Jahrhundert-Streifzug durchs Kinderzimmer
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Jahrhundert-Streifzug durchs Kinderzimmer
100 JAHRE KUNSTSTOFFE Eine Puppenwelt kreiert für die Nürnberger Spielwarenmesse Mitte der 50er-Jahre (Foto: Roman Graggo) Jahrhundert-Streifzug durchs Kinderzimmer Spielwaren. Ein Blick zurück in die Anfänge des 20. Jahrhunderts zeigt Spielwaren aus Metall und Holz. Produziert wird größtenteils in Heimarbeit, nur wenige leisten sich Maschinen. Zelluloid und mit den Jahren weitere Kunststoffe verändern die Spielwarenindustrie. Heute produzieren viele Unternehmen automatisiert und in großem Umfang ihre Artikel aus Kunststoffen. STEFANIE WOLF pielen ist nicht nur ein Zeitvertreib, Spielen ist ein erzieherisches Hilfsmittel. Mädchen lernten auf diese Weise im vorletzten und letzten Jahrhundert ihre häuslichen Pflichten und die Knaben bekamen rechtzeitig eine Vorstellung von Handwerk oder Technik. 1909 beschreibt Max Schneider das Wesen der Spielwaren in der Deutschen SpielwarenZeitung folgendermaßen: „Man kann im ersteren Sinne von einer natürlichen Aufgabe des Spielzeugs sprechen, welche in der Befriedigung des Spieltriebes ruht, in zweiter Linie die Aufgabe des Spielzeugs S ARTIKEL ALS PDF unter www.kunststoffe.de Dokumenten-Nummer KU110393 als eine soziale bezeichnen, deren Lösung der Pädagogik angehört.“ Der Ingenieur unterscheidet vier Arten bei Spielwaren: ruhend (Puppe), beweglich (Ball), mechanisch (Dampfmaschine) und physikalisch (Eisenbahn, Spieldose). Dabei werden nicht nur Tiere und Menschen kleintechnisch nachempfunden, sondern auch großtechnische Errungenschaften [1]. Erste Puppen aus Zelluloid In dieser Zeit ist Zelluloid der willkommene Werkstoff. Das leicht wiegende Material besitzt eine große Elastizität und Aufnahmefähigkeit für Farben. Puppenköpfe und -glieder, Bälle oder Kreisel werden aus diesem Material hergestellt. Die Rheinische Gummi- und Celluloid- 128 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen fabrik (kurz: RGCF, heute: SchildkrötPuppen GmbH, Rauenstein) ist ein bekannter Vertreter. 1896 produziert das Unternehmen die erste Puppe aus Zelluloid im sogenannten „Preßblasen“. Eigenschaften wie bruchfest, abwaschbar, farbecht und hygienisch verhelfen dem Werkstoff zu seiner Stellung bei der Puppenherstellung [2]. Die Erfindung des ersten Zelluloid wird Alexander Parkes 1856 zugeschrieben.Aber erst John Wesley Hyatt weiß das Material richtig zu nutzen: Als Ersatzwerkstoff für Elfenbein. 1870 lässt er es unter der Handelsmarke Celluloïd der Celluloid Manufacturing Company registrieren. Hauptbestandteile sind Nitrozellulose und Kampfer als Weichmacher. Das Material wird mit Wärme geformt. Da© Carl Hanser Verlag, München www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Kunststoffe 5/2010 Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern 100 JAHRE KUNSTSTOFFE mit erhöht sich wesentlich der Freiheitsgrad in der Formgebung – ein Schritt in Richtung Massenproduktion [3]. 1913 hat Deutschland eine Jahresproduktion an Spielwaren von etwa 32 Mio. USD. Spielwaren im Werte von 24,5 Mio. USD werden exportiert, wobei die USA Hauptabnehmer sind. Nahezu ein Drittel des Exports fließt nach Übersee [4]. Doch die USA sind nicht nur größter Abnehmer, sondern auch schärfster Konkurrent in der Spielwarenherstellung. Die in Deutschland – von wenigen Ausnahmen abgesehen – vorwiegend hausindustrielle Puppenfabrikation gibt es dort nicht. Alles wird in den USA sofort im großen Maßstab umgesetzt [5]. 1859 gibt es zwölf Fabriken im ganzen Land, 1914 produzieren bereits 290 Unternehmen Spielwaren. Hauptabnehmer sind Großbritannien und Kanada [4]. Das Puppenbild ist hier ein anderes, weniger damenhaft. Zudem sind amerikanische „Charakterbabys“ äußerlich ein getreues Abbild der Wirklichkeit [5]. Um 1915 treten in Europa die Zelluloidbälle verstärkt in Konkurrenz zu Gummibällen. Sie werden in allen Farben und mit Mustern hergestellt. Ganz neu sind die hochfein bemalten Reliefbälle und Bilderbälle, mit Bildern aus Bild 2. Zelluloid-Hohlkörper lassen sich im Blasverfahren herstellen; um das Werkzeug zusammen zu halten und den Druck noch erhöhen zu können, wird eine Schlagradpresse eingesetzt [15] Bild 1. Kämmer & Reinhardt entwickeln eine neue Puppe, die Charakterpuppe: Die ersten waren die Babies 700 (links). In den zwanziger und dreißiger Jahren werden exotische Puppen modern (rechts, Hersteller: Bruno Schmidt, 30er-Jahre) [3] Märchen wie von Max und Moritz und Struwwelpeter. Auch Schwimmtiere und Vögel sind in großer Auswahl erhältlich, ebenso sind Tiere in unterschiedlichen Arten und Größen, mit festen sowie beweglichen Gliedern oder von selbst laufend vertreten [6]. Von Charakterpuppen und Soldaten Von der Puppenfabrik Kämmer & Reinhardt aus Waltershausen stammt die Idee eines neuartigen Puppentyps: die Charakterpuppe [7]. 1909 erfolgt die Eintragung als Warenzeichen. Der Bildhauer Prof. Arthur Lewin-Funcke, der offiziell niemals in Erscheinung tritt, modelliert die ersten Charakterpuppen: die Geburtsstunde der Babies 100 (aus Zelluloid: Serie 700, Bild 1 links). Die Reihe der Charakterpuppen lässt sich bis ins Jahr 1929 fortsetzen [3]. Viele Unternehmen tragen ihre Entwicklungen als Gebrauchsmuster ein. Die Bayrische Celluloidwarenfabrik, vorm. Albert Wacker, aus Nürnberg meldet um 1910 zum Beispiel eine „Rohrartige Spielfigur mit eingebautem Stimmwerk“ [8] und einen „Spielzeugkreisel aus Zelluloid“ an [9]. Der erste Weltkrieg schwächt zusehends die deutsche Spielwarenindustrie. Kriegsanleihen, Einfuhrverbote und Konkurse haben ihre Wirkungen. Dennoch versuchen die Unternehmen, das Kriegsgeschehen zu nutzen und stellen ganze Regimenter von Soldaten mit Gewehren, Kanonen oder Pistolen zum Spielen her. In den USA erhöhen sich die Produktionskapazitäten in dieser Zeit gewaltig, da sich der Import reduziert hat, jedoch nicht das Bedürfnis nach Spielwa- Aus zwei Blättchen wird ein Hohlkörper Aber vor allem verfeinern sich die Herstellungsverfahren. Ein typisches Zwanziger-Jahre-Produkt ist die Rassel. Um Zelluloid-Rasseln zu fertigen, kommt unter anderem das Blasverfahren zum Einsatz. Durch Einblasen von Dampf in zwei Hohlformhälften entsteht der Hohlkörper. Zwei dünne Zelluloidblättchen werden aufeinander gelegt und auf dem Unterteil der angewärmten Form gefestigt. Nach dem Befestigen des Oberteils wird ein Blasmundstück am Rand zwischen die Blättchen geschoben. Eine Schlagradspindelpresse hält die Form zusammen (Bild 2). Der Dampf (oder Heißwasser) strömt zwischen die Blätter und bläht sie unter teilweiser Kondensation auf. Stoßdrücke von außen verschweißen die von der Form erfassten Ränder. Der Stiel wird aus Stangenzelluloid oder aus Streifen hergestellt [10]. Die Werkzeuge sind meist zweiteilig. Ist die Geometrie der Spielfiguren komplexer, können sie auch mehrteilig ausgeführt sein. Damit sich die Formhälften nicht abkühlen, sind sowohl das Unterteil (Tisch) der Presse als auch das bewegliche Oberteil (Stößel) hohl. In beide Teile wird Dampf oder Heißwasser eingelassen, abgekühlt wird über Kaltwas> ser [11]. 129 Kunststoffe 5/2010 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen ren [4]. In den zwanziger Jahren bauen viele deutsche Spielwarenhersteller ihre Unternehmen wieder auf und erweitern ihr Sortiment. So werden jetzt Puppen mit anderer Hautfarbe gefertigt, sogenannte Neger (Hersteller: Celluloidfabrik Dr. P. Hunaeus, Mitte 1920er-Jahre und Bruno Schmidt, 1930er-Jahre; Bild 1 rechts) [3]. www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern 100 JAHRE KUNSTSTOFFE Die Thermoplaste erweitern den Spielraum Der zweite Weltkrieg bringt in Deutschland erneut die Spielwarenproduktion zum Erliegen. Viele Unternehmen werden zu Rüstungsbetrieben umfunktioniert. In den USA setzen sich Kunststoffe, vor allem die thermoplastischen Massen, weiter durch. Der größte Teil der hergestellten Spielwaren ist dabei nicht mechanisch, d. h. ohne Federwerk oder sonstigen Antrieb. Ein Vorteil des neuen Materials ist nicht nur die Möglichkeit der Massenproduktion: Farbvielfalt, einwandfreie hygienische Eigenschaften, Sicherheit (Blechspielzeug hat scharfe Kanten) und das Bestreben der Warenhäuser, keine Zelluloidpuppen im Bestand zu haben (Feuergefährlichkeit, strenge Handhabe bei Feuerversicherung), begünstigen den Einsatz der Thermoplaste. Noch während des Krieges zieht England mit Spielwaren aus Spritzgussmassen nach, kurz darauf folgen Frankreich und Italien sowie Japan [12]. Auf der im März 1946 in New York stattfindenden Spielwarenausstellung ist jedes vierte in den USA hergestellte Spielzeug aus Kunststoff. Dabei sind nicht diejenigen berücksichtigt, die einzelne Bestandteile aus Kunststoff haben. Beobachter führen dies auf den Wettbewerb innerhalb der Branche zurück. Keine andere Industrie ist ähnlich unternehmungslustig bei der Suche nach neuen Werkstoffen und neuen Spielideen. Im Bereich der „billigen Kleinigkeiten“ werden Zellulosederivate und Polystyrol (PS) verwendet. Vinylkunststoffe finden Anwendung für Puppenwagen-Verdecke, Stoffpuppen und für die Herstellung von Bällen [13]. Für blasgeformte Spielwaren wie Puppen und Schwimmtiere wird nach wie vor bevorzugt Zelluloid eingesetzt. Um Kinderklappern, Zimmereinrichtungen für Puppenhäuser oder Soldaten zu fertigen, verwenden die Hersteller Zelluloseacetat (CA). Spielzeugautos und -lastwagen sind aus Phenolpressmassen (PF) und geformte unzerbrechliche Puppen sowie aufblasbare Tiere aus Polyvinylchlorid (PVC) [14]. Bild 3. 1947 in Billund/Dänemark: Ole Kirk Christiansen arbeitet an einem Prototyp für einen Baustein; neun Jahre später lässt er sich den LegoStein aus ABS patentieren (Foto: Lego) Modelle von Personenautos und Lastwagen in verschiedenen Ausführungen vorgestellt. Aber auch Einrichtungen für Puppenküchen aus PS (Hersteller: geobra Brandstätter GmbH & Co. KG, Zirndorf), Puppenläden, Waagen, kleine Telefone, Motorboote und Schiffe werden geboten. Sogenannte Wackelpferdchen, die eine schiefe Ebene hinunterlaufen, präsentiert die Spritzguss-Werk GmbH, Weißenburg [12]. Das Wirtschaftswunder der endvierziger und der fünfziger Jahre führt nochmals einen Aufschwung für die Kunststoffe herbei. Überall tüfteln Spielzeughersteller in ihren Werkstätten an neuen Ideen. So entwickelt Josef Dehm die ersten Bausteine aus Kunststoff Ende der vierziger Jahre. Abgeleitet von seinem Namen nennt er sie Idema. Aus Bakelit hergestellt ähneln sie dem Back- Die feine Faser, ein Schlauch und neue Kurven Die Steine der Weisen In Deutschland beginnt nach 1945 erneut der Wiederaufbau der Spielwarenindustrie, insbesondere im Gebiet um Nürnberg und Fürth. Versuchsweise werden amerikanische Spielzeuge kopiert, der Absatz ist jedoch wenig vielversprechend. Auf der Spielwaren-Fachmesse in Nürnberg werden im März 1952 überwiegend Bild 4. Der Steiff-Bär Cosy Orsi aus den fünfziger Jahren ist aus der PAN-Kunstfaser Dralon gefertigt (Bild: www.teddybaer-antik.de) 130 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen stein, Aussparungen und Zapfen stabilisieren die Steine. Um die Bausteine zu verbinden, nutzt Dehm Spannstifte. Später ersetzt er Bakelit durch elastischeres PS. Zudem ist die Spritzgießverarbeitung präziser und die Steine halten ohne Zusatzteile. 1952 lässt sich Dehm den Stein patentieren [15]. Zeitgleich arbeitet Ole Kirk Christiansen im dänischen Billund ebenfalls an einem Prototyp für einen Baustein (Bild 3). Das geplante Grundmaterial CA haftet jedoch schlecht. Das Einbringen zylinderförmiger Geometrien, zwischen denen die vorhandenen Zapfen eingeklemmt werden, erhöht die Stabilität. Nach einer Entwicklungszeit von neun Jahren lässt sich Christiansen 1958 den Lego-Stein in Kopenhagen patentieren (Lego ist eine Zusammensetzung aus den dänischen Wörtern Leg und Godt – auf Deutsch spiel gut). Im gleichen Jahr kommen die Steine auf den Markt. Erstes System ist der Lego Stadtplan. Später werden Räder (1961), größere Steine für kleinere Kinder (Duplo, 1967) und Figuren (1974, die heutige Form stammt von 1978) folgen. Seit 1963 werden alle Steine aus Acrylnitril-Butadien-Styrol-Copolymerisat – kurz ABS – gefertigt. Dieser matt glänzende Kunststoff ist sehr hart und hat eine kratz- und beißfeste Oberfläche. Für die Herstellung entscheidend sind die Spritzgießwerkzeuge. Sie dürfen lediglich eine Abweichung um einen Tausendstel Millimeter haben [16]. Mitte der fünfziger Jahre bahnt sich die Kunstfaser einen Weg zu den Teddybären. Die Margarete Steiff GmbH, Giengen, stellt den ersten Teddybär aus der Kunstfaser Dralon her und tauft ihn Cosy Orsi (Bild 4). Er ist der Urvater hunderter Teddybärvarianten, die viele Firmen bis weit in die 1970er-Jahre produzieren [17]. Die Kunstfaser besteht aus Polyacrylnitril (PAN) und wird 1942 von der I.G. Farben entwickelt. Nach 1950 vermarktet die Bayer AG, Leverkusen, die Faser unter dem Namen Dralon. Gewebe aus Polyacryl zeichnen sich durch eine weiche, wollartige Griffigkeit aus und haben eine hohe Wärmedämmung, dabei sind sie leicht und wasserabweisend. Ein echter Schlager wird ein anderes Spielzeug – oder besser Freizeitgerät – Anfang der 60er-Jahre: Der Hula-Hoop-Reifen, 1958 in Amerika erfunden. In © Carl Hanser Verlag, München www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Kunststoffe 5/2010 Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern 100 JAHRE KUNSTSTOFFE Bild 5. Nimmt man es ganz genau, wurde Barbie nach dem Abbild eines Lückenfüllers der Bild-Zeitung erschaffen – rechts die erste Barbie von 1958, links fünfzig Jahre später (Foto: Mattel) Deutschland arbeitet Horst Brandstätter an einem Verfahren und einer Maschine, um die runden Reifen zu formen. So konstruiert er eine Anlage, die einen weichen, heißen „Plastik“-Schlauch zu einem Hula-Hoop-Reifen formt. Das Blasverfahren, zuvor nur für Flaschen verwendet, eröffnet der Spielzeugwarenherstellung neue Möglichkeiten. Geobra Brandstätter produziert in den nächsten Jahren das erste rundgeschlossene Rennauto, kleine Boote und Traktoren.Auch der erste lenkbare Sitztraktor für Kinder, der einem echten Porsche-Traktor nachempfunden ist, kommt auf den Markt [18]. Ebenfalls Ende der fünfziger Jahre taucht eine neue Art von Puppe auf, knapp 30 cm groß und mit auffallenden Körperproportionen [19]. Die Amerikanerin Ruth Handler, die gemeinsam mit ihrem Mann Elliot Handler und Harold Matson 1945 Mattel gründet, ist die Ideengeberin. 1958 sieht sie auf einer Reise durch Europa in einem Schaufenster die Puppe Lilli, die die Spielzeugfabrik Hausser, Neustadt bei Coburg, drei Jahre zuvor nach dem Vorbild einer Zeichnung herausbrachte. Die Figur entstammt der Feder des Karikaturisten Reinhard Beuthien, der sie als Lückenfüller für die erste Ausgabe der Bild-Zeitung (24. Juni 1952) gezeichnet hatte. Zurück in Amerika kreiert Ruth Handler die Ankleidepuppe Barbie (Bild 5). Benannt nach dem Spitznamen der Tochter Barbara werden am 9. März 1959 die ersten Exemplare auf der American Toy Fair in New York präsentiert. Eine Barbie kostet drei Dollar (zu dieser Zeit waren das etwa 12 DM). Sie hat blondes oder braunes Haar, jeweils mit Pferdeschwanz und gelocktem Pony und ist komplett aus Kunststoff. Ihre Kopfform mit geschlossenem Mund und anmodellierten Wimpern ist der Lilli nachempfunden, mit ebenfalls weiblichen Formen und kräftigem Make-up. Zwei Jahre später folgt Ken, benannt nach dem Sohn der Handlers. Mit der Zeit entstehen ganze Kunststoffwelten um Barbie, sodass die Puppe zu einem richtigen Massenspielzeug wird [20]. Formel 1 auf Schienen Ein roter Flitzer und kleine Männchen Die siebziger Jahre starten mit einem Auto, genauer gesagt mit dem Bobby-Car, das die Big-Spielwarenfabrik, Fürth (heute Burghaslach), fertigt (Bild 7). Räder und Körper sind im Extrusionsblasformen aus Polyethylen (PE-HD) hergestellt, Lenkrad sowie Lenkeinheit werden aus Polypropylen (PP) spritzgegossen. PE-HD ist leicht und wetterfest, ohne Neigung zum Brechen, Splittern oder Verbeulen. Zudem ist es schweiß- und speichelecht. 1972 rollt das erste dieser Rutschfahrzeuge vom Band: 60 cm lang, rot mit weißem Lenkrad [25]. Zwei Jahre später stellt ein Spielzeughersteller neue Kunststofffiguren vor. Playmobil ist eine Idee von Hans Beck, dem Entwicklungsleiter von geobra > So beliebt wie Barbie bei Mädchen ist, so beliebt ist die Carrera-Bahn in der Jungs(Männer-) Welt. 1963 stellt Hermann Neuhierl die elektrisch betriebene Autorennbahn im Maßstab 1:32 vor (Hersteller: Neuhierl GmbH & Co. KG, Fürth) [21]. Original-Rennstrecken wie Monza oder Indiana werden nachgebaut. Produziert wird in China. Das Chassis der dazugehörigen Autos ist aus glasfaserverstärktem Polyamid (PA), der Body aus ABS [22]. Montiert werden die Autos rein über Handarbeit. Das Dekor bzw. die Motive werden im Tampondruck aufgebracht, jede Farbe in jedem einzelnen Motiv erfordert einen Fertigungsschritt. Eine Zusammenarbeit mit der Automobilindustrie ermöglicht originalgetreue Lizenzen im Bild 6. Der Erfinder des fischer Dübels stellt 1966 den ersten Bereich Formel 1, klassische Baukasten 400 vor, die grauen Grundbausteine werden aus Automobile oder Tourenwa- ABS und PA im Spritzgießen hergestellt (Foto: fischertechnik) 131 Kunststoffe 5/2010 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen gen. Einige Fahrzeuge sind mit echten Frontscheinwerfern und Rücklichtern ausgestattet und lassen sich vielfältig tunen. Seit 1999 gehört Carrera der Stadlbauer Spiel- und Freizeitartikel GmbH, Nürnberg [23]. Um seine Kunden nicht mehr mit den üblichen Präsenten wie Kirschwasser und Schinkenspeck beschenken zu müssen, entwickelt Professor Artur Fischer (erfindet 1958 den fischer Dübel) eine etwas andere Art von Baukasten. 1966 wird der Baukasten 400 als der erste seiner Art auf der Spielwarenmesse präsentiert (Bild 6). Neben grauen Spielbausteinen enthält er Achsen, Räder, Zahnräder und Bauelemente, die es ermöglichen, technische Motive nachzubauen. Im Spritzgießen hergestellt, bestehen die Grundbausteine aus ABS und PA. Für Räder oder Kettenglieder werden Thermoplastische Elastomere (TPE) verwendet, der Rumpf der Schiffsmodelle ist aus Expandiertem Polypropylen (EPP) [24]. www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern 100 JAHRE KUNSTSTOFFE Bild 7. 60 cm lang, rot und mit weißem Lenkrad: So rollt 1972 das erste dieser Rutschfahrzeuge vom Band (links), heute starten große Kinder in der Formel Big-Bobby-Car und erreichen mit getunten Fahrzeugen Geschwindigkeiten bis 105 km/h (Foto: Big) Brandstätter (Bild 8). Das Patent wird bereits im Februar 1972 beantragt. Das komplette Sortiment besteht zu 95 % aus Kunststoff, überwiegend aus ABS, aber auch aus PS, PA, PE und ähnlichem (PVC-frei). Bauarbeiter, Ritter und Indianer sind die ersten Figuren. Zwei Punkte und ein Strich bilden das Gesicht. Anfangs sind den Verpackungen Infoblätter beigelegt, um die Idee der Figuren zu erläutern [18, 26]. In den Folgejahren sind Kunststoffe die Materialien schlechthin. Immer mehr Spielzeughersteller nutzen die Eigenschaften Bruchsicherheit, geringes Gewicht, leichte Reinigungsmöglichkeit und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten in der Form- und Farbgebung [27]. Vor allem die Verfahren verfeinern sich, wie beispielsweise Mehrfarben-Spritzgießen von Figuren [28] oder Mikropräzision-Spritzgießen bei Modell-Eisenbahnen [29]. Bei den Materialien erweitert sich das Spektrum. Zum einen werden mehr technische Kunststoffe eingesetzt, wie im Modellbau Polyoxymethylen (POM) oder Polybutylenterephthalat (PBTP) wegen der Lauf- und Verschleißeigenschaften [29, 30], zum anderen finden technische Compounds, zum Beispiel mit 50 % Eisenpulver oder mit Glaskugeln gefülltes ABS, ihre Anwendung [31]. Bild 8. Der Bauarbeiter (links) gehört zu den ersten 7,5 cm großen Figuren des Playmobil-Sortiments, die aus ABS spritzgegossen sind; 2010 weicht das Unternehmen von der langjährigen Trapezform ab und gibt sich figurbetont (rechts), dafür wird vom Hals abwärts eine neue Körperform entwickelt (Fotos: geobra Brandstätter) 132 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen Unter Kontrolle Die Vielfalt der Kunststoffanwendungen und die komplexe Gestaltung der Spielwaren haben jedoch auch das Thema Sicherheit auf die Tagesordnung gerufen. Die größten Kritikpunkte bei Kinderspielzeug, die von Aufsichtsbehörden immer wieder vorgebracht werden, sind die Gefahr, Kleinteile einzuatmen oder zu verschlucken, und eine zu hohe chemische Belastung unter anderem durch Phtalate. So darf der Speichel keine chemische Reaktion bewirken. Zudem wird verstärkt die Einhaltung von Sicherheitsbestimmungen hinsichtlich Akustik, Entflammbarkeit, Elektrik und elektromagnetische Sicherheit gefordert. Ein bekanntes Beispiel für den hohen Stellenwert, den das Thema Sicherheit mittlerweile einnimmt, ist die große Rückrufaktion von Mattel im Sommer 2007. Rund 21 Millionen in China hergestellte Spielwaren der Marken Barbie und Fisher Price muss das Unternehmen zurückordern; 2,8 Mio. wegen Farbe mit erhöhtem Bleigehalt, beim Rest besteht Verschluckungsgefahr von Magneten. Etwa 65 % der Spielwaren von Mattel stammen aus China, zum Teil von konzerneigenen Fabriken, zum Teil von Drittlieferanten. Mattel ist einer der ersten westlichen Produzenten, die Fabriken in China betreiben. Die erste Barbie ging dort 1959 vom Band [32]. Sicherheitsprüfungen sind jedoch sehr umfangreich und teuer. Mit einer CE-Kennzeichnung – eingeführt 1993 – an seinem Produkt erklärt ein Spielzeug© Carl Hanser Verlag, München www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Kunststoffe 5/2010 Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern 100 JAHRE KUNSTSTOFFE hersteller in Eigenverantwortung, dass dieses die grundlegenden Sicherheitsund Gesundheitsanforderungen der einschlägigen EU-Richtlinien erfüllt. Die CE-Kennzeichnung ist zwar zwingend vorgeschrieben, setzt aber generell keine externe Prüfung vor der Markteinführung voraus. Erst wenn das Kennzeichen mit einer zusätzlich Kennnummer kombiniert ist, hat ein unabhängiges Prüfinstitut ebenfalls das Produkt untersucht. Die Vergabe des CE-Zeichens ist zeitlich unbegrenzt und in der Regel werden keine Zwischenkontrollen durchgeführt. Das GS-Zeichen wird 1977 in Deutschland als verbraucherorientiertes Prüfzeichen entwickelt. Es steht für die geprüfte Sicherheit, und die Anwendung ist freiwillig. Ein unabhängig zugelassenes Institut wie beispielsweise die TÜV Rheinland LGA Beteiligungs GmbH, Nürnberg, testet das Spielzeug und bescheinigt, dass es die grundlegenden Sicherheits- und Gesundheitsanforderungen aus dem Geräte- und Produktsicherheitsgesetz (GPSG) erfüllt. Zudem wird das Produkt regelmäßig kontrolliert. Das Prüfsiegel wird für maximal fünf Jahre vergeben [41]. Eine neue Richtlinie über die Sicherheit von Spielzeug hat das Europäische Parlament am 18. Dezember 2008 verabschiedet. Zuletzt wurde die Richtlinie 1988 geändert. Ein weites Feld Heute, im Zeitalter des World Wide Web, werden ganze Welten um ein Spielzeug geschaffen. Die Ansprüche der Kinder steigen, beeinflusst durch die crossmediale Welt. Das erzieherische Hilfsmittel von einst ist einem komplexen und trickreichen Spielzeug gewichen. Vielen dieser Spielgefährten sieht man den Aufwand an Technik und Entwicklung nicht an. Die Kunststoffe eröffnen dabei mit ihren Eigenschaften ein weites Feld an Möglichkeiten vor allem im Design. Waren Spielwaren aus Kunststoffen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein kleiner Bereich, so dominieren sie heute, 100 Jahre später, den Markt. SUMMARY EXCURSION THROUGH A CENTURY OF CHILDREN’S BEDROOMS TOYS. A look back to the early years of the 20th century shows toys made of metal and wood. For the most part they are produced at home, very few can afford machines. Celluloid and over the years other plastics change the face of the toy industry. Today many companies produce their articles on automated machines and in large quantities from plastics. Read the complete article in our magazine Kunststoffe international and on www.kunststoffe-international.com LITERATUR Die ausführlichen Literaturangaben finden Sie zum kostenlosen Download unter www.kunststoffe.de/A040 133 Kunststoffe 5/2010 W 2010 Carl Hanser Verlag, Mbnchen DIE AUTORIN DIPL.-ING. STEFANIE WOLF, geb. 1981, ist seit März 2009 in der Redaktion Kunststoffe. Nach der Ausbildung zur Verfahrensmechanikerin für Kunststoff- und Kautschuktechnik, ehemals Kunststoffformgeber, studierte sie Maschinenbau mit der Fachrichtung Leichtbau an der Technischen Universität Dresden. www.kunststoffe.de/Kunststoffe-Archiv Nicht zur Verwendung in Intranet- und Internet-Angeboten sowie elektronischen Verteilern