18.3.1890
Talent, aber ich weiß, sein Urtheil würde ihr viel zu kühl sein, sie fürchterlich aufregen und sie die
ganze Zeit hier verstimmen.- Ich lasse sie so viel wie möglich arbeiten. Ihre Gedanken schweifen
aber immer um Sachen, die sie „ergründen“ möchte, um Sachen, die sie verbessern möchte u.dergl.
Gestern hatten wir eine große Häberlin-Charakter-Debatte, der ich schließlich mich nur durch die
Flucht in das andere Zimmer entziehen konnte. Mein Ausruhen auf dem Kanapé hinten hat mir aber
eine kleine Hüftverstauchung zugezogen, die mich noch heute etwas schmerzt, aber wohl weiter
nichts auf sich hat. Heute Nachmittag gehen wir zum Kaffe zu Lisbeth, sind aber früh wieder zu
Haus. Bei Papa war ich noch garnicht. Werde auch wohl nicht so bald hingehen. Bei dem schönen
Wetter könnte er doch auch einmal heraus kommen!
Frau Schwann gefällt mir immer besser, sie ist sehr herzlich, sowie auch das alte Fräulein und
haben beide ein empfindendes Herz für mein Strohwittwenthum.- Wenn du zur Messe gehst, so
müßte Minna in dieser Zeit eben schon hier sein. So lange du aber noch unentschieden bist, kann
ich ihr ja nichts definitives schreiben. Ich glaube, für die großen Häuser wäre es ganz vortheilhaft,
wenn du hingingest.
Das Maiglöckchen ist ganz verwelkt. Agnes meint, du würdest wohl mit angeführt sein. Es scheint,
daß mit den Kellern alles beim alten bleibt, was mir auch ganz lieb wäre. Wir erhalten übrigens ein
Stück unseres Gartens zur eigenen Verfügung. Da könntest du ja deine Tomaten sähen. Ich werde
vielleicht in diesem Sommer mich auch wieder zu ihnen bekehren. Ernst Lange und Doda Knorre
ziehen um. Wie froh bin ich, daß wir dies nicht brauchen! Eva ist wieder gesund.
Zum Schluß noch die Versicherung , daß du dich meinetwegen nicht zu ängstigen brauchst.
Natürlich ist mir nicht so behaglich zu Muthe, als wenn du hier bist. Aber mit der alten Dame auf
dem Boden stehe ich mich seit deiner Abwesenheit besser als vorher.-Dein holländisches Strandbild
hat uns sehr amüsiert. Das Kostüm wäre bei Frau Rohrbach recht angebracht. Sie ist wieder 8 Tage
nicht ausgegangen. Gestern bis zu den Beamten[3] d.18.3.1890
häusern, was ihr aber zu viel geworden. Bleibe gesund. Wir wollen jetzt eßen. Kartoffelklöße und
geschmorte Äpfel. Macht mir gar keinen Spaß, zu kochen, wenn du nicht hier bist.
Besten Gruß von L. Dein, Dein, Dein
A.
Schreibe nur von London aus an R. Schönhauser-Allee 170. vergiß es aber auch nicht.
Brief Anna Rothes an Gustav Lilienthal
Original in Familienbesitz, Digitalisat nach Abschrift
L1608/84
Lichterf. den 22.3.1890
Liebster Gustav!
Wie ist es mit der Patent-Urkunde? Ich habe mich nun laut Abmachung mit dir nicht darum
bekümmert. Otto, den ich heute danach fragte, war ärgerlich, daß wir „so etwas nicht im Schlaf
wüßten“. Es ist doch nichts versäumt, nicht wahr? Antworte umgehend, und zwar, wenn Eile nöthig,
mir und dem Geschäft, da ich vielleicht nicht so schnell hineinfahren kann. Deine Karte aus Anvers
früher erhalten als aus England. Letztere war zu Agnes gegangen. Vergiß nicht, Potsdamer Bahn zu
schreiben und zu unterstreichen. Otto hat seinen Kopf voll. Thorén braucht Geld über Geld, seine
(Otto's) Arbeiter wollen sämtlich höheren Lohn haben, Kunden machen Zahlungs- und andere
Schwierigkeiten. Er hatte heute seinen schlechten Tag. Angesichts dessen kann es uns garnichts in
den Sinn kommen, zu erwägen, ob du zur Messe gehst oder nicht, sobald das Geschäft es erfordert,
obgleich ich dir nicht verhehle, daß dies für unsere häuslichen Angelegenheiten so schlecht wie nur
möglich paßt. Nach Frau Treptow, die ich heute auf der Straße sprach, ist meine Zeit zwischen 16.
und 23 . April. Ich habe mir morgen, zum Sonntag, Papa heraus bestellt, um mit ihm ernstlich
Rücksprache zu nehmen. An Minna schreibe ich heute Abend noch.
Fühle mich Gottlob recht wohl. Gestern und heute haben wir, Lise und ich, die kleine Wäsche
gewaschen. Lise greift ordentlich zu und bekommt es ihr gut. Hast du die kleinen Bücher besorgt?
Wie froh bin ich, daß wir unsere kleine Wohnung noch behalten haben, dieser Sommer wird schon
Mehrausgaben bringen! Hulda scheint bedenklich krank zu sein. Man wird nicht recht daraus klug.
Der Vater schreibt, 4 Ärzte erklären ihren Zustand für nicht gefährlich, gastrisch, geben ihr
Morphium und Wismuth, die Mutter schreibt schon ganz verzweifelt und hat keine Hoffnung mehr.
Sie liegt nun schon 5 Wochen und wird ihr Zustand immer schlechter. Jetzt hat sie starke
Brustschmerzen. Otto
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22.3.1890
und Agnes gehen heute Abend in die Gesangvereinsaufführung. Daraus kannst du sehen, daß es
Agnes besser geht, ob sie geheilt ist, läßt sich aber noch nicht erkennen.
Vergiß nicht, mir umgehend wegen der Patent-Urkunde zu schreiben, ich bin in Sorge, daß irgend
etwas versehen sein könnte. Ich habe noch reichlich Geld!
Ade, du mein Alles!
Dein
A. (soll aber nicht auch
„alles“ heißen.)