Jahrhundert-Streifzug durchs Kinderzimmer

Transcription

Jahrhundert-Streifzug durchs Kinderzimmer
100 JAHRE KUNSTSTOFFE
Eine Puppenwelt
kreiert für die
Nürnberger Spielwarenmesse Mitte
der 50er-Jahre
(Foto: Roman Graggo)
Jahrhundert-Streifzug
durchs Kinderzimmer
Spielwaren. Ein Blick zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zeigt Spielwaren
aus Metall und Holz. Produziert wird größtenteils in Heimarbeit, nur wenige leisten
sich Maschinen. Zelluloid und mit den Jahren weitere Kunststoffe verändern die
Spielwarenindustrie. Heute produzieren viele Unternehmen automatisiert und in
großem Umfang ihre Artikel aus Kunststoffen.
STEFANIE WOLF
pielen ist nicht nur ein Zeitvertreib,
Spielen ist ein erzieherisches Hilfsmittel. Mädchen lernten auf diese
Weise im vorletzten und letzten Jahrhundert ihre häuslichen Pflichten und die
Knaben bekamen rechtzeitig eine Vorstellung von Handwerk oder Technik. 1909
beschreibt Max Schneider das Wesen der
Spielwaren in der Deutschen SpielwarenZeitung folgendermaßen: „Man kann im
ersteren Sinne von einer natürlichen Aufgabe des Spielzeugs sprechen, welche in
der Befriedigung des Spieltriebes ruht, in
zweiter Linie die Aufgabe des Spielzeugs
S
ARTIKEL ALS PDF unter www.kunststoffe.de
Dokumenten-Nummer KU110393
als eine soziale bezeichnen, deren Lösung
der Pädagogik angehört.“ Der Ingenieur
unterscheidet vier Arten bei Spielwaren:
ruhend (Puppe), beweglich (Ball), mechanisch (Dampfmaschine) und physikalisch (Eisenbahn, Spieldose). Dabei werden nicht nur Tiere und Menschen kleintechnisch nachempfunden, sondern auch
großtechnische Errungenschaften [1].
Erste Puppen aus Zelluloid
In dieser Zeit ist Zelluloid der willkommene Werkstoff. Das leicht wiegende Material besitzt eine große Elastizität und
Aufnahmefähigkeit für Farben. Puppenköpfe und -glieder, Bälle oder Kreisel
werden aus diesem Material hergestellt.
Die Rheinische Gummi- und Celluloid-
128
W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen
fabrik (kurz: RGCF, heute: SchildkrötPuppen GmbH, Rauenstein) ist ein bekannter Vertreter. 1896 produziert das
Unternehmen die erste Puppe aus Zelluloid im sogenannten „Preßblasen“. Eigenschaften wie bruchfest, abwaschbar,
farbecht und hygienisch verhelfen dem
Werkstoff zu seiner Stellung bei der Puppenherstellung [2].
Die Erfindung des ersten Zelluloid
wird Alexander Parkes 1856 zugeschrieben.Aber erst John Wesley Hyatt weiß das
Material richtig zu nutzen: Als Ersatzwerkstoff für Elfenbein. 1870 lässt er es
unter der Handelsmarke Celluloïd der
Celluloid Manufacturing Company registrieren. Hauptbestandteile sind Nitrozellulose und Kampfer als Weichmacher. Das
Material wird mit Wärme geformt. Da© Carl Hanser Verlag, München
www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv
Kunststoffe 5/2010
Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern
100 JAHRE KUNSTSTOFFE
mit erhöht sich wesentlich der Freiheitsgrad in der Formgebung – ein Schritt in
Richtung Massenproduktion [3].
1913 hat Deutschland eine Jahresproduktion an Spielwaren von etwa 32 Mio.
USD. Spielwaren im Werte von 24,5 Mio.
USD werden exportiert, wobei die USA
Hauptabnehmer sind. Nahezu ein Drittel des Exports fließt nach Übersee [4].
Doch die USA sind nicht nur größter Abnehmer, sondern auch schärfster Konkurrent in der Spielwarenherstellung. Die in
Deutschland – von wenigen Ausnahmen
abgesehen – vorwiegend hausindustrielle Puppenfabrikation gibt es dort nicht.
Alles wird in den USA sofort im großen
Maßstab umgesetzt [5]. 1859 gibt es zwölf
Fabriken im ganzen Land, 1914 produzieren bereits 290 Unternehmen Spielwaren. Hauptabnehmer sind Großbritannien und Kanada [4]. Das Puppenbild ist
hier ein anderes, weniger damenhaft. Zudem sind amerikanische „Charakterbabys“ äußerlich ein getreues Abbild der
Wirklichkeit [5].
Um 1915 treten in Europa die Zelluloidbälle verstärkt in Konkurrenz zu
Gummibällen. Sie werden in allen Farben und mit Mustern hergestellt. Ganz
neu sind die hochfein bemalten Reliefbälle und Bilderbälle, mit Bildern aus
Bild 2. Zelluloid-Hohlkörper lassen sich im
Blasverfahren herstellen; um das Werkzeug zusammen zu halten und den Druck noch erhöhen
zu können, wird eine Schlagradpresse
eingesetzt [15]
Bild 1. Kämmer & Reinhardt entwickeln eine neue Puppe, die Charakterpuppe: Die ersten waren
die Babies 700 (links). In den zwanziger und dreißiger Jahren werden exotische Puppen modern
(rechts, Hersteller: Bruno Schmidt, 30er-Jahre) [3]
Märchen wie von Max und Moritz und
Struwwelpeter. Auch Schwimmtiere und
Vögel sind in großer Auswahl erhältlich,
ebenso sind Tiere in unterschiedlichen
Arten und Größen, mit festen sowie beweglichen Gliedern oder von selbst laufend vertreten [6].
Von Charakterpuppen und Soldaten
Von der Puppenfabrik Kämmer & Reinhardt aus Waltershausen stammt die Idee
eines neuartigen Puppentyps: die Charakterpuppe [7]. 1909 erfolgt die Eintragung als Warenzeichen. Der Bildhauer
Prof. Arthur Lewin-Funcke, der offiziell
niemals in Erscheinung tritt, modelliert
die ersten Charakterpuppen: die Geburtsstunde der Babies 100 (aus Zelluloid: Serie 700, Bild 1 links). Die Reihe der Charakterpuppen lässt sich bis ins Jahr 1929 fortsetzen [3].
Viele Unternehmen tragen ihre Entwicklungen als Gebrauchsmuster ein. Die
Bayrische Celluloidwarenfabrik, vorm.
Albert Wacker, aus Nürnberg meldet um
1910 zum Beispiel eine „Rohrartige Spielfigur mit eingebautem Stimmwerk“ [8]
und einen „Spielzeugkreisel aus Zelluloid“ an [9].
Der erste Weltkrieg schwächt zusehends die deutsche Spielwarenindustrie.
Kriegsanleihen, Einfuhrverbote und
Konkurse haben ihre Wirkungen. Dennoch versuchen die Unternehmen, das
Kriegsgeschehen zu nutzen und stellen
ganze Regimenter von Soldaten mit Gewehren, Kanonen oder Pistolen zum
Spielen her. In den USA erhöhen sich die
Produktionskapazitäten in dieser Zeit gewaltig, da sich der Import reduziert hat,
jedoch nicht das Bedürfnis nach Spielwa-
Aus zwei Blättchen wird ein
Hohlkörper
Aber vor allem verfeinern sich die Herstellungsverfahren. Ein typisches Zwanziger-Jahre-Produkt ist die Rassel. Um
Zelluloid-Rasseln zu fertigen, kommt unter anderem das Blasverfahren zum Einsatz. Durch Einblasen von Dampf in zwei
Hohlformhälften entsteht der Hohlkörper. Zwei dünne Zelluloidblättchen werden aufeinander gelegt und auf dem Unterteil der angewärmten Form gefestigt.
Nach dem Befestigen des Oberteils wird
ein Blasmundstück am Rand zwischen
die Blättchen geschoben. Eine Schlagradspindelpresse hält die Form zusammen
(Bild 2). Der Dampf (oder Heißwasser)
strömt zwischen die Blätter und bläht sie
unter teilweiser Kondensation auf.
Stoßdrücke von außen verschweißen die
von der Form erfassten Ränder. Der Stiel
wird aus Stangenzelluloid oder aus Streifen hergestellt [10]. Die Werkzeuge sind
meist zweiteilig. Ist die Geometrie der
Spielfiguren komplexer, können sie auch
mehrteilig ausgeführt sein. Damit sich die
Formhälften nicht abkühlen, sind sowohl
das Unterteil (Tisch) der Presse als auch
das bewegliche Oberteil (Stößel) hohl. In
beide Teile wird Dampf oder Heißwasser
eingelassen, abgekühlt wird über Kaltwas>
ser [11].
129
Kunststoffe 5/2010
W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen
ren [4]. In den zwanziger Jahren bauen
viele deutsche Spielwarenhersteller ihre
Unternehmen wieder auf und erweitern
ihr Sortiment. So werden jetzt Puppen
mit anderer Hautfarbe gefertigt, sogenannte Neger (Hersteller: Celluloidfabrik
Dr. P. Hunaeus, Mitte 1920er-Jahre und
Bruno Schmidt, 1930er-Jahre; Bild 1
rechts) [3].
www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv
Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern
100 JAHRE KUNSTSTOFFE
Die Thermoplaste erweitern
den Spielraum
Der zweite Weltkrieg bringt in Deutschland erneut die Spielwarenproduktion
zum Erliegen. Viele Unternehmen werden zu Rüstungsbetrieben umfunktioniert. In den USA setzen sich Kunststoffe, vor allem die thermoplastischen Massen, weiter durch. Der größte Teil der hergestellten Spielwaren ist dabei nicht
mechanisch, d. h. ohne Federwerk oder
sonstigen Antrieb. Ein Vorteil des neuen
Materials ist nicht nur die Möglichkeit der
Massenproduktion: Farbvielfalt, einwandfreie hygienische Eigenschaften,
Sicherheit (Blechspielzeug hat scharfe
Kanten) und das Bestreben der Warenhäuser, keine Zelluloidpuppen im Bestand zu haben (Feuergefährlichkeit,
strenge Handhabe bei Feuerversicherung), begünstigen den Einsatz der Thermoplaste. Noch während des Krieges
zieht England mit Spielwaren aus Spritzgussmassen nach, kurz darauf folgen
Frankreich und Italien sowie Japan [12].
Auf der im März 1946 in New York stattfindenden Spielwarenausstellung ist jedes
vierte in den USA hergestellte Spielzeug
aus Kunststoff. Dabei sind nicht diejenigen berücksichtigt, die einzelne Bestandteile aus Kunststoff haben. Beobachter
führen dies auf den Wettbewerb innerhalb
der Branche zurück. Keine andere Industrie ist ähnlich unternehmungslustig bei
der Suche nach neuen Werkstoffen und
neuen Spielideen. Im Bereich der „billigen
Kleinigkeiten“ werden Zellulosederivate
und Polystyrol (PS) verwendet. Vinylkunststoffe finden Anwendung für Puppenwagen-Verdecke, Stoffpuppen und für
die Herstellung von Bällen [13]. Für blasgeformte Spielwaren wie Puppen und
Schwimmtiere wird nach wie vor bevorzugt Zelluloid eingesetzt. Um Kinderklappern, Zimmereinrichtungen für Puppenhäuser oder Soldaten zu fertigen, verwenden die Hersteller Zelluloseacetat (CA).
Spielzeugautos und -lastwagen sind aus
Phenolpressmassen (PF) und geformte
unzerbrechliche Puppen sowie aufblasbare Tiere aus Polyvinylchlorid (PVC) [14].
Bild 3. 1947 in Billund/Dänemark: Ole Kirk Christiansen
arbeitet an einem Prototyp für
einen Baustein; neun Jahre
später lässt er sich den LegoStein aus ABS patentieren
(Foto: Lego)
Modelle von Personenautos und Lastwagen in verschiedenen Ausführungen vorgestellt. Aber auch Einrichtungen für
Puppenküchen aus PS (Hersteller: geobra Brandstätter GmbH & Co. KG, Zirndorf), Puppenläden, Waagen, kleine Telefone, Motorboote und Schiffe werden
geboten. Sogenannte Wackelpferdchen,
die eine schiefe Ebene hinunterlaufen,
präsentiert die Spritzguss-Werk GmbH,
Weißenburg [12].
Das Wirtschaftswunder der endvierziger und der fünfziger Jahre führt
nochmals einen Aufschwung für die
Kunststoffe herbei. Überall tüfteln Spielzeughersteller in ihren Werkstätten an
neuen Ideen. So entwickelt Josef Dehm
die ersten Bausteine aus Kunststoff Ende der vierziger Jahre. Abgeleitet von seinem Namen nennt er sie Idema. Aus
Bakelit hergestellt ähneln sie dem Back-
Die feine Faser, ein Schlauch
und neue Kurven
Die Steine der Weisen
In Deutschland beginnt nach 1945 erneut
der Wiederaufbau der Spielwarenindustrie, insbesondere im Gebiet um Nürnberg und Fürth. Versuchsweise werden
amerikanische Spielzeuge kopiert, der
Absatz ist jedoch wenig vielversprechend.
Auf der Spielwaren-Fachmesse in Nürnberg werden im März 1952 überwiegend
Bild 4. Der Steiff-Bär Cosy Orsi aus den fünfziger Jahren ist aus der PAN-Kunstfaser Dralon
gefertigt (Bild: www.teddybaer-antik.de)
130
W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen
stein, Aussparungen und Zapfen stabilisieren die Steine. Um die Bausteine zu
verbinden, nutzt Dehm Spannstifte.
Später ersetzt er Bakelit durch elastischeres PS. Zudem ist die Spritzgießverarbeitung präziser und die Steine halten ohne Zusatzteile. 1952 lässt sich
Dehm den Stein patentieren [15].
Zeitgleich arbeitet Ole Kirk
Christiansen im dänischen
Billund ebenfalls an einem
Prototyp für einen Baustein
(Bild 3). Das geplante Grundmaterial CA haftet jedoch
schlecht. Das Einbringen zylinderförmiger Geometrien, zwischen denen
die vorhandenen Zapfen eingeklemmt
werden, erhöht die Stabilität. Nach einer
Entwicklungszeit von neun Jahren lässt
sich Christiansen 1958 den Lego-Stein in
Kopenhagen patentieren (Lego ist eine
Zusammensetzung aus den dänischen
Wörtern Leg und Godt – auf Deutsch
spiel gut). Im gleichen Jahr kommen die
Steine auf den Markt. Erstes System ist
der Lego Stadtplan. Später werden Räder
(1961), größere Steine für kleinere Kinder (Duplo, 1967) und Figuren (1974, die
heutige Form stammt von 1978) folgen.
Seit 1963 werden alle Steine aus Acrylnitril-Butadien-Styrol-Copolymerisat –
kurz ABS – gefertigt. Dieser matt glänzende Kunststoff ist sehr hart und hat eine
kratz- und beißfeste Oberfläche. Für die
Herstellung entscheidend sind die Spritzgießwerkzeuge. Sie dürfen lediglich eine
Abweichung um einen Tausendstel Millimeter haben [16].
Mitte der fünfziger Jahre bahnt sich die
Kunstfaser einen Weg zu den Teddybären.
Die Margarete Steiff GmbH, Giengen,
stellt den ersten Teddybär aus der Kunstfaser Dralon her und tauft ihn Cosy Orsi
(Bild 4). Er ist der Urvater hunderter Teddybärvarianten, die viele Firmen bis weit
in die 1970er-Jahre produzieren [17]. Die
Kunstfaser besteht aus Polyacrylnitril
(PAN) und wird 1942 von der I.G. Farben
entwickelt. Nach 1950 vermarktet die
Bayer AG, Leverkusen, die Faser unter
dem Namen Dralon. Gewebe aus Polyacryl zeichnen sich durch eine weiche,
wollartige Griffigkeit aus und haben eine
hohe Wärmedämmung, dabei sind sie
leicht und wasserabweisend.
Ein echter Schlager wird ein anderes
Spielzeug – oder besser Freizeitgerät – Anfang der 60er-Jahre: Der Hula-Hoop-Reifen, 1958 in Amerika erfunden. In
© Carl Hanser Verlag, München
www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv
Kunststoffe 5/2010
Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern
100 JAHRE KUNSTSTOFFE
Bild 5. Nimmt man es ganz genau, wurde Barbie nach dem Abbild eines Lückenfüllers der Bild-Zeitung erschaffen – rechts
die erste Barbie von 1958, links fünfzig Jahre später (Foto: Mattel)
Deutschland arbeitet Horst Brandstätter
an einem Verfahren und einer Maschine,
um die runden Reifen zu formen. So konstruiert er eine Anlage, die einen weichen,
heißen „Plastik“-Schlauch zu einem
Hula-Hoop-Reifen formt. Das Blasverfahren, zuvor nur für Flaschen verwendet, eröffnet der Spielzeugwarenherstellung neue Möglichkeiten. Geobra Brandstätter produziert in den nächsten Jahren
das erste rundgeschlossene Rennauto,
kleine Boote und Traktoren.Auch der erste lenkbare Sitztraktor für Kinder, der einem echten Porsche-Traktor nachempfunden ist, kommt auf den Markt [18].
Ebenfalls Ende der fünfziger Jahre
taucht eine neue Art von Puppe auf,
knapp 30 cm groß und mit auffallenden
Körperproportionen [19]. Die Amerikanerin Ruth Handler, die gemeinsam mit
ihrem Mann Elliot Handler und Harold
Matson 1945 Mattel gründet, ist die
Ideengeberin. 1958 sieht sie auf einer Reise durch Europa in einem Schaufenster
die Puppe Lilli, die die Spielzeugfabrik
Hausser, Neustadt bei Coburg, drei Jahre
zuvor nach dem Vorbild einer Zeichnung
herausbrachte. Die Figur
entstammt der Feder des Karikaturisten Reinhard Beuthien, der sie als Lückenfüller für die erste Ausgabe der
Bild-Zeitung (24. Juni 1952)
gezeichnet hatte.
Zurück in Amerika kreiert
Ruth Handler die Ankleidepuppe Barbie (Bild 5). Benannt nach dem Spitznamen
der Tochter Barbara werden
am 9. März 1959 die ersten
Exemplare auf der American
Toy Fair in New York präsentiert. Eine Barbie kostet drei
Dollar (zu dieser Zeit waren
das etwa 12 DM). Sie hat
blondes oder braunes Haar,
jeweils mit Pferdeschwanz
und gelocktem Pony und ist
komplett aus Kunststoff. Ihre Kopfform mit geschlossenem Mund und anmodellierten Wimpern ist der Lilli
nachempfunden, mit ebenfalls weiblichen Formen und
kräftigem Make-up. Zwei
Jahre später folgt Ken, benannt nach dem Sohn der
Handlers. Mit der Zeit entstehen ganze Kunststoffwelten um Barbie, sodass die
Puppe zu einem richtigen
Massenspielzeug wird [20].
Formel 1 auf Schienen
Ein roter Flitzer und kleine
Männchen
Die siebziger Jahre starten mit einem Auto, genauer gesagt mit dem Bobby-Car,
das die Big-Spielwarenfabrik, Fürth (heute Burghaslach), fertigt (Bild 7). Räder und
Körper sind im Extrusionsblasformen aus
Polyethylen (PE-HD) hergestellt, Lenkrad sowie Lenkeinheit werden aus Polypropylen (PP) spritzgegossen. PE-HD ist
leicht und wetterfest, ohne Neigung zum
Brechen, Splittern oder Verbeulen. Zudem ist es schweiß- und speichelecht.
1972 rollt das erste dieser Rutschfahrzeuge vom Band: 60 cm lang, rot mit weißem
Lenkrad [25].
Zwei Jahre später stellt ein Spielzeughersteller neue Kunststofffiguren vor.
Playmobil ist eine Idee von Hans Beck,
dem Entwicklungsleiter von geobra >
So beliebt wie Barbie bei Mädchen ist, so
beliebt ist die Carrera-Bahn in der Jungs(Männer-) Welt. 1963 stellt Hermann
Neuhierl die elektrisch betriebene Autorennbahn im Maßstab 1:32 vor (Hersteller: Neuhierl GmbH & Co. KG,
Fürth) [21]. Original-Rennstrecken wie
Monza oder Indiana werden nachgebaut. Produziert wird in China. Das Chassis der dazugehörigen Autos ist aus glasfaserverstärktem Polyamid
(PA), der Body aus ABS [22].
Montiert werden die Autos
rein über Handarbeit. Das
Dekor bzw. die Motive werden im Tampondruck aufgebracht, jede Farbe in jedem
einzelnen Motiv erfordert einen Fertigungsschritt. Eine
Zusammenarbeit mit der Automobilindustrie ermöglicht
originalgetreue Lizenzen im Bild 6. Der Erfinder des fischer Dübels stellt 1966 den ersten
Bereich Formel 1, klassische Baukasten 400 vor, die grauen Grundbausteine werden aus
Automobile oder Tourenwa- ABS und PA im Spritzgießen hergestellt (Foto: fischertechnik)
131
Kunststoffe 5/2010
W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen
gen. Einige Fahrzeuge sind mit echten
Frontscheinwerfern und Rücklichtern
ausgestattet und lassen sich vielfältig tunen. Seit 1999 gehört Carrera der Stadlbauer Spiel- und Freizeitartikel GmbH,
Nürnberg [23].
Um seine Kunden nicht mehr mit den
üblichen Präsenten wie Kirschwasser und
Schinkenspeck beschenken zu müssen,
entwickelt Professor Artur Fischer (erfindet 1958 den fischer Dübel) eine etwas
andere Art von Baukasten. 1966 wird der
Baukasten 400 als der erste seiner Art auf
der Spielwarenmesse präsentiert (Bild 6).
Neben grauen Spielbausteinen enthält er
Achsen, Räder, Zahnräder und Bauelemente, die es ermöglichen, technische
Motive nachzubauen. Im Spritzgießen
hergestellt, bestehen die Grundbausteine
aus ABS und PA. Für Räder oder Kettenglieder werden Thermoplastische Elastomere (TPE) verwendet, der Rumpf der
Schiffsmodelle ist aus Expandiertem Polypropylen (EPP) [24].
www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv
Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern
100 JAHRE KUNSTSTOFFE
Bild 7. 60 cm lang, rot und
mit weißem Lenkrad: So
rollt 1972 das erste dieser
Rutschfahrzeuge vom
Band (links), heute starten große Kinder in der
Formel Big-Bobby-Car
und erreichen mit
getunten Fahrzeugen
Geschwindigkeiten bis
105 km/h (Foto: Big)
Brandstätter (Bild 8). Das Patent wird bereits im Februar 1972 beantragt. Das
komplette Sortiment besteht zu 95 % aus
Kunststoff, überwiegend aus ABS, aber
auch aus PS, PA, PE und ähnlichem
(PVC-frei). Bauarbeiter, Ritter und Indianer sind die ersten Figuren. Zwei Punkte und ein Strich bilden das Gesicht. Anfangs sind den Verpackungen Infoblätter
beigelegt, um die Idee der Figuren zu erläutern [18, 26].
In den Folgejahren sind Kunststoffe die
Materialien schlechthin. Immer mehr
Spielzeughersteller nutzen die Eigenschaften Bruchsicherheit, geringes Gewicht, leichte Reinigungsmöglichkeit und
nahezu unbegrenzte Möglichkeiten in der
Form- und Farbgebung [27]. Vor allem
die Verfahren verfeinern sich, wie beispielsweise Mehrfarben-Spritzgießen von
Figuren [28] oder Mikropräzision-Spritzgießen bei Modell-Eisenbahnen [29]. Bei
den Materialien erweitert sich das Spektrum. Zum einen werden mehr technische Kunststoffe eingesetzt, wie im Modellbau Polyoxymethylen (POM) oder
Polybutylenterephthalat (PBTP) wegen
der Lauf- und Verschleißeigenschaften
[29, 30], zum anderen finden technische
Compounds, zum Beispiel mit 50 % Eisenpulver oder mit Glaskugeln gefülltes
ABS, ihre Anwendung [31].
Bild 8. Der Bauarbeiter (links) gehört zu den ersten 7,5 cm großen Figuren des Playmobil-Sortiments,
die aus ABS spritzgegossen sind; 2010 weicht das Unternehmen von der langjährigen Trapezform ab
und gibt sich figurbetont (rechts), dafür wird vom Hals abwärts eine neue Körperform entwickelt
(Fotos: geobra Brandstätter)
132
W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen
Unter Kontrolle
Die Vielfalt der Kunststoffanwendungen
und die komplexe Gestaltung der Spielwaren haben jedoch auch das Thema Sicherheit auf die Tagesordnung gerufen.
Die größten Kritikpunkte bei Kinderspielzeug, die von Aufsichtsbehörden immer wieder vorgebracht werden, sind die
Gefahr, Kleinteile einzuatmen oder zu
verschlucken, und eine zu hohe chemische Belastung unter anderem durch
Phtalate. So darf der Speichel keine chemische Reaktion bewirken. Zudem wird
verstärkt die Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen hinsichtlich Akustik, Entflammbarkeit, Elektrik und elektromagnetische Sicherheit gefordert.
Ein bekanntes Beispiel für den hohen
Stellenwert, den das Thema Sicherheit
mittlerweile einnimmt, ist die große
Rückrufaktion von Mattel im Sommer
2007. Rund 21 Millionen in China hergestellte Spielwaren der Marken Barbie und
Fisher Price muss das Unternehmen
zurückordern; 2,8 Mio. wegen Farbe mit
erhöhtem Bleigehalt, beim Rest besteht
Verschluckungsgefahr von Magneten.
Etwa 65 % der Spielwaren von Mattel
stammen aus China, zum Teil von konzerneigenen Fabriken, zum Teil von Drittlieferanten. Mattel ist einer der ersten
westlichen Produzenten, die Fabriken in
China betreiben. Die erste Barbie ging
dort 1959 vom Band [32].
Sicherheitsprüfungen sind jedoch
sehr umfangreich und teuer. Mit einer
CE-Kennzeichnung – eingeführt 1993 –
an seinem Produkt erklärt ein Spielzeug© Carl Hanser Verlag, München
www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv
Kunststoffe 5/2010
Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern
100 JAHRE KUNSTSTOFFE
hersteller in Eigenverantwortung, dass
dieses die grundlegenden Sicherheitsund Gesundheitsanforderungen der einschlägigen EU-Richtlinien erfüllt. Die
CE-Kennzeichnung ist zwar zwingend
vorgeschrieben, setzt aber generell keine
externe Prüfung vor der Markteinführung voraus. Erst wenn das Kennzeichen mit einer zusätzlich Kennnummer
kombiniert ist, hat ein unabhängiges
Prüfinstitut ebenfalls das Produkt untersucht. Die Vergabe des CE-Zeichens ist
zeitlich unbegrenzt und in der Regel werden keine Zwischenkontrollen durchgeführt.
Das GS-Zeichen wird 1977 in Deutschland als verbraucherorientiertes Prüfzeichen entwickelt. Es steht für die geprüfte
Sicherheit, und die Anwendung ist freiwillig. Ein unabhängig zugelassenes Institut wie beispielsweise die TÜV Rheinland LGA Beteiligungs GmbH, Nürnberg,
testet das Spielzeug und bescheinigt, dass
es die grundlegenden Sicherheits- und
Gesundheitsanforderungen aus dem
Geräte- und Produktsicherheitsgesetz
(GPSG) erfüllt. Zudem wird das Produkt
regelmäßig kontrolliert. Das Prüfsiegel
wird für maximal fünf Jahre vergeben
[41]. Eine neue Richtlinie über die Sicherheit von Spielzeug hat das Europäische
Parlament am 18. Dezember 2008 verabschiedet. Zuletzt wurde die Richtlinie
1988 geändert.
Ein weites Feld
Heute, im Zeitalter des World Wide Web,
werden ganze Welten um ein Spielzeug
geschaffen. Die Ansprüche der Kinder
steigen, beeinflusst durch die crossmediale Welt. Das erzieherische Hilfsmittel von
einst ist einem komplexen und trickreichen Spielzeug gewichen. Vielen dieser
Spielgefährten sieht man den Aufwand an
Technik und Entwicklung nicht an. Die
Kunststoffe eröffnen dabei mit ihren Eigenschaften ein weites Feld an Möglichkeiten vor allem im Design. Waren Spielwaren aus Kunststoffen zu Beginn des 20.
Jahrhunderts ein kleiner Bereich, so dominieren sie heute, 100 Jahre später, den
Markt. SUMMARY
EXCURSION THROUGH A CENTURY OF
CHILDREN’S BEDROOMS
TOYS. A look back to the early years of the 20th century shows toys made of metal and wood. For the most
part they are produced at home, very few can afford
machines. Celluloid and over the years other plastics
change the face of the toy industry. Today many companies produce their articles on automated machines
and in large quantities from plastics.
Read the complete article in our magazine
Kunststoffe international and on
www.kunststoffe-international.com
LITERATUR
Die ausführlichen Literaturangaben finden Sie zum
kostenlosen Download unter
www.kunststoffe.de/A040
133
Kunststoffe 5/2010
W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen
DIE AUTORIN
DIPL.-ING. STEFANIE WOLF, geb.
1981, ist seit März 2009 in der Redaktion Kunststoffe. Nach der Ausbildung zur Verfahrensmechanikerin
für Kunststoff- und Kautschuktechnik, ehemals Kunststoffformgeber, studierte sie Maschinenbau mit der
Fachrichtung Leichtbau an der Technischen Universität Dresden.
www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv
Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern