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Giftige Schmetterlinge
"Le chef-d'œuvre de la philosophie serait de développer les moyens dont la fortune se sert
pour parvenir aux fins qu'elle se propose sur l'homme et de tracer d'après cela quelques plans
de conduite qui puissent faire connaître à ce malheureux individu bipède la manière dont il
faut qu'il marche dans la carrière épineuse de la vie, afin de prévenir les caprices bizarres de
cette fortune qu'on a nommée tour à tour Destin, Dieu, Providence, Fatalité, Hasard, toutes
dénominations aussi vicieuses, aussi dénuées de bon sens les unes que les autres, et qui
n'apportent à l'esprit que des idées vagues et purement subjectives."
Marquis de Sade
© Thomas Matterne
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01.
Marie hielt Simones Outfit für einen triftigen Grund ein Leben in Blindheit vorzuziehen, und
sie war sich sicher eben dieses zu werden, wenn sie nur lange genug auf die grell- neon-orange
Hose ihrer Freundin starrte. „Was ist, hast du einen von der Müllabfuhr überfahren und ihm
die Hosen geklaut?“
„Ich weiß gar nicht was du hast, ich find’s gut.“ Simone blickte an sich herunter und
schüttelte den Kopf, für sie war das ein sicherer Griff in ihren Kleiderschrank, so wie sie sich
alles in allem für die Modeexpertin schlechthin hielt. „Nein, ehrlich, sieht doch gut aus.“
Klar, wenn man schon sehbehindert ist. Marie verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Nicht
mal Lagerfeld und Joop in Personalunion könnten Simone von etwas anderem überzeugen,
aber wahrscheinlich würde denen dieses Outfit sogar gefallen. „Warum hast du’s eigentlich
schon wieder so eilig, die Party steigt doch eh erst um halb zehn.“ Sie warf einen Blick auf
den Wecker neben ihrem Bett.
„Es wäre die Hauptaufgabe der Philosophie, die Mittel aufzudecken, deren sich das Schicksal
zur Erreichung seiner Zwecke bedient. Dann müsste sie diesem unglückseligen zweifüßigen
Wesen Verhaltensmaßregeln für seinen dornenvollen Lebensweg aufzeichnen, damit es nicht
von den bizarren Launen des Schicksals – das man bald Bestimmung, bald Gott oder
Vorsehung, dann wieder Zufall oder Vorausbestimmung genannt hat - abhängig sei.“
Marquis de Sade
„Ich wollte dich ein wenig antreiben, oder willst du etwa so gehen?“
Jetzt sah Marie an sich herunter. Schlaprige Jeans, ausgewaschenes Sweatshirt und vom Wind
noch immer zerzaustes Haar fand sie für eine Studentenparty in Ansbach durchaus
angemessen. „Warum?“
„Würdest du so in Paris auf eine Party gehen?“
„Bin ich in Paris?“ Als ob sie sich das nicht jeden Tag wünschte. „So passe ich doch ins
örtliche Niveau.“
„Wir sind heute wieder gar nicht arrogant, oder?“ Simone lies sich auf den Schreibtischstuhl
in Maries Studentenwohnung fallen und blickte sie demonstrativ vorwurfsvoll an.
Marie zuckte nur mit den Schultern, griff dann nach den schon zurechtgelegten Klamotten für
den Abend und verschwand in das, was die Leute im Studentenwerk großzügig als Bad
bezeichneten.
„Ich schau dir schon nichts ab.“
„Bei dir kann man nie wissen.“, schrie Marie durch die Badezimmertür zurück.
„Du bist gar nicht mein Typ, außerdem steh ich nur auf Frauen die auch lesbisch sind.“ Und
das war Marie ja leider nicht, Simone seufzte leicht und streckte die Beine aus. Neonorange,
vielleicht hatte Marie ja doch recht. „Sag mal, meinst du Clara kommt auch?“
„Als ob die sich eine Gelegenheit entgehen lassen würde besoffene Typen abzuschleppen?“
Das die Typen besoffen sein mussten, da war sich Marie absolut sicher. „Ich weiß nicht was
du an der findest.“ Sie schlüpfte aus dem Sweatshirt und der Jeans. „Ein bisschen mehr
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Geschmack hätte ich dir schon zugetraut.“ Sie zog die enge weiße Hose an, hielt kurz den
eigentlichen Haupteingang des Gebäudes war die Musikanlage aufgebaut worden, oder viel
Atem an und knöpfte sie dann zu. „Mal ehrlich, was ist so toll an ihr?“ Sie zupfte die Träger
mehr wurde im Augenblick noch aufgebaut. Neben der Treppe hatte man eine langgestreckte
ihres BHs zurecht, zog das Top darüber und zupfte noch mal an den Trägern. „Also was?“ Sie
Theke aufgestellt und auf der anderen Seite standen ein paar Bänke und Tische, wie man sie
öffnete die Tür und streckte sich nach draußen. „Hmm?“
sonst in Festzelten fand. Wer immer diese hässlichen orangen Dinger baute oder auch nur
„Sie hat einfach etwas, ich weiß nicht was. Wenn du auf einen Typen abfährst, weißt du dann
verlieh musste ein reicher Mann dadurch geworden sein. Der Theke gegenüber standen dafür
immer genau warum?“
ein paar runde Stehtische, die man wahrscheinlich aus einem Stehcafé um die Ecke hatte
„Ich fahre nicht auf Typen ab.“
mitgehen lassen. Und es herrschte gähnende Leere. Hinter der Theke stapelte ein Student die
„Verzeihung, Mademoiselle Jacotet hat ja hohe Ansprüche.“
Kisten Becks, während der Turm mit den Colakisten bereits beängstigend schwankte.
„Besser zu hohe, als gar keine.“ Damit schien sie Simone ernsthaft zu beleidigen. „So war’s
„Miesepeter.“, Simone entdeckte zwei Bekannte an einem der Stehtische, die gelangweilt an
nicht gemeint, eben nur was Clara betrifft.“
ihrem ersten Becks lutschten, „Da, Mark und Stefan sind auch schon da.“
„Ich hab schon begriffen, dass du sie nicht leiden kannst. Sie mag dich übrigens auch nicht.“
„C’est une surprise.“, murmelte Marie und lies sich mit zu den beiden an den Tisch ziehen.
„Das beruhigt mich irgendwie.“, grinste Marie und verschwand wieder ins Bad. Nach ein paar
„Hallo, auch schon da?“, Mark schob sein Becks zur Seite und stieß dabei Stefans Cola
Minuten kam sie wieder zurück und baute sich vor Simone auf. „Meinetwegen können wir
beinahe vom Tisch, dann wandte er sich lächelnd zu Marie. „Ich dachte du hättest keine Lust
jetzt gehen, auch wenn noch keine Menschenseele da sein wird.“
zu kommen?“
„Du bist ja wieder Mal in bester Partystimmung.“
„Hab ich auch nicht, aber du kennst doch Simone, die hätte mir die Tür eingetreten, wenn ich
Marie öffnete ihr die Tür und winkte sie wortlos hinaus, dann griff sie sich den Schlüssel und
nicht aufgemacht hätte.“
seufzte leise. In Partystimmung war sie eigentlich wirklich nicht. Aber auf irgendeiner musste
„Ha, ha. Du bist echt witzig. Ist ja noch nichts los.“ Im gleichen Augenblick donnerten die
man sich ja schließlich doch sehen lassen, sonst wurde man gleich ins gesellschaftliche
Lautsprecher los und pusteten die Vier beinahe von ihrem Tisch. Im nächsten Moment
Abseits geschoben. „Füll mich ab und ich werde zum absoluten Partygirl.“
verstummten sie wieder und im übernächsten rief jemand jemanden anderen zu, die
Lautstärke sei wohl ein bisschen zu hoch gewesen. Génial, heute werd ich also nicht nur
Marie und Simone schlenderten an dem Wirtschaftsinformatikgebäude der FH vorbei, bogen
blind, sondern wahrscheinlich auch noch taub. Marie lächelte, während sie Stefan zuhörte wie
dann nach Rechts und standen vor der Glasdrehtür eines der direkt am Campus gelegenen
er Mark weiter über seine Irrfahrten durch Nürnberg erzählte, als er letztens in Cin eCittá
Gebäude, in dem die FH-Party dieses Semester stattfinden sollte. „Hab ich schon gesagt, dass
gehen wollte. Die Hobby-DJ’s starteten unterdessen einen neuen Versuch, und diesmal
wir bestimmt viel zu früh sind.“
blieben sogar einige Trommelfelle heil.
Simone warf ihr nur einen giftigen Blick zu und ging durch die Drehtür ins Innere des
Gut drei Stunden später hatte sich das Foyer gefüllt. Neben Marie drückte gerade der X-te
Gebäudes. Man hatte Kasse und Garderobe mit schwarzen Plastikvorhängen vom Rest des
seine Zigarette an dem Bitte Nicht Rauchen-Schild aus, als sie den Rest ihrer Flasche leerte
Foyers getrennt, doch dahinter herrschte eh noch stillste Ruhe. Simone wechselte ein paar
und auf die Theke zusteuerte. Sie reihte sich in die Schlange ein, während hinter ihr You all
Worte mit dem St udenten der sich für den Abend der Kasse angenommen hatte, während
dat von den Bahamen aus den Lautsprechern dröhnte und die Masse das Geheule im Song
Marie mit einem Blick durch das Glas ein letztes Mal die Möglichkeiten abwog den Abend
live mitheulte. „Nein, nur –“ Jemand drängte sich zwischen sie und der hinter der Theke.
doch für sich allein verbringen zu können. Eine Minute später war sie 7 € los und hatte einen
„Nur abgeben!“, brüllte sie und schüttelte den Kopf, als sie statt dessen eine frische Flasche
dunkelblauen bezahlt-Aufdruck auf die Handfläche gestempelt bekommen.
auf die Theke gestellt bekam. „Ich wollte nur meine Flasche abgegeben.“ Die auf der ande ren
„Sag ich doch, viel zu früh.“
Seite sah sie verwirrt an, dann schien sie ihren Verstand in Gang zu setzen und gab Marie das
Der Steinboden war mit Holzplatten bedeckt worden, von den Wänden hingen Tarnnetze als
Pfand auf die Flasche. „Merci.“, atmete Marie tief durch und steckte die paar Cent ein. Dann
hätten die Veranstalter bei einer Bundeswehrlotterie den ersten Preis gemacht. Am
schlängelte sie sich an der Theke entlang zur Treppe hin und schlug sich bis nach oben durch.
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Dort hatte man eine Art Hotdog-Stand untergebracht, an dem sich Mark gerade den dritten
torkelte um die Ecke Richtung Campus. Die frische Luft brachte langsam wieder ihren Kopf
oder vierten reinstopfte, und gegenüber eine zweite Bar hingestellt, bei der die Auswahl aus
in Gang, der Rhythmus der Musik, der noch immer ihren Herzschlag zu kontrollieren schien,
mehr bestand als Cola, Bier oder Colabier. Die Musik drang bis nach oben durch, über eine
verschwand aus ihrem Körper und sie wurde von einigen Schwankern abgesehen wieder
Art Balkon konnte man direkt auf die Anlage im unteren Foyer sehen. Eine Freundin winkte
Herrin über ihre Glieder. Der Nachteil daran war, dass ihr langsam klar wurde, das sie morgen
ihr aus einer Gruppe zu, und noch bevor Marie „Salut“ sagen konnte hatte sie ihren ersten
höllische Kopfschmerzen kriegen würde. Sie hatte die Ecke des Gebäudes erreicht und kam
Tequilla in der Hand.
auf den eigentlichen Campus, dem man noch am deutlichsten ansah, dass das Gelände
Gegen halb eins torkelte, schlenderte oder stolperte – sie war sich da selbst nicht ganz
vormals eine Kaserne gewesen war. Man brauchte nicht viel Mühe um sich die
sicher – Marie die Treppenstufen wieder hinunter und stürzte sich in das Gewühl der
marschierenden Soldaten vorzustellen die auf dem Platz stramm standen. Jetzt stand da nur
tanzenden Körper. In der Luft stand jene faszinierend und doch gleichzeitig ekelhafte
noch ein rotangemaltes Ungetüm aus Stahl, ein sich in den Himmel erstreckendes Mahnmal
Mischung von Schweiß, Alkohol und Rauch. Für einen Augenblick glaubte sie auch den
der Geldverschwendung in moderne Kunst. Ein Dutzend Stahlträger aneinandergeschweißt,
beschwingenden Geruch von Marihuana wahrzunehmen. Durch die Boxen bebte I’m Just a
ohne Sinn und Zweck, aber eben vorhanden. Marie lies sich auf eine der Bänke fallen, die an
Girl. Marie tanzte sich ein paar Meter weiter, spürte wie der Rhythmus sie fast vereinnahmte,
einer Seite des Campus aufgebaut waren und blickte auf den Plastersteinboden. Ihre Blicke
auch wenn man nach diesem Song bestenfalls hüpfen, aber nicht tanzen konnte. Sie schwitzte
wanderten über einen der in den Boden eingelassenen Scheinwerfer hinweg, die das rote
selbst, ihre Klamotten klebten ihr schon am Körper und das kurze dunkle Haar klebte an ihrer
Ungetüm auch noch ins rechte Licht setzten – oder setzen sollte. Marie hatte schon immer
Stirn. Sie stieß auf jemand den sie kannte, Küsschen hier, Küsschen da, und schon gingen sie
gefunden, dass es besser wäre eine Plane über den Schrott zu ziehen.
weiter ihrer Wege. Sie wurde von einer Gruppe mitgerissen und konnte sich erst lösen, als sie
„Bonsoir, Mademoiselle Jacotet. Comment allez-vous ?“, erklang hinter ihr plötzlich eine
einen Bogen um eine der Boxen machte und auf der anderen Seite einen schmalen Durchgang
bekannte Stimme, die Marie trotzdem zusammenzucken lies.
Richtung Ausgang fand. Sie brauchte erst mal ein bisschen frische Luft, der Alkohol machte
„Bien, merci. Et vous?“ Marie hatte zuerst die Stimme von Professor Falkenstein erkannt, ihre
sich in ihren Adern bemerkbar, sie war nahe an der Grenze die Kontrolle zu verlieren. Und
Augen hatten sich scheinbar noch nicht ganz an die Dunkelheit gewöhnt, die Umrisse des
nichts hasste Marie mehr als das, sie wollte garantiert nicht zu jenen besoffenen Idioten
Professors kristallisierten sich nur langsam aus der Nacht heraus. Aber selbst wenn sie die
gehören, deren Peinlichkeiten schon am nächsten Tag als Foto im Internet zu begaffen waren.
Stimme nicht sofort erkannt hätte, kein anderer Dozent oder Prof sprach sie auf Französisch
Jemand hatte die schwarze Plastikfolie heruntergerissen, Marie stieg über sie hinweg. Die
an. „Sie arbeiten noch so spät?“ Sie konnte sich nicht erinnern überhaupt eine Dozenten auf
Kasse war längst eingezogen worden, gut so, der Stempel auf ihrer Hand war längst vom
der Party gesehen zu haben.
Schweiß weggewaschen worden. Marie stemmte sich gegen den Flügel der Drehtür und setzte
„Es ist etwas zu lange liegengeblieben.“, meinte Falkenstein lächelnd, „Und das konnte ich
sie so in Bewegung. In der nächsten Sekunde spürte sie die frische Luft um sich herum. Sie
nie haben. Und sie, schon genug von der großen Party?“
sog sie tief in sich auf, beinahe als hätte sie die letzten Minuten gar nicht mehr geatmet. Im
„Ich brauche nur ein bisschen frische Luft.“ Wie zum Beweis sog sie die frische Luft in sich
Hintergrund konnte sie noch immer die Musik hören, doch sie wirkte gedämpft, fast als wäre
auf und bemerkte erst jetzt, dass ihr langsam kalt wurde. Blind, taub und dann noch eine
sie nur ganz hinten in ihrem Kopf, wie einen Ohrwurm, den man nicht loswurde und deshalb
Lungenentzündung, sie hätte wirklich zu Hause bleiben sollen.
den ganzen Tag über leise hörte. Ein paar Meter vor ihr fielen gerade zwei Student en
„Ja, ja, als ich jung war.“, stöhnte und grinste Falkenstein breit zu ihr herunter.
übereinander her und hatten Mühe dabei auf der Bank zu bleiben, während sich ihre Hände
„Ach bitte, ich will ja nicht persönlich werden, aber so alt können sie doch gar nicht sein.“
gegenseitig unter die Kleidung fuhren und beide gedämpftes Stöhnen von sich gaben. Dieses
Wie alt war er wohl, irgendwas zwischen 40 und 45? Auf keinen Fall sehr viel älter. Er schien
Wir-wollen-nicht-gehört-werden-Stöhnen, ziemlich blödsinnig, wenn man gerade dabei war
sich allerdings gern als ein bisschen älter darzustellen, kleidete sich so und kultivierte die
es vor dem einzigen Ausgang zu treiben. Marie beachtete sie nicht weiter, fischte sich eine
grauen Strähnen in seinen Haaren fast so, das man glauben könnte er hätte sie sich eingefärbt.
Gauloise aus der Schachtel, was sollte man als Halbfranzösin auch anderes rauchen, und
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Er gefiel Marie, vielleicht weil er sich von den ganzen grünen Jungs hier um sie herum abhob,
leerte den Rest der Flasche Evian. Die leere Plastikflasche flog in die Spüle, als sie zum
auf der anderen Seite aber noch nicht von einer Altenpflegerin gefüttert werden musste.
einzigen Fenster der 1-Zimmerwohnung ging und es aufriss. Sie warf einen Blick auf ihren
„Da will sich doch nicht jemand eine bessere Klaussurennote erschleimen?“
Radiowecker, halb vier. Klasse, was hatte sie zu Simone doch gleich gesagt? „Füll mich ab
„Würde mir nie einfallen.“ Marie spielte die Entsetzte, neigte dann ihren Kopf leicht zur Seite
und ich werde zum Partygirl.“ Ich sollte aufhören mich so wörtlich zu nehmen, stöhnte sie
und legte ihr Lolitalächeln auf. „Würde das denn funktionieren?“ Im nächsten Moment lachte
innerlich und zuckte zusammen, als es gegen ihre Tür hämmerte. Wer immer das war, sie
sie laut auf und ersparte Falkenstein damit die Antwort.
würde eine gute französische Bürgerin sein und ihn guillotinieren. Langsam torkelte sie zur
„Na ja, ich muss dann los, sonst behauptet meine Frau noch, ich hätte mich auf der Party mit
Tür, warf einen Blick durch den Türspion und öffnete die Tür dann ohne wirklich erkannt zu
meinen Studentinnen herumgetrieben.“, er lachte und schüttelte den Kopf, „A bientôt.“
haben wer auf der anderen Seite so lebensmüde sein konnte.
„A bientôt et bonne nuit monsieur le professeur.“ Marie drehte ihren Kopf zuerst leicht nach
„Mark, du, weißt du wie spät es ist?“
rechts um Falkenstein nachsehen zu können, dann weiter nach hinten, um ihn nicht aus dem
„So gegen halb vier.“
Blickfeld zu verlieren, bis er schließlich hinter einem der Gebäude verschwand. Sie seufzte
„Jemand sollte dir mal den Sinn von rhetorischen Fragen erklären. Was willst du?“ Sie winkte
leicht auf und warf einen letzten Blick auf das rote Ungetüm aus Stahl, bevor sie aufstand um
ihn an sich vorbei, öffnete noch mal den Kühlschrank und griff diesmal nach einer Flasche
sich zurück ins Partygetümmel zu werfen.
Orangensaft. „Auch was?“
Das erste was sie dort sah war Simone und Clara Bauer, Hand in Hand, kichernd auf die
„Nein, danke.“
Toilette verschwinden. Irgendetwas sagte ihr das sie nicht ihr Make-up überprüfen wollten
Marie kickte die Tür zu und schenkte sich einen der Kunststoffbecher voll, die sie wie alle
und besonders überrascht war sie auch nicht, dass die Schlampe Clara auch auf Frauen stand.
anderen Studenten auch aus der Mensa im halben Dutzend mitgehen lies. „Ich hoffe es ist
Marie wäre nicht mal überraschte wenn Clara sich einen Schäferhund für Schäferstündchen
etwas wichtiges, sonst muss ich dich leider töten.“
halten würde. Auf diesen Gedanken beschloss sie erst mal nachzusehen ob es noch genügend
Der Spaß schien nicht anzukommen, Marks Gesicht blieb ernst. Bewundernswert ernst, sie
Tequillas im Haus gab.
wusste ungefähr was er intus haben musste. „Sag mal, Simone, ist sie – ?“
„Tot? Ein Vampir?“
Furchtvoll blickte Marie zu ihrem Gegenüber im Aufzug des Studentenwohnheims hin über.
„Nein, lesbisch, oder bi, oder was weiß ich.“
Das schummrige Licht warf tiefe Schatten in das Gesicht des fast zwei Meter großen Typen,
Marie schloss für ein paar Sekunden die Augen und trank ihren O-Saft in einem Schluck
der im Takt einer imaginären Musik schwankte. Kotz mich jetzt bloß nicht voll, kotz mich
bevor sie sich neben Mark auf die Kante ihres Bett setzte und ihn ernst ansah. „Wie kommst
jetzt bloß nicht voll, schickte sie ein Stoßgebet nach dem anderen in den Himmel. Der Aufzug
du da drauf?“
stoppte ruckartig, das schien den Typen auf eine harte Probe zu stellen. Die Türen schob sich
„Ich hab sie mit Clara rummachen sehen. Ich meine nicht so rummachen, sondern richtig
auf, Marie sprang heraus und hörte gerade noch wie der Typ die Wand gegenüber voll spie als
rummachen.“
hätte er ein Zehn-Gänge-Menü gegessen, das er jetzt unbedingt los werden musste. Die Türen
Er war irgendwie süß, wenn er sich so verhedderte und dabei rot wurde. „Miserabler
schlossen sich bevor der Gestank nach draußen kommen konnte, Marie schickte ein
Geschmack, nicht wahr?“ Sie lies sich nach hinten fallen, rappelte sich aber gleich wieder auf.
Dankgebet in den Himmel, wer weiß ob sie sich bei diesem Gestank nicht angeschlossen
„Versp rich mir es nicht weiterzusagen.“
hätte. Sie drückte die Glastür zu ihrem Korridor auf, zählte die Wohnungstüren und
„Das die beiden rummachen.“
versicherte sich anhand des Namensschildes vor der richtigen zu stehen, bevor sie den ersten
„Versprich es mir.“
Versuch machte den Schlüssel ins Schloss zu kriegen. Nach dem vierten Versuch bekam sie
„Okay, versprochen.“
die Tür auf, ging in ihre Wohnung, schlo ss die Tür hinter sich, öffnete sie wieder, zog den
„Gut, Simone ist lesbisch und Clara – Clara ist einfach notgeil. Über Clara kannste erzählen
Schlüssel von außen ab und schloss die Tür dann erneut. Sie riss ihren Kühlschrank auf und
was du willst, aber ein Wort über Simone und ich red kein Wort mehr mit dir.“ Und so
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verliebt wie er in sie war, auch wenn er den Teufel tun würde und es zugeben würde, war das
die effektivste Drohung die sie ausstoßen konnte.
„Und – Und du? Ich meine sie ist doch deine beste Freundin, oder?“
Marie lachte zuerst nur. „Nein, ich bin nicht lesbisch. Und nein, ich werde es dir jetzt nicht
beweisen. Tires-toi ! “ – Er sah sie verwirrt an. – „’tschuldigung, das heißt soviel wie: Hau
ab! Ich bin müde.“
Marie schreckte aus dem S chlaf auf, drehte ihren Kopf Richtung Wohnungstür und verfluchte
den Anklopfenden. Unmenschen, stöhnte sie in sich hinein, überall nur Unmenschen. Ihr
Oberkörper schreckte nach oben, etwa so wie sich Dracula jeden Abend aus seinem Sarg
erhob. Welcher Unmensch war das schon wieder, und musste sie erst mit dem Hausmeister
schlafen, damit er endlich die Klingel reparierte. Das Läuten der Klingel konnte nicht halb so
grausam sein wie dieses Hämmern. „Ja, gleich!“ Sie stieg aus dem Bett, der Radiowecker
zeigte 13 Uhr an, sie schwankte ein wenig und hatte unbändigen Durst.
„Ich bin’s, ich habe Frühstück dabei!“, schrie Simone von der anderen Seite der
Wohnungstür.
Marie gab nur ein Stöhnen als Antwort von sich, griff nach der über den Stuhl hängenden
Hose, zog sie sich an. Dann zog sie das Bigshirt mit einem verwaschenen Tweety darauf aus
und schleuderte es aufs Bett. Sie schlüpfte gerade in den zweiten Ärmel des Sweatshirts, als
sie die Tür öffnete und Simone rein lies.
„Guten Morgen.“, strahlte Simone voller Elan.
„Morgen.“, krächzte sie als Antwort ohne jeglichen Elan.
„Hab ich dich etwa geweckt?“
„Warum denn, du weißt doch, der deutsche Student steht nicht vor sechs Uhr abends auf.“
„Und da bist du ganz deutsch.“
„Absolut.“, stöhnte sie und strich sich die Haare aus der Stirn. „Was ist da drin?“ Maries
Magen meldete sich zu Wort und sie deutete auf die braune Tüte vom Bäcker aus dem
benachbarten Einkaufscenter.
„Oh, ich dachte du hättest vielleicht Hunger. Und hast du?“
„Kaffee?“ Marie drehte sich auf der Stelle, wie eine Ballerina in einer Spieldose, zur Seite
und bekam die letzten Auswirkungen des Alkohols zu spüren, als sie wieder halbwegs zum
Stillstand kam. Sie stützte sich für ein paar Augenblicke an der Halt bietenden Spüle ab,
schnaufte tief durch und entdeckte die leere Plastikflasche, die sie vor ein paar Stunden ins
Waschbecken geworfen hatte, weil sie sich nicht mehr ganz sicher war ob Müll in die
Mülltonne gehörte oder eben doch ins Waschbecken. Sie lies Wasser in die Kanne laufen,
füllte es dann in die Kaffeemaschine um.
„Ich hab Brötchen, Croissants und eine Brezel, willst du sie?“
„Ich nehm lieber ’n Croissant, danke.“ In ihrem Kopf trommelte es weiter lautstark vor sich
hin, wie Paukenschläge eines der Beethovenkonzerte aus dem Musikunterricht ihrer
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Schulzeit. Pong-pong. Pong -pong. Pong-pong. Was war das gleich wieder, das Anklopfen des
„Woher weißt du das?“
Todes? Wie passend! Sie musste ernsthafte Überlegungen anstellen wie viel Kaffeepulver
„Weil er Wachs in meinen Händen ist.“, ihr Lolitalächeln hatte sie dagegen in jedem Zustand
wohl für eine Kanne Wasser angemessen war. Egal, es gab nichts, was man mit Milch und
drauf. Das Lächeln konnte dem viel zu starkem Kaffee allerdings kaum standhalten. Milch
Zucker nicht wieder ausbeulen konnte. Neben ihr begann das Wasser langsam durch den
literweise, Zucker tonnenweise war wohl die einzige Möglichkeit ihn wirklich genießbar zu
Filter zu laufen. Tropf. Tropf. Tropf. Fast so laut wie die Paukenschläge. „Entschuldigst du
machen. Simone dagegen schien er zu schmecken.
mich nen Moment.“ Sie verschwand für eine Minute auf die Toilette, der Küchenzelle genau
gegenüber. Lebensqualität pur.
Das warme Wasser prasselte auf sie herunter, Marie drehte und wandte sich nach allen Seiten,
Simone warf die Tüte vom Bäcker aufs Bett, öffnete das Fenster und begann den kleinen
um ja keiner Körperstelle den massierenden Genuss eines verkalkten Duschkopf s entgehen zu
Tisch aufzuräumen, der am Fußende des Bettes stand. Sie stapelte ein VWL-Buch auf einem
lassen. Sie versuchte die letzten Überreste der vergangenen Nacht abzuwaschen, während das
dicken Schinken über Statistik, quartierte die aktuelle Ausgabe der Cinema zusammen mit
unaufhörliche Trommeln in ihrem Kopf ihr glaubhaft versicherte wie unsinnig dieses
einer zerschließenen Ausgabe von Paris Match auf den Schreibtisch gegenüber und stellte
Unterfangen war. Sie fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar und ver harrte plötzlich so, als
ein altes Glas in die Spüle, bevor sie über den Tisch wischte und aus Maries Küchenschrank
wäre sie zur Salzsäule erstarrt. Stand sie tatsächlich vor diesen Doktor Sommer-Problemen,
Besteck, Teller und zwei Tassen heraussuchte. Im nächsten Augenblick kam Marie wieder
über die sie sich schon als Teenie in der Bravo immer lustig gemacht hatte? Diese Art von
aus dem Bad, erfrischt und halbwegs einem Menschen bei Tageslicht ähnelnd.
Problemen, die durch nichts zu lösen waren als dur ch Zeit? Simone war also ernsthaft so
„Ich hab nur noch Käse, etwas Schinken und Nutella.“
dämlich sich mit Clara, der Ich-schlafe-mit-allem-was-sich-bewegt-Clara, einzulassen, die
„Das reicht schon.“
auch als Ich-brech-jedem-das-Herz,-der-ernsthaft-in-mich-verliebt -ist-Clara bekannt war?
Marie öffnete den Kühlschrank und holte das besagte heraus, packte es auf einen Teller und
Sollte sie jetzt die gute Freundin sein, und die undankbare Rolle übernehmen ihr das ganze
zog die Kanne frischen Kaffees aus der Maschine.
wieder auszureden, oder sollte sie es einfach dabei belassen? Simone war doch schließlich alt
„Wie lang warst du gestern noch da?“
genug, und wegen all ihrer Naivität bestimmt nicht zum erstenmal auf den Typ Clara
„Vier oder halb fünf, und du hast dich prächtig amüsiert, wie ich höre.“
reingefallen. Wahrscheinlich war an der Theorie etwas dran, dass bestimmte Menschen sich
Simone sah neugierig zu ihr hin. „Wie mein st du das?“
immer wieder Partner suchen, die sie anschließend verletzen. Wie diese Frauen die immer
„Na ja, du und du weißt schon wer.“
wieder zu ihren prügelnden Ehemännern zurückkehrten, warum auch immer. Marie begann
„Deine Anspielungen sind manchmal wirklich unnötig.“
sich wieder zu bewegen, drehte den Wasserhahn um und stieg aus der Dusche. Sie trocknete
„Okay, pardon.“, sie schenkte sich Kaffee ein, „Aber ihr scheint nicht besonders diskret
sich eilig ab und schlang das große Handtuch um ihren Körper. Oder sollte sie doch 56 Cent
gewesen zu sein. Ich meine, du willst doch noch immer das dein Sexualleben privat bleibt,
auf einen Umschlag kleben und Doktor Sommer fragen, wenn es den überhaupt noch gab. Sie
oder?“ – Simone nickte fragend in ihre Richtung. – „Na ja, dann wär ich mal vorsichtiger,
fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar und betrachtete ihr nachdenkliches Spiegelbild, als
Mark hat euch beide gestern rumknutschen sehen.“
hätte sie gar nichts mit dem zu tun. Ihr Spiegelbild war schon immer der bessere Mensch
„Er hat was gesehen?!“
gewesen, da war sie sich absolut sicher.
„Immerhin genug um mich hier vom Schlafen abzuhalten. Er hat gesehen wie ihr
Eigentlich hieß sie ja Marie -Justine, aber als sie herausgefunden hatte das ihr Vater sie
engumschlungen wart, so was sieht er wahrscheinlich sonst nur in den Pornos von Mike &
ausgerechnet nach dem Roman von De Sade Die Geschichte der Justine – oder: Die
Co.“
Nachteile der Tugend genannt hatte, hatte sie auf das Justine wann immer möglich verzichtet.
„Mir ist gar nicht nach spaßen zu mute.“
Inzwischen hatte sie den Roman gelesen, hielt ihn für eine hervorragende Satire auf die
Marie lächelte sanft, sofern sie ihre Gestik wieder halbwegs im Griff hatte. „Keine Panik, er
Doppelmoral des Bürgertums, hatte sich das Justine aber nie wirklich wieder angewöhnt.
behält alles für sich.“
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Monsieur Jacotet gehörte zu den wenigen Franzosen die ein Leben in Deutschland begonnen
hatten, denen eine ungleich höhere Zahl Deutsche in Frankreich gegenüberstand. Es war die
Am nächsten Morgen wanderte Maries Blick über die Köpfe des nach unten abfallenden
alte Geschichte gewesen. Die Firma hatte ihn nach Bayern geschickt, zuerst München, dann
Vorlesungssaales hinunter und blieben unweigerlich auf dem strohblonden Hinterkopf von
Nürnberg und schließlich Würzburg. Im Grunde also ein Abstieg von der deutschen
Clara hängen. Kelly Bundy war gegenüber Clara schwarzhaarig wie die Nacht. Sie strengte
Zentralvertretung zu immer kleiner werdenden Niederlassungen, aber in der letzten hatte er
ihre Fantasie an, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen was Simone an ihr
seine künftige Frau als Sekretärin bekommen. Und nachdem das Klischee den Franzosen
anziehend finden konnte. Clara war kein Topmodel, sie kleidete sich nur immer ein Nummer
schon immer jede Menge Energie fürs Liebesleben nachsagt, voilà da erschien Marie-Justine
knapper und enger als das Menschen mit Geschmack tun würden, und sie hatte zugegebener
auf der Bildfläche. Ein 2 ½ Pfund schwerer Wonneproppen, der wie das Wonneproppen so
Massen das, was Männer als Charakter bezeichneten. Zwei riesige Dinger an Charakter sogar.
tun erst mal kräftig das Leben seiner Eltern durcheinander brachte. Überspringen wir ein paar
Aber das konnte es doch beim besten Willen nicht sein, Männer waren vielleicht
Jahre, vergessen wir den Aufstand den sie machte, weil sie ihre Kindergärtnerin für eine
schwanzgesteuert genug allein mit zwei Brüsten Vorlieb zu nehmen, aber Simone? Echten
brutale Tierquälerin hielt, weil diese breit verkündete wie gut Katzenzungen schmeckten.
Charakter konnte Clara dagegen ganz bestimmt nicht haben, der war längst weggebleicht
Oder als sie in der 1. Klasse einem Klassenkameraden mit ihrer Büchertasche verprügelte und
worden. Oder war Marie nur in ihren alten Hang zur Stutenbissigkeit verfallen und Simone
anschließend beim Kinderpsychologen nachsitzen musste. Danach folgte das übliche, Pubertät
hatte an Clara nur deren gutes Herz entdeckt? Sie wandte ihren Blick vom Platinhaarschopf
und so, nichts weltbewegendes also, aus der heutigen Sicht. Zum Entsetzen ihrer Eltern, und
ab und sah dafür wie Falkenstein eine Formel an die Tafel schrieb, von der sie keine Ahnung
später zu ihrem eigenen, begann sie erst in der 9. Klasse Hauptschule zu realisieren, dass ihre
hatte wofür die schon wieder gut war. Sie hätte wohl doch besser der Vorlesung folgen sollen,
berufliche Zukunft nicht an der Kasse des Edekamarktes um die Ecke zu liegen schien. Also
wenn sie sich schon so früh am Morgen hierher gequält hatte.
quälte sie sich anschließend zur mittleren Reife, danach zur Fachhochschulreife, um endlich
In der Pause umklammerte Marie ihre Tasse Cafe Creme als würde sie sich nur so daran
festzustellen das es nicht schöneres als studieren gab. Oder das man auf diese Weise seine
hindern können vom Stuhl auf den blitzblank polierten Boden der Mensa zu krachen.
Jugend auch angenehm verlängern konnte. Ihr Lerneifer hatte seit dem aber etwas
Vorlesungen die um 8 Uhr 15 begannen sollten eigentlich gegen die Genfer Konvention
nachgelassen und das sie sich in der vielgelobten Regelstudienzeit befand war eher einem
verstoßen. Schüler konnte man ja noch um 8 Uhr in die Schule jagen, aber doch keine
Wunder zuzuschreiben, als ihrer Begabung für BWL. Ihre Begeisterung galt anderen Fächern,
altersschwachen Studenten mehr.
dumm nur das man keinen VWL-Prof mit Kenntnissen der Beziehung zwischen den Valois
„Morgen jemand Lust ins FH-Kino zu kommen?“ Peter baute sich mit einem Stapel
und den Guise im mittelalterlichen Frankreich beeindrucken konnte, und ihr der Statistik-Prof
Prospekten vor dem Tisch von Marie auf. „Es läuft Spy Game.“ Er nahm einen Packen der
keine 1 gab, nur weil sie Heine zitieren konnte. Und hier in Ansbach musste sie sich auch
Prospekte, die das Filmplakat zierte und darunter das heutige Datum und die Uhrzeit des
noch durch Englisch quälen, weil niemand Vorlesungen in Französisch abhielt, was an
Filmstarts.
anderen FHs durchaus üblich war. Welch grausamer Wink des Schicksals hatte sie nach
„Lass mich raten, das ganze rechnet sich nicht.“, das hatte Marie von Anfang an behauptet,
Ansbach verschlagen, wahrscheinlich hätte sie für ihr Fachabi doch ein bisschen besser lernen
aber Peter „Fachschaft“, wie er meist genannt wurde, seinen Tonnen von Haargel wegen von
sollen.
einigen auch schon „Mrs. Fachschaft“, hatte ja nicht hören wollen.
Da war sie also, 24, BWL -Studentin in Ansbach, eine Lesbe als beste Freundin, einen
„Wir müssen das nur bekannter machen, kannst du nicht ein paar von den Dingern im
Wohnungsnachbar der in sie verknallt war, an einer FH, die sie mochte, was sie aber nie und
Studentenheim verteilen, du wohnst doch drin?“
nimmer zugeben würde, wie die Tatsache das sie ihre Kommilitonen im Grunde auch ganz
Bekannter machen, sie seufzte innerlich, hier waren keine 1.000 Studenten, was hatte Peter
gerne hatte. Hübsch, wenn man auf den Typ (halb-)französisches Nympchen, wie sie sich
vor, einen Werbespot im Fernsehen zu schalten? „Gib her, aber ich leg sie nur in den
selbst gern betitelte, stand sogar unwiderstehlich, aber eigentlich davon überzeugt als alte
Aufenthaltsraum und kleb ein paar an die Aushangswände.“ Sie streckte ihren Arm aus und
Jungfer zu enden. So spielt das Leben, c’est la vie !
nahm ihn einen Stapel der Prospekte ab.
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„Danke dir.“ Er nickte ihr noch zu und setzte seinen Werbefeldzug dann am Tisch gegenüber
aneinandergeklirrt hatten, kam man wieder auf den Kellner zurück. Der flog wieder an ihrem
fort.
Tisch vorbei und lies sich auch durch wildes Rumgefuchtel mit den Händen nicht davon
„Du bist viel zu nett.“, grinste Mark neben ihr.
überzeugen sie zu sehen.
„Ich weiß, ich weiß.“
„Einmal probier ich’s noch.“ Mario warf einen traurigen Blick in sein leeres Weizenglas und
„Die sollten einfach mal bessere Filme bringen, Herr der Ringe wäre zum Beispiel der große
hielt nach dem unwilligen Kellner Ausschau. In seinem Gesicht stand jenes Dauergrinsen, das
Renner, da wette ich mit euch.“ Stefans Kommentar war deshalb ein Phänomen, weil er
manchen glauben lies er hätte einen Kleiderbügel verschluckt, das fast schon bizarr wirkende
während er sprach an seiner Colaflasche nuckelte und man ihn ansonsten wegen seines
Züge annahm, als er den Kellner wieder entdeckte. Als der zwar direkt in die Richtung ihres
bayrischen Dialekts an sich sowieso nicht verstehen konnte.
Tisches sah, diesen selbst dafür übersah, verschwand das Grinsen aus Marios Gesicht für
„Für Freaks wie dich zum Beispiel.“
einen Augenblick und er warf erneut einen traurigen Blick in sein leeres Glas.
„Was hast du bloß gegen Herr der Ringe, der Film ist total genial, glaub mir.“
„Ich will eh gleich gehen, ich schick ihn dann bei euch vorbei.“, Marie lies den letzten Rest
Marie nippte an ihrem Cafe Creme und warf ihn ein leises „Ja, ja.“ entgegen. Stefans Herr der
des Roten in ihrem Glas tanzen.
Ringe-und-Rollenspiel-Fetisch war legendär, er war der einzige im Studentenheim, der ein
„Jetzt schon, es ist doch erst elf?“ Mark hätte beinahe nach ihrer Hand gegriffen, um sie auch
Schwert und einen Rinderhornbecher, für den wahrscheinlich sogar ein echtes Rind hatte
körperlich festzuhalten.
sterben müssen, in seiner Wohnung hatte. Sie wollte ihrem „Ja, ja.“ gerade noch etwas
„Keine Ahnung warum, aber heut ruft mich irgendwie mein Bett.“ Sie trank den letzten Rest
hinterher schieben, als sie Stefans abwesender Blick leise seufzen lies. Der konnte nur eines
des Weins und stand auf. „Nacht allerseits.“ Ihr flog ein halbes Dutzend „Ciaos“ entgegen,
bedeuten, er hatte gerade wieder mal eine Kommilitonin in engen Klamotten entdeckt. In
der Rest murmelte ein „Tschüss“. Marie hörte die Hälfte schon gar nicht mehr, schlängelte
diesem Zustand war er für ein paar unendliche Sekunden so abwesend, das man ihm ruhig die
sich durch die Tische und bog in den Hauptraum der Kneipe ab, wo der besagte Kellner
Brieftasche hätte klauen können. Marie wechselte ein paar vielsagende Blicke mit Anna, die
gerade vom Besitzer eine leise geschrieene Standpauke bekam. Sie schüttelte leise den Kopf
ihr schräg gegenüber saß, seufzte und musste nur leicht zur Seite blicken, als der Grund von
und schwang sich auf einen der Barhocker vor der Theke. „Pardon, ich hab’s leider ein
Stefans starrem Blick an ihr vorbeistolzierte. Clara und ihr Hofstaat, eine Gruppe die sich
bisschen –“
immer in treuer Ergebenheit und speichelleckerischer Perfektion hinter ihrer Herrin her zog.
Der Besitzer stöhnte nur auf und verschwand dann in die Küche.
Das ganze wirkte wie eine Imitation schlechter – als ob es gute geben würde – US-
„Du willst zahlen, oder?“ – Marie nickte, während er seinen Notizblock aus der Tasche holte.
Teenagerfilmen. Die Chefin der Cheerleader stolzierte voran, ihr Hofstaat folgte ihr. Und alle
– „Das war ein Bordeaux.“ – Marie hielt zwei Finger in die Höhe. – „Zwei, na Klasse, danke,
sahen trotz unterschiedlicher Größe, Haarfarbe und Kleidung doch irgendwie gleich aus.
obwohl darauf wär’s jetzt auch nicht mehr angekommen, der wirft mich eh raus.“
„Blödsinn, der wollte grade nur zeigen wer der Boss ist, und Fehler macht am Anfang doch
„Ziemlich verpeilt der Kellner.“, Mario stöhnte auf und lies seine Hand auf den Tisch
jeder.“ Sie fischte einen 10 Euroschein aus ihrem Portmonee und reichte ihm dem Kellner.
klatschen, mit der er vor ein paar Augenblicken noch versucht hatte den Kellner zu ihnen an
„Hinten an meinem Tisch wirst du übrigens sehnsüchtig erwartet.“
den Tisch zu winken. „Vielleicht will der uns einfach nicht sehen.“
„Was? Oh, fantastisch, wenn sich da auch noch jemand beschwert kann ich echt einpacken.“
„Vielleicht ist es sein erster Tag –“ Marie konnte sich nicht erinnern das der Junge schon mal
Er kramte mit zittrigen Fingern das Wechselgeld aus seinem Portmonee.
im Prinzen bedient hatte. „- und er ist bloß nervös.“
„Mach, sieben draus, und da beschwert sich schon keiner.“, sie blickte ihn an, er schien sich
„Du hast heute wirklich deinen guten Tag.“, flüsterte Mark neben ihr.
ernsthaft Sorgen darum zu machen, „Sag einfach, Marie meinte, ihr würdet mich doch nicht
„Ist nur der Restalkohol von Vorgestern. Santé!“ Sie hob ihr Glas Rotwein in die Höhe, und
mit einer Beschwerde den Kopf kosten. Und wen n sie es doch tun, bekommen sie’s mit mir
auch wenn die Geste eigentlich nur für Mark gedacht war, hatten im nächsten Moment auch
zu tun.“ Sie lächelte ihn an, er lächelte zurück.
alle anderen an ihr Glas angestoßen. Nachdem etwa acht mehr oder weniger volle Gläser
„Danke.“
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„Pas de problème.“, flüsterte sie fast schon abwesend, „Bis bald.“
Marie atmete die frische Nachtluft in sich ein, als sie der stickigen Kneipenluft e ntkommen
Als Marie Stunden später die Tür ihrer Wohnung hinter sich schloss war es kurz vor zwei, auf
war und widerstand der Versuchung sich eine Zigarette anzuzünden. Sie stieg die Stufen vom
ihrem Gesicht war dieses Lächeln eines gelungenen Abends, das sie sich ansonsten meist
Ausgang der Kneipe auf den Bürgersteig herunter. Der Himmel war wolkenverhangen, nur
verkniff, um nicht zuzugeben, dass ihr hier im Hinterhof der intellektuellen Hölle tatsächlich
mit Mühe schaffte es der Vollmond sich bemerkbar zu machen. Sie ging ein paar Schritt und
etwas gefallen hatte. Sie hing den Schlüssel an den Haken, tänzelte tatsächlich die paar Meter
suchte nach der Zigarettenschachtel in ihrem kleinen Rucksack, den sie bei sich trug. Das
an ihrer Kücheneinrichtung vorbei und schaffte es erst dann dieses Lächeln aus dem Gesicht
kaum vorhandene Licht der nahen Straßenlaterne senkte die Gnade der Dunkelheit über das
zu entfernen. Was war denn eigentlich auch schon passiert? Sie hatte ein nettes kleines
Durcheinander im Inneren des Rucksacks, erschwerte es aber das Gewünschte sofort zu
italienisches Restaurant kennen gelernt, das sie ansonsten sich nie gefundne hätte, und hatte
finden. Sie steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und startete die Suche nach ihrem
sich gut mit Falkenstein unterhalten. Ein bisschen studienmäßiges: Wie läuft es denn so
Feuerzeug. Als eine andere Flamme plötzlich vor ihrem Gesicht auftauchte schreckte Marie
allgemein? Inzwischen hat sich ja alles eingespielt, oder? Ein bisschen Klatsch: Nicht
zusammen, wich ein paar Schritt zurück. Die grell e Flamme hatte sie für eine kurzen Moment
verraten, aber der färbt sich die Haare. Das habe ich schon längst gewusst, aber dass das
geblendet, erst langsam kristallisierte sich Falkenstein vor ihr heraus.
schon bei den Studenten bekannt ist? Es war jene merkwürdige Mischung aus
„Darf ich?“, fragte er scheinheilig, nachdem er ihr beinah die Nase abgefackelt hätte.
Belanglosigkeiten gewesen, die einzeln betrachtet Gesprächstoff für Leute waren, die sich im
„Merci beaucoup.“ Sie lies den Tabak glühen und blies anschließend eine dicke Rauchwolke
Grunde nichts wirklich zu sagen hatten, aber als ganzes am Ende eine gewisse Vertrautheit
in die Luft. „Wieder so spät noch gearbeitet Herr Professor?“
hergestellten.
„Es bleibt eben immer etwas liegen.“, er lies erst jetzt die Flamme des billigen
Werbefeuerzeugs einer örtlichen Tankstelle erlöschen und steckte es zurück in seine
Hosentasche. „Und wir Professoren sind eben nicht so faul wie manche Studenten zu denken
scheinen.“
„Aber so etwas würde ich doch nie von ihnen denken.“, lächelte sie und versuchte sich
ernsthaft daran zu erinnern, ob sie vielleicht gerade gelogen hatte.
„Wie nett von ihnen.“ Es entstand eine dieser peinlichen Pausen, die nur dann wirklich
peinlich waren, wenn man versuchte krampfhaft das Gespräch am laufen zu halten.
„Sich als Gegenbeweis zu überarbeiten ist es allerdings auch nicht wert.“, meinte Marie
schließlich, nur um die Stille von etwas anderem unterbrechen zu lassen, als von einem
vorbeirasenden Auto.
„Für einen gelungenen Studentenabend ist es aber auch noch ein bisschen früh nach Hause zu
gehen, nicht wahr?“
„Och, ich bin heute nur ein bisschen müde.“
„Dann hätte es keinen Sinn sie auf ein Gläschen Wein einzuladen?“ Erneut herrschte Stille,
diesmal allerdings von einer etwas anderen Art. Falkenstein fragte sich ob er zu schnell und
vor allem zu weit vorgegangen war, Marie schien sich zu fragen, ob sie die Einladung gerade
richtig verstanden hatte. „Ich –“
„Warum nicht?“, flüsterte sie schließlich und nickte.
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02.
schon viel zu lange überdrüssig geworden. Er nützte ihr nichts mehr, er war nicht reich, er war
nicht mächtig und gerade hatte er wieder einmal unter Beweis gestellt, dass er auch nicht
Bei den größten Vergewaltigungen der klassischen Literatur, die jemals durch Hollywood
verbrochen wurden, gehört Eiskalte Engel mit Sarah Michelle Gellar und Ryan Phillippe
sicher zu den Anwärtern auf eine Topposition. Wer hätte gedacht das man Liaison
Dangereuse - Gefährliche Liebschaften auf derart tiefes Niveau herunterziehen könnte,
genauso gut hätte man Rambo als Hamletinterpretation darstellen können, oder Jennifer
Lopez als die Reinkarnation von Maria Callas verkaufen. Der einzige Grund warum sich
Männer an diesen Tiefpunkt der Filmgeschichte erinnern dürften, war wohl die lange
Kussszene zwischen Sarah Michelle Gellar und Selma Blair. Vielleicht erinnerte sich
Falkenstein in diesem Moment an diese Sz ene, während sich seine und Clara Bauers Zunge
ineinander verknoteten, als seien sie noch unerfahrene Teenager. Seine Hände fuhren über
ihren schwitzenden und sexuell nur beschränkt befriedigten Körper, während er langsam aus
ihr herausglitt und auf den Le derstuhl vor seinem Schreibtisch sank. Das Gefühl der
schwitzenden nackten Haut auf dem Leder lies ihn zusammenzucken, grausiges Gefühl.
Clara richtete ihren Oberkörper auf, blickte auf den Professor herunter und seufzte leise. Jetzt
hatte er noch einmal seinen Spaß gehabt, und das sollte es dann auch gewesen sein. Sie
knöpfte sich ihre Bluse wieder zu, richtete ihre vollen Brüste zurecht und schob sich dann den
Minirock über die Beine – auch wenn es nicht viel Stoff zum runterschieben gab. Sie sprang
vom Schreibtisch herunter, torkelte noch ein paar Schritt und beugte sich dann auf den Boden,
um ihren Slip aufzuheben. Statt ihn sich anzuziehen stopfte sie ihn eilig in ihre Handtasche.
Als nächstes machte sie sich auf die Suche nach ihren Schuhen, einen fand sie neben
Falkensteins Bürotür, der andere war unter die Heizung gerutscht. Sie musste auf alle Viere
runtergehen, um ihn aufheben zu können.
Falkenstein zog sich seine Hose hoch und beugte sich etwas über seinen Schreibtisch, um ihr
unter den Rock gucken zu können. Er lies den Reißverschluss hochzapen, seufzte kaum
merklich und griff nach dem Hemd das über dem Stuhl hing. Er schlüpfte ins Hemd und
versuchte erst gar nicht zu verbergen, wo er hingestarrt hatte, als sich Clara wieder auf zwei
Beine stellte. Breit grinsend griff er nach seinem Jackett. „Was ist los?“
„Was soll los sein?“
„Na, du siehst aus, als hättest du irgendetwas.“
Clara blickte ihn nachdenklich an, wenn er sie schon so leicht durchschaute, wurde es
wirklich Zeit Schluss zu machen. Eigentlich hatte sie ja noch ein paar Tage abwarten wollen,
besonders gut beim Sex war. „Es ist Schluss.“ In den unzähligenmalen in den sie Kerlen
schon beigebracht hatte, dass sie genug von ihnen hatte, war dies noch immer die effektivste
Formulierung. Ihrer Erfahrung nach waren Männer nicht die hellsten Köpfe solange sie mit
einer attraktiven Frau in einem gemeinsamen Raum waren, komplizierte Sätze würden das
ganze nur unnötig in die Länge ziehen.
„Schluss?! Jetzt! Warum? Ich versteh das nicht.“ Falkenstein blickte sie mit den verwirrten
Augen eines an der Raststätte zurückgelassenen Hundes an, während das Herrchen gerade
zum Flughafen nach Mallorca fuhr. „Wir haben doch gerade noch miteinander geschlafen.“
Er deutete mit wilden Gesten auf die leergefegte Platte seines Schreibtisches.
„Und, es hat dir doch gefallen, oder? Sieh’s als ein Abschiedsgeschenk.“
„Du kannst doch nicht einfach so Schluss machen.“
„Warum nicht?“ Sie blickte ihn tatsächlich verständnislos an und schickte ein innerlich
lautgestöhntes „Männer“ in den Himmel.
„Aber!“ Der traurige Hund hatte sich längst in einen wütenden Kläffer verwandelt.
Clara seufzte nur, schüttelte den Kopf und verließ schon sein Büro, während sie sich noch
immer die Knöpfe ihrer Bluse zuknöpfte. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr
kann gehen, sagte sie sich in einem Anflug ihre eigentlich gar nicht vorhandene
humanistische Bildung.
Falkenstein starrte den leeren Türrahmen an. Schockiert, geradezu entgeistert. Sicher, es hatte
zu Ende gehen müssen, irgendwann und irgendwo – Aber vor allem durch ihn selbst. Und
jetzt stand er da und verstand die Welt nicht mehr. Hatte sie ihm etwa die ganze Zeit nur das
Gefühl gegeben der Mann zu sein, hatte sie mit ihm gespielt, und nicht er mit ihr. Er stürmte
ihr plötzlich hinterher. Seine Schritte hallten laut durch die leeren Korridore des Gebäudes, er
stürmte die Treppe herunter, bekam gerade so noch die Kurve, ohne gegen das Fenster zu
krachen. Wutentbrannt riss er die Tür zum Campus auf. Dann sah er sie gemütlich über den
Platz spazieren, sie musste ihn schon jetzt bemerkt haben, würdigte ihn aber keines Blickes.
„Clara!“, brüllte er ihr hinterher, so laut, das die sie umgebenen Fenster zu erzittern schienen.
„Bleib stehen!“
Clara stieß einen Seufzer aus, den wievielten wusste sie selbst nicht mehr, drehte sich um und
lächelte süßlich in seine Richtung. Eine Szene, dachte sie, toll, so was hat schon lang keiner
mehr gemacht. Vielleicht könnte es ja ganz witzig werden. Falkenstein machte für Dritte
sozusagen auf einen günstigeren Augenblick. Aber warum nicht jetzt gleich, sie war ihm
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einen gelassenen Eindruck, aber wer den Professor näher kannte, wusste das er leicht
hatte jemand die Welt von Clara Bauer befreit. Lachend stand er auf, er war ein Held, ja er
cholerisch war. „Was ist?“
war wirklich ein Held. Er hatte die Welt von Clara Bauer befreit, wie Herkules die Köpfe der
„Du kannst nicht einfach so gehen.“
Hydra abgeschlagen hatte. – Kürzen wir es ab: Falkenstein drehte ziemlich durch.
„Ist dein Stolz etwa verletzt?“ Sie begann ihn zu umtänzeln. „Du hast doch selber immer
Und die Welt sollte erfahren was er getan hatte. Natürlich nicht wirklich das er es getan hatte,
gesagt, dass das so nicht ewig so weitergehen kann. Gut, es geht nicht mehr weiter.“ Sie
es gab da bestimmt ein paar Spießbürger die auf so etwas wie Gesetze bestehen würden. Aber
wusste genau warum er sich so aufregte, seine Männerstolz war verletzt. Und das verursachte
zumindest sollte die Welt sehen das sie tot war, das war das Mindeste. Doch wie? Seine
manchen Männern eben mehr Schmerzen, als wenn man ihnen ihr bestes Stück gleich mit
Blicke fielen auf das in den Himmel ragende Kunstwerk, einer der Balken stach fast
abtrennen würde. Aber das war Bestandteil des Spiels, das war das Auskosten der Macht die
horizontal hervor. Ja, dort würde er sie aufhängen. Ein Seil? Wo kriegt man um die Uhrzeit
sie über die Männer hatte, das – und nicht die Vorteile die sie aus ihren Beziehungen zog –
ein Seil her? Vielleicht gab es ja eines in dem kleinen Werkzeugschuppen des Hausmeisters?
war der wahre Grund warum sie es tat. Dieses Gefühl der Macht, besser als jeder Orgasm us
Er warf einen letzten Blick auf Clara, dann rannte er los. Die Tür wa r nie verschlossen,
den sie je haben könnte.
solange nur eine Handvoll davon wussten brauchte man das kleine Gebäude ja auch nicht
„Sag mir warum?“
abzuschließen. Falkenstein ging langsam und mit einem Taschentuch in den Händen vor.
„Weil ich dich nicht mehr brauche.“, zuckte sie mit den Schultern, „Im Grunde schon nicht
Bloß keine Fingerabdrücke hinterlassen. Er knipste das Licht an, die Birne flackerte wild über
mehr seit den letzten Prüfungen –“ Sie holte zum finalen Schlag aus, zur totalen Entmannung
einem schier undurchschaubaren Durcheinander. Auf einem Tisch standen noch die Reste
seines Stolzes: „- aber ich hatte eben Mitleid mit dir, da wollt ich dir noch ein paar Nächte
eines Mittagessens und die zerknüllte BILD-Zeitung. Gleich darunter fand er was er suchte,
geben.“
das Seil um Claras Tod gebührend in Szene zu setzen. Er packte es, machte das Licht wieder
Falkenstein ballte die Faust, er trieb die Fingernägel in seinen Handballen, dann schlug er zu.
aus und schloss leise die Tür. Noch während er zurück zum Campus ging begann er eine
Clara war völlig überrascht, sie spürte den Schmerz, torkelte und starrte ihn dann entgeistert
Schlinge zu knüpfen, als er Clara erreichte war er mit den Vorbereitungen fertig. Er warf das
an. Hatte er tatsächlich den Mut sie zu schlagen, war da doch noch ein Rest Männlichkeit
Seil über den horizontalen Querbalken und ging dann zu Clara. Noch einmal streichelte er
hinter der kultivierten Fassade des Bildungsbürgers? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie ihn
über ihren Körper, dann packte er sie an den Schultern und zog sie zu der Schlinge. Er legte
vielleicht falsch einschätzte. Sie wich ein paar Schritte zurüc k, während sich der Schmerz in
sie ihr um den Hals und zog sie zu. Wieder hielt er für ein paar Sekunden inne um
ihrem Gesicht ausbreitete. In ihrem Mund schmeckte sie etwas Blut. Clara rang sich ein
durchzuatmen, dann packte e r das andere Ende und zog sie hoch. Als ihre Füße etwa einen
Lächeln ab. „Alexander, eh, komm schon –“ Ein zweiter Schlag, wieder torkelte sie und
Meter über den Boden baumelten befestigte er das andere Ende an einem Balken und trat ein
konnte sich nur noch gerade so auf den Beinen halten. „Was ist los mit dir?“ Ein dritter
paar Schritte zurück. Sein Werk war getan, die Schlampe hing am Galgen.
Schlag. Clara brüllte los, sprang wie eine Furie unter Drogen auf ihn zu, schlug um sich, trat
Clara riss die Augen auf, sie sp ürte die Schlinge um ihren Hals. Ihre Beine begannen um sich
um sich. Er packte sie an den Schultern, rüttelte sie und stieß sie von sich. Clara schwankte,
zu treten, doch sie fanden keinen Boden. Das Seil fraß sich in ihren Hals. Sie rang nach Luft.
stürzte nach hinten und schlu g mit dem Hinterkopf gegen die Bank gegenüber des roten
Sie wollte Schreien. Ihre Lippen formten sich zu einem Todesschrei, doch kein Ton kam
abscheulichen Ungeheuers, das wie ein stummer Zeuge in den Himmel ragte. Stille. Kein Ton
hervor. Ihre Augen weiteten sich, sie sah Falkenstein auf sich zustürzen. Ihre Hände griffen
zog über den Campus hinweg. Absolute Stille.
nach dem Seil, versuchten es zu lockern. Keine Luft, keine Luft, schoss es ihr fieberhaft in
„Clara? Clara?“ Er rannte auf sie zu, packte sie an den Schultern und wollte sie wachrütteln.
den Kopf. Falkenstein warf sich auf sie, riss ihren Körper nach unten. Einmal, zweim al – Das
Doch ihr Kopf hing leblos herunter. Falkenstein wurde bleich, er stand auf und schlug die
leise Knacken eines Genicks, nicht schlimmer als das Fingerknochenknacken bei Kinder.
Hände vors Gesicht. War sie tot? Hatte er sie getötet? Nein, nein, oder doch? Er fiel neben ihr
Dann herrschte wieder Stille.
auf die Knie packte sie und erstarrte plötzlich. Die Gewissheit erreichte sein Gehirn, er hatte
Nur langsam kam Falkenstein wieder zu Sinnen, er stürzte nach hinten und saß auf dem
sie getötet. Und eine zweite Gewissheit erreichte sein Gehirn, sie hatte es verdient. Endlich
kalten Stein, während er hoch zu Clara sah. Sie baumelte ein wenig im Wind, aber ansonsten
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hing sie völlig regungslos da. Sein Verstand setzte nur sehr langsam wieder ein. Ihm wurde
Zeichentrickserie. Wie konnte so ein durchtriebenes Miststück, fragte er sich, bloß so eine
Schritt für Schritt klar was er getan hatte. Es war beinahe so als würde er jede Sekunde der
kindliche Seite haben? Falkenstein drehte sich wieder zum Schreibtisch, er begann die oberste
Tat noch einmal durchleben müssen und am Ende tat es ihm kein bisschen leid um sie. Aber
Schublade zu durchsuchen. Sie hatte ihm einmal erzählt Tagebuch zu führen, nur beiläufig.
es tat ihn leid um sich selbst. Das Hochgefühl des Adrenalins beim Töten wurde von der
So etwas wie „das muss ich mir heute noch ins Tagebuch schreiben“. Nein, er glaubte sich zu
Angst der Entdeckung verdrängt. Beim Anblick seiner toten Geliebten wurde ihm urplötzlich
erinnern sie hätte nicht „Tagebuch“ gesagt, sondern „diary“. Derartige Anglizismen hatte sie
klar das ihn dafür nicht nur ein paar Spießbürger im Gefängnis sehen wollten. Er hatte einen
gerne verwendet, meistens falsch ausgesprochen und ohne Zusammenhang mit der Situation.
Mord begannen, er hatte jemanden getötet und Mörder wurden bestraft. Sie würde selbst im
In der obersten Schublade befand sich zwar ein schier unüberschaubares Durcheinander, aber
Tod noch einen Triumph über ihn erzielen können, wenn man ihn verurteilte und er den Rest
nur aus Stiften, Radiergummis, Tintenpatronen und sonstigem Krimskrams. Die nächste
seines Lebens im Gefängnis verbringen müsste. Obwohl, wer kam in Deutschland für Mord
Schublade war auch nicht viel ergiebiger. Dann fielen seine Blicke auf das Regal neben dem
noch sein Leben lang ins Gefängnis? Aber seine Karriere wäre beendet, seine Familie zerstört.
Computermonitor, ein langezogene Schachtel Disketten und darüber sauber einsortierte CDs.
Und Schuld war nur sie! Nein, diesen Triumph würde er ihr nicht gönnen. Er würde sich nicht
Er zog die Schachtel Disketten heraus und lächelte ein wenig. Tagebuch mit dem Computer
erwischen lassen. Vorsichtig, fast als fürchtete er sie könne ein zweitesmal aus dem Tode
zu schreiben passte irgendwie zu ihr. Er zog willkürlich eine der Disketten heraus. Entweder
zurückkehren, näherte er sich der toten Clara und öffnete ihre Handtasche, die die ganze Zeit
musste sie einen unerschöpflichen Vorrat von den Dingern haben oder jede Menge zum
über an ihr gehaftet hatte wie ein dazugehöriges Körperteil. Ihre Handtaschen verteidigten
schreiben hatte, jedem Monat war eine Diskette zugeordnet. Er schloss die Schachtel und
Frauen eben auch noch im Tode. Er nahm ihre Wohnungsschlüssel an sich und lies sie allein.
schob sie zur Seite, während er den Computer hochfuhr. Der aktuelle Monat befand sich zwar
auch schon in der Schachtel, aber er wollte sich versichern hier nicht nur so eine Art
Falkenstein wusste noch wo Clara wohnte, auch wenn er nur ein einziges mal hier gewesen
Sicherheitskopie gefunden zu haben. Zwei Eisbären grinsten ihn vom Monitor her an, als ob
war. Sie hatten Hotels bevorzugt, wenn es bequem werden sollte, und sein Büro, wenn es
er ernsthaft erwartet hätte ein anderes Wallpaper vorzufinden. Er begann die Festplatte nach
leidenschaftlich und verboten werden sollte. Er sah sich nach allen Seiten um, ging ein paar
Word- oder sonstigen Textdateien zu durchsuchen. Als er sich endlich überzeugt hatte es gebe
Schritt weiter an der Haustür vorbei und kehrte erst zurück als er sicher war das niemand
nichts verdächtiges auf der Festplatte war mehr als eine Stunde vergangen. Er fuhr den
sonst in der kleinen Gasse war und auch niemand aus den wenigen Fenstern sah, in den noch
Computer wieder herunter und überlegte ob es nicht besser wäre das ganze Scheißding
Licht brannte. Er musste ein paar Schlüssel probieren, bis er den richtigen fand. Im Hausflur
mitzunehmen. Oder nur die Festplatte? Oder wäre dass dann nicht erst recht verdächtig. Und
lauschte er erneut erst die Treppen hinauf und sogar in den Keller hinunter, dann stieg er auf
er hatte doch nichts verdächtiges mehr gefunden. Falkenstein lehnte sich zurück und
fast sprichwörtlichen Zehenspitzen in den ersten Stock hinauf und suchte nach dem
versuchte nachzudenken. Seine Augen gingen die mit krackliger Schönmädchenschrift
Wohnungsschlüssel
ausgebleichter
betitelten CDs ab und blieben an Hotelfilme kleben. Sein Gefühl lief regelrecht Amok. Er
Glücksbärchen-Teddybär baumelte zwischen den Schlüsseln, ein Vorgeschmack auf ihre
an
dem
kleinen
Schlüsselbund.
Ein
kleiner
erinnerte sich an eine weitere Anspielung von ihr. Irgendwas mit Filmen, irgendwas mit
Wohnung, wenn sie ihren Geschmack inzwischen nicht geändert hatte. Vorsichtig schloss er
Hotel. Verdammter Mist, er hätte ihr besser zuhören sollen, statt nur mit ihr zu schlafen.
die Wohnungstür hinter sich und ging ein paar Schritte in die Dunkelheit hinein, bis er das
Währenddessen hatte sie doch immer solchen Schrott erzählt und dann gelacht. Der Professor
Wohn- und Schlafzimmer erreichte. Durch die beiden Fenster drang etwas des dunklen
schaltete den PC wieder ein, griff nach der CD, legte sie in das Laufwerk ein und lass mittels
Nachtlichtes herein, aber nur soviel, dass er gerade die Hand vor sich sehen konnte. Er ging
Explorer was drauf war. Eine Reihe MPEG-Dateien, offensichtlich mit dem Datum ihres
zum Schreibtisch und schaltete die Lampe darauf ein, mehr wollte er nicht wagen. Dann sah
Entstehens betitelt. Er klickte willkürlich einen an. Erkannte sofort das Hotelzimmer wieder,
er sich kurz in ihrem Zimmer um, ihr Bärenfetischismus hatte sich offenbar gehalten. Die
erkannte sofort Clara wieder – die in die Kamera lächelte – und einen schwitzenden Mann,
Wände waren voll mit Postern, auf einem Regal rund um das Bett herum waren diverse
der unter ihr lag und quickte wie ein Schwe in auf der Schlachtbank. „Oh, Scheiße.“ Zittrig
Teddys aufgereiht und die Bettwäsche zierten tatsächlich Glücksbärchen aus der
durchsuchte er die anderen CDs, fand aber keine andere mit MPEG-Filmen. Dann packte er
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alles mit zittrigen Händen in seine Aktentasche und begann den Rest der Wohnung zu
durchsuchen. Er wusste nicht was er suchte, und er fand auch nichts mehr.
Das Klingeln ihres Handys schaffte es nur langsam Marie aus ihrem Schlaf aufzuwecken. Der
halbe Korridor musste durch die Wände schon aus dem Schlaf gerissen worden sein. Als sie
„Und Schatz, schweren Tag gehabt?“, Falkensteins Frau küsste ihn flüchtig im Vorbeigehen.
langsam unter der Decke hervorgekrochen kam und sich im Halbdunkel ihrer Wohnung in
„Ging so.“, murmelte er als Antwort, „Schläft sie schon?“ Er nickte durch den Korridor in
Richtung Lärm vortastete. Das grüne Display strahlte ihr entgegen, als sie nach dem Handy
Richtung Kinderzimmer.
griff und den Annahmeknopf drückte. „Jacotet.“, sie unterdrückte ein Gähnen, „Jacotet.“,
„Hmm, ja. Ich h ab dir was auf den Herd gestellt.“ Sie schlüpfte in ihren Mantel. „Ich muss in
wiederholte sie und zuckte im nächsten Moment zusammen, als sie Simones grelle Stimme
meinen Kurs, du kommst zurecht?“
irgendetwas zuerst unverständliches schreien hörte. Wenn sie bis jetzt noch nicht richtig wach
„Klar, kein Problem.“
war, jetzt war sie es zweifellos. „Simone? Bleib doch ruhig, erzähl’s noch mal ganz langsam.“
Sie küssten sich noch mal, dann verschwand seine Frau durch die Haustür und lies einen
Zwecklos, Simone kreischte nur wieder, vermischt mit Tränen. Marie verstand kaum ein
Falkenstein zurück, der leise aufatmete. Er stürmte regelrecht in sein Arbeitszimmer, warf den
Wort. Ein dritter Versuch Simone zu beruhigen, diesmal verstand sie zumindest Fetzen.
Computer an und legte die Disketten und die CD auf den Schreibtisch. Er ging die
„... bin auf’m Campus ...“, „... schrecklich ...“ und „... mein Gott ...“
Beschriftungen der Disketten durch und stoppte plötzlich. Der letzte Dezember fehlte. Er ging
„Bleib einfach wo du bist, ich komm rüber.“, stöhnte – oder vielleicht auch gähnte – sie ins
die Disketten noch mal durch, doch der Dezember von vor drei Jahre fehlte. Gut, gut, Junge,
Handy, legte auf und schüttelte innerlich den Kopf. Wie spät war es eigentlich? Marie warf
sagte er sich, wozu die Panik, damals kanntet ihr euch doch noch gar nicht. Krieg jetzt bloß
einen Blick auf die Uhrzeitanzeige des Handys. Kurz nach halb drei, Klasse, Simone war
nicht die Krise. Er atmete tief durch. Oder ... ?
wahrscheinlich nur wieder hackedicht und hatte die Abkürzung über de n Campus genommen,
und jetzt kam sie auf der anderen Seite nicht mehr über den Zaun. Warum konnte Simone
nicht mehr so sein wie Marie selber, sie rief niemanden mitten in der Nacht an, wenn sie
betrunken durch die Gegend irrte. Betrunkene mit Anstand sind wie Brieftauben, irgendwie
finden sie immer wieder nach Hause zurück.
Es gibt im Grunde nur zwei Arten von Abkürzungen. Die einen sind tatsächlich kürzer, so
was wie querfeldein gehen statt 200 Meter weiter vorn um die Straßenecke biegen, die
anderen hat irgendwer mal irgendwann für kürzer erklärt und seit dem war diese Tatsache nie
in Frage gestellt worden. Der Nachteil bei Letzteren war allerdings der Fakt, dass diese in der
Regel alles andere als kürzer waren. Oder sie waren zwar kürzer, dafür musst e man dann aber
Reinhold Messner spielen, weil man nur mit einer fundierten Bergsteigerausbildung vorwärts
kam. Die sogenannte Abkürzung über das Gelände der Fachhochschule gehörte zweifelsohne
in jene zweite Kategorie. Schon allein um über den Zaun zu klettern brauchte man jene
erwähnten Bergsteigerkenntnisse, und wahnsinnig kürzer konnte die so erkletterte Abkürzung
eigentlich gar nicht sein.
Marie sah sich nach allen Seiten um, bevor sie über das Eisentor kletterte. Auf der anderen
Seite sprang sie wieder herunter und schüttelte den Kopf. Sie sollte jetzt im Bett liegen und
von Gott weiß was alles träumen, statt über Tore zu klettern, eine Anzeige wegen
Hausfriedensbruch riskieren und sich in der für die Jahreszeit viel zu kalten Nacht eine
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Erkältung holen. Sie schlich an ein paar Gebäuden vorbei, blieb kurz an der Hausecke stehen
an, nahm ein paar tiefe Züge und nickte dem Streifenbeamten zu, der auf ihn zu kam. Der
und bog dann auf den Campus ab. Sie entdeckte Simone ein paar Meter schräg über den Platz,
Uniformierte rang sich ein freundliches Untergebenenlächeln ab und begrüßte den
winkte ihr nur kurz zu und lief dann in ihre Richtung. Simone schien sie zuerst gar nic ht zu
Hauptkommissar, Krüger grunzte nur etwas unverständliches und schlappte hinter dem
bemerken, erst als sie direkt vor ihr stand blickte sie auf. „Was ist passiert?“ Marie blickte in
Beamten her.
Simones Gesicht und erschrak. Das Gesicht war völlig verheult, tiefe Rinnsale hatte sich über
Die Leiche war bereits heruntergenommen worden und lag mit einer Plastikdecke der
ihre Wangen gezogen, die Lippen zitterten. „Was ist los mit dir? Du siehst aus, als ob dir –“
Gerichtsmedizin auf dem Boden. Krüger beugte sich kurz über die Decke, hustete lautstark
Sie bemerkte wie Simones Blick an ihr vorbei ging, über ihre Schulter hinweg in die Luft. Ein
und blickte dann zum Gerichtsmediziner, der mit einem Thermoskannenbecher Kaffee in der
mulmiges Gefühl überkam sie, während sie sich langsam umdrehte. „Oh, merde!“ Sie blickte
Hand scheinbar teilnahmslos in den langsam schon heller werdenden Himmel starrte.
auf die an ihrem provisorischen Galge n hängende Clara. Die Umrisse der Leiche zeichneten
„Morgen.“, grunzte ihm Krüger zu.
sich in der Nacht ab, ein paar der in den Boden eingelassenen Scheinwerfer richteten sich auf
„Morgen.“, erwiderte der Arzt, ohne wirklich in Krügers Richtung zu sehen.
die Gestalt und gaben der Szene etwas dramatisches, als würde es sich um das Bühnenbild
„Also, was haben wir da?“
einer Oper handeln – einer tragischen, versteht sich von selbst. Marie wandte den Blick
„Eine weibliche Tote, 22 bis 25 Jahre, erhängt.“, berichtete der Mediziner lustlos und nippte
wieder ab und würgte. Sie brauchte einige Augenblicke bis sie sich wieder gesammelt hatte.
an seinem Kaffee, bevor er Krüger des ersten Blickes würdigte.
Dann packte sie Simone an den Schultern und rüttelte sie durch. „Was ist passiert?! Sag
„Erhängt? Und warum liegt sie dann schon da, ich will den Tatort unverändert vorfinden!“,
schon! Simone?“
zischte Krüger, was den Mediziner kaum zu beeindrucken schien.
Simone blickte sie erst nur schweigend an, dann stotterte sie etwas von sie hatte bloß die
„Herr Hauptkommissar, ich bin aus Nürnberg gekommen und seit jetzt – “ Ein heuchlerischer
Abkürzung nehmen wollen und dann – dann hatte sie Clara hier entdeckt. Im nächsten
Kontrollblick auf die Armbanduhr. „- seit fast einer Stunde da.“ Er stand auf, leerte den
Augenblick brach sie in noch größere Tränenflüsse aus als bisher und warf sich an Maries
letzten Rest aus seinem Becher und schüttete die noch verbliebenen Tropfen über die Bank
Schulter, mit einer solchen Wucht, dass die fast einen Kopf kleinere beinahe umgeworfen
ins Gras hinter sich. „Was kann ich dafür wenn sie als Ansbacher nicht schnell genug
worden wäre. „Ist schon gut, es wird alles wieder gut.“, murmelte sie die üblichen
auftauchen und in ihrem hängenden Zustand konnte ich an der Toten leider keine
Unzulänglichkeiten des Trostes, während sie die Arme um Simone legte.
Untersuchung vornehmen. Aber ihr Fotograf hat alles ausgiebig festgehalten.“
Marie wusste nicht wie lange sie einfach so dastanden, bevor sie sich aus der Umklammerung
„Dazu ist er da.“, fauchte Krüger noch immer gereizt.
löste und auf die Leiche starrte, ohne sie wirklich anzusehen. Jetzt musste sie doch
Der Gerichtsmediziner lies einen leisen Seufzer der Verzweiflung über diese Ansbacher
irgendetwas tun, aber was? Marie spielte mit dem Gedanken Simone einfach hier raus zu
Schmierenkopie eines Schimanskis los und begann seinen Bericht etwas ausführlicher zu
zerren, wer konnte sie schon gesehen haben, wer konnte schon wissen das sie die Leiche zu
formulieren. „Der Tod trat durch Strangulation ein, sie hatte vorher aber noch eine
erst entdeckt hatten? Dann sah sie Simone und schüttelte den Kopf. Simone würde bei
gewalttätige Auseinandersetzung. An ihrem Hinterkopf findet sich eine starke Wunde die von
nächster Gelegenheit losheulen und alles ausplaudern. Was war die Alternative? Die
einem Aufprall mit der Bank dort herrührt.“ Er deutete auf eine von zwei Beamten der
Wahrheit, Klasse. Sie nahm Simones Handy, ihr eigenes hatte sie im Studentenwohnheim
Spurensicherung verdeckte Stelle der Bank. „Der Schwere der Wunde nach würde ich fast
liegen lassen, und begann die Nummer der Polizei zu wählen.
schon von einem Wunder sprechen, dass sie das überhaupt überlebt hat. Und sie hatte kurz
vor der Tat Geschlechtsverkehr.“
Hauptkommissar Krüger gähnte den Vollmond an, während er müde über den Campus
„Also eine Vergewaltigung?“
schlurfte. Die Müdigkeit stand ihm in sein unrasiertes Gesicht geschrieben, obwohl er sich
Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. „Eher nicht, im Genitalbereich sind keine
auch mal nicht rasierte wenn er bis in den Nachmittag ausschlafen konnte. Im Urlaub, von
Spuren die auf eine Vergewaltigung schließen lassen. Genaueres kann ich aber erst nach der
dem er seiner Meinung nach viel zu wenig hatte zum Beispiel. Er zündete sich ein Zigarette
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Obduktion sagen.“ Er gab Krüger ein paar Sekunden um noch eine Frage zu stellen, dann
„Dann erscheinen sie bitte heute um, sagen wir 15 Uhr in meinem Büro und reichen ihren
verabschiedete er sich gähnend.
Ausweis nach.“
Krüger schickte ihm ein schweigendes „Arschloch“ hinterher und zündete sich eine neue
„Muss –“, unterbrach sie sich selbst, „Gut.“
Zigarette an. Er beugte sich zu der Leiche hinunter und zog die Decke mit einem Ruck weg,
Krüger drückte seine Zigarette mit den Füßen aus und kickte sie in Richtung Mülleimer, auf
wie ein losgerissenes Segel fiel diese hinter ihm zu Boden, wo sie ein Streifenpolizist aufhob.
dem ein Aschenbecher angebracht war. „Also, was hatten sie mitten in der Nacht hier zu
Hübsche Leiche, dachte er sich und nahm einen tiefen Zug Nikotin in sich auf. Hier in
suchen?“
Ansbach gab es selten hübsche Leichen, das einzige was einem toten weiblichen Wesen was
„Wir wohnen im Studentenwohnheim, wenn man von stadtauswärts kommt ist der Weg quer
man in Ansbach als Polizist mal zu sehen bekam war ein e schon halb verweste Greisin, die
über den Campus eine Abkürzung.“
man in ihrer Altbauwohnung vergessen hatte. Aber den Job mussten zum Glück die Kollegen
„Das ist Hausfriedensbruch, das wissen sie.“
in Uniform erledigen, grinste Krüger und blickte plötzlich nach rechts, als hätte er die
„Nein.“, entgegnete sie ihm knapp und sah wie dünn das Nervenkostüm dieses Krügers sein
bohrenden Blicke von dort bemerkt. Er sah eine Beamtin, die ihm den Rücken zukehrte, eine
musste, mit dieser Antwort schien sie es fast schon ausgereizt zu haben.
völlig aufgelöste junge Frau und eine andere die zu ihm herüber sah, unter dem Vordach der
„Sie beide waren zusammen aus? Wo?“
Mensa stehen. „Die haben die Leiche gefunden?“ Der Streifenpolizist nickt nur.
„Waren wir nicht. Simone – Fräulein Schneider war gerade auf dem Nachhauseweg.“
Marie konnte trotz der Morgendämmerung und der Entfernung das Grinsen auf dem
„Und sie?“
Gesicht des Mannes sehen, offensichtlich Kripo oder so, und konnte sich gut vorstellen woher
„Ich lag schon im Bett.“
das Grinsen kam. Polizisten brauchten wahrscheinlich einen gewissen Hang zur Nekrophilie,
Krüger schien Simone jetzt zum erstenmal wirklich wahrzunehmen. „Dann haben sie also
das musste man bestimmt schon bei der Ausbildung unter Beweis stellen. Sie hörte auf den
eigentlich die Leiche entdeckt.“ Er massierte sich die Stirn, als würde das seine Denkfähigkeit
Mann zu mustern, als der aufstand und langsam in ihre Richtung marschierte, während der
tatsächlich fördern. „Aber gemeldet haben sie es doch?“ – Marie nickte. – „Warum haben sie
fleißige Beamte hinter ihm die Leiche von Clara wiederzudeckte. Sie spürte wie Simone nach
zuerst Fräulein Jacotet angerufen und nicht die Polizei?“ Er trat Simone genau gegenüber, die
ihrer Handgriff, während sie den leisem pseudo-psychologischen Geschwätz der Polizisten
daraufhin versuchte sich hinter der kleineren Marie zu verstecken. „Also, warum?“
zuhörte.
„Ich bin mir sicher sie sehen ziemlich oft Leichen, aber bei normalen Menschen kann der
„Guten Morgen, sie beide haben die Leiche gefunden?“ Mit einer Handbewegung
Anblick einer Toten, ganz besonders wenn sie da hängt, so was wie einen Schock auslösen.
verscheuchte er die Polizistin.
Das können sie sich sicher vorstellen, oder?“ Marie trat schützend zwischen Simone und
„Ja.“, nickte Marie.
Krüger.
„Warum waren sie mitten in der Nacht auf dem Gelände?“
„Aber natürlich, dann nehme ich an sie sind gute Freundinnen.“ Krüger seufzte und zündete
„Wer sind sie überhaupt?“
sich eine neue Zigarette an. „Kennen sie die Tote?“
„Oh, natürlich, Hauptkommissar Krüger.“ Er zog seinen Ausweis, aber Marie schien wenig
„Nicht wirklich. Ihr Name ist – war Clara Bauer, sie studiert hier.“ Sie blickte auf die
Interesse zu haben ihn zu überprüfen. Wie auch, hatte sie vielleicht schon mal einen anderen
Zigarette und hätte sich am liebsten eine bei dem Bullen geschnorrt. Hinter ihr schluchzte
als Vergleichsmöglichkeit gesehen? „Haben sie ihre Personalien schon angegeben?“, brüllte
Simone plötzlich wieder los, was Krügers Argwohn zu wecken schien, weil das Schluchzen
er der Polizistin nach, die drehte sich um und kehrte kurz zurück.
allzu zeitgleich mit dem Namen gekommen war.
„Simone Schneider und Marie Jacotet. Fräulein Jacotet konnte sich allerdings noch nicht
„Sie wohnte im Studentenwohnheim?“
ausweisen.“, berichtete sie, bekam wieder eine Handbewegung von Oberbulle Krüger zu
„Nein, nein, ich glaube nicht.“
sehen und schien jetzt endgültig zu verschwinden.
„Dann wäre es das erst mal. Und sie kommen heute um drei in meinem Büro vorbei.“
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Gegen zwei sah sich Marie zum erstenmal an diesem Tag im Spiegel und war überrascht wie
Marie nahm den kleinen Rucksack ab, bevor sie sich auf den klapprige n Stuhl setzte und zog
wenig sie bei diesem Anblick erschrak. Die vergangenen Stunden waren ihr deutlich ins
ihren Ausweis heraus. Ihr deutscher Personalausweis war seit Monaten abgelaufen, einen
Gesicht geschrieben. Sie versuchte sich ein paar der Spuren wegzuwaschen, doch dazu schien
Reisepass hatte sie erst gar nicht. Also hatte sie zu ihrem französischen gegriffen, dem sie
es nicht genügend Wasser zu geben. Die letzten Stunden hatte sie bei Simone in deren
jetzt Krüger reichte.
Wohnung verbracht, die unerschöpfliche Quellen für ihre Tränen gehabt hatte. Marie
„Sie sind Französin, ja richtig, der Name klang ja auch französisch.“ Er schlug den Pass auf.
unterdessen kam sich fast schon schlecht vor, weil sie der Gedanke an Claras Tod
„Marie-Justine Jacotät.“, krächzte er ihren Namen so falsch wie es Marie fast schon gewöhnt
vollkommen kalt lies. Sie konnte gar nichts empfinden außer totaler Gleichgültigkeit, jedes
war.
auf der Straße angefahrene Reh würde mehr Mitleid vor ihr finden als Clara Bauer. Sie blickte
„Jacotee.“, verbesserte sie ihn, „Das t ist stumm.“
in ihr eigenes Spiegelbild und fragte sich was für ein Mensch sie bloß geworden war, der mit
„Stumm? Aha.“, nickte er beiläufig und blätterte durch den Pass. „Was treibt sie zum Studium
solcher Gleichgültigkeit über den Tod eines Menschen – gleich was sie über Clara zu deren
nach Deutschland?“, ein kläglicher Versuch Smalltalk zu machen, aber immerhin schien
Lebzeiten gedacht hatte – hinwegsehen konnte. Clara Bauer war tot, gut, hatte die Welt
Krüger auch so etwas wie eine freundliche Seite zu haben.
vielleicht aufgehört sich zu drehen, oder waren in China ein paar Säcke Reis umgekippt?
„Ich lebe hier, meine Mutter ist Deutsche.“
Nein, nichts dergleichen war passiert. Sie fuhr sich durchs Haar und schüttelte über sich selbst
„Dann sind sie also doch Deutsche.“
den Kopf. Und Simone hatte sie die ganze Zeit etwas vorgemacht. Das sie diese Trauer
„Ja, beides, ich habe eine doppelte Staatsbürgerschaft.“, schüttelte sie leicht mit dem Kopf.
verstand, das sie mit ihr fühlte – nichts dergleichen tat sie wirklich. Und jetzt, jetzt war sie
„Und warum dann das hier?“
beinahe froh zu diesem ungehobelten Westentaschenbullen zu müssen. Diesem Beweis für
„Weil – mein deutscher Pass so schnell nicht greifbar war.“ War man nicht gesetzlich
das Versagen der Evolution am Mann, der nicht einmal bei einem ARD-Tatort unterkommen
verpflichtet immer einen gültigen Perso zu haben, deutsche Gesetze konnten da doch recht
würde. Sie war froh das er ihr ersparte noch weitere Stunden bei Simone verbringen zu
streng sein. Mörder schickte man zur Resozialisierung, aber Leute die keinen gültigen
müssen, deren Trauer die Wassermassen der Niagarafälle übertrafen. Und sie hasste sich
Ausweis bei sich trugen bekamen sicher 14 Jahre und anschließend Sicherheitsverwahrung.
selbst dafür.
„Sollte er aber besser sein.“, tadelte Krüger, was er offensichtlich gerne tat, denn zum
erstenmal grinste er Marie an.
Ein Polizist deutete vage den Korridor hinunter und schnauzte sie auf jene hilfsbereite Art und
Marie wollte ein trotziges „Ich denk dran“ in seine Richtung schieben, verkniff es sich dann
Weise an, die nur von bayrischen Polizisten beherrscht wurde. Wahrscheinlich weil die
aber doch.
allesamt glaubten so etwas wie Texas Rangers zu sein. Marie stand vor der Bürotür, zögerte
„Wie geht es ihrer Freundin?“ Krüger reichte ihr den Pass zurück.
kurz und klopfte dann zaghaft mit dem Fingerknöchel des Zeigefingers gegen die Platte.
„Besser.“
„Herein!“, tönte es dahinter, da hatte wohl einer noch nicht ausgeschlafen.
„Sie schien ziemlich durcheinander.“
Marie öffnete die Tür einen Spalt, schob sich hindurch und schloss hinter sich wieder. „Guten
„Ist das nicht verständlich.“
Tag.“, nickte sie ihm zu, niemals würde dieses bayrisch-primitive „Grüß Gott“ über ihre
„Sie schienen ganz ruhig zu bleiben.“
Lippen kommen.
Marie musterte ihn für ein paar Sekunden schweigend. Die Szene kam ihr vor wie in einer
„Grüß Gott, setzen sie sich bitte.“ Krüger sah von einer Akte auf, musterte den
schlechten Folge von Derrick und sie hatte die Rolle der coolen Tatverdächtigen. „Glauben
Neuankömmling oberflächlich und schlug dann die rote Mappe vor sich zu, um sie auf den
sie mir, für mich war das auch nicht gerade die Nacht meines Lebens.“
leeren Schreibtisch seinem gegenüber zu schieben.
„Erzählen sie mir etwas über Fräulein Bauer.“
„Sie haben ihren Pass dabei?“
„Ich hab ihnen doch gesagt das ich sie nicht besonders gut kannte.“
„Aber an so einer kleinen FH kennt doch sicher jeder jeden.“
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„Ja, leider.“, seufzte sie leise. „Wir haben zwar im gleichen Semester mit BWL angefangen,
Als Marie fast schon wieder im Studentenwohnheim war lief sie an einem der Tore auf das
aber das verläuft sich eben. Wir hatten nie viel miteinander zu tun.“
FH Gelände vorbei, von dem man direkt auf den Campus gelangte. Sie hatte ihren Schritt
„War sie beliebt unter ihren Komo – Komo – Mitstudenten?“
schon beschleunigen wollen, als ihr Stefan zuwinkte, der neben einem Rollstuhlfahrer und
„Sicher, bei den männlichen.“
Mark stand. Marie blieb stehen, sah ihn zweifelnd an und winkte dann zurück. Dann zögerte
Krüger lächelte zufrieden, auf derartige Stutenbissigkeit hatte er gehofft. Frauen waren ja so
sie noch einmal, aber schließlich ging sie doch zu den dreien.
berechenbar, Männer würden nie so über sich herziehen und über einen Kumpel lästern. Aber
„Hallo.“, Stefan fuchtelte mit den Armen, eine der Angewohnheiten die Marie an ihm nie
wenn eine Frau erst mal loslegte, endete das wahrscheinlich sogar in einer Hetzkampagne
leiden konnte. Menschen die sich nicht einmal bei so was unter Kontrolle hatte, hatten
warum die andere Slips statt Tampons benutzte. Warum eigentlich Tampons, ja klar „weil sie
bestimmt auch noch andere Probleme in Sachen Selbstbeherrschung. Aber immerhin
die Regel da aufnehmen wo sie passiert“. Krüger kehrte zurück in die Realität. „Mit anderen
befummelte Stefan sie nicht dauern, natürliche Schüchternheit, die der Hetero bei Männern
Worten sie hat es mit der Treue nicht so ernst genommen.“
merkwürdigerweise dann aber nicht mehr hatte. Mark beispielsweise trieb er damit manchmal
„Treue ist ein zeitliches Problem, ich meine wenn sie nur ein paar Tagen mit einem Typen
regelrecht in den Wahnsinn.
zusammen war, dem war sie dann treu – vielleicht.“
„Hallo.“, murmelte Marie zurück und lächelte kurz zu Mark hinüber.
Stutenbissigkeit hoch drei, grinste Krüger zufrieden. „Meinen sie einer ihrer Liebhaber könnte
„Hast du’s schon gehört?“, Mark sah nur kurz zu ihr hinüber, dann wieder auf den Campus.
der Täter sein?“
Die Polizeiabsperrungen um den Tatort waren noch nicht abgebaut, darum versammelte sich
„Dazu müsste man erst mal einen Überblick haben wer das alles sein könnte.“
immer wieder eine kleine Menschenmenge, die dann in ebensolcher Regelmäßigkeit vom
Hausmeister vertrieben wurde.
Marie wusste nicht wie viel Zeit sie bei diesem unterbelichten Beamten verbracht hatte. Nein,
„Es wird sich ja eh rumsprechen. Simone hat die Leiche letzte Nacht entdeckt und dann mich
falsch, es waren gut 20 Minuten gewesen, aber sie wusste nicht wie viel Zeit seit dem
angerufen.“
vergangen war. Als sie das Polizeigebäude verlassen hatte, war sie zuerst über den davor
„Oh, mein Gott!“, stieß Heiko, der Rollstuhlfahrer, mit einer fast femininen Stimme aus und
liegenden Parkplatz gewandert, dann hatte sie die Straße überquert und war an der Kirche
zeigte in seinem Gesicht das Entsetzen eines kleinen Kindes, für das Marie ihn insgeheim
vorbeigegangen. Doch von diesem Moment an war sie nur noch ziellos durch die Straßen
auch noch hielt.
marschiert, ohne dabei auch nur das geringste Zeitgefühl zu haben. Als sie überhaupt wieder
„So was passiert.“ Der Versuch Gleichgültigkeit zu zeigen misslang, nicht einmal der
bewusst durch die Straßen ging, fand sie sich plötzlich vor der Pizzeria wieder, in der sie vor
unbestreitbar naive Heiko würde ihn ihr abkaufen.
zwei Tagen mit Falkenstein gewesen war. Von außen unauffällig, sogar unscheinbar, ein
„Ist sie da wirklich gehangen? Ich meine so wie an einem Galgen?“ Stefan schüttelte wild
einstöckiger Bungalow ohne jegliche architektonische Verfeinerung. So etwas wie ein
seinen Kopf zwischen Campus und Marie hin und her.
Fertigbungalow über den man sich keine Gedanken gemacht, sondern einfach vier Wände und
„Bitte, darüber will ich nicht reden. Das Menschen so was tun können, das ist doch
eine Decke aneinandergelehnte hatte. Aber als sie jetzt auf dieses hässliche etwas hinübersah
schrecklich!“, Heiko schüttelte es am ganzen Leib, „Meine Mutter hat Recht, die Welt da
lächelte sie ein wenig und erinnerte sich an die Innenausstattung, die allerdings auch nicht
draußen ist gefährlich.“
gerade vom Feinsten war. Jede McDonalds Filiale war besser eingerichtet, aber im Rückblick
Marie blickte ihn mit zur Seite geneigtem Kopf an, während sie ihn musterte. Ein Kind mit
sah sie alles verschwommen vor ihrem geistigen Auge, mit der so oft beschworenen rosa
über 20 Jahren, wahrscheinlich lag es am Rollstuhl und an seiner Mutter, dass Heiko nichts
Brille durch die jeder Versuch die Realität zu sehen zum Scheitern verurteilt war. Doch
weiter für sie darstellte. Ein netter naiver kleiner Kerl ohne Füße. „Stimmt schon, aber –“
plötzlich schob sich ein anderes Bild vor diese rosa Brille, das selbst diese nicht schönfärben
Marie schwieg lieber. Was hätte sie schon sagen wollen? „- ein Einbrecher kann auch in deine
konnte. Der baumelnde Leichnam von Clara Bauer.
Welt einbrechen.“ Insgeheim hielt sie Heiko für den klassischen Kandidaten für eine
Neuverfilmung von Psycho. Enge Mutter-Sohn-Beziehungen waren ihr schon immer suspekt
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gewesen, auch wenn Heiko sicher keine andere Wahl gehabt hatte als diese Mutterfixierung
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zu entwickeln.
„Wie hat das eigentlich Simone verkraftet?“ Mark blickte Marie auf eine intime Art und
Weise an, er wusste z war nicht wie tief die Beziehung zwischen Clara und Simone gewesen
war, aber er wusste immerhin das dort eine gewesen war.
„Sie ist geschockt. Ich musste gerade zur Polizei, der Idiot von Bulle wollte meinen Ausweis
sehen. Bis dahin waren wir zusammen, das macht sie schon fertig. Aber sie wird es schon
verkraften.“
„Wenn ich was für euch tun kann.“
„Danke.“, sie lächelte Mark an, „Ich muss dann wieder rüber, Salut.“
Am nächsten Morgen hielt Krüger den Bericht der Gerichtsmedizin in der Hand, während
dessen Verfasser die Leiche mit einem Stoß zurück in den Kühlkasten schob, oder wie immer
man diese Leichenfächer auch nannte. „Geben sie mir so was wie eine Kurzfassung davon?“
Der Gerichtsmediziner sah ihn lange und still vor sich hinseufzend an, er wollte diesem
Idioten von Polizisten zumindest spüren lassen wie ungern er es tun würde. „Es hat sich
einiges bestätigt.“, begann er schließlich, „Das Opfer hatte gut eine Viertelstunde oder etwas
mehr vor dem Tod Geschlechtsverkehr, freiwillig. Wir haben zwar Verletzungen gefunden,
aber keinerlei Spuren von Gewalt im Genitalbereich. Die Verletzungen stammen von einer
Auseinandersetzung, einem Kampf. Ich nehme an in dessen Verlauf hat der Täter das Opfer
auf die Bank gestoßen, sie kam hier mit dem Kopf auf.“ Er trippelte mit seiner Hand auf die
die besagte Stelle nur an seinem eigenen Kopf. „Die Verletzung war sehr schwer, sie muss
durch den Aufprall das Bewusstsein verloren haben.“
„Das heißt der Täter hat sie erhängt, während sie bewusstlos war?“
„Möglich, vielleicht dachte er auch sie sei schon tot. Aber das kann ich ihnen nicht mit
Sicherheit sagen. Die Spuren an ihrem Hals und den Händen deuten darauf hin das sie sich
gegen das Strangulieren gewehrt hat. Sie könnte entweder überrascht worden sein, als er sie
hochzog, oder sie könnte kurz vor ihrem Tod wieder das Bewusstsein erlangt haben.“
„Sie tippen aber eher auf letzteres?“
„Was durch die Obduktion herausgekommen ist steht in dem Bericht, ich tippe nichts.
Schließlich ist das hier kein Lottospiel.“
Arrogantes Arschloch, grunzte Krüger in sich hinein, als die Tür hinter ihm langsam wippte
und schließlich geschlossen verharrte. Seine Schritte hallten durch die geweißelten Korridore
und schienen auch noch zu hallen, als er längst in den Aufzug nach oben gestiegen war. Er
blätterte den Bericht durch, überflog ein paar Zeilen und fragte sich ob man Medizin studiert
haben musste, damit man auch nur die Hälfte von dem Fachchinesisch verstehen konnte. Wie
viel
Mordfälle
waren
ungeklärt
geblieben,
weil
die
ermittelnden
Beamten
die
Obduktionsberichte nicht verstehen konnten? Die Aufzugstüren öffneten sich wieder und
Krüger marschierte eilig durch die Eingangshalle des Krankenhauses, als sich die Türen hinter
ihm schlossen zündete er sich ein e Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und schlenderte
gemütlich über den Parkplatz Richtung Auto. Als er seine Schrottkiste erreicht hatte drückte
er die Zigarette mit einer solchen Frustration auf dem Asphalt aus, als wollte er sämtliche
Ärzte die er je gehasst hatte auf einmal zertreten. Er schloss den Wagen auf und schleuderte
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den Obduktionsbericht auf den Beifahrersitz, zwischen die alten Verpackungen von
„So bin ich nun mal.“ Marie schwang sich vom Stuhl auf, warf den beiden Jungs ein „Salut“
McDonalds und den kompletten BILD-Zeitungen der zu Ende gehenden Woche. Die neueste
zu und lotste Anna in den Aufzug.
lag obenauf und wurde jetzt zur Hälfte von dem Bericht verdeckt, der Mord hatte es sogar bis
auf die Titelseite geschafft. Bizarrer Mord an Uni Als Ansbach das letzte Mal in der
„Bitte.“ Mit einer Handbewegung deutete Marie auf die Mikrowelle, während sie in den
hochherrschaftlichen BILD erwähnt worden war hatte man dem OB eine Affäre mit seiner
hinteren Teil der Wohnung ging. Das Lämpchen auf dem Anrufbeantworter leuchtete Rot auf,
Pressere ferentin unterstellt, was dessen Wiederwahl aber nicht gefährdet hatte. Krüger lies
daneben wurde 01 angezeigt. Sie drückte den Knopf, während Anna hinter ihr die Mikrowelle
den Wagen an und zündete sich eine neue Zigarette an, er musste sich die kleine Französin
einschaltete. Auf dem Band war nur ein Klicken zu hören, da mochte wohl einer
noch mal vornehmen. Sie verbarg etwas, das sagte ihm sein Urin wenn er pissen ging, und der
Anrufbeantworter ebenso wenig wie sie. Marie legte auch immer gleich auf, wenn sie am
hatte ihn noch nie betrogen. Vielleicht sollte er aber sich auch noch mal die andere
anderen Ende nur eine Maschine zu hören bekam. Mit Maschinen redete sie nicht, sie war ja
vornehmen, die war bestimmt leichter zu knacken.
kein Computeridiot. „Fertig?“
„Hmm, danke, ich schulde dir was.“ Anna hatte die Tür schon geöffnet. „Sag mal, was ist
„Die Vorlesungen fallen für den Rest der Woche aus, schon gehört?“, Anna öffnete die
eigentlich mit Simone, wie geht’s ihr?“
Mikrowelle im Gemeinschaftsraum im Keller des Wohnheims und drehte sich Inhalt
„Die Polizei verhört sie gerade noch mal.“
angewidert weg. „Pfui Teufel.“
„Verhört?“
Marie sah von dem Schachfeld auf, während Mark und Stefan ruhig weiterspielten, als hätten
„Oder was weiß ich wie man das bei Zeugen nennt.“ Marie zuckte mit den Schultern.
sie Anna gar nicht bemerkt. „Da will noch jemand mit seinem Leben spielen und hier die
„Wenn ich irgendwie ...“
Mikrowelle benutzen, reicht denn eine Tote pro Woche nicht?“
Marie hörte ihr eigentlich gar nicht mehr zu sondern lächelte nur und verabschiedete sie.
„Echt witzig.“, schüttelte Anna den Kopf.
Dann lies sie sich auf ihr Bett fallen, was das Telefon natürlich in der nächsten Sekunde zum
„Du hörst dich schon an wie Heiko.“ Marie sah wieder auf das Schachfeld vor ihr und warf
läuten brachte. „Marie Jacotet. – Professor Falkenstein?“ Sie lies sich auf ihren
Mark ein leises Kopfschütteln zu, als der seine Finger über dem Läufer kreisen lies. „Oder
Schreibtischstuhl fallen und presste sich den Hörer ans Ohr. „Woher haben sie eigentlich
hast du etwa eine Strategie?“
meine Nummer?“
Mark erwiderte nichts, zog seine Hand vom Läufer zurück und nahm wieder seine
„Ach das war nicht besonders schwer, die stand auf einer der Listen die unter Studenten
Denkposition ein.
immer rumgehen.“
Marie unterdessen wandte sich wieder an Anna, die noch immer angewidert ins Innere der
Konnte sein das sie sich irgendwann mal in so eine Adressenliste eingetragen hatte, sie wusste
Mikrowelle starrte, die man seit ihrer Anschaffung, zweifellos second hand, nicht mehr
es nicht mehr. „Und, was kann ich für sie tun?“ Am anderen Ende begann jenes
geputzt hatte. Was allerdings auf so ziemlich jedes Utensil der Gemeinschaftsküche zutraf,
Herumdrucksen, das Marie schon oft von Männern zu hören bekommen hatte. Es war genau
folglich also nichts besonderes war. „Warum benutzt du nicht deine?“
das Herumdrucksen, welches sie danken lie s das es da altmodische Regeln gab wie: Junge
„Weil die den Geist aufgegeben hat, passt ja, immerhin hat mein Herd das auch getan. Und du
baggert Mädchen an, Junge muss Initiative ergreifen. Streiche „Junge“, ersetze „Mann“. Nach
weißt ja wie lange die brauchen um was zu reparieren.“ Anna hob die Mikrowellenabdeckung
fast einer Minute Herumdrucksen erbarmte sich Marie seiner: „Sie wollen mich doch nicht
vom Teller und verglich die Konsistenz ihres Essens mit der der Essensreste in der
etwa zu einer Verabredung einladen Herr Professor?“ Vielleicht ja auch nur ein
Mikrowelle.
Doppelrendezvous, sie und ein Freund, er und der Grund warum er einen Ehering trug.
„Willst du meine benutzen?“
„Aber nein, bitte. Ich habe da nur von einem Freund zwei Karten für ein Stück von Moliere in
„Wär’ echt nett von dir.“
Nürnberg geschenkt bekommen, und meine Frau hasst ja das Theater. Da hab ich mich
gefragt ob sie das nicht interessiert.“
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„So aus patriotischem Interesse?“, grinste sie durch die Telefonleitung. „Wann wird das Stück
denn aufgeführt?“
Samstag Abend, kurz vor sieben. Marie stand wie verabredet an der Bushaltestelle, sie war
„Samstag.“
aufgeregt, am ganzen Körper zitterte sie vor Aufregung. Wie sie bei diesen Zittern einen
„Ach, Samstag hab ich eigentlich noch nic hts vor.“ Das Gros der Studenten im Wohnheim
einigermaßen geraden Liedstrich hinbekommen hatte war ihr jetzt schon ein Rätsel. Sie war
fuhr Samstag eh nach Hause ins Hotel Mami. Marie tat es ja auch so alle zwei oder drei
wirklich aufgeregt, weil sie das Gefühl hatte am Anfang eines großen Abenteuers zu stehen.
Wochen.
Ob der Rock z u kurz war? Sie sah an sich herunter und zupfte den Rock etwas in die Länge.
„Das nehme ich als ein ‚Ja’.“
Anschließend begann sie an ihrer Bluse zu zerren, schließlich fuhr sie sich noch mal übers
„Nehmen sie es als ein ‚Ja, gerne’.“ Sie drehte sich zur Tür, nachdem sie die Klingel hatte
Haar und seufzte dann leise während sie nervös von einem Bein aufs andere hüpfte. Bei
zusammenzucken lassen. „Un moment.“, rief sie durch die Tür und verabschiedete sich noch
jedem Auto, das auch nur leicht die Geschwindigkeit verringerte, versuchte sie durch die
von Falkenstein, der sie Samstag um 7 an der unteren Bushaltestelle abholen wollte. Dann
Windschutzscheibe zu schauen, hinter der eines alten Mercedes erkannte sie schließlich
stand sie auf, öffnete die Tür. „Simone, komm rein. Wie lief’s bei der Polizei?“ Sie schloss
Falkenstein. Noch einmal schlug ihr Herz schneller, sie schloss die Augen um sich zu
die Tür wieder hinter ihnen und sah gerade noch wie sich Simone auf das Bett fallen lies, um
beruhigen, und als sie sie wieder öffnete hatte der Wagen schon vor ihr gehalten.
sich danach gleich wieder aufzurichten, als Marie zu ihr stieß. „Also, erzähl schon. Was
wollte dieser grauenvolle Krüger noch von dir?“
Falkenstein schlängelte sich mit den zwei Gläsern Sekt, schwer zu glauben das man hier
„Hat mich ausgefragt.“
Champagner servierte, durch die an den runden Stehtischen stehenden anderen
„Willst du was zum trinken?“
Theaterbesucher. Im Hintergrund konnte man leise Musik hören, die in dem allgemeinen
„N Wasser vielleicht.“
Gemurmel so unterging, dass man sich nicht sich sein konnte ob man jetzt Mozart lauschte,
Marie ging zum Kühlschrank, holte eine kleine Plastikflasche Evian heraus und warf sie
oder dann doch AC/DC, aber das war ja im Grunde auch schon klassische Musik. „Bitte.“ Er
Simone zu. Die schraubte die Flasche auf und nahm einen großen Schluck. „Er wollte wissen
gesellte sich wieder zu Marie, die wartend in die Menge gestarrt hatte. „Ich hoffe das Stück
wie ich und Clara zueinander standen.“ Ein Schluchzen.
gefällt ihnen? Ich war mir nicht sicher ob so ein Klassiker überhaupt interessant für sie ist.“
„Und was hast du ihm gesagt?“
„Es gefällt mir sehr, auch wenn Moliere in der deutschen Übersetzung ziemlich verliert.“
„Das wir schon befreundet waren, aber nicht das wir zusammen waren. So Kerle wie er
Gott, jetzt hörte sie sich schon an wie Reich-Ranicki für Arme. Eigentlich gefiel ihr das Stück
würden das nicht verstehen, oder?“
überhaupt nicht, irgendwann hatte sie mal eine Verfilmung mit Louis de Funes gesehen, die
„Ganz sicher nicht.“, stimmte ihr Marie nickend zu.
war deutlich besser – auch wenn die deutsche Synchronisation auf große Vergewaltigungstour
„Er hat auch nach dir gefragt.“
gegangen war.
„Nach mir?“
„Ich habe noch gar nicht gesagt wie hervorragend sie aussehen.“, lächelte Falkenstein durch
„Hmm, ja, ganz viele Fragen sogar.“
sein Sektglas hindurch.
Marie blickte nachdenklich bis verwirrt drein, was konnte dieser Bulle über sie wissen wollen.
„Ah, très charmant.“, Marie nippte an ihrem Glas.
„Was interessiert den Typen denn an mir, meine BH-Größe?“
„Ich gehe mit Komplimenten also nicht zu weit?“
„Er wollte wissen wie ihr zueinandergestanden habt. Du und –“ Wieder ein Schluchzen. „-
„Jede Frau hört gerne Komplimente, gleich von wem, und meistens auch gleich, ob sie wahr
Clara. Oder warum ich dich angerufen habe, und nicht gleich die Polizei.“
oder gelogen sind.“ Für ein paar Augenblicke, eher für den Bruchteil einer Sekunde fielen
„Und das war alles? Ach vergiss es, der ist eh ein Spinner. Würde mich stark wundern, wenn
ihre Blicke auf seinen Ehering, dann sah sie aber wieder zu ihm hoch. Sie war nicht dämlich,
der den Mörder kriegt.“ Sie sah in Claras noch immer von Tränen gezeichnetes Gesicht.
natürlich war sie nicht hier weil da jemand nur mit Französinnen in französische
„Entschuldige, so war das nicht gemeint, ich bin sicher man wird den Mörder finden.“
Theaterstücke gehen wollte. Männer sind ja so leicht durchschaubar, seufzte sie innerlich, und
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Frauen haben ja so wenig Skrupel mit dem Feuer zu spielen. Sollte er doch das Vergnügen
Engel von der Reinheit einer Jungfrau. Aber wenn sie das nicht wäre, wenn sie ihn genauso
ihrer Gesellschaft haben, und falls er diesen Abend ernsthaft mit einem stillosen Abstecher in
behandeln sollte wie Clara, dann würde ihr das gleiche Schicksal blühen. Falkenstein stieg in
ein billigen Hotel beenden wollen, würde sie ihm schon die Meinung sagen. „Ich glaube das
den Wagen und fuhr davon.
Stück geht weiter, oder?“
Besoffen und Fußballlieder vor sich hingrölend stolperte Manfred Steinlieb die Treppen in
Es gab keinen stillosen Abstecher in ein billiges Hotel, dafür aber ein Besuch in einer kleinen
den obersten Stock des Mietshauses hoch. Das allsamstagliche Schauspiel an das sich die
Bar nahe dem Theater. Eine nette kleine Bar, für so etwas hatte Falkenstein offensichtlich ein
Nachbarn längst gewöhnt hatten, zum einen weil nicht einmal die sieben Plagen von Ägypten
Händchen. Als sie kurz davor waren die Zivilisation wieder in Richtung Ansbach zu
Manfred Steinlieb von seinen samstaglichen Sauftouren abbringen konnten, zum anderen weil
verlassen, war es bereits kurz nach Eins. Die Straße war dunkel und ihnen kam kaum noch ein
ihm das ganze Haus gehörte. Heute war mal „Wir ziehn den Bayern die Lederhosen aus“
Auto entgegen. Im Radio spielte leise Musik, am Himmel gaben die Wolken gerade den Blick
dran, als Mittelfranke grölte Steinlieb fußballmäßig natürlich für den Club. In Ermangelung
auf den Mond frei. Der Song im Radio war von LeAnn Rimes, I need you, oder so ähnlich,
verschiedener Strophen brüllte er den Text eben nur ein paar Dutzend Mal, bis er seine
auf jeden Fall eine Spur zu romantisch.
Wohnungstür erreicht hatte und den Schlüssel aus seinen Taschen kramte. Rein ins Schloss,
„Ich hoffe der Abend hat ihnen gefallen Mademoiselle Jacotet?“, wollte Falkenstein nach
umdrehen, Tür aufstoßen. Gut, dass man sich solch einfach Dinge auch besoffen merken
einer langen Phase gegenseitigen Schweigens wissen.
konnte. Das die Tür gar nicht mehr verschlossen war merkte Steinlieb dann allerdings wieder
„Marie.“, drehte sie sich zu ihm um und lächelte ihn müde aber gut gelaunt an.
nicht mehr. Er zuckte nur kurz zusammen, als die Tür gegen die Wand des dahinterliegenden
Falkenstein lächelte zurück, sagte aber nichts mehr weiter. Sie passierten gerade das im Licht
Korridors schlug. Scheiß drauf, ist ja mein Haus, da kann ich so viel Lärm machen wie ich
der Scheinwerfer strahlende Ortsschild, dann die ersten Häuser und ein paar Minuten später
will. Wie zum Beweis knallte er die Tür hinter sich noch lautstarker zu und sprang ein paar
standen sie an einer Ampelkreuzung, die jeden Durchfahrenden zwang länger als unbedingt
mal auf und ab. Die alte Schachtel unter ihm war ohnehin schon halb taub, die würde glatt
nötig in Ansbach zu bleiben. „Ich hoffe es macht ihnen nichts aus, dass ich sie wieder an der
einen Bombenangriff überhören. Steinlieb rülpste ein paa r Mal Alkoholwolken in den Gang,
Haltestelle absetzen muss. Ich würde sie gern bis vors Wohnheim fahren, aber wenn man das
dann bog er in die Küche und holte sich erst noch mal ein Becks aus dem Kühlschrank. „Wo
sieht, könnte jemand falsche Schlüsse ziehen.“
ist der Scheißöffner?“ Er riss die Schublade aus der Verankerung im Schrank und verteilte
„Und das wollen wir doch nicht.“
sein ganzes Geschirr auf dem Küchenboden. Kein Flaschenöffner? Wie konnte er keinen
Falkenstein war sich nicht ganz sicher wie sie das gemeint hatte, er bog um die Ecke und fuhr
Flaschenöffner haben, das lebenswichtigste Haushaltsgerät überhaupt, welcher Haushalt
an die Haltestelle heran. Den Gentleman spielend wollte er aus dem Wagen springen und ihr
konnte überleben ohne eine angemessene Möglichkeit zu haben Bierflaschen zu öffnen? Er
die Tür öffnen, doch sie war längst ausgestiegen und blickte über das Autodach zu ihm
legte den Flaschenkopf an die Tischkante an, schlug auf ihn ein und sah dem Kronenkorken
hinüber. „Es war ein wunderschöner Abend.“, nickte er ihr zu.
nach, während der unter den Schrank rollte. Sollte sich die Putzfrau drum kümmern, dafür
„Ja, das war er. Au revoir.“
wurde die Kleine ja bezahlt. „Wozu sind die Russen denn sonst gekommen?“, rülpste er und
„Auf Wiedersehen.“ Falkenstein wollte noch etwas sagen, brachte aber nichts mehr heraus. Er
torkelte mit der Flasche im Mund aus der Küche in sein Wohnzimmer. Er schaltete den
sah Marie nach wie sie über die menschenleere Straße ging und nach ein paar Metern
Fernseher an. Wie immer lief um drei Uhr Nachts nur der größte Schrott, die Wiederholungen
zwischen zwei Häusern verschwand. Er erinnerte sich bei seiner ersten Verabredung mit
von Programmen, die schon vor ein paar Stunden nur Schrott gewesen waren. Er machte auf
Clara gleich mit ihr geschlafen zu haben. Es war guter, leidenschaftlicher Sex gewesen, jene
der Stelle kehrt, ging in s Schlafzimmer und rülpste erst mal zur Begrüßung. Dann öffnete er
Art von Sex die Männer wie er überall sonst finden konnten, nur eben nicht im ehelichen
den Schrank neben dem Bett, ging in die Knie und stellte die Bierflasche neben sich ab,
Schlafzimmer. Aber niemals hätte er es bei Marie gewagt, sie war nicht so wie Clara. Dieser
während er die Schublade mit den Pornos öffnete und darin herumkramte. Als er endlich eine
Schlampe gegenüber, Falkenstein nickte sich selbst eifrig zu, war Marie ein unschuldiger
Kassette seiner Wahl gefunden hatte nahm er das Bier wieder, stand auf und schwankte eine
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ganze Weile bis er so etwas wie sein Gleichgewicht gefunden hatte. Er sah auf das Bett und
grinste. Wo war heute nur diese geile kleine Studentin gewesen, die er letzte Woche
Krüger schenkte sich frischen Kaffee in der Gemeinschaftsküche der Polizeidirektion ein.
abgeschleppt hatte? Man, mit der hatte es Spaß gemacht, damals brauchte er sich keinen
Seine eigene Kaffeemaschine hatte er noch nicht in Gang gesetzt, und für diese
Porno reinzuziehen. Dann kam es ihm, allerdings weniger bei seinem kleinen Freund, sondern
Kraftanstrengung brauchte er erst mal einen Kaffee zum vorglühen. „Irgendwas
es kam ihm hoch. Er hechte durchs Schlafzimmer, die Bierflasche fiel aufs Bett, die
weltbewegendes passiert?“ Er lies drei Stückchen Zucker in die Tasse plumpsen und griff mit
Pornokassette behielt er in er linken Hand. Er riss die Balkontür auf und kotzte auf den
der anderen Hand schon nach der Dosenmilch.
Balkon. „Scheiße, verdammt.“, stöhnte er, nachdem er wieder stöhnen konnte. „Oh, Scheiße.“
„Nichts.“ Der Beamte in Uniform lies sich auf den klapprigen Stuhl am Tisch fallen. „Letzte
Er drehte sich um, sah den Schatten und sah ziemlich verwirrt aus, als der auf ihn zu stürmte.
Nacht ist jemand besoffen vom Balkon gefallen.“
„Eh, was –“ Er spürte zwei Hände auf seiner Brust, fiel nach hinten, über das Geländer und
„Tot?“, Krüger verrührte Milch und Zucker.
schrie. Sekunden später klatschte er auf den Pflastersteinboden auf. Ein dumpfes
„Fünfter Stock und mit dem Kopf aufgekommen.“, zuckte der Beamte mit den Schultern,
Aufklatschen, mehr das eines Mehlsackes, als das eines Menschen. Dann herrschte Stille.
„Soviel zu dem Spruch, Kinder und Besoffene haben einen Schutzengel.“
Steinlieb lag tot mit allen Gliedern von sich gestreckt auf dem Boden. Seine linke Hand
Krüger lachte kopfschüttelnd und nippte an seinem Kaffee, grausige Brühe, das Zeug konnte
umklammerte noch immer den Porno. Der Kopf war aufgeschlagen, eine breiige Masse aus
man getrost als Motoröl verkaufen, dickflüssig dazu war es. Wie hieß es in den Lucky Luke-
Knochen und Gehirn badete in einem Blutsee und vermischte sich langsam in den Rinnen
Heften, die er heimlich in seinem Schreibtisch zu Hause stapelte, erst wenn das Hufeisen
zwischen den Pflastersteinen mit dem Schmutz und Dreck der Straße. Auf dem Balkon beugte
nicht mehr in der Tasse untergeht, ist der Kaffee stark genug. Er warf noch ein Stückchen
sich der Schatten über das Geländer und lächelte. Ganz leise, nicht einmal für sich selbst
Zucker hinterher, auch wenn er nicht glaubte damit Erfolg zu haben. „Gott sei dank, noch ein
hörbar, geflüstert konnte man hören: „Der Erste.“
Mord hätte mir die Woche ziemlich vermiest.“ Er zog sein Zigarettenpäckchen aus der Tasche
seines abgetragenen Jacketts, entschied sich für eine der beiden einsamen Glimmstängel und
schob ihn sich zwischen die Lippen.
„Morgen.“, krächzte ein weiterer Uniformierte in die Küche herein, „Der Chef will sie
sprechen Herr Hauptkommissar. Und er hat hohen Besuch?“
„Wen?“ Das Feuerzeug blitzte auf, der Tabak begann zu glühen und Krüger nahm einen tiefen
Zug.
„Der Polizeipräsident persönlich.“
„Na Klasse, da passiert einmal ein Mord der nicht dem Schema F entspricht, und schon tanzt
unser mediengeiler Oberbulle aus Nürnberg an.“
„Er braucht halt die Publicity, man munkelt ja er ist auf den Posten in München scharf.“
„Den kann er haben, dann geht er mir nicht mehr auf den Sack.“, grunzte Krüger, nahm noch
einen tiefen Zug Nikotin und drückte die angera uchte Zigarette dann im Aschenbecher aus.
„Dann wollen wir mal.“ Krüger setzte sich gemächlich in Bewegung und stellte seine
Kaffeetasse auf dem Weg nach oben noch schnell in seinem Büro ab. Gut fünf Minuten später
marschierte er an der stets grimmig drein schauenden Sekretärin vorbei, die ihm hinterher rief
er sei schon viel zu spät.
„Guten Morgen.“ Krüger schloss hinter sich die Tür und nickte den beiden Männern zu.
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Der Polizeidirektor, der die Direktion Ansbach leitete, erwiderte den Gruß mit einem Nicken
„Was für ein Hotel?“ Der Tonfall Krügers bei „Hotelbesitzer“ hatte den Polizeidirektor
und deutete auf den freien Stuhl neben dem Polizeipräsidenten. Man schüttelte sich eifrig die
neugierg gemacht.
Hände, dann nahm Krüger Platz. „Sie wollten mich sprechen?“
„Nun, ich habe bei der Sitte nachgefragt, das Haus wird mehr oder weniger als Stundenhotel
„Sie ermitteln doch in der Mordsache Clara Bauer?“, eine rhetorische Frage, „Ich habe hier
genutzt. Die Kollegen von der Sitte meinen aber es sei die Mühe nicht wert den Laden
ihren Bericht von Freitag Nachmittag, ist dem noch was hinzuzufügen?“ Er blätterte die
genauer unter die Lupe zunehmen.“ Wahrscheinlich existierte eine Art Gentlemenagreement
Aktenmappe auf.
zwischen dem Sittendezernat und dem Hotelbesitzer, keine Razzia für ein paar Informationen.
„Nicht im Augenblick.“
„Was weiß der Hotelbesitzer?“ Die Stimme des Polizeipräsidenten wirkte wie ein
Der Polizeidirektor sah genervt auf, Krüger war nie für Wochenendarbeit bekannt gewesen.
Fremdkörper, als er sich in das Gespräch einschaltete.
„Sie nennen keinen Verdächtigen, obwohl sie hier von einem regen Sexualleben berichten.“
„Damit wollte er am Telefon nicht rausrücken Herr Polizeipräsident.“
„Das Dumme ist nur, dass es so rege war, dass niemand langfristiges dabei zu sein scheint.
Die beiden Vorgesetzten wechselte ein paar Blicke, dann ergriff der Polizeidirektor wieder
Kein Freund oder Geliebter.“
das Wort: „Gut, ich will ab sofort einen täglichen Bericht, eine Kopie für mich und eine für
„Haben sie nicht die Nachbarn befragt?“
den Polizeipräsidenten.“
„Natürlich, aber die wissen von gar nichts. Frau Baue r war eine Mustermieterin, kein Lärm
weder durch Musik noch Geschlechtsverkehr. In der Wohnung selbst haben wir keinerlei
Falkenstein saß vor seinem Computer, fuhr mit der Maus über die aufgelisteten MPGs von
Hinweise gefunden.“
Claras CD und klickte willkürlich einen Film an. Zuerst sah er nur das ihm bestens bekannte
„Und die Spuren am Tatort, was ist mit den Spermaspuren?“
Hotelzimmer und die ihm nicht minder bekanntere Clara. Er schaltete auf Vollbild um und sie
„Das LKA hat keine Übereinstimmung in der Datenbank gefunden.“
grinste ihn in all ihrer vollweiblichen Ausstrahlung an. Fast so als würde sie noch Leben. Am
Der Polizeidirektor lehnte sich in seinen Bürosessel zurück und wechselte ein paar Blicke mit
Körper trug sie Lederriemen verziert mit Niet en, Riemen, die nur noch das nötigste bedeckten
dem Polizeipräsidenten, der die ganze Zeit über schweigend, aber aufmerksam zugehört hatte.
– eigentlich nicht mal das. Außer ihren Füßen in den hohen schwarzen Lackstiefel konnte
Es bliebe ja die Möglichkeit von Speicheltests, flächendeckend zumindest mal alle
man eigentlich alles sehen. In ihrer Hand hielt sie einen Vibrator, bei den Pixeln musste man
männlichen Studenten, Professoren und Angestellte der FH. Aber das würde ein Vermögen
aber schon genau hinschaue n, um das zu erkennen. Dann war sie plötzlich nicht mehr allein.
kosten, und das war die Tote nicht wert. Sicher, wär sie ein zehnjähriges Schulmädchen
Von rechts kam ein Mann mit Halbglatze ins Bild gekrochen, langsam und auf allen Vieren
gewesen würde man den Test durchführen, aber so war der Budgetdr uck stärker.
bewegte er sich wie ein Hund auf Clara zu. Ein reuiger Hund, der etwas angestellt hatte und
„Fingerabdrücke haben auch nichts gebracht?“
jetzt winselnd um Verzeihung bettelte. Die Kameraperspektive hatte sich die ganze Zeit über
„Die sind uns völlig unbekannt. Außerdem blieb dann noch die Beweislast das der letzte
nicht geändert, also musste sie irgendwo fest installiert sein. Sie hatte all die Filme heimlich
Sexualpartner überhaupt der Täter ist. Die Spurensicherung ist sich anhand der Kleidung und
aufgenommen, auch ihn hatte sie aufgenommen. Kein Ton, aber der Mann musste gerade
den Abschürfungen, bzw. den nicht vorhandenen, zu etwa 2/3 sicher, dass sie nicht am Tatort
betteln. Sein Kopf drehte sich plötzlich nach rechts und Falkenstein konnte sein Gesicht sehen
Geschlechtsverkehr hatte. Natürlich gebe es da aber noch gewisse Stellungen.“, Krüger
und erkennen. Er erinnerte sich an den Polizeipräsidenten, die beiden hatte sich auf einem
grinste, „Da aber offensichtlich keine Vergewaltigung vorliegt, gibt es nur einen zeitlichen
Empfang der Bezirksregierung kennen gelernt. Nur hatte er damals einen Anzug getragen,
Zusammenhang von etwa einer Viertelstunde, aber keinen direkten Zusammenhang.“
jetzt trug er nichts – sprichwörtlich. Gut, abgesehen von den Unmengen Haaren an seinem
„Wie ist ihre weitere Vorgehensweise?“
ganzen Körper. Er bettelte noch immer, Clara schien sich aber nicht erweichen lassen zu
„Ich treffe mich in einer Stunde mit einem Hotelbesitzer, der sich aufgrund des Bildes in der
wollen. Wie die geborene Domina stand sie mit verschränkten Armen vor ihm und blaffte ihn
Fränkischen Landeszeitung gemeldet hat.“
von oben herab an. Doch dann schien sie sich ihm zu erbarmen, sie wies ihn an sich
umzudrehen, der Beamte trippelte auf allen vieren um seine eigene Achse. Dann schien sie
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ihm zu befehlen den Hintern nach oben zu strecken, der Beamte streckte seinen Hintern in die
„Was meinst du steht uns jetzt für ein Gesprächsthema bevor?“ Mark griff sich eine dem
Höhe.
Schüsselchen Kroketten.
Falkenstein hörte wie sich die Schritte seiner Frau dem Arbeitszimmer näherten. Schnell
„Hmm?“, sah Marie ihn fragend an, während sie es ihm gleichtat.
klickte er den Film weg und schüttelte den Kopf. Dieses Flittchen, ratterte es in seinem Kopf
„Na bei Stefan und Anna?“
immer wieder, also hatte sie sich auch als Erpresserin betätigt, denn als Souvenir waren diese
„Vielleicht erzählt er von seiner Zeit in der Küche beim Bund.“, grinste sie und versuchte sich
Filme sicher nicht gedacht. Hotelfilme, was für ein verniedlichender Titel.
vorzustellen woher der rosa Dipp neben dem Putensteak wohl seine Farbe bekam.
„Oder sie von ihrem schreinernden Freund.“
„Als wäre überhaupt nichts passiert.“, murmelte Mark fast unverständlich, als sie über den
„Oder er rattertet zum xtenmal die Figuren aus Herr de r Ringe herunter.“
Campus gingen.
„Sie könnte auch wieder überfällig sein.“
„Was hast du erwartet, das sie ein Kreuz aufstellen? Clara ist erhängt, nicht mit dem Auto
Marie lachte kurz auf und schüttelte den Kopf. „Wir können uns ja dezent an einen anderen
überfahren worden.“ Marie mied es den Galgen direkt anzusehen, sondern starrte lieber auf
Tisch setzen.“ Sie trat aus der Schlange heraus um sich einen Becher Cola zu holen, Getränke
das Gebäude auf der anderen Seite. Die roten Backsteine, ein Überbleibsel aus der Zeit als das
gab es auf der anderen Seite.
alles hier noch Kaserne war, hatte noch nie so schön ausgesehen.
„Ach, so schlimm sind sie auch nicht.“ Mark legte seine Mensakarte auf das Lesegerät an der
„Eh, die ham schon die Stühle rausgestellt.“ Mario, der Dauergrinser, grinste selbst jetzt noch.
Kasse und lies sich den Betrag abbuchen, dann trat er ein paar Schritt zur Seite und wartete
Das gab dem ganzen erst recht den Anstrich von Normalität, als wäre wirklich nichts passiert.
auf Marie.
Marie blickte auf die Stühle und Tische die man im Sommersemester vor der Mensa aufbaute
„Wie geht’s Simone?“, Anna legte das Besteck zur Seite und griff nach der Serviette.
sobald sich das Wetter einigermaßen sommerlich zeigte. Dabei war Wetter eigentlich noch
„Die ist doch noch kurz nach Hause gefahren.“, Marie probierte den Dipp mittels einer halben
nicht wirklich sommerlich. „Ich glaube ein Wochenende ist eine angemessene Trauerzeit für
Krokette, gar nicht mal schlecht dafür das es undefinierbar war. „Gestern erst, aber sie kommt
eine Tote.“
heute wahrscheinlich schon wieder. Ihr werden die Klamotten ausgegangen sein.“
„Findest du?“
„Muss man da nicht der Polizei bescheid sagen?“
„Hmm, ja, bei nem Massaker müsste man natürlich mindestens eine Woche trauern.“
„Was weiß ich, mir hat der Idiot auch nicht gesagt: Verlassen sie die Stadt nicht. Und wenn –“
„Mindestens.“, nickte ihr Mario zustimmend zu.
Marie wechselte in einem übertrieben gespielten französischen Akzent: „Dann weiß isch
Sie schwiegen für den Rest des Weges und Marios „Ich muss noch sch nell meine Karte
nischt so gut Bescheid mit deutschen Geschezen.“ Erst jetzt sah sie das zwei Tische weiter
aufladen“ war das erste gesprochene Wort zwischen den Dreien. Marie und Mark gingen
Falkenstein saß und gerade mit der rothaarigen Bibliothekarin scherzte, oder besser flirtete.
unterdessen schon in die eigentliche Mensa, wo sie Stefan sitzen sahen wie er sich gerade von
Tauchte da tatsächlich so etwas wie Eifersucht in ihr auf?
Anna vollquatschen lies.
„Morgen.“, es war kurz nach eins, Marie legte ihren Rucksack auf den freien Stuhl neben
Krüger drückte die Zigarette in dem Glasaschenbecher des Hotelzimmers aus und sah sich
Anna ab, während Mark den Stuhl neben Stefan in Beschlag nahm. „Was ist denn heute zu
um. „Nettes Zimmer.“
empfehlen?“ Sie blickte auf den Auflauf auf Annas Tablett und kam zu dem Schluss das es
„Ich lege großen Wert auf eine gepflegte Atmosphäre.“, offensichtlich hatte der Hotelbesitzer
heute nur von Nachteil sein könnte Vegetarierin zu sein. Auf der anderen Seite sahen die
geglaubt Krüger fände das Zimmer tatsächlich nett.
Überreste auf Stefans Teller auch nicht besser aus.
„Hat Frau Bauer immer dieses Zimmer genutzt?“
„Das Putensteak ist nicht schlecht.“, Stefan klang nicht besonders überzeugend bei seiner
„Ja, aus einem bestimmten Grund. Aber bevor ich ihnen den sage, will ich mit ihnen
Empfehlung, aber Marie und Mark hatten sich eh schon auf den Weg zur Essensausgabe
sprechen. Sehen sie, ich und ihrer Kollegen von der Sitte, wir haben da so eine Abmachung.“
gemacht.
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Krüger verdrehte die Augen, dieser kleine dicke Mann ging ihm auf die Nerven. Dieser kleine
nach oben, blieb in einem der Zwischenräume zum verschnaufen stehen und sah aus dem
dicke Mann war dazu geboren anderen auf die Nerven zu gehen, das, und nicht die
verschmutzen Fenster in den Hinterhof. Sie war nie hier gewesen, sie konnte sich nicht mal
Hotelführung, war wahrscheinlich seine Hauptarbeit. „Eine Abmachung?“
erinnern je die Straße in der das Haus lag betreten zu haben. Dabei lag es in bester Lage nahe
„Ja, so in der Art ich piss dir nicht ans Bein, du pisst mir nicht ans Bein. Und gelegentlich bin
der Innenstadt, sie hatte sich selbst ein paar Wohnungen hier in der Nähe angesehen, bevor sie
ich recht hilfreich.“
den Platz im Studentenwohnheim gekriegt hatte. Sie erreichte schließlich das besagte
„Da bin ich mir ganz sicher.“, stöhnte Krüger und zündete sich eine Zigarette an.
Stockwerk, eine der beiden Türen stand offen. Marie klopfte gegen die offene Tür und rief ein
„Na ja, man lebt halt so zusammen. Allerdings erzählt man ja auch nicht alles, we nn sie
lautes „Hallo?“ in die Wohnung hinein.
verstehen was ich meine.“
„Frau Jacotet?“, ein junger Polizist trat aus einem der Zimmer. „Der Hauptkommissar wa rtet
„Wenn sie keinen umgebracht haben ist mir scheißegal was sie hier treiben und die Kollegen
hier auf sie.“ Er deutete in ein anderes Zimmer in das er dann eine laute Verabschiedung rief
von der Sitte auch. Also, warum sparen wir uns dieses um den heißen Brei reden nicht
und sich schließlich auch von Marie verabschiedete.
einfach?“
„Grüß Gott, kommen sie doch rein.“ Krüger winkte sie ins Zimmer, während er mit dem Kopf
Der Hotelbesitzer nickte fast schon dankbar. „Wie ich schon sagte, sie hat aus einem
im Kleiderschrank steckte.
bestimmten Grund immer dieses Zimmer genommen.“
„Tag.“, flüsterte sie und trat ein. Wow, die Wucht der Bären überall im Raum erschlug sie
„Mit verschiedenen Männern?“
förmlich. Überall diese Bären, Teddybären, Glücksbärchies, für Fotoaufnahmen verniedlichte
„Oh ja, ich hielt sie zuerst für eine vom Fach, aber sie war, wie soll ich sagen, eine begabte
Grizzlys, die Bettdecke war nicht einmal verschont geblieben. „Das ist Claras Wohnung?“
Amateurin. Sie kam ein paar Mal mit den gleichen Männern, aber selten mehr als zwei oder
„Sie haben Zweifel?“, Krüger tauchte aus dem Schrank auf und ging das Fenster öffnen.
dreimal.“
„Ich hätte nicht gedacht das sie der Typ ist, der auf Teddybären abfährt.“
„Wie viele waren es wohl insgesamt?“
„Ich will ehrlich sein, je mehr ich über Clara Bauer erfahre, desto merkwürdiger erscheint es
„15, 20, vielleicht 30, Himmel, ich hab’s nicht gezählt.“ Der Hotelbesitzer ging ins Innere des
mir.“, er zündete sich eine Zigarette an und streckte ihr dann die Schachtel Camel entgegen.
Hotelzimmers, bog nach rechts und klopfte mit dem Fingerknöchel die Wand ab. Dann schien
„Nicht meine Marke, danke.“, Marie schüttelte den Kopf und fragte sich wieder warum sie
er gefunden zu haben was er suchte. „Hier, das meinte ich. Sehen sie Frau Bauer hat immer
hierher kommen sollte.
ein wenig mehr gezahlt.“ Er nahm den Verschluss ab, dahinter tauchte ein kleiner Hohlraum
„Hier, das haben wir in einem doppelten Boden im Schrank gefunden.“ Er hob eine
auf. Dann reichte der Hotelbesitzer den Deckel an Krüger weiter, der ihn nur kurz ansah.
Schublade vom Tisch hoch und hielt sie Marie unter die Nase, bevor er sie wieder hinstellte
„Lassen sie mich raten, sie hat ein paar Filme gedreht.“
und etwas aus dem Inhalt zeigte. Ein Peitsche, Lederoutfit, diverse Vibratoren, Knebel und
„Ja. Sie war immer am Vormittag oder schon am Tag zuvor hier und hat die Kamera
ein paar andere Dinge deren Katalogbezeichnung beim Fetischversand Krüger nicht auf
mitgebracht. Ich kenn mich mit den Dingern nicht aus, das war so eine moderne, sie wissen
Anhieb einfielen.
schon, ohne Film. Wie sie’s gemacht hat weiß ich nicht, das hat mich nicht interessiert.
„Das überrascht mich nun wieder weniger.“
Vielleicht so was wie eine Zeituhr.“, der Hotelbesitzer zuckte mit den Schultern.
Krüger lachte und warf das Zeug wieder in die Schublade. „Dachte ich mir. Können sie sich
„Wundervoll, einfach wundervoll.“, murmelte Krüger nur, die kleine Französin hatte also
vorstellen das sie sich mit ein paar ihrer Liebhaber selbst gefilmt hat, heimlich natürlich.“
Recht gehabt, Clara Bauer war nicht gerade ein Unschuldsengel gewesen.
Marie zuckte mit den Schultern.
„Ich nehme an sie wollte die Männer später erpressen. Sie war ein ganz – “ Krüger hielt
Marie blieb am Fuße des Treppenhauses stehen und blickte die Stufen hinauf. Was konnte
plötzlich inne, als er jemanden in die Wohnung kommen hörte. „Ah, Frau Bauer, Grüß Gott.“
dieser Bulle bloß von ihr wollen, und vor allem, warum wollte er es in Claras Wohnung von
Er ging auf Claras Mutter zu und schüttelte ihr die Hand. „Darf ich vorstellen, Marie Jacotet,
ihr? Welches Stockwerk hatte er gleich noch mal gesagt? Sie ging langsam Stufe für Stufe
eine Freundin ihrer Tochter.“
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„Guten Tag.“, nickte ihr Marie zu, auch wenn es ihr nicht passte als Claras Freundin
vorgestellt zu werden.
„Ich hoffe ich störe sie nicht, ich wollte nur ein paar Sachen holen.“, die Stimme von Claras
Je besser das Wetter und je ferner das Prüfungsdatum, desto geringer ist der Ansturm in die
Mutter klang noch immer wacklig, als würde sie jeden Moment wieder losheulen. „Darf ich
Vorlesungen. Vielleicht dachten aber auch all jene die zu Hause geblieben waren auf diese
überhaupt – Oh, mein Gott, ich hätte sie ja vorher fragen sollen. Das tut mir leid.“
Art ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen. Man trauerte zu Hause vor dem Fernseher, sah sich
„Ist schon gut Frau Bauer, jetzt geht es schon in Ordnung.“ Krüger legte sein Jackett über die
eine dieser niveaulosen Tussis a la Bärbel Schäfer oder Arabella Kiesbauer an, stellte sich die
Schublade, damit der Inhalt vor der Mutter verborgen blieb.
Frage wann der Schrott wohl endlich US-Niveau erreichen würde und man endlich den
Marie sah zu ihm herüber, so viel Feingefühl überraschte sie und lies Krüger in ihrem
asozialen Säufer von Nebenan im Fernsehen sehen könnte. Im Fernsehen stinkt er ja nicht so
Ansehen etwas steigen, von der tiefsten Gosse ein paar Stufen nach oben.
und ist überhaupt viel angenehmer zu ertragen. Vielleicht sah man sich zur Trauer auch eine
„Kann ich noch irgendwas für sie tun?“, Krüger wartete ein paar Sekunden, dann nickte er
der Gerichtshows an, die längst nach dem Motto liefen: Wir haben das zwar erfunden, aber es
den beiden Frauen zu und verabschiedete sich. Er war längst aus der Wohnung verschwunden,
könnte genauso passiert sein. Hmm, klar, Nonnen schneiden das Glockenseil in der Kirche an,
als Marie überhaupt registrierte mit Frau Bauer allein zurückgeblieben zu sein. Krüger sank in
und werden dann von den Eltern des Ministranten verklagt der von der herunterfallenden
ihrem Ansehen wieder ein paar Stufen nach unten.
Glocke fast erschlagen wurden. Oder das Vergewaltigungsopfer, das vergessen hat wer über
„Sie waren eine gute Freundin von Clara?“ – Marie kam nur dazu zu nicken. – „Sie hat ja so
sie hergefallen ist, sich dafür aber an dessen Handyklingelton erinnert. Und prompt klingelt
wenig von ihren Freunden erzählt seit sie studierte.“, schluchzen, jeden Moment würde sie
bei einem Zeugen das Handy. Diese Meisterleistungen deutscher Schauspielkunst waren in
sicher losheulen, „Aber sie hatte sicher nur so nette Freundinnen wie sie.“
der Tat die beste Möglichkeit um Clara zu trauen, sie hätte es nicht anders getan.
Nett, sie hatten noch kein einziges Wort gewechselt. Marie nickte wieder nur und nuschelte
Falkenstein konnte sich als Professor diesen Luxus des Trauerns nicht leisten, seine
etwas, so verschluckt, dass sie es nicht mal selbst verstand.
Abwesenheit würde dem ein oder anderem auffallen. Er notierte ein paar Paragrafen an die
„Marie war ihr Name, oder?“
Tafel, dann ging er zwischen den Tischen hindurch und blieb gut in der Mitte des Raumes
„Ja, Marie.“
stehen. Er hörte sich selbst etwas über undefinierbare Einflussgrößen sagen, die man
„Wussten sie das Claras zweiter Vorname Maria war?“
ausklammern müsste, weil es sonst zu kompliziert werden würde, aber eigentlich hörte er sich
„Nein, das hat sie nie erwähnt.“ Nicht das sie je ein Gespräch geführt hätten bei dem das
selbst nicht wirklich zu. Er erzählte jedes Semester dasselbe, Wort für Wort, keine einzige
auftauchen hätte können.
unterschiedliche Silbe. Auch wenn sich die Zahl seiner Jahre als Professor noch an zwei
„Sie hat ihren zweiten Vorname nie gemocht.“, ein verklärtes Lächeln huschte über die
Händen abzählen ließen, kam es ihm so vor als hätte er nie etwas anderes getan. Falkenstein
mütterlichen Lippen.
trat den Rückweg an, erreichte wieder die Tafel. „Diese Fälle entsprechen ...“ Falkenstein
„Ich mag meinen auch nicht besonders, Justine.“
begann abwesend durch das Fenster nach draußen auf die Straße zu blicken, oder besser er
„Marie-Justine Jacotet? Das klingt französisch.“
starrte ins Leere. Die Fensterrahmen nahm er nicht mehr wahr, ebenso wenig die dahinter
„Mein Vater kommt aus Frankreich.“
liegende Straße und Häuser. Für einen Augenblick entspannten sich seine auf den
Vorlesungsstoff konzentrierten Gesichtszüge, während vor seinem geistigen Auge Marie
auftauchte. Plötzlich schien er ihren gemeinsamen Abend innerhalb von Sekunden noch
einmal zu durchleben. Er lächelte.
„Herr Professor?“
Falkenstein blickte den Studenten fragend an. „Ja? Ach, Entschuldigung.“ Er schüttelte den
Kopf und setzte seine Vorlesung fort. Für die nächsten zehn Minuten, dann begann er wieder
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gedankenverloren vor sich hinzustarren. Er hatte sich seit ihrer Fahrt nach Nürnberg nicht
auch das Display. Simone schaltete den Radio wieder ein, inzwischen spielte man Mozarts
mehr gemeldet, hätte er das nicht besser tun sollen? Wieder riss ihn das Nachfragen eines
Kleine Nachtmusik, viel zu fröhlich, Simone zog den Stecker heraus und war wieder alleine.
seiner Studenten zurück in die Realität. Er warf einen Blick auf die Uhr, versuchte sich zu
erinnern wo er stehen geblieben war und beendete die Vorlesung dann.
„Was ist eigentlich mit dem verpeilten Kellner geworden?“, wollte Marie wissen, während
der
Besitzer
der
Kneipe
die
Getränke
höchst
persönlich
über
die
beiden
Marie klopfte leise mit ihren Fingerknöche ln gegen die metallisch glänzende Wand des
zusammengeschobenen Tisch verteilte.
Aufzugs, während sich dieser langsamer um schwerfälliger als sonst nach oben bewegte.
„Was für’n verpeilter Kellner?“ Er bugsierte zwei Weißbier zu Karl und Gerd, die als
Selbst die Türen schienen sich heute wie in Zeitlupe zu öffnen, unter lautem Ächzen und
Urbayern natürlich nichts anderes bestellen würden, und ein Pils zu Mario. „Warte, ich weiß
Stöhnen, das sie überlegen lies beim runtergehen doch besser die Treppe zu benutzen. Sie bog
schon wen du meinst.“
um die Ecke und ging durch eine der Glastüren die Treppenhaus von Zimmern im Wohnheim
„Und?“ Sie zog ihren Rotwein zur Seite, damit Gingerale und Weißweinschorle ihren Weg zu
trennten. Angeblich mussten solche Türen ja nach dem Prinzip von Fluchttüren, d. h. sie
Miri und Patscharee fanden, die gleich gegenüber der beiden Urbayern saßen, während der
müssen immer nach außen zu öffnen sein, angelegt werden, im Wohnheim hatte man sich mit
Rest des Tisches dann aus alten Bekannten bestand. Den ebenfalls einen Rotwein trinkenden
diesem Konzept offensichtlich nicht durchsetzen können. Wer im Brandfall ernsthaft begriff
Mark und den tapferen Anti-Alkoholiker Stefan, der sich statt des Alkohols lieber eine
in welche Richtung sich die Türen öffnen ließen musste zweifelsohne ein Genie sein. Als sie
Zuckervergiftung durch literweise Cola holte.
die Tür von Simones Wohnung erreichte drückte sie zuerst kurz den Klingelknopf und klopfte
„Er hat eingesehen, dass er sich anders etwas dazu verdienen muss.“, grinste der Inhaber.
dann gegen die Tür. Als keine Reaktion kam klopfte sie noch einmal. Komisch, gerade noch
„Mit anderen Worten, du hast ihn gefeuert.“
hatte sie geglaubt etwas hinter der Tür zu hören. Leise Musik, oder einen Fernseher. Marie
„So in etwa. Es ging halt nicht anders, sonst hätte ich ja gleich jede zweite Rechnung
klingelte noch ein zweites Mal, wieder ohne irgendeine Reaktion zu bekommen. Sie zuckte
streichen können. Weißte, die Leute glauben in nem Bistro zu bedienen ist das einfachste der
mit den Schultern und marschierte wieder zum Aufzug zurück, während sie ihr Handy aus der
Welt, ist aber nicht so.“
Tasche zog und die eingespeicherte Nummer von Simone wählte.
„Ich weiß, ich hab auch mal nen Sommer mit Kellnern mein Taschengeld aufgebessert.“
Simone drehte ihren Kopf kurz nach rechts, als das Handy auf der Schreibtischplatte zu
„Hier wäre noch ne Stelle frei.“
vibrieren begann. Fast gebannt verfolgte sie die paar Millimeter, die sich das Handy durch die
Klar, schlechte Bezahlung, nervige Gäste und ein Chef der einem dauernd – so wie jetzt zum
Vibrationen Richtung Tischkante bewegte. Das Display strahlte grell -grün im Halbdunkel
Beispiel – in den Ausschnitt glotzt. Marie könnte sich keinen besseren Job vorstellen. „Nee,
ihrer Wohnung, in der sie die Vorhänge zugezogen hatte und außer den Leuchtziffern ihres
danke, ich lass mich lieber bedienen.“
Radioweckers – und dem durch den Vorhang dringenden Licht der Abendsonne – keine
„Schade.“ Er wandte sich wieder an die Allgemeinheit. „Kann ich einem von euch noch was
andere Lichtquelle duldete. Bis vor ein paar Momenten hatte noch leise der Radiowecker
bringen?“
gespielt, B 4 – Klassik, irgendetwas von Brahms oder – Simone erinnerte sich nicht mehr,
Gut eine Stunde später waren noch ein paar andere Kommilitonen zu ihnen gestoßen, die
aber es war schön traurig gewesen. Tieftheatralische Musik, deren Hauptzweck es in der
sich einen ihrer Profs bei einer Vorlesungsreihe für BR Alpha im Fernsehen angeguckt hatten,
heutigen Welt von Beats und Techno wohl sein dürfte bei Beerdigungen gespielt zu werden,
um festzustellen das diese auf der Mattscheibe genauso rüberkamen wie in der Realität.
und wenn Helikopter im x-ten Anflug auf Jurassic Park waren. In ihren Augen standen
Inzwischen hatte man also einen dritten Tisch in Beschlag genommen, auf dem ein altes
wieder Tränen, die dicken, die sich lange in den Augenhöhlen halten, bevor sie über die
Scotland Yard-Spiel ausgebreitet worden war, auf dem zur Hetzjagd auf Mister X geblasen
Wangen kulleren. Die schlimmsten Tränen, als wenn man weinen möchte, es aber nicht mehr
wurde. Marie zog eine Runde Vier Gewinnt gegen Stefan vor und musste feststellen das der
kann. Die Vibration des Handys verstummte wieder und ein paar Augenblicke später erlosch
darin ein Naturtalent war, gut, dafür hatte er von den meisten anderen Dingen keine Ahnung.
Unsere beiden Ur-Bayern hatten sich inzwischen Patscharee geschnappt und versuchten der
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Koreanerin ihre guten Deutschkenntnisse zu nehmen, in dem sie ihr Bayrisch beibrachten.
Geld kassieren und sich dem nächsten Auftrag widmen. Besuche auf den Baustellen waren
Und Mark unterhielt sich währenddessen mehr als schleppend mit Miri. Kurz, es war
ihm verhasst, und dieser war es erst Recht. „Hallo, langsam finde ich das nicht mehr witzig.“
eigentlich wie immer.
Als ob er das je getan hätte. Hochmeister kam vor einem Betonmischer zum stehen, direkt
daneben. Aus einer Ahnung heraus legte er prüfend die Hand auf den Motor, er war warm.
Sich Nachts auf Baustellen rumzuschleichen war für Bernd Hochmeister eigentlich nicht
Wer benutzte mitten in der Nacht einen Betonmischer. Er ging um das Gerät herum und warf
üblich, auch wenn es eine Baustelle war die der Architekt selbst mitbetreute. Aber es hatte ja
einen Blick ins Innere. Die Maschine war viel zu voll, dass konnte er selbst bei diesen
so kommen müssen, das wusste er schon als er die Nachricht von Claras Ermordung in der
Lichtverhältnissen sehen. Im Laufe der erzwungenen Aufenthalte auf den Baustellen hatte er
Zeitung gelesen hatte. Von diesem Augenblick an hatte er gezittert, jeden Moment könnte ja
einiges über den handwerklichen Aspekt beim Häusle bauen gelernt, er würde diesen Fehler
die Polizei an seiner Haustür klingeln und ihn nach seiner Beziehung mit ihr ausfragen.
nicht machen. Der ekelhafte Geruch frischen Betons stieg ihm in die Nase und er wollte nur
Womöglich noch im Beisein seiner bis dahin noch im Tal der Ahnungslosen befindlichen
noch einmal nach diesem anonymen Anrufer schreien, wenn der sich dann immer noch nicht
liebenden Ehefrau.
meldete könnte er ihn mal am Allerwertesten lecken. Er drehte sich um, schrie und spürte wie
‚Herr Hochmeister, sie hatten also eine Affäre mit der Toten?’, könnte der Polizist ganz
das Holz ihn am Kopf traf. Hochmeister stürzte nach hinten und knallte in den Matsch. Der
sachlich feststellen.
Angreifer beugte sich über den bewusstlosen Architekten, fühlte dessen Puls und zog ihn
‚Du hattest was!?’, würde seine Frau dann weniger sachlich brüllen, ‚Meine Mutter hatte
dann an den Füßen in seine Richtung. Er lies den Bewusstlosen liegen, blickte auf den
Recht, die hat dir nie getraut! Nie!’
Betonmischer, schätzte die Entfernung ab und zog ihn dann noch etwas weiter von der
Doch statt der Polizei hatte er einen Anruf einer unbekannten Person bekommen. Person war
Maschine weg. Jetzt müsste die Entfernung einigermaßen hinhauen, so über den Daumen
schon der richtige Ausdruck, denn die Stimme des Anrufers war derart verzerrt gewesen, dass
gepeilt. Ein letzter Blick auf den Bewusstlosen , so wie ihn bald niemand mehr sehen sollte,
sich Hochmeister nicht einmal sicher war welches Geschlecht der Anrufer wohl gehabt hatte.
dann auf zur Maschine. Wie bringt man das Scheißteil dazu sein Inneres auszugießen? Ein
Dieses „Kommen sie um zwei Uhr Nachts auf die Baustelle auf dem Husarenhügel, oder ich
Hebel hier, ein Drücken dort, und schon lief der Beton. Wie grauer Milchreis, mit großen
werde ihre Frau und die Polizei informieren.“ hatte so völlig geschlechtsneutral geklungen,
Klumpen, floss er über die Kanten hinweg und tröpfelte auf den bewusstlosen Architekten
als hätte es kein Mensch gesagt.
herunter. Auf dem Oberkörper bildete sich ein kleiner Berg, wie Lava einen Vulkanhang
Hochmeister setzte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen, bei der Dunkelheit konnte er
hinunter, floss der Beton über den Kopf des Architekten, bis dieser ganz verschwunden war.
kaum die Hand vor Augen sehen. Die Nacht war wolkenverhangen und die nächste
Als der Beton alle war schauten nur noch Hochmeisters Füße und einer seiner Arme hervor.
menschliche Lichtquelle war nicht mehr als ein leichtes Flimmern irgendwo da unten in der
„Der Zweite.“, konnte man ein leises Flüstern hörte, dann herrschte wieder Stille.
Ferne. Plötzlich blieb er stehen und lauschte in die Nacht hinein, er glaubte etwas gehört zu
haben, doch jetzt herrschte wieder Stille. Aus welcher Richtung war das Geräusch gekommen,
Marie schwankte ein wenig als sie an den Wohnungstüren vorbeiging. Es kam ihr fast so vor
rechts? Er wich einem Bretterstapel aus und marschierte in die Richtung des Geräusches.
als würde sie plö tzlich keinen Alkohol mehr vertragen, ein paar Gläschen Wein und schon
„Hallo? Ist da jemand? Ich bin hier, hallo?“ Doch keine Antwort. „Verdammte Scheiße!“,
war sie betrunken. Vielleicht hätte sie sich aber auch den Wodkaorange sparen sollen oder die
fluchte er auf, als er mit seinen Schuhen in eine Pfütze getreten war und sich seine Socken in
beiden Runden Ramazotti nicht mitmachen sollen, die ihnen der Inhaber spendierte, damit sie
ein Feuchtbiotop verwandelten. Er schüttelte den Fuß aus, schüttelte den Kopf und ging
noch pünktlich vor Sperrstunde gingen. Wie spät war es eigentlich? Erst kurz nach eins, ein
weiter. Die Baustelle war in einem dieser halbfertigen Zustände in denen man außen noch
paar der anderen waren noch in das Pub unter dem Cafe gegangen, Marie hatte sich dann aber
kräftig werkelte, aber innen schon zu arbeiten begann. Er war nie einer dieser Architekten
doch den Heimgehern angeschlossen. Da war es ihr noch wie eine gute Idee vorgekommen
gewesen die alles kontrollieren mussten, angefangen welche Sorte von Steinen man
den Abend zu beenden, aber jetzt, wo sie ihre Wohnungstür schon fast erreicht hatte, spielte
verwenden sollte und soweiter. Ginge es nach ihm dann würde er die Pläne abliefern, sein
sie mit dem Gedanken sich wieder auf den Rückweg zu machen. Sie fischte ihren Schlüssel
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heraus, schob ihn ins Schloss und schüttelte dann den Kopf. Nein, für heute hatte sie genug.
04.
Sie ging in ihre Wohnung und knallte hinter sich die Tür zu. Das Lämpchen des
Anrufbeantworters strahlte hell wie die Sonne, bis sie das Licht anknipste und das rote
Leuchten plötzlich kaum noch zu sehen war. Im Vorbeigehen schaltete sie den Fernseher an,
auf TV 5 liefen gerade noch einmal Spätnachrichten, irgendwo in Israel hatte ein heroischer
Freiheitskämpfer sich und 17 Schulkinder in die Luft gejagt, während die israelische Armee
Selbstverteidigung betrieb und ein paar Häuser in einem Flüchtlingslager niederwalzte. Marie
schalte den Fernseher wieder aus und den Anrufbeantworter dafür ein. Wiederum im
Vorbeigehen, erst als sie Falkensteins Stimme hörte wurde sie plötzlich wieder aufmerksam.
Er sagte nicht viel, sondern schien eine ganze Weile nach den richtigen Worten zu suchen.
Dann meinte er wie sehr ihm der Abend im Theater gefallen hätte, und ob man so was nicht
öfter mal machen sollte. Schließlich kam das unweigerliche Piepen und die Aufnahme war
beendet.
Auch das dritte Aspirin an diesem Tag zeigte keine Wirkung, nachdem Krüger es mit Kaffee
heruntergespült hatte. Er murmelte ständige irgendwelche Sätze vor sich hin, die er nicht
einmal selbst verstehen konnte, aber es kam ziemlich oft „verdammte Scheiße“ drin vor. Als
ob es nicht reichen würde eine aufgeknüpfte Studentin als Fall zu haben, jetzt gab es auch
noch einen sprichwörtlich Einbetonierten. Er würgte das in der Magenröhre hängen geblieben
Aspirin mit einem weiteren Schluck Kaffee runter und sah auf den Betonhaufen zu seinen
Füßen. Gleich neben ihm stand der ratlose Gerichtsmediziner und schüttelte den Kopf. Was
gab es da für den Mediziner schon zu tun, der Hauptteil des Opfers war für ihn unerreichbar,
mehr als Teile der Füße und des Arm s konnte er nicht untersuchen. Und eines war ganz
sicher, das Opfer war an keiner Verletzung an eben diesen Gliedmassen gestorben.
„Sorry, was soll ich machen.“, zuckte er in Krügers Richtung, „Die schicken gerade einen
Experten aus Nürnberg rüber.“ Das es dafür Experten gab überraschte ihn selbst. Wer konnte
dafür ein Experte sein, ein Maurer mit abgeschlossenem Medizinstudium?
Krüger achtete nicht auf den Arzt sondern murmelte lieber weiter „verdammte Scheiße“ vor
sich hin, trank den Rest des Kaffees und schüttete die verbliebenen Tropfen weg. Tot dürfte er
ja sein, grinste Krüger und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich blies er eine dicke
Rauchwolke in die Luft und konnte es wahrscheinlich immer noch nicht fassen. Einbetonierte
Leichen, hier mitten im neu entstehenden Viertel von Ansbach, wo man hoffte nette kleine
und wohlhabende Familien anzusiedeln, ein Musterbauprojekt der Stadt. Tja, die Zeitungen
würden mit den morgigen Ausgaben schon ein bisschen Negativwerbung für das Projekt
machen. Betonleiche von Ansbach – Mafia-Mord mit Beton – bla bla bla Er sah die Reporter
schon, der grauhaarige alte Knacker von der Fränkischen Landeszeitung und die vollbusige
Tussi von der Abendzeitung aus Nürnberg. Beide notierten sich eifrig irgendetwas in ihre
Blöcke, während der Fotograf der Abendzeitung versuchte näher an den Tatort zu kommen.
Mafiamord? In schlechten Krimis betonierte man doch immer die Füße ein und warf den
armen Kerl dann in den Fluss, gut, einen solchen gab es in Ansbach zugegebenermaßen gar
nicht. Dann könnte man die Leiche doch ganz einbetonieren und damit verschwinden lassen,
wenn man das Haus dann in ein paar Jahrzehnten wieder abreisen würde, hätte man sicher
nicht mehr als ein Skelett. Was blieb eigentlich von einem Menschen übrig der einbetoniert
worden war, Krüger musste sich mal informieren. Aber auf beides traf eines zu, man tat es um
die Leiche verschwinden zu lassen. Doch hier war nichts verschwunden, man konnte sogar
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noch die Glieder unter dem Beton hervorragen sehen. Selbst wenn nicht, anhand des Betons
Blick an sich herunter zu wagen, ob man das Essen für ein oder zwei Wochen einstellen
hätte man unschwer vermuten können, das sich darunter ein Mensch befand. Und selbst wenn
müsste, um die Bikinifigur wieder zubekommen. Marie sparte sich diesen Blick für heute
nicht einmal das zutreffen würde, hätten sich die Bauarbeiter am nächsten Morgen doch
Abend auf und trank stattdessen lieber entspannt den Rest Café Creme aus. Das Klischee
gefragt was hier passiert war. Sie hätten den Beton dann zwecks Abtransport zerlegt und
mochte den deutschen Studenten zu einem Langschläfer degradieren, Marie fand aber keine
spätestens dann wäre die Leiche entdeckt worden. Krüger stöhnte laut auf und sog an seinem
Zeit angenehmer als kurz nach neun bei sommerlichem Wetter. Die Sonne schien, auf dem
Glimmstängel. Was steckte also dahinter. War es?
Campus war kaum etwas los, man konnte sich bei einer Tasse Kaffee entspannen. Diese
A. Jemand wollte die Leiche verschwinden lassen, war aber so dämlich sich vorher nicht
denken zu können, was für ein Gewicht Beton hatte.
Momente waren eine der wenigen an denen Marie Ansbach ganz in Ordnung fand. Doch
solche Momente vergingen gewöhnlich ziemlich schnell, jetzt schneller als je zuvor. Durch
B. Jemand hatte sich gar keine Gedanken darüber gemacht was mit der Leiche geschah.
die Sonnenbrille versteckt fixierten Maries Augen das rote Ungetüm der Stahlverschwendung
C. Jemand wollte sich in Szene setzen, in dem er das Opfer in Szene setzte.
an. Es war doch etwas passiert.
„Jagt endlich den Scheißfotografen weg!“, brüllt e Krüger einen Beamten in Uniform an, der
„Morgen.“ Simone tauchte wie aus dem Nichts hinter ihr auf, sie hatte einen gr oßen Bogen
den Fotografen beinahe hätte passieren lassen. Er musste plötzlich an seinen ersten Eindruck
um den Campus gemacht und war deshalb von der Seite an die Mensa herangekommen.
am Tatort auf dem Campus denken, die Tote war weit sichtbar gewesen, angestrahlt von
„Tu das nie wieder, ja?“ Marie fasste sich theatralisch an ihr pochendes Herz.
Scheinwerfern, als hätte jemand der Welt zeigen wollen Clara Bauer getötet zu haben. Diese
„Sorry.“ Simone schob sich einen Stuhl zurecht, so dass sie mit dem Rücken zum Campus
Leiche konnte man zwar nicht schon von weitem sehen, aber die Mordmethode war
sitzen konnte.
spektakulär genug um nicht nur in einem Artikel in der im Design in den frühen 50ern stehen
„Wo warst du eigentlich gestern?“ - Simone blickte sie die Unwissende spielend an. – „Ich
gebliebenen Fränkischen Landeszeitung zu erscheinen. Hatten die beiden Morde schon allein
hab Abends bei dir Sturm geklingelt, und ans Handy bist du auch nicht gegangen.“
wegen ihrer Spektakelhaftigkeit etwas miteinander zu tun? Krüger schnippte seine Kippe weg
„Sorry, ich hab ne Schlaftablette genommen, da hab ich gar nichts mehr mitbekommen.“
und schüttelte den Kopf, oder doch?
Simone in der Nähe von Schlaftabletten zu wissen war für Marie nicht gerade ein
beruhigender Gedanke. „Schade, wir waren noch drüben im Prinzen, war ganz lustig.“
War überhaupt etwas passiert? Marie saß ruhig, als wäre wirklich nie etwas geschehen, an
„Beim nächsten Mal.“
einem der Tische vor der Mensa und sah scheinbar ungerührt zu dem roten Ungetüm hinüber.
„Hmm, ja, beim nächsten Mal.“, lächelte Marie leise und fragte sich ob das noch dieses
Es stand einfach so da, so wie es vor einem Monat schon dagestanden hatte und es in einem
Semester sein könnte. „Was hältst du von einem Kaffee, ich könnte noch einen vertragen.“
Monat auch noch dastehen würde. Kein Lokalpolitiker war auf die Idee gekommen es aus
Noch einen und das Zeug würde langsam die Effekte von echtem Kaffee an ihr entwickeln.
Pietätgründen zu entfernen. Dafür war ein anderer, offensichtlich sparsamerer Politiker, auf
Aber sie wollte Simone den Anblick des Galgens ersparen, natürlich würden die Glaswände
die Idee gekommen das rote Ungetüm jetzt erst recht stehen zu lassen, sozusagen als
der Mensa den Ortswechsel nicht besonders erfolgreich werden lassen. Sie standen trotzdem
Mahnmal zum Gedenken an die arme ermordete Clara Ba uer. Als ob die ein Denkmal
auf und gingen rein.
verdient hätte. Marie nippte an ihrer Café Creme, fischte sich dann ihre Sonnebrille aus ihrem
„Und bei dir ist wirklich alles klar?“
Rucksack heraus, um sich vor der blendenden Sonne zu schützen. Scheinbar wurde doch noch
Simone drehte sich um. „Natürlich, warum? Ich pack das schon.“
Sommer, sollte heute nicht der heißeste Tag des Jahres werden? Sie versuchte sich an die
„Na ja, du machst dich ziemlich rar.“ War sie seit dem Mord schon einmal in der FH
Wettervorhersage im Frühstücksfernsehen zu erinnern, aber das einzige was ihr noch ins
gewesen, aber wer konnte ihr schon verübeln wenn es nicht so war.
Gedächtnis kam war der pupsende Mops von SAT1. Eigentlich war es ja auch egal,
„Ich pack das schon.“, wiederholte sich Simone in ihrem Keine-weiter-Diskussion-Tonfall.
Hauptsache die Sonne schien und breitete einen sonnigen Mantel über alles was geschehen
„Simone –“, Marie schreckte vor dem wütenden Blick zurück, der ihr zugeworfen wurde, „-
war. Es war nicht Denk -an-die-Toten-Wetter, sondern Freibadwetter. Zeit den kritischen
Sag einfach Bescheid wenn irgendwas ist.“
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Simone rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Ich verarbeite die Sache schon, du musst dir
„Sehen sie sich das Haus an, ist doch hübsch, oder? Warum sollte man es wegen einer
keine Sorgen machen.“
Scheidung aufgeben, so was kriegt man nicht mehr, so was muss man sich bauen.“
Marie sagte nichts mehr sondern folgte ihr schweigend in die Mensa. Simones „Ich verarbeite
„Ihr Mann hat es entworfen?“
das schon“ klang in ihren Ohren nicht gerade überzeugend, „verarbeiten“ oder „verdrängen“?
„Ja, das einzige was man bewohnen kann ohne sich vorzukommen wie in einer Raumschiff
Auf der anderen Seite warum sollten diese Psychologen mit ihrem Reden -Sie-drüber-Scheiß
Enterprise-Kulisse.“
auch Recht haben, wenn die wirklich so klug waren, warum mussten sie sich dann noch in
„Kommen wir noch mal zu den Geliebten ihres Mannes, wissen sie wen er in dieser Nacht
Talkshows was dazu verdienen?
besuchen wollte?“
„Da scheiß ich doch drauf.“
„Wo ist der Scheißkerl gestorben, im Bett von einem seiner Flittchen?“, grunzte Frau
Die Frau hätte er auch vorn und hinten betrogen, da war sich Krüger ganz sicher. „Aber er hat
Hochmeister Krüger hinter ihre Kaffeetasse hervor an.
seine Geliebten doch nie auf seinen Baustellen getroffen, oder doch?“
Nett, wenn Krüger selber mal draufgehen würde, sollte seine Frau aber schon etwas anders
„Wollen sie mich auf den Arm nehmen, der hat Baustellen gehasst. Der ganze Schmutz und
reagieren. Krüger rang sich ein Lächeln ab und lehnt noch mal die angebotene Tasse Kaffee
Dreck war ihm zuwider.“
ab. „Ihr Mann hatte eine Affäre?“
„Sie können mir also keinen Namen nennen?“
„Eine? Dutzende.“, stöhnte die Frau und zog sich den Gürtel ihres Bademantels zu. Eine
„Klar, einen, aber der nützt ihnen eh nichts mehr.“, sie prustete wieder los, diesmal Gott sei
ausgeleierter Bademantel der entweder schon einige Nummern zu klein gekauft worden war,
dank ohne vorher einen Schluck Kaffee getrunken zu haben.
oder eine Verfettung seiner Besitzerin mitgemacht hatte.
„Warum?“
Wahrscheinlich eher letzteres, Frau Hochmeister sah nicht so aus als könnte sie den Pfunden
„Na, die Studentin die sie neulich aufgeknüpft haben. Clara Bauer, oder so. Haben sie den
die sie vor sich her bewegte gut umgehen. Von der Haustür in die Küche war sie mit ihrem
Mörder schon, ich würd ihm gern Danke sagen.“
Bauch zweimal gegen den Türrahmen gelaufen, oder war sie schlicht betrunken? Krüger
„Clara Bauer, sind sie sich da absolut sicher?“
nahm eine leichte Alkoholfahne wahr, als er sich ein wenig zu ihr über den Tisch beugte.
„Absolut.“ Sie rülpste.
Auch egal, da ihr der Tod ihres Mannes offensichtlich nicht allzu viel auszumachen schien
Krüger blickte starr an der frischgebackenen Witwe vorbei, schob sich eine Zigarette in den
sparte er sich das übliche langsame Herantasten und kam gleich zur Sache. „Sie wussten also
Mund und zündete sie an.
das er eine Affäre hatte?“
„Bitte, hier wird nicht mehr geraucht.“, zischte sie ihn an.
„Habe ich das nicht gerade gesagt. Aber der Scheißer wusste es natürlich nicht, ich meine das
„Entschuldigung.“ Er nahm die Zigarette aus dem Mund, lies sie sich von der Hochmeister
ich es wusste, sie wissen schon.“ – Krüger nickte. – „Ich habe ihm den Gefallen getan, er
abnehmen und sah zu wie die die Kippe in großem Bogen in die mit Geschirr vollgestellte
hatte ja so einen Spaß dran es vor mir zu verbergen. Aber ich hab’s sofort gewusst, er kann
Spüle warf.
Häuser entwerfen, aber lügen konnte er nie. Na ja, bis auf das eine Mal mit dem ‚bis das der
„Die Putze kommt eh heute.“, grunzte sie breitgrinsend.
Tod euch scheidet’. Upps, das Versprechen hat er ja jetzt gehalten.“ Die Hochmeister prustete
los und verteilte kleine Kaffeetropfen über den ganzen Küchentisch. Sie war definitiv
Hastig drehte sie den Schlüssel im Schloss um, als Marie auf der anderen Seite der
betrunken.
Wohnungstür ihr Telefon läuten hörte. Den Schlüssel lies sie draußen stecken, bevor sie zum
Tatverdächtige Nummer 1, hakte Krüger eine Liste in seinem Kopf ab. „Warum haben sie
Telefon hechtete und den Hörer an sich riss. „Jacotet.“ Am anderen Ende schien jemand erst
ihm in den Glauben gelassen?“
Luft holen zu müssen . „Jacotet - ?“
„Warum nicht, er hatte doch solchen Spaß dran.“
„Marie, hallo, ich hoffe ich störe nicht.“ Es war Falkenstein.
„Aber warum sollten sie ihn den – den gönnen?“
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Marie klemmte sich den Hörer zwischen Schultern und Kopf, um sich in ihren Bürostuhl
– „Es würde mich auch sehr freuen, ich habe sonst keine Freundinnen von Clara finden
fallen zu lassen. „Unsinn.“
können. Ihre alten Klassenkameradinnen – na ja, eigentlich will ich darüber nicht reden.“
„Schön. Ich hatte mich gefragt ob wir heute vielleicht zusammen essen gehen könnten. Ich
Ihre alten Klassenkameradinnen? „Ich – Ich – Wann wäre es denn?“
kenne da – Mögen sie Griechisch?“
„Um 15 Uhr auf dem Stadtfriedhof.“, die Mutter zögerte scheinbar ein wenig, „Danke.“
„Sicher, warum nicht?“ Sie konnte sich zwar nicht daran erinnern je eine überschwängliche
„Bis morgen, auf Wiedersehen.“
Liebe zu Gyros und Zaziki gehabt zu haben, aber wen kümmerte das schon.
„Auf Wiedersehen.“
„Großartig, ich kenne da ein kleines griechisches Restaurant, es wird ihnen dort gefallen. Ich
Marie legte den Hörer auf. „Merde.“ Diesen Krüger sollte der Teufel holen. Sie zündete sich
habe es erst selbst vor ein paar Wochen entdeckt. Wie wäre es um acht Uhr, wieder an der
eine neue Zigarette an, im nächsten Moment läutete das Telefon ein drittesmal. Langsam ging
Haltestelle?“
ihr das auf den Keks. „Jacotet.“
„Ich freu mich drauf.“
„Krüger, störe ich?“
„Also bis dann.“
Himmelherrgott, ja! „Aber nicht doch.“, antwortete sie süß-sarkastisch, damit man es ja nicht
„Au revoir.“ Marie wartete bis Falkenstein am anderen Ende aufgelegt hatte, erst dann legte
für die Wahrheit halten konnte.
sie selbst auf und warf einen neugierigen Blick auf die Uhr. Erst kurz nach 16 Uhr, genug Zeit
„Was sagt ihnen der Name Hochmeister?“
sich über alles Mögliche Gedanken zu machen. Weltbewegende Dinge wie die Frage was man
„Nicht das geringste, muss man den kennen?“
anziehen sollte. Erst jet zt fiel ihr das blinkende Licht ihres Anrufbeantworters auf, drei neue
„Vielleicht im Zusammenhang mit Clara Bauers Affären?“
Nachrichten wurden angezeigt. Sie drückte den Knopf. Ein Klicken, keine Nachricht. Ein
„Ich hab den Namen noch nie gehört, warum?“
Klicken, keine Nachricht. Und – genau: Ein Klicken, keine Nachricht. Da konnte jemand
„Nun, nach Aussage seiner Frau hatte er eine Affäre mit Fräulein Bauer.“
Anrufbeantworter genauso wenig leiden wie sie selbst. Sie hatte das Ding nur weil es ein Art
„Und er leugnet es natürlich.“
Einzugsgeschenk ihres Vaters gewesen war. So ein Anrufbeantworter war ja auch viel
„Nicht wirklich, er ist letzte Nacht ermordet worden.“
nützlicher als eine Mikrowelle, die sie sich dann hatte selbst besorgen müssen. Marie
Marie zögerte nicht nur vor Simones Wohnungstür, sie ging regelrecht auf und ab, bevor
schüttelte den Kopf, zündete sich eine Gauloise an und öffnete gleichzeitig das Fenster. Für
sie wieder unvollendeter Dinge da stand. Sie klopfte gegen die Tür, nein, eigentlich simulierte
ein paar Augenblicke sah sie einfach auf die Straße herunter, wo der Feierabendverkehr schon
sie nur ein Klopfen. Man hatte es sicherlich auf der anderen Seite nicht hören können. Maries
langsam einzusetzen schien. Kein Wunder, es war ein strahlender Sonnentag. Der Läuten des
Finger kreisten über dem Klingelknopf, zögernd, sie legte die Fingerspitze schon darauf,
Telefons riss sie wieder zurück. „Jacotet.“
drückte aber nicht. Links von ihr öffnete sich die Glastür des Korridors, fast als wäre sie
„Bauer, sie erinnern sich, die Mutter von Clara. Ich hoffe ich störe sie nicht.“
davon erschrocken worden drückte Marie den Knopf und das laute Klingeln ging ihr durch
Warum fragten sie heute alle Leute ob sie stören würden, obwohl es ihnen sicher egal war.
Mark und Bein. Schon ein paar Augenblicke später öffnete sich die Tür und Marie kam in
„Aber nicht doch. Wie geht es ihnen?“ Marie biss sich auf die Lippen, was für eine saublöde
Simones Wohnung. „Hallo.“
Frage. Was sollte eine Mutter die gerade ihr einziges Kind verloren hatte schon antworten?
„Was gibt’s?“ Simone schloss die Tür wieder hinter ihnen. „Willst du was trinken?“
Eh, was soll’s, gar nicht so schlimm, mache ich eben ein neues???
Marie schüttelte den Kopf. „Du – Ich hab dir doch erzählt, dass ich Claras Mutter kennen
„Ich habe Hauptkommissar Krüger um ihre Nummer gebeten, das macht ihnen doch nichts?“
gelernt habe.“
„Nein.“ Sie drückte die halbaufgerauchte Zigarette im leeren Aschenbecher aus.
„Und?“
„Es ist vielleicht ziemlich kurzfristig, aber morgen ist Claras Beerdigung, und ich dachte mir,
„Sie hält mich für eine ziemlich gute Freundin von Clara, oder was weiß ich? Sie hat gerade
sie möchten vielleicht kom men.“ – Um Nichts in der Welt! Marie war froh das man ihren
angerufen, ich soll morgen auf Claras Beerdigung.“
entsetzten Gesichtsausdruck und das wilde Kopfschütteln durchs Telefon nicht sehen konnte.
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„Und?“ Simones Stimme klang völlig ausdruckslos, gleichgültig, als ginge es um irgend eine
„Darf ich?“ Falkenstein hielt die Flasche Wein schon in der Hand und deutete dezent auf
Unbekannte.
Maries leeres Glas.
„Willst du nicht mitkommen?“
„Sie wollen mich doch nicht betrunken machen Alexander?“, grinste sie.
„Wozu? Claras Mutter hält dich doch für die beste Freundin.“ Neid und Eifersucht waren
„Würde mir nie einfallen.“ Aber wenn er es wollte, wäre er wohl auf gutem Wege, dass war
nicht zu überhören.
dann schon ihr drittes Glas, obwohl das Essen noch gar nicht gekommen war. „Ich hoffe es
„Kein Grund mir Vorwürfe zu machen, merde, warum hält mich die ganze Welt für Claras
gefällt ihnen hier.“
beste Freundin?“, schrie Marie sie an, „Bis es mir der Bulle gesagt hat, war ich mir ja nicht
„Sehr sogar. Ich habe noch nie von dem Restaurant gehört, eigentlich wusste ich nicht mal
mal sicher das sie Bauer mit Nachnamen hieß. Himmel, so leid es mir tut, ich mochte sie ja
von der Stadt hier.“
nicht mal, und selbst jetzt mag ich sie nicht!“ Sie schwieg plötzlich und starrte die den Tränen
„Die Umgebung von Ansbach interessiert sie nicht besonders?“
nahe Simone an. „Pardon, es tut mir leid.“ Sie streckte ihre Hand nach Simone aus, doch die
„Nur wenn ich mit dem Zug durchfahre, ne, wirklich, von der Umgebung habe ich noch nicht
wich zurück. „Wir sagen ihr du seist eine andere Freundin. Die Frau hat keine Ahnung wer
viel gesehen. Ich kenn mich wahrscheinlich nicht mal in Ansbach richtig aus.“, sie zuckte
die Freunde ihrer Tochter waren.“ Sie versuchte Simone in die Arme zu nehmen, die wich
leicht mit den Schultern, „Aber jetzt weiß ich ja davon, wirklich, wunderschön hier.“ Sie lies
wieder zurück. Marie versuchte es noch mal, diesmal gelang es ihr für ein paar Augenblicke.
ihren Blick über die Terrasse schweifen, auf der außer ihnen nur noch ein weiterer Tisch
Nicht lange, dann löste sich Simone wieder aus der Umarmung, drehte sich weg und dann
besetzt war. Ein junges Paar unterhielt sich gerade händchenhaltend und immer wieder mal
gleich wieder versöhnlich zu Marie.
küssend miteinander. Eine gewisse romantische Stimmung konnte man ja auch nicht leugnen,
„Nein, ich kann das nicht.“
die Sonne war untergegangen, der Himmel sternenklar, aber es war noch warm genug um nur
Marie seufzte leise. „Es ist deine Entscheidung, aber vielleicht wäre das eine Möglichkeit zu
mit Hemd oder in Maries Fall kleiner Strickjacke draußen sitzen zu können. Das Restaurant
trauern. Niemand wird –“ Sie verstummte, als Simone nur noch mit dem Kopf schüttelte.
befand sich am Stadtrand, die Terrasse war von der Straße abgewandt, kein zivilisatorischer
Lärm – außer der obligatorischen griechischen Musik in Dauerschleife, die dezent aus den
Der neuentdeckte Grieche hatte eine kleine dazugehör ige Terrasse, auf der Marie und
Lautsprechern drang – störte die Szenerie.
Falkenstein einen Tisch gefunden hatten. Ohne Probleme, offensichtlich war das Restaurant
„Kann ich gut verstehen, viel hat Ansbach ja auch nicht zu bieten.“ Fast hätte er gesagt „viel
noch nicht von allzu vielen entdeckt worden. Eigentlich eine Schande, dachte sich Marie, es
hat Ansbach jungen Leuten ja auch nicht zu bieten“, verkniff es sich aber. Das hätte ihn doch
gefiel ihr hier. Da hatte sich jemand mit der Ausstattung wirklich Mühe gegeben, statt bei
sicher alt aussehen lassen. Und er wollte nicht alt aussehen, nicht in Gegenwart von Marie,
dem üblichen Plastikstatuenhersteller zu bestellen, dessen drei Hauptangebotssparten aus
auch wenn er ansonsten seine grauen Schläfen als Zeichen der Weisheit vor sich hertrug wie
griechischem, italienischem und chinesischem Kitschzeug bestand. Hier hatte man mit
die Legionen von Julius Cäsar einst ihre Standarten vor sich hergetragen hatten.
Geschmack gewaltet, fast als wäre man wirklich in Griechenland. Mit etwas Fantasie könnte
„Man gewöhnt sich irgendwie an alles. Und irgendwie hat diese Weltabgeschiedenheit auch
sie vielleicht sogar das Rauschen des Meeres hören, gut, mit einer Menge Fantasie vielleicht.
seinen Charme.“ Hoffentlich wurde sie nicht rot wie ein Feuermelder, schließlich log sie
Wenn Marie überhaupt eine typisch deutsche Eigenschaft hatte, dann die Deutschland
gerade das sich die Balken bogen. Bei dieser Lüge würden sich wahrscheinlich sogar
eigentlich ziemlich Scheiße zu finden. Dieser deutscheste aller Minderwertigkeitskomplexe,
Stahlträger biegen.
der in seiner merkwürdigsten Art in Touristenzielen wie Italien oder Spanien endete, wo dann
„Was für eine charmante Lügnerin.“, lachte Falkenstein, „Keine Sorge, bei mir kann man
wiederum alles auf Deutsch getrimmt worden war. Als ob man nur außerhalb von
keinen Lokalpatriotismus verletzen.“ Er wollte noch etwas sagen, aber im gleichen
Deutschland richtig Deutsch sein durfte. Ein Komplex mit einer Spannweite vom saufenden
Augenblick brachte der Kellner mit zwei überdimensionalen Tellern ihr Essen.
Mallorcasuffkopf bis zum intellektuellen Toskanaurlauber.
Ein paar Stunden später hielt Falkenstein seinen Wagen wieder an der Bushaltestelle und
stieg zusammen mit ihr aus. „Es war ein schöner Abend.“, meinte er um das Schweigen zu
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brechen, das danach sofort wieder einsetzte. Er sah zu Marie, sie sah zu ihm. Ein LKW
bretterte an ihnen vorbei. „Was für ein Idiot, der glaubt wohl die Straße sei nur für ihn da.“,
Hauptsache er sagte irgendetwas.
„Ja, es war ein schöner Abend.“, Marie tänzelte von einem Bein aufs andere, „Ich würde
ihnen gerne irgendwann wiederholen.“ Sie sah das breite Lächeln in Falkensteins Gesicht und
lächelte selbst. „Bald.“, schob sie hinterher. Dann beugte sie sich nach vorn, stellte sich ein
kleinwenig auf die Zehenspitzen und küsste ihn schüchtern. Schon ein paar Sekunden später
wich sie wieder zurück und lächelte ihr Lolitalächeln.
„Ja, bald.“, flüsterte Falkenstein ihr nur zu.
Mark schluckte und traute seinen Augen nicht, als er die beiden sich küssen sah. Konnte
das wirklich Marie sein, oder Professor Falkenstein? Nein, nein, nein, Schwachsinn, er musste
sich täuschen. Blödsinn, lachte er innerlich wie der Vagabund in den Operettenfilmen aus den
50ern, absoluter Blödsinn. Nein, jetzt wo das Auto davon fuhr und Marie über die Straße
ging, war er sich ganz sicher was er gesehen hatte, während er sich tiefer an den Baum
Was anziehen? Marie stand vor ihrem Kleiderschrank und fuhr ihn Fach für Fach mit den
Augen ab, allerdings ohne irgendetwas zu finden. Sie war weder für Hochzeiten, noch für
Beerdigungen ausgestattet, weder für Taufen noch für sonstige feierlichen Anlässe. Nach ein
paar Minuten intensiven Suchens holte sie einen schwarzen Rock heraus und hielt ihn prüfend
an ihre Hüften. Zu kurz? Aber immerhin schwarz, also warf sie ihn aufs Bett und suchte nach
einem passenden Oberteil. Vor ein paar Minuten war sie noch einmal bei Simone gewesen,
hatte versucht mit ihr zu reden und versucht sie zu überreden doch noch mit auf die
Beerdigung zu kommen. Doch am Ende hatte Simone etwas geschafft, was ihr schon oft
gelungen war: Marie redete zwar weiter auf sie ein, hatte es aber erstens eigentlich schon
aufgegeben und wusste zweitens auch nicht mehr warum sie sie eigentlich überzeugen wollte.
Typisch Simone eben, die schaffte das. Als Marie wieder zurück in ihre Wohnung kam, um
sich mit dem Was-zieh-ich-bloß-an-Problem zu beschäftigen, hätte sie sich wahrscheinlich
nicht einmal mehr selbst überzeugen können. Ja, die Bluse war sicher gut.
drückte, um selbst nicht gesehen zu werden.
Vor Jahren war Marie bei der Beerdigung eines belgischen Vetters gewesen, den sie vorher
noch nie gesehen, von dem sie noch nicht einmal was gehört hatte. Jean-Paul, Halb Belgien
musste doch Jean-Paul heißen. Ihr Vater hatte ihn wohl gekannt, von irgendwelchen
Familienfesten, die statt gefunden hatten als Marie noch nicht geboren war. Die Jacotets
verstreuten sich über die französischsprachige Welt von Belgien, über Frankreich nach
Französisch Guyana bis runter zu einem Großonkel der einen Supermarkt auf irgendeiner
polynesischen Insel besaß, nachdem er sich bei einem Urlaub in eine Einheimische verliebt
hatte. Wahrscheinlich war die Familie deshalb so über die Welt zerstreut, weil sie überall
potentielle Ehepartner vermuteten. Zurück zu jener Beerdigung: Man trug nicht Schwarz,
Weiß war die Farbe der Trauer. Man hielt auch Trauerreden am Grab, aber positive
Trauerreden, was für ein Mensch der Tote gewesen war, nicht wie hier, warum er die
Grausamkeit besaß seine Angehörigen alleine zurückzulassen. Was bildeten sich die Toten
eigentlich ein, einfach so zu gehen? Meist ohne ein Abschiedswort, oft sogar völlig
überraschend. Gerade noch zusammen telefoniert, im nächsten Augenblick schon tot. Als ob
die Toten etwas dafür könnten, als ob sich die Angehörigen besser fühlen würden, wenn sie
wie im alten Ägypten oder China die Sklaven, Diener oder Konkubinen mit ins Grab schicken
könnten? Oh glückliches Belgien, stöhnte Marie, während sie den unzähligen Warum’s eines
Onkels von Clara zuhörte. Als er endlich fertig war hätte Marie beinahe, wie eben in Belgien
üblich, leise geklatscht. Statt dessen verfolgte sie den zum Ende gekommenen Redner, wie er
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sich langsam wieder in die Reihe der anderen Trauernden einreihte. Es waren tatsächlich
Schulter, bevor er die Tür aufschloss und die dahinter bereitstehenden leeren Getränkekästen
keine Freunde von Clara gekommen, hier und da sah sie ein junges Gesicht, das aber
herausholte, wegen denen er den Wagen überhaupt geholt hatte. Nach vollbrachter Arbeit
offensichtlich zur Familie gehörte. Sie hatten alle den gleichen Gesichtsausdruck wie Marie
schob er den Wagen wieder vor sich her, stoppte erst wieder vor dem Aufzug und wartete bis
damals in Belgien, klar, da war jemand gestorben, aber man kannte diesen jemand doch nur
sich die Türen vor ihm öffneten.
von den Goldenen Hochzeiten, Kommunion- oder Konfirmationsfeiern.
„Morgen.“, nuschelte Mark ihm zu, nachdem sich die Türen aufgeschoben hatten und Stefan
Keine Rede mehr? Der Priester trat hervor, flankiert von zwei Ministranten. Er predigte das
gerade noch den Schwung zurückholen konnte, mit dem er den Wagen in den Aufzug hatte
übliche, „Asche zu Asche. Staub zu Staub.“, Marie verstand ihn nicht, ihr kam es fast so vor
stoßen wollen.
als würde er Latein sprechen. Dann griff der Pfarrer nach der Schaufel, rammte sie in den
„Hallo.“ Er schob den Einkaufswagen rein, quetschte sich dann noch dazu. „Hast du gestern
Sandhaufen und schleuderte etwas davon ins Grab hinunter. Es herrschte Stille, das
nicht gesagt, du gehst heute in Statistik?“
Aufklatschen des Sandes auf den Sarg lies Marie zum erstenmal wirklich bewusst werden das
„Keine Lust, hab verschlafen, was weiß ich?“, zuckte Mark mit den Schultern.
dort unten tatsächlich eine Tote lag. Es kam ihr fast so vor als würde sie wirklich erst jetzt
„Wahrscheinlich häng ich aber a uch zu oft mit dir rum.“
realisieren das Clara Bauer tot war. Vielleicht hatte sie genau wegen diesem Gefühl Simone
„Von mir lernen heißt siegen lernen.“ Natürlich hatte Stefan keine Ahnung welches Zitat er da
mit zur Beerdigung nehmen wollen, vielleicht auch nur um die Trauerphase zu beenden,
verhunzte, aber es klang gut. Er war auch der Typ, der sich vier Tage vor einer Prüfung
damit sie ihre Ruhe hatte.
hinsetzte, lernte – ohne es zu verstehen – und dann Vier gewinnt spielte. Auf diese Weise flog
Langsam setzten sich die Trauernden in Bewegung, Schritt für Schritt trippelte Marie mit der
er nicht durch Prüfungen, bekam aber auch nichts über eine 4 als Note hinaus. Solche Typen
Masse mit, bis sie schließlich vor der Schaufel stand, sie ergriff und ein wenig Sand
die immer auf die Beine fielen, oder denen man Stunden lang in die Fresse schlagen konnte,
hinunterschleuderte. Wie ein ängstliches Kind warf sie einen vorsichtigen Blick über den
ohne das sie auch nur einen Tropfen Blut verloren. Auf der anderen Seite hatte Mark schon
Grabrand. Tot, dachte sie, tot. Dann fand sie sich plötzlich vor Claras Mutter wieder. „Mein
seit langem eine andere Theorie entwickelt, mit der er der Wahrheit wohl ein bisschen näher
Beileid.“, griff sie nach ihrer Hand.
kam. In Wahrheit war Stefan ein kluges Kerlchen, das irgendwo im bayrischen Urwald, wo
„Danke das sie gekommen sind, wir sehen uns doch sicher noch beim Leichenschmaus.“
man es schon für zu progressiv hielt mit Messer und Gabel zu essen, auf eine Schule
Marie erwiderte nichts, sondern nickte nur, bevor sie sich auf dem Trauerfließband
gekommen war, auf der man kluge Kerlchen als Leistungssport verprügelte. Damals hatte er
weiterbewegte. Als sie aus der Schlange ausbrach und ein paar Meter Abstand hinter einem
den Stefan kreiert, der heute durch Ansbach lief.
fremden Grabstein stand, konnte sie gerade sehen wie Krüger der Mutter die Hand schüttelte.
„Klar, noch ein Semester und ich lass mich zu deinen Rollenspielen breitschlagen.“
In seinem dunklen Anzug schien er Marie fast wie ein Angehöriger der Zivilisation. Für ein
„Du würdest wirklich dazu passen, echt.“
paar Augenblicke trafen sich dann ihre Blicke, so das Marie schon fast fürchtete er würde auf
„Schwachfug, Gerd hat schon recht, zu so was kriegst du einen vernünftigen Menschen nie.“
sie zukommen. Doch dann machte Krüger kehrt und hielt auf einen Ne benausgang des
„Schade.“
Friedhofes zu. Marie sah ihm nur kurz nach, dann blendete sie die Sonne. Es herrschte
Die Aufzugstüren öffneten sich wieder und die beiden verließen das Wohnheim und
strahlender Sonnenschein, wie unpassend, sollte es auf Beerdigungen in Deutschland nicht
überquerten die Straße Richtung Parkplatz des benachbarten Einkaufcenters.
besser regnen?
„Sag mal, hast du je was gesehen, was du eigentlich nicht sehen wolltest?“
„Im Kino?“
Stefan schob den Einkaufswagen aus dem Real um die Ecke durch den 4. Stock des
„Quatsch, im richtigen Leben.“
Studentenwohnheims, gab ihm noch einen kleinen Stoß und vollführte einen Siegestanz wie
„Klar. Warum?“
Al Bundy wenn er beim Bowlen alle Kegel abräumte, als der Wagen exakt vor seiner
Vor Marks geistigem Auge tauchte wieder die Szene von letzter Nacht auf, als sich Marie und
Wohnungstür stehen blieb. Gekonnt ist gekonnt, schlug er sich selbst ein paar mal auf die
Falkenstein geküsst hatten. „Ach, nichts, vergiss es.“
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„Eh, wenn du –“
Jetzt fiel es Marie wieder ein, Claras Mutter hatte ihr irgendetwas von ihrer Tochter geben
„Ist schon gut, schon gut.“ Mark wollte keinen Zweifel daran lassen, dass er die Diskussion
wollen. Sie hatte der Frau nicht wirklich zugehört, oder sie hatte schon wieder vergessen um
für beendet hielt.
was es ging. Auf jeden Fall war sie dann hier gelandet.
„Wissen sie, Clara hat ja alles mitgenommen als sie ausgezogen ist. Sie hat nur kurz noch mal
Unsicher und nervös blickte sich Marie in dem Wohnzimmer von Claras Mutter um, und
hier gewohnt, als sie umgezogen ist. Ich glaube das hat sie damals hier vergessen. Ist eine
fragte sich wie um Himmels Willen sie bloß hier gelandet war. Sie war nach der Beerdigung
Diskette, oder? Ich verstehe nichts von Computern.“ Sie zuckte mit den Schultern und hielt
mit zum Leichenschmaus gegangen, wo sie nur rumgesessen und kaum ein Wort gesprochen
Marie eine Diskette entgegen. „Die habe ich unter ihrem Schreibtisch gefunden. Bei ihren
hatte. Nur eine Tante von Clara hatte sie kurz angesprochen, eine Tante die offensichtlich
Sachen war so was nicht mehr. Vielleicht ist es ja wichtig, oder nicht? Ich weiß es nicht, aber
besser über die wahre Clara Bescheid wusste als deren eigene Mutter. Aber das war ja oft so.
ich kann damit ja nichts anfangen. Können sie noch lesen was da steht?“
Marie hatte sich zu fragen begonnen warum eigentlich niemand von Claras wirklichen
Marie nahm zögernd die Diskette und versuchte die Aufschrift darauf zu entziffern.
Freundinnen hier war. Die ganzen kleinen Schlampen in Ausbildung, die ständig mit ihr
Irgendeine Flüssigkeit hatte die Schrift darauf völlig verwischt. „Nein, tut mir leid.“
herumgehangen hatten, ihr Gefolge bei ihren Aufmärschen über den Campus. Vielleicht
„Vielleicht können sie ja was damit anfangen.“
kannte keine von denen Claras Mutter, aber von der Beerdigung hätten sie doch wissen
Sie war also wegen einer Diskette hier? Ob Claras Computer auch hier war? Marie war nahe
können. Aber gekommen war keine einzige, statt dessen saß sie jetzt hier, zuhause bei Claras
dran das Ding schnell anzuschließen, um sich den Inhalt der Diskette anzusehen. Dann wäre
Mutter.
sie die Diskette wieder los, statt sie jetzt einzustecken. „Ich sehe sie mir an.“
„Danke.“ Marie nahm die Kaffeetasse und begann Milch und Zucker darin zu verrühren,
leidenschaftlich, nur um irgendetwas zu tun zu haben. Zwischen den beiden entstand eine
Mark balancierte das Tablett durch die Mensa und stellte es vor Heiko auf dem Tisch ab. „Du
dieser unangenehmen Schweigephasen, die Marie schließlich mit einer fast noch
schuldest mir 2 Euro, auf deiner Mensakarte war nichts mehr drauf.“ Er hatte keine Ahnung
unangenehmeren Floskel beendete. „Sie haben ein schönes Haus.“
mehr wie oft das schon passiert war, wenn er für den Rollstuhlfahrer das Essen geholt hatte.
„Oh, danke, wir haben es gekauft, kurz bevor mein Mann gestorben ist.“
Er hatte auch keine Ahnung warum er die Karte nicht vorher überprüfte. „Gern geschehen.“,
Gut gemacht, das erste was du sagst bringt sie dazu über ihren verstorbenen Mann zu reden.
teilte er dann sarkastisch mit, weil Heiko keinerlei Reaktion zeigte, sondern nur gelangweilt in
Als nächstes machte Marie ihr ein Kompliment über den Kaffee, in der Hoffnung das sie das
dem mexikanischen Nudelauflauf herumstocherte.
nicht auch an einen verstorbenen Familienangehörigen erinnern würde. Sie sah sich im
„Was?“
Wohnzimmer um, merkwürdig sie konnte sich nicht vorstellen das Clara tatsächlich die
„Vergiss es.“, schüttelte Mark nur den Kopf, „Ich geh mir schnell selbst was holen.“ Noch
Tochter dieser Frau gewesen war. Alles hier wirkte so gediegen-bürgerlich, so langweilig wie
immer kopfschüttelnd setzte er sich wieder in Bewegung. Er wusste sehr gut warum Heiko so
aus einem Neckermann-Katalog der späten 50er zusammenbestellt. Auf der anderen Seite
schweigsam und vor allem so mitleideregend aus der Wäsche schaute. Amors gnadenloser
hatte sie sich ja auch nie vorstellen können, dass Clara einen Bärchen-Fetish bei ihrer
Pfeil hatte ihn getroffen, abgeschossen mit einer Armbrust, statt einem Bogen.
Wohnung ausgelebt hatte.
Klatschgeschichten machten an der FH schnell die Runde, Mark würde es auch schon wissen,
„Wollen sie noch eine Tasse?“
wenn er nicht direkt an der Quelle sitzen würde. Amors Pfeile waren meist sehr schmerzhaft,
„Für mich nicht, danke.“
besonders wohl für Heiko, dessen Selbstbewusstsein durch seine Behinderung gegen Null
„Ich wollte ihnen ja noch etwas geben. Warten sie einen Augenblick.“ Frau Bauer stand auf
tendierte. Immerhin hatte es genügt seiner Angehimmelten ein Geschenk zu machen. Das
und verließ kurz das Wohnzimmer.
hatte nur ein paar Schönheitsfehler, zum einen wusste die Angehimmelte noch nichts davon
angehimmelt zu werden, zum anderen hatte sie schon einen Freund. Und zu einem nicht
unwichtigen Teil, hatte sie eigentlich gar nichts für Heiko übrig außer auf ungnädigem
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Mitleid aufbauender Sympathie. Das war Heiko wohl durch dieses Geschenk klar geworden,
„Ich weiß es nicht, ehrlich.“ Erst jetzt fiel ihr Marks neugieriger Blick auf. „Wahrscheinlich
oder viel mehr weil sie ihm seit dem aus dem Weg ging.
wollen wir beides, und bilden uns ein das es irgendeinen Mann gibt der diese Bedingung
„Was ist mit Heiko schon wieder los?“
erfüllen kann. Aber da es denn nicht gibt –“ Conny zuckte mit den Schultern und nippte noch
„Erschreck mich noch mal so, ja.“ Mark hätte beinahe die Mensakarte weit über die Kasse
mal an ihrem Tee. „- entscheide n wir uns irgendwann für den einen oder anderen. Hängt
geworfen, als ihn Conny von hinten ansprach. „Du weißt doch, er ist unglücklich verliebt.“
wahrscheinlich auch von unserem eigenen Typ ab. Ob man sich unterordnen kann, oder lieber
„Die kleine Polin?“ Conny legte nach Mark ihre Karte auf das Lesegerät der Kasse, um ihre
selber die Hosen anhat.“
Tasse Tee zu bezahlen. Hunger hatte sie keinen, oder sie traute dem Essen einfach nicht. Sie
„Auf Deutsch, Männer und Frauen passen nicht zusammen.“, stöhnte Mark und versuchte
warf einen weiteren abschätzenden Blick hinüber zu Heiko, der angestrengt ins Leere starrte
seine eigene Appetitlosigkeit zu bekämpfen.
und kam als Wiflerin zu dem allumfassenden Urteil das BWLer alle irgendwie nett, aber auch
„Könnte man so sagen, ja.“
irgendwie merkwürdig waren. Und unter allen war Heiko noch am normalsten, was irgendwie
wirklich merkwürdig war.
Das Leben war einfach nicht fair. Michael Mitten schlug die Tür zur Mensaküche hinter sich
„Er hat ihr doch ein Geschenk gegeben.“, begann Mark zu erklären
zu und legte den Lichtschalter um. Freitag Abend und er war hier in der Küche, Scheiß
„Was denn?“
Gesundheitsamtsvorschriften, als ob Studenten wirklich auf so etwas wie Hygiene Wert legen
„So ne teurer Schokolade mit ner Figur drauf, ich hab’s nicht gesehen. Auf jeden Fall geht sie
würden. Die würde es schon nicht kümmern, ob er den Dampfkessel jetzt noch von den
ihm jetzt aus dem Weg.“ Er wurde immer leiser, je näher sie zum Tisch kamen.
Gulaschresten reinigen würde, oder erst Montag Morgen. So schnell schimmelte das Zeug
„Hallo.“ Conny setzte sich neben Mark und Heiko gegenüber.
auch wieder nicht. Er bahnte sich seinen Weg durch die Kantinenküche, bis er den
Heiko erwiderte zuerst nichts, sondern aß mit dem trotzigen Gesichtsausdruck eines Kindes
geschlossenen Dampfkessel erreichte und die Verschlüsse löste. Der Deckel schlug ruckartig
weiter seinen Nudelauflauf. Ein paar der Nudel fielen ihm von der Gabel, die er daraufhin auf
nach oben, Mitten warf einen Blick hinein und fragte sich zum x -tenmal wie man das Zeug
den Teller fallen lies. „Ich hab gar keinen Hunger.“
bloß essen konnte. Besonders viele hatten es am Mittag auch nicht getan, der wie eine
„Würde ich bei dem Zeug auch nicht haben.“ Conny nippte an ihrem Tee und schüttelte
Badewanne aussehende Kessel war noch gut zu einem Drittel gefüllt. Mitten stöhnte laut auf
innerlich den Kopf. Sie überlegte hin und her ob sie die Sache vielleicht ansprechen sollte, um
und wollte sich erst mal das nötige Gerät holen. Eigentlich sollte er jetzt schon in der Disko
Heiko irgendwie wieder aufzubauen. Ein paar Augenblicke später nahm Heiko ihr die
sein und sich die Seele aus dem Leib tanzen. Er war schon ausgehfein angezogen, und hatte
Entscheidung schon ab.
sich fest vorgenommen das Outfit auch wieder auszuziehen. Natürlich nicht allein, irgendeine
„Was für Männer mögen Frauen eigentlich?“
würde er heute schon abschleppen. Aber erst mal müsste er sich um den Scheißdampfkessel
„Inwiefern? Du meinst Machos oder Softies?“
kümmern, warum hatte er auch nicht auf seine Mutter hören können und die Mittlere Reife
Mark drehte seinen Kopf leicht zur Seite, um neugierig zu Conny zu blicken. Ja, was für
gemacht. Auf der anderen Seite gefiel ihm der Job, man hatte genügend Zeit das Leben zu
Männer wollten Frauen eigentlich? Die Frage aller Fragen.
genießen. Die ganzen Studenten hier würden irgendwann in ihren Büros vergammeln, er aber
„Ich weiß es selber nicht, wahrscheinlich wollen wir beides. Mal den Macho, der zeigt was er
konnte leben – und nebenbei den Studentinnen hinterher jagen. Eh, immerhin sah er doch
ist, mal den Softie mit dem man reden kann.“ Ihre Antwort schien Heiko nicht sonderlich
nicht übel aus, und so manche Studentin hatte er auch schon gehabt. Gut zu wissen das auch
zufrieden zu stellen. „Was wir aber auf keinen Fall mögen sind Männer die nicht sie selbst
diese intellektuelle Variante der Frau auf knackige Hintern ansprang. Mitten zündete sich eine
sind. Wer einer Frau nur was vorspielt, der hat schon verloren.“
Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und bekam eines übergezogen. Wie ein nasser Sack
„Und du?“ Heiko hatte seinen Kompass in Sachen Feingefühl wieder mal zu Hause
knallte er nach vorn und streckte bewusstlos die Glieder von sich.
vergessen.
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Plötzlich fühlte sich Marie nicht mehr ganz so sicher, nicht mehr ganz so selbstbewusst, nicht
atmen. Mitten schlug noch immer um sich, doch die heißen Wände verbrannten nur seine
mehr ganz so ... Ihr Herz schlug schneller, während sie sich im Spiegel des Hotels betrachtete.
Hände und Füße. Niemand wollte ihn hören. Die Hitze steigerte sich, steigerte sich und
Draußen im Zimmer wartete Falkenstein auf sie, wie lange eigentlich schon? Tief
steigerte sich. Keine Luft mehr, zwischen seinen Gliedern das Gulasch. Er versuchte zu
durchatmen, ruhig bleiben und lächeln. Marie drückte vorsichtig den Türknauf nach unten,
atmen, doch er konnte nicht mehr. Seine Augen quollen hervor, wie Golfbälle traten sie
öffnete die Tür und ging zurück in das Hotelzimmer. Falkenstein drehte seinen Kopf zu ihr
heraus, immer größer werdend, als würden sie gleich platzen. Keine Luft mehr! Hitze, diese
herüber, als sie aus dem Bad herauskam. Es beruhigte Marie ein wenig, dass er auch nicht
Hitze! Er hämmerte gegen die Metallwand, noch einmal, dann nicht mehr.
gerade der Ruhigste zu sein schien. Sie ging auf ihn zu, ignorierte ihre Nervosität und das bis
Auf dem Dampfkochkessel saß jemand mit übereinander geschlagenen Beinen und lächelte:
zum Hals pochende Herz. „Es hat doch nicht zu lange gedauert, oder?“
„Der Dritte.“
Falkenstein schüttelte nur schweigend den Kopf. Er lächelte ein wenig und sah sie für eine
ewige Sekunde einfach nur an. Sie war so wunderschön, so bezaubernd unschuldig wie sie
vor ihm stand. Ihre Unsicherheit war kaum zu übersehen, ihre Augen versuchten irgendeinen
Punkt zu finden, an dem sie sich festhalten konnten, ihre Hände fingerten nervös vor ihrer
Hüfte herum. Er trat ein paar Schritte auf sie zu, griff nach ihren Händen und legte sie in seine
eigenen. Dann lies er sie wieder los, beugte sich nach unten und küsste sie. Und dann ging
alles ganz schnell. Marie spürte wie er ihre Bluse aufknöpfte und von ihre m Körper streifte.
Sie spürte wie seine Hände langsam ihren Körper entlang streichelten, wie seine Küsse ihre
nackte Haut benetzten. Er lenkte sie sanft Richtung Bett, legte sie in die warmen Laken und
beugte sich über sie. Noch nie hatte er etwas derart schönes gesehen, wie ein Engel lag sie da
und wartete nur auf ihn. Gierig und zärtlich zugleich begann er sich in ihrem jungen Fleisch
zu verlieren.
Mitten fühlte die Hitze um sich herum und sah nur die Dunkelheit. Was war passiert? Er
wollte sich aufrichten, doch sein Kopf schlug gegen eine Decke. Er stützte sich mit den
Händen in etwas matschigem ab, rutschte aus und knallte auf den Boden. Ein würziger
Geruch stieg in seine Nase, wo um alles in der Welt konnte er bloß sein? Oh, verdammte
Scheiße! Es wurde ihm schlagartig klar, der Matsch zwischen seinen Fingern war das Gulasch
von heute Mittag, die Hitze war der eingeschaltete Temperaturregler, und die Decke war der
Deckel des Dampfkochkessels. Er hämmerte gegen die metallenen Wände, doch nichts kam
als Reaktion. Er brüllte um Hilfe, doch nichts kam als Reaktion. Panik überkam ihn, er schlug
um sich, trat gegen die Wände. Das Gulasch spritzte herum, die Hitze wurde immer
unerträglicher. Mitten rang nach Atem. Sein nachgemachtes Armani-Hemd klebte an seinem
Körper. Er schrie auf, seine Haut begann zu verbrennen. Nichts anfassen! Bloß nichts
anfassen! Alles heiß!!! Doch wie sollte er das machen? Das Gulasch in dem er saß begann zu
köcheln, seine Haut verbrannte, kleine Blässchen blubberten. Die Luft war kaum noch zu
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05.
Claudia schüttelte mit dem Kopf. „Woher soll ich das wissen?“
„Oder er versteckt sich hier irgendwo?“, grinste Tim breit, „Vielleicht hinterm Herd?“ Er
beugte sich demonstrativ darüber. „Nein, nicht. Vielleicht aber hinter der Theke?“ Er machte
„Sein Auto steht wenigsten noch da.“, kratzte sich Tim am Kopf, während er Claudia
hinterher trottete.
Claudia hatte das Auto längst erreichte und warf einen Blick hinein, es war kurz vor
Mitternacht, aber die benachbarte Straßenlaterne schenkte genug Licht um ins Innere zu
sehen. Wenn da etwas wäre was man hätte sehen können. „Drin sitzt er jedenfalls nicht.“,
verkündete sie und sah zum Tor der FH hinüber. „Ist das offen?“
„Hmm, komm schon, sehen wir nach wo Studenten so leben.“
„Die leben da nicht, die –“ Claudia prustete los. „- arbeiten da.“
„Ja, klar, faules Pack. Wie Michael es mit so was aushält hab ich nie verstanden.
Meinetwegen hätten sie sich die ganze FH ruhig sparen können.“ Er schlängelte seinen
Bierbauch durch das einen Spalt weit offenstehende Tor, und hätte beinahe nicht
einen Satz darüber. „Nein, hier is’er auch nicht.“
„Komm, lass den Scheiß, wir warten einfach ein paar Minuten.“
„Schon gut, schon gut.“ Tim machte wieder einen Satz über die Theke und schlenderte
zwischen den Geräten der Küche umher. Vor dem Dampfkochke ssel blieb er stehen und löste
die Verschlüsse.
„Halt, warte mal, das Ding ist an.“, meinte Claudia, „Ich hab doch mal in der Kantine bei Bifi
gejobt.“ Sie deutete auf den Regler. „Hier, der hat sich nur automatisch ausgeschaltet. Aber
warum ist das Teil noch an? Übers Wochenende, meine ich.“
„Weil jemand was kocht. Blöde Frage, schauen wir mal rein was es leckeres gibt.“ Tim
öffnete den Deckel des Dampfkochkessels und kotzte erst mal rein, während Claudia hinter
ihm hysterisch zu brüllen begann und davon lief.
durchgepasst.
„Scheiße, das man nur den Quali hat, oder?“ Hatte Tim den überhaupt geschafft? Claudia
schlänge lte sich ihm hinterher und holte auf, bis sie die Mensa gleichzeitig erreichten. Die Tür
war verschlossen und es brannte kein Licht.
„Vielleicht gibt’s für die Küche einen eigenen Eingang?“
Claudia warf einen Blick auf das rote Ungetüm aus Stahl. „Schon gespenstisch, da soll sie ja
gehangen haben.“
„Um eine Studentin mehr oder weniger die sich auf meine Kosten einen schönen Lenz macht
kommt es auch nicht an.“
„Du bist wirklich geschmacklos, weißt du das?!“, empörte sich Claudia und ging ihm nach,
bis sie den Kücheneingang zur Mensa fanden. Die Tür stand einen Spalt weit offen, sie
durchquerten den kleinen Raum dahinter und kamen schließlich in die eigentliche Küche. Die
Lichter brannten.
„Michael?“, rief Tim, „Scheint nicht hier zu sein.“
„Aber dann würde das Licht doch nicht mehr brennen und die Tür war auch verschlossen.
Und Michael ist da viel zu ordentlich.“
„Findest du? Na ja, stimmt eigentlich.“, nickte ihr Tim zu, deshalb waren sie ja schließlich
auch hier. Als Michael zur verabredeten Zeit nicht aufgetaucht war hatten sie beschlossen mal
nach ihm zu sehen. Er hatte gesagt noch irgendwas in der Mensa erledigen zu müssen, also
waren sie Richtung FH aufgebrochen. Doch jetzt schien es von ihm keine Spur zu geben.
Das war’s, er würde kündigen, ganz bestimmt würde er kündigen. Eine aufgeknüpfte
Studentin lies er sich ja noch eingehen, selbst mit einem einbetonierten Architekten konnte
Krüger leben, aber einen zu Tode gegarten Koch – das war einfach zu viel. So was passierte
doch nicht einmal in einer Großstadt, so was konnten sich doch nicht einmal die
Drehbuchschreiber für den nächsten Film -Film auf SAT 1 oder die Weltpremiere auf RTL
ausdenken. Einen Menschen in einen Dampfkochkessel zu stecken, Scheiße, wer machte so
was?! Kannibalen in Ansbach? „Ich hoffe man hat wenigstens nichts von ihm gegessen?“
Der Gerichtsmediziner schüttelte den Kopf. „Nichts, Kannibalen sind es jedenfalls nicht.“ Er
versuchte den würzigen Geruch des Gulasches zu ignorieren und kämpft zum erstenmal in
seiner Karriere mit einem Brechreiz, so etwas hat er auch noch nie gesehen oder sich
überhaupt nur vorstellen können.
„Wann trat der Tod ein?“
Als ob er ein Koch wäre und feststellen könnte wann das arme Schwein durch war. „Bei den
Temperaturen die da drin herrschen kann ich das beim besten Willen nicht mehr feststellen.
Auf medizinische Hinweise müssen sie da wohl erst mal verzichten. Kann ich dich Leiche
wegbringen lassen?“
„Natürlich.“, nickte Krüger nur. Jetzt hatte er also schon seinen dritten Mord der nicht gerade
als Paradebeispiel für ein Lehrbuch an der Polizeischule taugte. Jemand hatte zum drittenmal
auf eine derart Aufmerksamkeit erregende Art und Weise gemordet, das er sich ganz
„Wahrscheinlich ist er auf’m Klo. Weißt du wo das ist?“
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bestimmt bald wieder in den Medien wiederfinden würde. Aber noch konnte er keinen
Der Geruch von Kaffee erfüllte schnell ihre kleine Wohnung, während sie ziellos die paar
Zusammenhang mit Clara Bauer oder dem ermordeten Architekten herstellen, es sei denn –
Schritte auf und ab ging, die sich machen konnte. Warum hatte Krüger sie gefragt ob sich
Krüger warf einen Blick auf seine Armbanduhr, es war halb sieben. Warum sie nicht aus dem
Mitten und Clara kannten? Auf das gleiche wollte er doch schon mal heraus, mit diesem
Schlaf reißen.
Hochmeister, diesem ermordeten Architekten. Vermutete er einen Zusammenhang zwischen
diesen Morden und dem Mord an Clara? Es war viel zu früh um klar denken zu können.
Marie schreckte aus dem Schlaf, als sie ihr Handy klingeln hörte. Wer rief sie um Himmels
Maries Blicke fielen auf die Diskette, die sie von Claras Mutter bekommen hatte. Sie hatte sie
Willen so früh an? Wie viele Lebensmüde konnte es schon geben. Sie war erst gegen zwei
nicht mehr angerührt, nachdem sie von Frau Bauer gekommen war. Jetzt griff sie nach ihr,
zurück ins Wohnheim gekommen, nachdem sie Falkenstein wieder zu ihrer Bushaltestelle
hielt sie für ein paar Sekunden in der Hand und wollte schon den PC einschalten, als sie sich
gefahren hatte. Danach hatte sie aber alles tun können, nur nicht schlafen. Sie hatte sogar mit
dann doch entschied die Diskette wieder wegzulegen und den frisch aufgebrühten Kaffee zu
dem Gedanken gespielt wieder Tagebuch zu führen, nur damit sie ihren Gefühlen irgendwie
trinken.
Ausdruck verleihen konnte. Sie musste dieses Hochgefühl los werden. Ein Gefühl das sie seit
einer Ewigkeit nicht mehr gekannt hatte. Nicht etwa weil sie zum erstenmal seit einer
Als Marie ein paar Stunden später aus dem Wohnheim ging waren die Eingänge der FH noch
Ewigkeit Sex gehabt hatte, Sex war für sie nie mehr als eine Nebensache gewesen. Sex war
immer mit Polizeiautos zugeparkt. Eine Reihe Schaulustiger versuchte über den Zaun hinweg
was für Männer, sie fand Küssen viel intimer. Dabei konnte man den Partner viel intensiver
irgendetwas zu erkennen und eine Reihe von Fernsehteams hatten sich schon in Position
spüren als bei jeder noch so ausgefallenen Stellung aus dem Kamasutra. Aber es ging ihr um
gebracht. Marie beobachtete das ganze nur aus der Ferne, zur Katastrophentouristin – und
etwas ganz anderes, um dieses unbeschreibliche Gefühl das sie selbst nicht beim Namen
langsam konnte man schon von einer Katastrophe sprechen – hatte sie nie getaugt. Sie gehörte
nennen konnte, dieses Gefühl das da jemanden ist dem man sich hingibt und der gleichzeitig
zu
sich bedingungslos ausliefert. Dieses – Das Scheißhandy klingelt immer noch.
Katastrophentouristen beobachtete. Das tat sie eine ganze Weile, über die Dächer der Autos
„Jacotet.“ Der Bulle, na klar, wer sonst? „Wissen sie wie spät es ist Herr Hauptkommissar?“
des FH-Parkplatzes hinweg. Samstag Morgen in Ansbach war gewöhnlich ein Synonym für
„Tut mir leid für die frühe Störung, aber was sagt ihnen der Name Michael Mitten?“
Totenstille, die nur noch vom Sonntag übertroffen wurde. An diesem Morgen verhielt sich das
„Ich bin froh mich um diese Uhrzeit an meinen eigenen Namen erinnern zu können.“, stöhnte
natürlich ein wenig anders. Heute war was los, aber so was von. Marie schüttelte den Kopf,
sie ins Handy und rieb sich müde die Schläfen, „Mitten, Michael? Klar, der Typ in der Mensa,
seufzte leise und ging in die andere Richtung. Sie drängelte sich zwischen einem Busch und
der hält sich für eine Mischung aus Brad Pitt und Matt Damon. Was ist mit ihm?“
dem Gebäude hindurch, um nicht die Straße mit den Touristen und die sie verdammenden wie
Irgendetwas sagte ihr, dass er tot war. Das wäre zumindest ein akzeptabler Grund sie um diese
auch zu Überleben brauchenden Medien. Sie versuchte sich an Mitten zu erinnern, versuchte
Zeit aus dem Bett zu klingeln.
ein Gesicht vor ihrem geistigen Auge auftauchen zu lassen. Damit hatte sie echte Probleme,
„Er ist diese Nacht in der Mensa ermordet worden.“
sie konnte sich nicht mal an die Haarfarbe erinnern. Dunkelblond, oder doch Braun? Wie
„Wie bitte?“
konnte sie sich dann überhaupt halbwegs sicher sein ihn zusammen mit Clara gesehen zu
„Auf ziemlich bestialische Art und Weise. Wissen sie ob er Clara Bauer kannte?“
haben, wann eigentlich? Das musste wirklich schon ein oder zwei Monate her gewesen sein.
„Ich weiß nicht, ich glaube schon. Doch, ich hab die beiden mal knutschen sehen, das ist aber
Sie überquerte die Straße weit weg von dem Auflauf der FH und marschierte weiter ins
schon ein oder zwei Monate her.“
Einkaufscenter, wo sie in einer Bäckerei Brötchen und Croissants kaufte, um anschließend
„Danke, tut mir leid wenn ich sie geweckt habe.“
wieder in ihre Wohnung zu verschwinden. Die meisten Leute die sie im Wohnheim kannte
Marie betitelte ihn als Arschloch, nachde m sie das Handy in die Laken ihres Bettes geworfen
waren übers Wochenende nach Hause gefahren. Mark musste sich mal wieder mit frischer
hatte und ging in ihre kleine Küchenzelle, um sich einen Kaffee aufzusetzen. Jetzt konnte sie
Wäsche versorgen, Anna mit ihrem Freund kuscheln und Stefan hatte eine Verabredung zum
auch nicht mehr schlafen.
Rollenspiel. Simone wollte auch irgendetwas zu Hause erledigen, aber Marie hatte vergessen
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den
Katastrophentouristentouristen,
die,
wie
der
Name
schon
sagt,
die
was. Ach ja, richtig, mit Simone hatte sie die beiden rum knutschen sehen. Simone hatte sie ja
noch darauf aufmerksam gemacht. Jetzt im Nachhinein hatte Simone damals schon ziemlich
Tagebuch zu führen ist eine reine Frauensache, mal abgesehen von den großen Literaten
eifersüchtig geklungen. Ob sie damals schon eine Beziehung mit ihr gehabt hatte? Marie
dieser Welt. Objektive Selbstreflektion des vergangenen Tages ist eine Eigenschaft zu der ein
konnte es sich eigentlich nicht vorstellen. Aber sie hatte es sich eigentlich nie vorstellen
männliches Hirn in der Regel nicht in der Lage ist, und führt er trotzdem Tagebuch dann
können das die beiden überhaupt irgendetwas zusammen hatten. Während Mitten und Clara in
meist nur mit Eintragungen wen er heute alles wieder flachgelegt hat und vor allem wie gut
ihren Ohren schon wesentlich realistischer klang, da hatten sich bestimmt zwei gefunden, die
die Flachgelegte im Bett gewesen war. So eine Art erweitertes kleines „Schwarzes Büchlein“
in ihren Ansprüchen auf ziemlich niedrigem Niveau waren. Wenn die beiden so etwas wie
mit mehr als Name, Telefonnummer und unterschiedliche Anzahl von Sternchen für die
eine Beziehung hatten, dann ein Verzichten-wir-aufs-Kino-und-gehen-gleich-ficken-
Bewertung im Bett oder im Allgemeinen. Männer entwickelten da ein Bewertungssystem das
Beziehung, bei der man sich einfach traf, wenn man niemand neues aufreißen konnte. Das sie
den Kochmützen diverser Restaurantkritiker in nichts nachstand. Aber wirkliche Tagebücher
die Mutter kennen gelernt hatte, hatte ihre Meinung über Clara nicht unbedingt verbessert.
schrieben nur Frauen die begriffen hatten das die beste Freundin letztlich ein Mensch war und
Aber irgendwie hatte sie Verständnis für Clara bekommen, in gewissen Grenzen. Wer in so
deshalb nur bis zu einem gewissen Grad vertrauenswürdig. Das letzte – das ultimativ private –
einer spießbürgerlichen Umgebung aufwuchs, ohne Vater, dafür mit einer übervorsorglichen
vertraute man dem Tagebuch an, das redete nicht und man konnte es wegschließen,
Mutter, der musste doch rebellieren. Manche gingen klauen, manche zogen sich in sich selbst
gemeinsam mit den darin niedergeschriebenen Gedanken, Gefühle und Ängste. Das setzte
zurück und wiederum andere trieben es mit allem was ihnen über den Weg lief.
allerdings voraus, dass man bedingungslos ehrlich war, nichts verschwieg und vor allem nicht
Marie lies den letzten Rest Kaffee aus der Thermoskanne in ihrer Tasse hin und her
log. (Wieder so eine Voraussetzung die es Männern unmöglich machte gute Tagebuchführer
schwappen, während ihr Computer langsam hochfuhr. Das alte Ding machte wieder diese
zu werden.) So etwas wie das eherne Gesetz des Tagebuch schreiben. Nach den ersten
merkwürdigen Geräusche, wie bei einem Ventilator in den man einen Stift oder sonst was
gelesenen Einträgen war Marie sicher Clara hätte eben dieses Gesetz gebrochen, in
gesteckt hatte. Bei Gelegenheit müsste sie sich mal einen ihrer Kommilitonen aus der
schlimmster Weise. Hätte sie das ganze nicht auf Diskette vor sich, also in einer Form, in der
Wirtschaftsinformatik schnappen, der sich das Teil mal ansah. Sie trank den letzten Rest
Claras Mutter offensichtlich nichts damit anzufangen wusste, Marie hätte geschworen das
Kaffee und stellte die leere Tasse in die Spüle. Dann kehrte sie zum Schreibtisch zurück und
ganze sei ein meisterhaft geplantes Fake. So eine Art falsches Tagebuch das man offen
schob Claras Diskette in den Computer. Sie fand gut 20 Word-Dateien, alle mit einem Datum
rumliegen lies, während man das echte gut versteckte. Ein geschicktes Täuschungsmanöver,
bezeichnet. Sie klickte den Ersten an und bemerkte ein Tagebuch vor sich zu haben. Clara
mit dem man den Eltern vorspielte noch immer ihr braves kleines Mädchen zu sein, während
hatte Tagebuch geführt? Dafür war sie doch eigentlich gar nicht der Typ. Dann fiel ihr die
man im echten Tagebuch schrieb, mit wem man es alles schon getrieben hatte und mit wem
Sache mit den Bärchenfetisch wieder ein, solche Typen schrieben wahrscheinlich auch
man es noch treiben wollte.
Tagebuch. Nur schrieben sie in verkappte Poesiealben, Clara war wohl etwas moderner
Dieses Tagebuch hatte auf jeden Fall nichts mit der Clara gemein, die Marie zu kennen
gewesen. Marie zögerte ein wenig, sie hatte Skrupel in einem fremden Tagebuch zu lesen,
geglaubt hatte. Eher schon mit der Clara die sich ihre Wohnung mit Bärenpostern tapezierte
gleich wem es gehörte.
und ein Leben führte, das dem ihrer Mutter gleichkam. Schon der Stil wirkte fast noch
kindlich, dabei waren die Einträge nur knapp zwei Jahre alt. Da war nichts von dem Flittchen
zu lesen, nichts von der Männer, Frauen und was sonst noch verschlingenden Schlampe. Da
schrieb jemand, der wahrscheinlich rein geistig noch nicht einmal der Pubertät entwachsen
war, da schrieb jemand der mit 18 seine Jungfräulichkeit verloren hatte. Diesen Satz musste
Marie fast ein halbes Dutzend Mal lesen, vielleicht sogar mehr. Sie begann zu rechnen, hatte
sie Clara viel zu alt eingeschätzt? Eher würde sie Clara zu einem unerkannten Schulgenie
erklären, das einige Klassen übersprungen hatte, als zu jemanden, der erst in diesem Al ter
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zum erstenmal Sex gehabt hatte. Sie hätte Clara doch eher für den Typ frühreifes Früchtchen
Sie nahm ihre Zigaretten vom Schreibtisch, zündete sich eine Neue an und blickte von oben
gehalten, das mit 14 oder 15 den Cousin oder gar den Onkel verführte, oder zumindest
herab auf den Computermonitor. Ob sie überhaupt weiterlesen sollte, ob sie es überhaupt hätte
weichzeichnerische Erfahrungen beim Urlaub auf dem Bauernhof machte, wie in den alten
lesen sollen? Von diesem Standort konnte Marie keine der Zeilen entziffern, aber sie wusste
Hamilton-Filmen. „Zärtliche Cousinen“ oder so. Aber nichts der gleichen, da schrieb ein
ja noch was dort stand. Die Geschichte eines ersten Mals wie es Millionen von Frauen
Mädchen über ihr erstes Mal. Schon am Tag zuvor berichtete sie hier von den Vorbereitungen
durchgemacht hatten. Er bestimmt den Zeitpunkt, macht seinen Rein-Raus-Job, nur schlecht
die sie traf, beinahe rührend war zu lesen wie sie alle alten Brav os durchblätterte, die sie in
kaschiert von pseudoromantischen Bestrebungen, die Frau erst Jahre später als solche
die Finger kam. „... braune Flecken in den Laken ...“, „... es tat weh, als er sein Glied in mich
durchschaut, und tut dann so als sei er an Zärtlichkeiten danach interessiert. Schon beim
einführte ...“, „... kann man vom Oralsex schwanger werden ...“, „... will das wir uns dabei ...“
nächsten Mal würde dann ein Teil der Dekoration fehlen, schließlich die gesamte Deko und
bla. bla. bla. Sie berichtete das Heiner sie schon lange versucht hatte endlich zu überreden,
irgendwann würde nicht mal mehr Musik spielen und er die Socken anbehalten. Aber von
Heiner musste wohl ihr Freund sein, sie hatte ihn schon ein paar Tage vorher erwähnt, als er
diesem Stadium der Realität war die Clara von damals noch meilenweit entfernt. Sie schwebte
ihr einen Schokoladennikolaus zum 6. Dezember geschenkt hatte. Sie himmelte diesen Heiner
noch auf der Wolke der Glückseeligen der kleinen romantischen Mädchen die noch an das
ganz offensichtlich an, als wäre sie zum erstenmal wirklich verliebt. Dann kam der Tag des
Gute im Mann glaubten. Bei soviel Blauäugigkeit und Naivität fiel es Marie nicht mehr
ersten Mal. Der Tag selbst fehlte zwar, aber am nächsten berichtete Clara ihrem Tagebuch
schwer Clara als „Idiotin“ zu bezeichnen, ihre Zigarette zuende zurauchen und sich dann
wie aufgeregt sie gewesen war und wie schön und doch erschreckend es wurde. Heiner hatte
wieder an den PC zu setzen.
ja alles so schön vorbereitet, seine ganze Wohnung hatte er ausgestattet, da ein Herzchen, da
Was folgte war eine tagelange Nachbetrachtung des Ersten Mals, als ob sich das Leben
eine Kerze und in allen Räumen romantische Musik. Fast schon zu kitschig, schrieb Clara,
dadurch ernsthaft verändern würde. Maries Ansicht nach tat es das bestenfalls, wenn man so
und dann musste es ganz offenbar verdammt kitschig gewesen sein. Denn diese Clara dort
blöd gewesen war sich dabei schwängern zu lassen. Ansonsten war es eine – meist
musste sicherlich ungemein auf Kitsch gestanden haben, da war sich Marie sicher. Clara
schmerzliche Erfahrung – die mit etwas Glück von mal zu mal besser wurde. Aber Clara
berichtete detailliert wie ängstlich sie sich gefühlt hatte, als er sie langsam auszog und zu
breitete das ganze auf eine derartig nervige Art und Weise aus, als würde sie Drehbücher für
küssen begann. Wie ihr ganzer Körper gezittert hatte, als er seine Hände über sie streicheln
neue Folgen des „Schulmädchenreports“ schreiben. Das ganze war so nervig, dass Marie
lies. Wie sie fast davonlaufen wollte, als er sie auf das Bett gelegt hatte und sich langsam über
mehr und mehr die Sätze einfach nur überflog und so beinahe den Einstieg für die wirklich
sie beugte. Und wie erregt sie plötzlich gewesen war, und wie es dann geschmerzt hatte, als er
entscheidende Stelle verpasste.
zum erstenmal in sie eingedrungen war. Und wie merkwürdig sie sich danach fühlte, als er
„ ... Schon wieder hat Heiner mich gebeten doch mit auf eine von
einfach neben ihr lag und ihr etwas ins Ohr flüsterte.
Meinheimers Partys zu gehen. Und wieder habe ich ihm gesagt, dass
Marie sah von dem PC-Monitor auf und schluckte, fast hätten ihr Tränen in den Augen
gestanden, so rührend fand sie die ganze Schilderung. Sie konnte einfach nicht glauben das es
ich so was nicht mache. Ich habe schon viel von diesen Partys
gehört, die sind nichts für mich. Und ich wünschte Heiner würde
genauso denken. Statt dessen fragt er mich jetzt fast zweimal am
sich dabei wirklich um ein und die selbe Person handelte, nein, das dort musste eine ganz
andere Clara sein. Sie stand auf, öffnete das Fenster und sog die frische Luft in sich auf.
Vielleicht war es ja aber auch diese Clara in die sich Simone verliebt hatte, vielleicht hatte
Simone die Eigenschaft auch das Gute – oder nur das Gute – im Menschen zu entdecken. Eine
Eigenschaft die Marie nicht hatte, für sie galt nicht unschuldig bis zum Beweis des
Tag, es macht ihm auch nichts aus, dass ich jedes Mal Nein sage. Er
fragt und fragt einfach weiter. ...“
Müssen ja ziemlich versaute Partys sein, aber für die Clara von damals wäre wahrscheinlich
auch eine Kindergeburtstagsfeier bei McDonalds wild gewesen. Drei Tage später hatte Heiner
sie dann offensichtlich doch rumgekriegt, scheinbar gerade noch rechtzeitig denn ...
Gegenteils, für sie waren alle Menschen erst mal schlecht, bis sie ihr das Gegenteil bewiesen
„... Jetzt habe ich doch Ja gesagt, ich weiß auch nicht warum. Und
hatten. Überhaupt schien die Clara von damals viel mit der Simone von heute gemeinsam zu
es
haben.
Vielleicht stimmt es ja auch gar nicht was die Leute über Meinheimer
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ist
schon
morgen.
Heiner
wird
schon
auf
mich
aufpassen.
sagen.
ist.
„Giftiger Schmetterling?“, murmelte Marie, „Man, die müssen sie ganz schön abgefüllt
Vielleicht ist es einfach eine ganz normale Party, und die Nachbarn
Die
Leute
ratschen
ja
soviel
wenn
der
Tag
lang
haben.“ Es war der letzte Eintrag gewesen, Marie klickte das Programm weg und starrte auf
erfinden diese ganzen Geschichten nur, weil sie sich über die laute
den blauen Bildschirmhintergrund. Die ICQ-Anzeige meldete sich, irgendein Freund von ihr
Musik aufregen. Aber wenn nicht ??? Ich habe richtig Angst, warum
versuchte sie wohl gerade zu erreichen, aber Marie ignorierte das Piepsen. Wie ein giftiger
hab ich bloß Ja gesagt? ...“
Marie lehnte sich in ihren Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem
Kopf. Meinheimer, den Namen hatte sie noch nie gehört. Gut, aber sie kannte eigentlich
überhaupt keine Partygröße unter den Eingeborenen, ehrlich gesagt, sie glaubte nicht einmal
das es da einen gab. Meinheimer? Marie schüttelte den Kopf und klickte den nächsten Eintrag
an, der letzte auf der Diskette und fast eine ganze Woche später.
„... Endlich komme ich dazu es zu beschreiben. Das unbeschreibliche
Schmetterling, wiederholte sie innerlich Claras Worte. Was für ein dämlicher Vergleich, gab
es nicht genug andere Metaphern von Tieren oder vor allem Pflanzen, bei denen so ein Satz
wenigstens biologisch korrekt wäre. Oder war das gar nicht wichtig? Was um Himmels willen
war auf dieser Party passiert, war es tatsächlich das Schlüsselereignis im Leben der Clara
Bauer gewesen, der Tag, der ihr Leben veränderte und zu der gemacht hatte, die Marie
schließlich kennen gelernt hatte. Meinheimer, den Namen hatte sie wirklich noch nicht gehört.
zu beschreiben, ich fühle mich befreit von den Fesseln. Ich fühle
mich so frei wie nie zuvor. Ich bin Herrin über mich selbst, und
Am nächsten Mittwoch war die Mensa, alles außer der Küche, wieder freigegeben, es
über
der
herrschte aber aus welchen Gründen auch immer kaum Andrang. Deshalb fanden die fünf,
gespürt
Marie, Mark, Mario, Stefan und Heiko schnell einen freien Tisch, und auch noch einen
hatte. Ich war ein dummes kleines Mädchen. Eine kleine naive Idiotin
zweiten, den sie schnell mit dem anderen zusammenschoben, damit Heiko mit seinem
die geglaubt hat – Scheißegal, was ich geglaubt habe. Jetzt weiß ich
Rollstuhl bequem Platz hatte.
es besser. Endlich kenne ich die Wahrheit. Und Heiner, der wollte
„Das die schon wieder offen haben.“, Mark kramte in Heikos Rucksack, der an der Rückseite
andere.
Befreiungsschlag
Es
war
von
das
Fesseln,
Aha-Erlebnis
die
ich
meines
vorher
Lebens,
nicht
mal
nur mit mir spielen. Er dachte er könnte das mit der naiven kleinen
Clara tun, dem Mädchen das den Mund nicht aufkriegt und schüchtern
des Rollstuhls befestigt war, nach dessen kleinen Palm.
„Die Küche ist ja noch dicht, Gott sei dank.“, Stefan beugte sich zu Heiko runter, „Gibt’s du
mit gesenktem Kopf durch die Straßen dieser vermodernden kleinen
Stadt geht. Aber er hat sich getäuscht, jetzt spiele ich mit ihm.
mir deine Mensakarte?“
Ich werde mit ihm spielen, er wird nach meiner Pfeife tanzen, ich
„Danke.“ Wie ein kleines Kind, das gerade sein Weihnachtsgeschenk ausgepackt hatte stürzte
habe die Fäden in der Hand und er wird meine Marionette sein. Und
sich Heiko auf den Palm, während Stefan und Mark mit ein paar großen Schritten zu Marie
wenn ich ihn satt habe, dann schneide ich die Fäden ab und werfe ihn
und Mario aufschlossen.
in die Mülltonne. Mit mir spielt niemand mehr. Wenn ich daran denke
„Sag mal, der weiß doch noch gar nicht was passiert ist, oder?“, Mario warf einen Blick
Angst vor dieser Party gehabt zu haben, muss ich jetzt nur noch
zurück, bevor er durch die Tür ging. „Hät er sich nicht sonst mit allem gewehrt in die Mensa
lachen. Es war so befreiend, so unglaublich intensiv. Es kommt mir
zu gehen?“
vor als hätte ich bis zu dem Tag nicht gelebt, oder jemand anderes
hätte an meiner Stelle gelebt. Eine schmutzige kleine Raupe, aber
jetzt bin ich ein Schmetterling und meine Flügel sind ebenso schön
wie
sie
giftig
sein
können.
Ja,
ich
bin
der
erste
giftige
„Wahrscheinlich, aber bei eurem männlichen Feingefühl wird es ihm einer von euch schon
beibringen.“ Marie schlüpfte durch die sich schließende Tür hindurch
„Weiß nicht, gibt’s heut Gulasch?“, Stefan ging als erster durch die Glastür und verkniff sich
Schmetterling der Welt und Heiner wird das als erster zu spüren
das Lächeln, als er in die niedergeschlagen trauernden Minen des Mensapersonals sah.
bekommen. Ich werde ihn vor aller Welt lächerlich machen. Alle
Sie sprachen alle kein Wort mehr, während sie sich das Essen auf das Tablett stellten und die
sollen meine Rache an ihm mitbekommen, und er soll sie niemals
Tablette langsam, wie bei einer Trauerprozession, entlang schoben. Schweigend zahlten sie,
vergessen können! Ich bin frei, ich kann tun was ich will!“
halfen Mark das Tablett von Stefan gleichzeitig mit seinem eigenen zu balancieren, während
der noch mal durch die trauernden Mensaleute schritt, um Heikos Essen zu holen.
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Draußen stocherte Marie eine ganze Weile in ihrem Hühnerfrikassee herum, das Zeug kam
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dem Gulasch, in dem angeblich Mitten zu Tode gekocht worden war, ziemlich nahe. Selten
zuvor war sie so nahe dran Annas Beispiel zu folgen und auf vegetarische Kost umzustellen.
Als sie den ersten Bissen nahm, kam es ihr so vor als hätte sie noch nie so etwas merkwürdig
„Is ja cool.“, Heiko schob sich und seinen Rollstuhl noch ein paar Zentimeter weiter in
schmeckendes gegessen, dabei wusste sie doch, dass man das Zeug extra aus Erlangen
Stefans Studentenbude und sah sich nach allen Seiten um. Das hätte normalerweise bei der
rübergekarrt hatte. Inzwischen hatte sich Stefan wieder zu ihnen gesellt und das Tablett vor
Größe der Wohnung eigentlich keine zehn Sekunden dauern können, aber Heiko war noch
Heiko abgestellt.
nicht fertig, als Stefan hinter ihm die Wohnungstür schon geschlossen hatte und Mark seine
„Ob der Koch nicht doch im Hühnerfrikassee gegart wurde?“, platzte es aus ihm heraus, noch
Tasche einfach in irgendeiner Ecke abstellte. „Ich würde auch gern in ein er eigenen Wohnung
bevor er sich gesetzt hatte.
leben.“
Marie verdrehte die Augen nach oben. Männer, stöhnte sie innerlich auf. Männliches
„Glaub mir, das wird hoffnungslos überschätzt.“, seufzte Mark nur, auch wenn er es gar nicht
Feingefühl.
so meinte.
„Wie meinst du das denn?“ Heiko schob seinen Palm zur Seite und griff nach dem Besteck.
„Na, am Freitag ist doch einer von den Köchen in den Dampfkessel gesteckt worden.“
„Was ist denn das da?“ Heiko deutete auf eine Art Werkzeugbank im Miniformat, die Stefans
Bett genau gegenüberstand.
„Oh, mein Gott!“, kreischte Heiko und schleuderte sein Besteck in das Hühnerfrikassee.
„Passt nur auf, vielleicht schmeckt es heute ziemlich komisch.“
„Sein neues Hobby.“, grinste Mark mit einem sagen wir leicht belustigten Unterton.
„Du bist ekelhaft!“, zischte Heiko Stefan an.
„Hör ich da etwa Ironie raus?“, Stefan zog die Augenbrauen nach oben und blickte Mark
„Er hat Recht, du bist ekelhaft.“, stimmte ihm Marie zu, während sie ihre Gabel an den Teller
zweifelnd an, während er sich erschöpft auf den Stuhl vor der Werkbank fallen lies. Seine
legte. „Warum kann’s heute nicht Schnitzel geben?“
Hand kreiste um eine passende Auswahl bemüht über die aufgereihten gut fünf bis zehn
„Weil die Köche in Erlangen kein Feingefühl haben?“, grinste Mario, „Sind wahrscheinlich
Zentimeter großen Fantasyfiguren aus Kunststoff und suchten sich schließlich einen Ork
alles Männer.“
heraus. „Die gehören zu einem Spiel, das ich jetzt endlich mal mit Freunden spielen will.“
„Wahrscheinlich.“ Marie warf einen zweifelnden Blick auf das Frikassee, das nicht zum
„So was wie Risiko, bloß mit Orks und Goblins?“, warf Mark als Erklärungsversuch ein.
Schnitzel werden wollte. „Mal was anderes, kennt einer von euch einen Heiner der hier
„Was ist das denn?“, Heiko schüttelte den Kopf.
studiert?“ Sie erntete allgemeines Kopfschütteln. „Oder hat schon mal einer was von Partys
bei einem gewissen Meinheimer gehört?“ Wieder erntete sie nur Kopfschütteln und fragte
sich selbst, warum sie diese Fragen überhaupt gestellt hatte. Sie hatte die Tagebucheinträge
von Clara also immer noch nicht aus dem Kopf gekriegt.
„Das da ist ein Ork.“ Stefan hielt Heiko die ausgewählte Figur entgegen. „Den muss ich nur
noch grundieren und dann anmalen. Aber das ist noch eine Heidenarbeit, um endlich spielen
zu können brauche ich so 200 oder mindestens sogar 300 Orks.“
„Und wo kriegt man so was her?“
„Ebay.“
„Von anderen Spinnern, die zur Vernunft gekommen sind.“, lächelte Mark. Er hielt Stefans
neues Hobby für ein wenig abgefahren, aber wahrscheinlich hatte er selbst ein paar Hobbys
die andere für ziemlich freakig halten könnten.
„Die Figuren gibt’s in vier Grundstellungen, ich baue sie aber noch um, weil eine ganze
Armee aus nur vier Figuren ziemlich beschissen aussieht, oder?“
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„Wow, echt krass.“, schüttelte Heiko den Kopf und sah sich weiter im Zimmer um. „Und was
die Zeit rund um die Vorlesungen Heikos einziger gesellschaftlicher Kontakt waren und er
ist das, das ist ja die reinste Pornographie!“ Er deutete auf eines der Fantasyplakate, mit denen
den Rest des Tages nur zuhause vor dem Computer verbringen musste.
Stefan seine ganze Wohnung tapezie rt hatte. Jenes zeigte eine nackte, vollbusige Blondine die
„Entschuldigung, ich sag halt einfach so was ich meine, ohne drüber nachzudenken.“
ein Schwert – unschwer als eine Art Phallussymbol auszumachen – vor sich hielt.
„Offensichtlich.“, Mark schüttelte nur noch innerlich den Kopf.
„So stellt man sich die idealen Frauen vor, oder?“ Er sah fragend in Richtung Mark, der nur
beiläufig nickte und sich so etwas dachte wie: Klar, wenn man auf Dominas steht.
„Schon gut, vergiss es, wir sind eh dabei Schluss zu machen.“ Stefan lachte kurz auf und
suchte dann nach einem von ihm umgestalteten Ork, den er für ein Meisterwerk seiner
„Is ja noch krasser.“ Er starrte angestrengt auf das Poster, von oben nach unten und von unten
Schöpfung hielt. War es nicht der eigentliche Sinn beim Orks machen, sich so zu fühlen wie
nach oben. „Echt, aber du lässt doch keine Frauen in deine Wohnung, oder?“
ein Feierabendgott?
„Das Problem dürfte eher sein, dass gar keine Frauen reinwollen.“, lachte Mark
kopfschüttelnd.
Marks Wohnung lag in einem Flügel des Wohnheims der in einem offnen Treppenhaus lag,
„Witzig, sehr witzig.“ Stefan stand auf, tänzelte um den Rollstuhl von Heiko herum und
von seiner Tür aus hatte man einen guten Ausblick über den Parkplatz hinweg auf die
verschwand auf seine Toilette.
eigentliche FH. Nicht gerade ein Ausblick für den man Geld bezahlen würde, aber er war ja
Heiko hatte sich unterdessen noch immer nicht satt gesehen. Wahrscheinlich lag es schlicht
auch hier als Student, und nicht als Tourist. Auf jeden Fall stand Mark schon eine ganze
daran das er nur selten in Wohnungen von Freunden kam, und außer seinem Zimmer zu
Weile lang auf das Geländer seiner Wohnungstür genau gegenüber gelehnt und genoss den
Hause bei seiner Mutter nicht viel von Wohnverhältnissen an sich zu sehen bekam. „Und wer
Ausblick über den Parkplatz hinweg. Wobei „genießen“ wohl nicht der richtige Ausdruck
ist die Leiche da?“ Heiko deutete auf zwei Polaroxidfotos an Stefans Pinwand.
war, einen Ausblick auf die FH konnte man in diesen Tagen nur schlecht wirklich genießen.
„Leiche? Oh, das ist Stefans Freundin.“
Zwei Morde prägten nicht gerade das Bild einer Idylle. Vor dem Gelände versammelte sich
eine kleine Reportermenge diverser TV-Stationen für die Berichte der jeweiligen
„Man, die sieht aber echt halb tot aus.“
Mark unterdrückte ein lautes Auflachen und betrachtete die Fotos zum erstenmal wirklich
interessiert. Hmm, gut, ein bisschen blass sah sie auf dem Foto schon aus, dazu war es von
Boulevardmagazine am Nachmittag und frühen Abend. Die Hauptschwierigkeiten bestanden
wahrscheinlich darin, sich nicht gegenseitig zu filmen. Die Erfindung des Fernsehens an sich
mochte für die Evolution der Menschheit noch keinen Schritt zurück bedeutetet haben, das
unten aufgenommen und die schwarzen Locken trugen in ihrer Dominanz nicht gerade zu
auf Sendung gehen der Boulevardmagazine, gleichzeitig mit ihrem Schmuddelkind
einem anderen Eindruck bei. Aber Leiche? Er schüttelte den Kopf und wollte gerade noch das
Talkshows, führte die Menschheit weit zurück ins Neandertal. Mark verfolgte das Schauspiel
Schlimmste verhindern, bevor Stefan wieder auftauchte. „Heiko, sprich –“ Die Toilettentür
noch ein bisschen, dann schüttelte er den Kopf und ging durch die offenstehende Tür in seine
öffnete sich schon und Stefan spazierte wieder heraus. Ob er sich wohl die Hände gewaschen
Wohnung. Mit einem Fußtritt schloss er die Tür hinter sich und setzte sich an den laufenden
hatte?
Computer. Der Download war endlich beendet, Mark klickte den Internet Explorer weg und
„Die Leiche da ist deine Freundin?“ Heiko fuchtelte in Richtung der Fotos.
lehnte sich in seinen Stuhl zurück.
„Bitte, was?“
Die ganze Welt war wahnsinnig geworden, überall liefen nur noch Verrückte rum. Welcher
„Heiko, du hast das Feingefühl – Nein, eigentlich hast du gar kein Feingefühl.“, stöhnte Mark
normale Mensch mordete schon mit Hilfe eines Dampfkessels? Normale Menschen benutzten
auf. Selbst wenn man seine gesellschaftliche Prägung nur aus dem Fernsehen bekam, musste
eine Pistole oder ein Messer, einen Strick oder bevorzugen die gute alte Handarbeit, aber
man doch genug Feingefühl entwickeln, um nicht rumzulaufen und die Freundinnen seiner
keiner würde sein Opfer zu Tode kochen. Wahnsinnige, überall nur Wahnsinnige.
Freunde als Leichen zu bezeichnen. Aber an Feingefühl hatte es Heiko ja schon immer
Irgendwelche Philosophen hatten mal die entscheidende Frage gestellt, ob der Mensch von
gemangelt, vielleicht lag es daran das, dieser Gedanke war Mark schon früher oft gekommen,
Geburt an gut oder schlecht wäre. Eigentlich hatte Mark genauso wie Marie schon immer zu
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jener Fraktion gehört, die dem Menschen das „Schlechte“ unterstellt hatten. Und wenn nicht
sich Mark da schon wieder Gedanken. Er seufzte lautstark in seine leere Wohnung hinein und
jetzt, wann sollte er je so viele Beweise für diese Meinung bekommen?
klickte das Foto wieder weg.
Gelangweilt lies er die Maus um ein paar Icons auf dem Bildschirm kreisen und warf einen
Blick auf die Uhr. Eigentlich war heute so was wie ein wöchentlicher Studentenstammtisch
„... können sie mir also empfehlen.“ Marie verfolgte den an den Bücherregalen
geplant, aber soweit er es mitbekommen hatte war die allgemeine Stimmung nicht so nach
vorbeiziehenden Studenten nur aus den Augenwinkeln und tat so, als wäre sie an einem Buch
Stammtisch. Und selbst wenn, es war noch nicht mal 18 Uhr. Er klickte schließlich
über die chinesischen Außenhandelsbeziehungen interessiert. Ein Buch das so alt und
InfranView an, einen kostenlosen Bildbetrachter für den PC, durchsuchte seine Dateiordner
zerflettert aussah, als hätte man es vor Maos Kulturrevolution gerettet.
und fand schließlich einen Ordner mit Bildern an, die er sich mal von einer Foto-CD
runterkopiert hatte. Irgendwer war letztes Semester auf die Idee gekommen seine sündhaft
teure Digitalkamera nur noch dazuzunutzen wahllos Bilder auf den jeweiligen Semesterpartys
zu schießen. Er war kein besonders talentierter Fotograf, dafür aber ein besonders fleißiger.
„Es ist sehr infor-“ Der Student war verschwunden und ersparte Falkenstein den Satz beenden
zu müssen, statt dessen lachte er leise und schüttelte den Kopf. Er kam sich vor wie ein
kleiner Schuljunge der nicht beim Schwätzen erwischt werden wollte und statt zu schweigen
schnell so tat, als würde er seinem Banknachbarn irgendwas erklären.
Die Fotos waren in Ordner eingeteilt, die jeweils den Namen und das Datum der Party trugen,
unübersichtlich waren die jetzt gerade auf dem Bildschirm auftauchenden Thumbnails
„Ist er weg?“ Eine rein rhetorische Frage, sie hatte ihn längst an der Theke versch winden
trotzdem. Sie bauten sich in Windeseile auf, dennoch brauchte es einige Zeit bis Mark nach
sehen, ehe sie sich wieder auf das Wesentliche konzentrierte. „Irgendwie fast lächerlich, aber
ein paar bestimmten Pics Ausschau halten konnte. Er selbst hatte es im Laufe der Zeit zu einer
irgendwie auch aufregend, oder?“
kleinen Kunst entwickelt auf so wenig Fotos wie möglich aufzutauchen. In den letzten fünf
„Aufregend?“ Falkenstein ging ein paar Schritte tiefer zwischen die zwei Bücherregale und
Jahren waren bestimmt keine zehn Fotos von ihm gemacht worden, die jährliche
stellte sich dicht vor Marie, so dicht, dass ihre Oberkörper sich beinahe schon berührten. Und
Klassenfotoorgie an der FOS eingeschlossen. Aber dem Schießwütigen Hobbypartyfotograf
obwohl sie sich noch nicht berührten, glaubte er ihr wie wild schlagendes Herz spüren zu
war er auch ein paar Mal in die Falle gegangen. Einmal wie er ein Desperado kippte, wie
können, weil sie wohl schon wusste was jetzt kam. „Ich wüsste da noch etwas viel
immer er das Zeug auch damals runtergekriegt hatte, und einmal wie er eine Säule
aufregenderes.“
unfreiwillig aber leidenschaftlich küsste, in dem er besoffen dagegen gerannt war. Er musste
„Und das wäre?“ Mit einem schüchternen und herausfordernden Lächeln zugleich blickte sie
lange nach einem Foto auf dem Marie zu sehen war suchen. Irgendwann hatte sie ihm mal
ihn erwartungsvoll an, während er sie mit diesem Ich-würde-dich-am-liebsten-verschlingen-
erzählt, dass sie auch nicht gerade ein begeistertes Fotomodel wäre. Natürlich hatte er nicht
Blick ansah.
den geringsten Schimmer warum, sie sah auf dem Foto doch großartig aus. Sie trug ein
dunkles, quasi durchsichtiges Oberteil mit schwarzem BH darunter. Das Foto musste ziemlich
spät auf der Party entstanden sein, sie sah schon ziemlich durchgeschwitzt, sogar ein wenig
müde aus, in ihrer Hand hielt sie ein wahrscheinlich gerade geleertes Glas Tequilla. Mark
fand das sie großartig aussah. Sie hatte den Fotografen entdeckt und lächelte in die Kamera,
aber es war ein Kameralächeln, nicht ihr echtes. Es wirkte für denjenigen, der ihr echtes
Lächeln noch nie gesehen hatte, zwar echt, aber Eingeweihte durchschauten sie und konnten
in ihrem Blick so etwas wie Hau-mit-deiner-Scheiß-Kamera-ab lesen. So wie Mark sie kannte
hatte sie wahrscheinlich in der Sekunde wieder wirklich gelächelt, in der die Kamera wieder
verschwunden war. Fast so, als würde sie ihr echtes Lächeln nur live verschenken, und nicht
an eine Kamera, durch die es später jeder X-beliebige sehen konnte. Himmel, worüber machte
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Und dann setzte er es in die Tat um. Ihre Hände verschlangen sich gegenseitig und er presste
seinen Mund an ihren. Als würden sie eine Mischung aus Walzer und Lambada tanzen
drehten sie sich um ihre eigene Achse, die Hände über den Körper des anderen fahrend. Sie
stießen gegen eines der Regale, das bedenklich wackelte, aber doch hielt. Marie spürte seine
Verlangen, seine Hände am ganzen Körper. Er wanderte über ihre Hüften hinweg, hinunter an
die Schenkel und über den Saum ihres Rockes hinüber. Sie erreichten eine Ecke, die sie vor
den Blicken Fremder ein wenig zu schützen versprach. Falkenstein drückte Marie an die
Wand und küsste sie wild an ihrem Hals hinauf. Sie schmeckte wundervoll, der süße
Geschmack ihrer Haut berauschte ihn, der zarte Duft ihres Parfüms zog ihn weiter in ihren
Bann. Sein Verlangen steigerte sich, er wurde wahnsinnig nach ihr. In diesem Augenblick
gab es nur noch Marie und ihren Körper für ihn, alles andere war bedeutungslos geworden.
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Marie spürte all das und wusste nicht was sie mehr erregte, sein Verlangen oder die Macht
„Ich glaube wir haben in den letzten Tagen alle ziemlich schlecht geschlafen.“ Jetzt musterte
über ihn, die ihr dieses Verlangen gab. Sie spürte wie die Gefahr entdeckt zu werden sie nur
Mark sie direkt, diesmal wich sie seinen Blicken aus. Marie wirkte wie ein kleines Mädchen,
noch mehr erregte, ihr ganzer Körper zitterte schon. Sie flüsterte ihm etwas ins Ohr. Er wurde
das etwas angestellt hatte, und noch hoffte man würde sie nicht erwischen. Dieser schüchtern -
noch fordernder. Sie spürte wie seine Hände unter ihren Rock griffen und ihren Slip nach
schuldbewusste Blick zu Boden, das den anderen auf die eigene Seite ziehende Lächeln,
unten zogen.
überhaupt die ganze Eigentlich-bin-ich-doch-eine-ganz-liebe-Körperhaltung. „Simone sah
Als Falkenstein erschöpft neben ihr gegen die Mauer lehnte, hechelte Marie noch immer
auch nicht gerade gut aus.“
halb wild und versuchte sich wieder unter Kontrolle zu bringen. Kein Orgasmus der Welt
„Wie meinst du das?“
könnte den Adrenalinstößen gefährlich werden, die sie gerade durchlebt hatte. Noch immer
„Ich hab sie gerade gesehen, wie sie ihren Müll runtergebracht hat. Ihr Gesicht sah ziemlich
lies die Aufregung ihren Körper zittern, während sie ihren Slip, der an ihren Füßen gehangen
verheult aus, auch wenn sie es versucht hat zu verbergen.“
hatte, wieder hochzog. Sie sah zu Falkenstein neben sich, der sich gerade die Hose wieder
„Ich seh mal nach ihr.“
verschloss. Marie riss sich herum, presste sich an seinen noch immer schwitzenden Körper
und küsste ihn. Schon im nächsten Augenblick löste sie sich wieder von ihm und hauchte sie
„Wär’ wohl besser.“, nickte er in Maries Richtung, „Ne gute Freundin muss man haben.“
müsse jetzt gehen in seine Richtung.
Die Aufzugstüren schoben sich wieder auf und Marie zögerte kurz bevor sie nach draußen
Ein paar Augenblicke später, noch immer verdächtig wacklig auf den Beinen, grinste sie die
ging. „Salut.“, drehte sie sich noch mal zu ihm um.
Bibliothekarin im Vorbeigehen an und verschwand aus der Bibliothek. Langsam schlug ihr
„Ciao.“ Mark sah sie an bis die Aufzugstüren sich wieder schlossen und die Kabine sich
Herz wieder normal schnell. Und trotzdem dachte sie immer nur, Je craque, je craque.
ratternd in Bewegung setzte. Sie hatte mit diesem alten Sack geschlafen, da war er sich sicher.
Er wusste nicht warum er es plötzlich wusste, aber er wusste es. Er konnte es fast körperlich
wahrnehmen, riechen, ja, sie roch nach ihm. Sagte man das nicht über gehörnte Ehefrauen,
Ein paar Minuten später war Marie noch immer von den gleichen Gefühlen durchflutet, als
hätte sie die ganze Zeit an nichts anderes denken können. Als sie allein in der Aufzugskabine
nach oben fuhr lehnte sie an den kalten Wänden, schloss die Augen und versuchte im Geiste
noch einmal alles zu durchleben. Aber es klappte nicht, so sehr sie ihre Fantasie auch
dass sie die andere Frau, das Parfüm, das Shampoo oder was wusste er schon, riechen
konnten. Er roch nicht Falkensteins Shampoo oder sein billiges Aftershave, Männer wie er
mussten ein billiges benutzen, er roch den Professor selber.
anstrengte, obwohl sie fast schon den wundervollen Geruch der zu verstauben beginnenden
Bücher in der Nase hatte, sie konnte es sich nicht mehr intensiv genug in Erinnerung rufen.
Marie drückte die Klingel von Simones Wohnung und tänzelte dann eine ganze Weile von
Nicht mehr so intensiv, um die Erregung noch einmal zu spüren. Die Aufzugstüren schoben
einem Bein aufs andere, bis sich die Tür endlich öffnete. „Hallo, wie geht’s?“ Nur ein Blick
sich plötzlich auf, Marie zuckte zusammen, schluckte und strich sich den Rock glatt, als wäre
auf Simone lies sie die Frage auch schon bereuen. Wie konnten man jemanden der aussah wie
sie sich irgendeiner Schuld bewusst. Fast kam es ihr so vor, als hätte man sie fast beim
der leibhaftige Tod bloß fragen wie es einem denn gehe? Wenn sie vor Mark noch versucht
masturbieren im Aufzug erwischt. Und dann ausgerechnet noch von Mark.
hatte zu verbergen wie es ihr wirklich ging, dann gab sie sich vor Marie keine Mühe mehr. In
„Hallo.“, flüsterte sie beinahe und lächelte schüchtern in seine Richtung.
ihren wildesten Zeiten, auf den beschissensten – und deshalb ein Übermaß an Alkohol
erfordernden – Partys hatte Marie am nächsten Tag nicht so schlimm ausgesehen. Kein
„Hallo.“ Mark wich ihrem Blick aus und sah statt dessen lieber ihr Spiegelbild auf der
anderen Seite an. „Du siehst ja richtig erschöpft aus.“
Wunder, dass Simone gar nicht antwortete, sondern sie einfach nur an sich vorbei in die
Wohnung winkte.
Marie kämpfte vergeblich dagegen an feuerrot im Gesicht zu werden. „Meinst du? Na ja,
wahrscheinlich habe ich nur zu wenig Schlaf in letzter Zeit abbekommen.“
„Was gibt’s?“, fragte Simone schließlich, als sie hinter ihr wieder die Tür schloss.
„Das könnte ich eigentlich dich fragen, ich dachte du wärst in Ordnung.“
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„Ich bin in Ordnung.“
„Herr Polizeidirektor, ich -“ - Der Angesprochene brachte Krüger mit einem Wink seiner
„Ehrlich gesagt, so siehst du nicht aus.“, schüttelte Marie den Kopf, „Weißt du, eigentlich
Hand zum Schweigen. Im Geiste betitelte Krüger ihn auch als Arschloch, natürlich wieder als
sollt ich ja froh sein, trösten hat mir nie so wirklich gelegen. Ich hab mich dann immer
ein vorgesetztes Arschloch. Es war als würde man einer Wand völlig schlüssig die
verdrückt und gehofft, dass da schon noch jemand anderes ist.“ Sie tänzelte unruhig von
Relativitätstheorie erklären, aber die Wand wollte einfach nicht verstehen. Krüger beschloss
einem Bein aufs andere während sie sprach.
ein bisschen klüger zu werden, hörte also auf der Wand die Geheimnisse des Universum zu
Simone blickte sie mit einer merkwürdigen Mischung aus Tröste-mich und Verschwindewieder an. „Du hast Mark getroffen, oder?“
Marie nickte. „Komm her.“ Sie streckte ihre Arme aus, legte sie um Simone und drückte sie
an sich. Simone schien sich zuerst zu sträuben, dann legte sie ihren Kopf an Maries Schulter
und keinen Augenblick später füllten sich ihre Augen erneut mit Tränen.
erzählen und schloss sich der Meinung der Wand an. „Ich werde mir das Ganze noch mal
durch den Kopf gehen lassen.“
„Tun sie das.“, der Polizeidirektor stand auf und drückte ihm die Aktenmappe in die Hand,
„Ich hätte morgen gerne eine Überarbeitung des Berichts. Und Krüger, ich habe gute
Nachrichten für sie, nächsten Monat wird ein Kollege aus Nürnberg zu uns versetzt, ihr neuer
Partner.“
„Gut zu hören.“, Krüger interessierte es einen Scheiß ob da ein Trottel aus Nürnberg kam.
„Gott verdammte Scheiße.“, der Polizeidirektor von Ansbach schüttelte den Kopf und schlug
„Wiedersehen.“
den Aktendeckel vor sich zu. „Keine Erkenntnisse, dafür neue Morde. Wenn wir alle so
arbeiten würden, gebe es bald keine Bevölkerung mehr.“ Mit dem Elan eines gescheiterten
„Wiedersehen.“, nickte der Polizeidirektor.
Großwildjägers schob der die Aktenmappe über seinen Schreibtisch in Richtung Krüger. Er
„Fick dich selbst du kleiner Wichser.“, murmelte Krüger draußen im Korridor und zündete
atmete durch, schloss für ein paar Sekunden sogar die Augen, fast so als sei er vom
sich eine Zigarette an. Stampfend bewegte er sich vorwärts, kam irgendwann in sein Büro und
Großwildjäger zum buddhistischen Mönch geworden, und blickte den Hauptkommissar zuerst
knallte die Tür hinter sich zu. Sein Blick wanderte auf den leeren Schreibtisch, Klasse, dabei
nur schweigend an. „In Ordnung, ich konnte hier keinen greifbaren Zusammenhang zwischen
hatte er sich schon dran gewöhnt keinen Idioten mehr am Rockzipfel zu haben. „Kollege aus
den Opfern erkennen.“
Nürnberg“ war längst zur Phrase für „sie kriegen einen Neuen frisch von der Polizeischule
aufgedrückt“ geworden. Er ging an den Schreibtischen vorbei, öffnete das Fenster und warf
„Aber die männlichen Opfer hatten alle eine Affäre mit Frau Bauer.“
„Eine Erkenntnis die teilweise nur auf Hörensagen beruht. Dem Staatsanwalt brauchen sie mit
seine Kippe in den leeren Innenhof. Würde sich die Stadtreinigung nicht drum kümmern,
unter seinem Fenster hätte sich wahrscheinlich schon ein ganzer Zigarettenhaufen
dem Mist erst gar nicht zu kommen.“
angesammelt. Das Telefon klingelte, aber Krüger zündete sich erst eine frische Zigarette an,
„Die Taten, beziehungsweise die Opfer erregen ungewöhnliche Aufmerksamkeit.“
bevor er de n Hörer abnahm und ein „Krüger!“ in die Leitung brüllte, so laut das demjenigen
„Und der Staatsanwalt lacht noch mal über uns. Ein bisschen mehr hätte ich von ihnen schon
am anderen Ende das Ohr abfallen musste. „Ach sie, was wollen sie? Nicht jetzt!“ Er knallte
erwartet. Verrennen sie sich nicht in diesen Zusammenhang zwischen den Fällen, der
den Hörer wieder auf und beförderte das ganze Telefon mit einem Stoß vom Schreibtisch.
Polizeipräsident ist auch dieser Meinung.“ Und dessen Meinung war auch seine Meinung!
Krüger nickte unterwürfig, der Polizeipräsident war vielleicht ein Arschloch, aber sein
Marie legte den Telefonhörer wieder weg und lies die Tagebuchdiskette in ihrer anderen Hand
vorgesetztes Arschloch. „Ich versichere ihnen das dieser Aspekt der Ermittlungen nicht meine
wippen. Da war wohl jemand gereizt. Sie legte die Diskette vor sich auf ihren Schreibtisch,
ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Ich ermittle in alle Richtungen.“
lies den Computer hochfahren und begann dann die Tagebucheinträge n och einmal zu lesen.
„Krüger, ich bin kein Hirni von der Presse, schon gar keiner von diesen Hobbyjournalisten
Und noch immer kam es ihr so vor, als wären sich von einer anderen Clara geschrieben
von der Landeszeitung. Wenn sie mir solche Sätze sagen, dann weiß ich, dass sie mich
worden. Zumindest die ersten, die letzten klangen wieder ganz nach der kleinen Schlampe um
verarschen.“
die sie gerade bei Simone so trefflich-schauspielerisch getrauert hatte. Aber vielleicht war ja
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wirklich etwas passiert, etwas was alles erklären würde und Clara in einem besseren Licht
darstellen könnte. War der Mensch nicht letztlich das was seine Umgebung aus ihm machte.
Marie setzte sich auf eine der Bänke am Campus, schlug die Beine übereinander und lies die
Eine fremdbestimmte Marionette die nicht selbst handeln konnte sondern von Fäden geführt
warme Sommersonne auf sich herunter scheinen. Für ein paar kostbare Augenblicke wollte
wurde. Und wenn es einem Widererwarten gelang die Fäden abzuschneiden vollführte man
sie einfach so tun als sei nichts geschehen, aber Claras Tagebucheinträge gingen ihr nicht
doch nur die altbekannten Bewegungen. Mit diesen Tagebucheinträgen konnte Marie genau in
mehr aus dem Kopf. Wie konnte sich ein Mensch innerhalb von so kurzer Zeit nur so
jene Zeit von Claras Leben sehen, in dem der Puppenspieler gewechselt hatte. Oder war es
verändern? Sie lehnte sich zurück und blickte mit geschlossenen Augen gen Himmel. Dieser
doch wie in diesem alten Sci-fi-Film, irgendwas mit Körperfressern, und ein kleiner Alien
Krüger war wirklich ein selten dämlicher und ungehobelte Polizist, Musterbeispiel für den
hatte den leeren Platz im Kopf der süßen, aber belanglosen kleinen Clara besetzt und aus ihr
grenzdebilen und von sich selbst völlig überzeugten bayrischen Polizisten. Er hatte sie zu
einen männermordenden Vamp gemacht? Marie biss sich kaum merklich auf die Lippen, die
unchristlichen Zeiten aus dem Bett geklingelt und sie war immer höflich geblieben, aber
Silbe „mordenden“ erschien jetzt selbst ihr unpassend.
kaum rief man mal ihn an, wurde man angefaucht. Warum hatte sie ihn überhaupt angerufen,
die Tagebucheinträge waren sicher interessant, aber Marie konnte sich beim besten Willen
nicht vorstellen das sie etwas mit dem Mord zu tun hatten. Dafür waren sie allein schon viel
zu weit in die Vergangenheit datiert, damals hatte Clara ja noch nicht einmal studiert,
geschweigeden das Schicksal brutal zugeschlagen und Marie nach Ansbach gebracht. Und die
notierten Geschehnisse hatten auch nichts mit den Mord, oder den Morden zu tun.
Marie öffnete wieder die Augen und sah über den Campus hinweg. Er sah merkwürdig
entvölkert aus, sonst herrschte um diese Zeit zumindest vor der Mensa immer Betrieb. Morde
machten sich eben nicht gut für die allgemeine Stimmung. Also warum hatte sie Krüger dann
wirklich angerufen, wahrscheinlich nur um ihr Gewissen zu beruhigen. Nachdem sie Simone
mit verheulter Schulter wieder verlassen hatte, hatte sie einfach das Bedürfnis gehabt
irgendetwas tun zu müssen. Gleich was. Und dieses merkwürdige Bedürfnis hatte sie noch
immer. Irgendetwas musste man doch tun können, nicht um den Mord rückgängig zu machen,
dafür war Marie längst viel zu abgeklärt, aber um sich zu beschäftigen, um das Gefühl zu
haben zumindest etwas zu unternehmen und sei es nur blinder Aktionismus. Und wie aufs
Stichwort lief ihr eine Möglichkeit über den Weg diesen Aktionismus auszuüben.
Da war er, der alte Hofstaat mit seiner neuen Königin Michaela der Erste. Hieß sie
überhaupt so, Marie war sich nicht ganz sicher. Auf jeden Fall war sie schon zu Lebzeiten der
alten Monarchin im Hofstaat gewesen, aber Clara hatte dafür gesorgt die einzige zu bleiben,
die man wirklich wahrnahm. Michaela ähnelte Clara zwar nicht unbedingt äußerlich, sie war
mindestens einen Kopf größer, einige Kilo schlanker und hatte eine lange blonde Mähne, aber
vom charakterlichen Typ her waren solche Frauen wohl alle gleich. Kein Model, aber doch
genau das worauf Männer in ihren Neandertalphasen, etwa vergleichbar mit der weiblichen
Menstruation, wenn auch nicht biologisch bedingt, abfuhren. Im Grunde sah aber der ganze
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Hofstaat so aus, wahrscheinlich erkannte man die Königin nur daran, dass sie vornweg
marschierte und alle anderen wie brave Lemminge hinterherkamen.
Erst mal ein Café Creme, stöhnte Marie vor sich hin, nachdem sie die Audienz verlassen hatte
„Blinder Aktionismus.“, murmelte Marie leise vor sich hin und stand langsam auf. Allzu eilig
und auf die eigentliche Mensa zu steuerte. Sie holte sich eine Tasse und sah dann wie Mark,
hatte sie es dann doch nicht zum Hofstaat aufzuschließen. Sie lief der versammelten
Stefan und Heiko draußen an einem Tisch saßen und sich über irgendwelche Hefte gebeugt
Zickenscharr eine ganze Weile Richtung Mensa hinterher, wo sich die meisten gleich einen
unterhielten. Als Marie sich zu ihnen gesellte, immerhin saßen sie möglichst weit weg von
freien Tisch – zumindest wurde er frei als sie den kleinen Informatikstudenten vertrieben
ihrer Heiligkeit, bereute sie es auch fast schon wieder, offensichtlich ging es um Stefans
hatten – krallte und Marie das Glück hold war, weil sich Michaela auf die Toilette
Steckenpferd dem Rollenspiel.
verabschiedete. Marie huschte noch durch die offene Tür in den Vorraum und dann hinter ihr
„Hallo, keine Vorlesung?“
her in die Toilette, wo man so von Frau zu Frau noch immer am besten reden konnte.
Michaela war schon in eine der Kabinen verschwunden, während Marie wartend am
„Statistik fällt aus, wir warten noch auf Heikos Fahrer.“ Mark schien für jede Unterbrechung
dankbar zu sein, also er von dem Blatt Papier aufsah, das vor ihm und Heiko lag.
Waschbecken stand und den Wasserhahn auf - und wieder zudrehte. Nach ein paar Minuten
hörte sie die Spülung und drehte den Hahn ganz auf um sich die Hände zu waschen. Als
„Und was macht ihr da?“ Marie setzte sich trotzdem zu ihnen an den Tisch und warf zuerst
Michaela zu ihr stieß wechselte Marie zum Handtuchhalter, zog sich etwas Tuch aus dem
einen Blick auf das Blatt Papier. Irgendwer hatte neun Kreise draufgemalt und ein
Behälter und trocknete sich die Hände. „Sag mal -“, begann sie schließlich etwas zögerlich, „-
Strichgebilde, das man mit viel Fantasie als eine Art altmodische Waage erkennen konnte.
mich hat da neulich ein Heiner wegen Clara angesprochen, sagt dir der Name irgendwas?“
„Heiner?“ Michaela zog die Augenbrauen nach oben und legte erst einmal einen Blick auf,
der Marie zu deuten gab sie solle den Herrn preisen weil sich ihre Heiligkeit Michaela die
Erste zu einer Unterhaltung mit ihr herabließ.
Noch bevor jemand antworten konnte warf sie einen Blick neben sich, auf das Heft das Stefan
vor sich liegen hatte. Irgendwelche düster aussehende Gestalten, eingepackt in Felle und
behangen mit Totenköpfen, starrten sie von den Blättern her an. Musste sicher was mit
Stefans Rollenspielen zu tun haben, davon war er ja wie besessen.
„Ich versuche mir gerade einen Charakter für ein neues Rollenspiel zusammenzubasteln.“,
„Hmm, wie hieß er doch gleich mit Nachnamen?“
Michaela zuckte mit den Schultern. „Hab nie von einem Heiner gehört, wie kann man auch so
heißen. Mit dem Namen kann man doch bestenfalls Ziegenhirt werden.“
erklärte Stefan, „Was meinst du passt besser zu mir, Gaukler oder Krieger?“ - Marie grinste
schief in seine Richtung. - „Gaukler, hast Recht.“
„Ich glaube ich müsste dann ein Zwerg sein, so was gibt's doch auch, oder?“, sah Heiko auf
Oder Moderator beim RTL-Nachtjournal, seufzte Marie leise. „Meinheimer, oder so ähnlich.“
und verlor für einen Augenblick den angestrengten Gesichtsausdruck, denn er die ganze Zeit
Sie wusste zwar ganz genau das dieser Heiner und Meinheimer zwei verschiedene Personen
über aufgehabt hatte. So sah er immer aus, wenn er angestrengt über etwas nachdachte.
waren, aber sie hielt es für eine gute Gelegenheit ihre zweite Frage einzubringen.
„Meinheimer? Könnte sein, von dem hat Clara sogar mal was erzählt. Soll angeblich so alle
Wochen mal eine Party schmeißen. So'n Provinzler halt.“ Offensichtlich hatte eine
Auswä rtige den Thron bestiegen. „Clara war mal auf ein oder zwei, mehr weiß ich auch nicht
„Zwerge sind beim Rollenspiel eher feminin und haben nen dicken Bart.“, dozierte Stefan.
„Kleinwüchsige Frauen mit Bart, klingt nach nem Internetporno.“, Marie schüttelte ein wenig
den Kopf und wandte sich dann lieber dem Blatt Papier zu, „Und ihr?“
und jetzt lass mich in Ruhe.“, schnaufte Michaela, machte auf der Stelle kehrt, trocknete sich
„Das ist so'n Rätsel im Rollenspiel.“, zuckte Mark mit den Schultern, er war offensichtlich
eilig die Hände und verschwand.
genauso erfolglos bei der Rätsellösung wie Heiko.
Deshalb pflegte man in Frankreich Königinnen also den Kopf abzuhaken, ein schöner Brauch,
„Du hast neun Kugeln und eine Waage.“ Stefan deutete auf die aufgemalten Kreise. „Eine
den man auch mal in Deutschland einführen sollte. Marie betrachtete sich kurz im Spiegel,
dieser Kugeln ist schwerer als die anderen acht und du darfst zweimal wiegen, um diese eine
strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und ging dann selbst.
Kugel rauszufinden.“
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„Das ist ganz schön schwer.“, stöhnte Heiko laut auf, so ein Ist-schwer-weil-ich-nicht-drauf-
„Ich bin einfach zu blöd für so was, hast du noch ein Rätsel?“ Heiko strich die Skizze auf dem
komme-Stöhnen.
Papier durch.
Marie beugte sich über das Blatt. „Neun Kugeln, eine ist schwerer und ich darf zweimal
„Im Wohnheim hab ich ein ganzes Buch.“
wiegen?“
„Kannste das nicht schnell holen.“
Stefan gab ein zustimmendes Stöhnen von sich und blätterte dann wieder in seinem langsam
„Klar macht er das, soll er dir auch noch schnell was von McDonalds mitbringen.“ Marie
schon auseinanderfallenden Schmidt Spiele-Heft.
nippte an ihrer Cafe Creme und ignorierte den giften Blick von Heiko. Heiko traf wie gesagt
„Wie lange rätselt ihr da schon rum?“
jedes Fettnäpfchen zielsicher auf 100 Meter, aber selber war er immer ziemlich schnell
„So zehn Minuten.“, Mark warf einen Blick auf seine Uhr, ohne dabei die Zeit wirklich
beleidigt, zum Glück war er diesbezüglich allerdings auch ziemlich vergesslich. „Sagt mal,
abzulesen.
habt ihr unseren Sozi irgendwo gesehen?“
„Aber es ist auch ganz schön schwer.“ Heiko schlug mit der Hand auf den Tisch.
„Thorsten?“ - Marie nickte Mark zu. - „Der ist rüber in die Bibliothek, brauchst du was von
„Muss ich alle Kugeln wiegen?“
„Wie meinst du das?“
ihm?“
„Ich muss nur mal kurz mit nem echten Ansbacher sprechen.“
„Na ob ich ein paar zur Seite legen kann, oder ob ich alle neun auf einmal wiegen muss.“
„Kannst du machen wie du willst.“, antwortete Stefan und legte ein Da-ist -jemand-auf -demrichtigen-Weg-Lächeln auf.
Die JVA lag gleich um die Ecke, aber die Sicherheitsvorkehrungen dort waren nichts im
Vergleich zu denen der FH-Bibliothek. Der Besuchercheck im Knast konnte bestimmt nicht
härter sein, und wenn man an der Ausleihtheke wieder rauswollte war es auch nur eine Frage
„Ist doch ganz einfach. Ich lege jeweils drei Kugeln in eine Waagschale. Wenn die
des Budgets nicht abgetastet zu werden. Taschen waren verboten, wer Essen oder Getränke,
Waagschalen im Gleichgewicht sind, ist die schwerere Kugel bei den drei dabei, die ich nicht
so zur Stärkung während des Wälzens der schwergewichtigeren Bücher, mitreinschmuggelnd
gewogen habe, wenn nicht sehe ich ja welche Seite nach unten geht. Dann nehme ich zwei der
wollte, wurde in einer der Kabinen standrechtlich, vor allem aber wegen der Schalldichtung
übrigen drei und lege je eine in die Schale. Ist eine schwerer, dann kann ichs sehen, wenn die
lautlos, erschossen. Marie bog nach links zu den Schließfächern ab, kramte in ihrem
Schalen im Gleichgewicht sind, ist die Kugel die ich nicht gewogen habe die schwerere.“
Portmonee nach einer 1-Euromünze und schloss ihren kleinen Rucksack ein. Im Vorbeigehen
„Bravo, so schnell hast noch keiner geschafft.“, gratulierte ihr Stefan.
nickte sie der Bibliothekarin kurz zu. Damit überstand Marie erst mal den ersten
„Na Klasse, selbst sie ist klüger als ich.“, grunzte Heiko.
Sicherheitscheck und konnte die Theke ungefilzt passieren.
„Was heißt den 'selbst sie'?“, blickte ihn Marie an, obwohl Heiko sicher nicht begriffen hatte
Marie entdeckte Thorsten zusammen mit Mike an einem der Tische die zum Hardcorebüffeln
mal wieder zielsicher das einzige Fettnäpfchen auf 100 Meter erwischt zu haben.
aufgestellt waren. Wahrscheinlich machten sich die beiden wieder über Probleme des
„Vielleicht hat er gar nicht mal so Unrecht, Frauen sind in so was immer besser. Das ist mir
beim Rollenspiel schon oft aufgefallen.“
Vorlesungsstoffs Gedanken, auf die Marie gar nicht gekommen wäre. So was wie die Frage
der Auswirkung des fallenden Bruttoinlandsproduktes von West-Samoa auf den
Auftragseingang der Siemensniederlassung in München. Das war wahrscheinlich eine dieser
„Ich verrat dir was, eigentlich sind wir in allem besser als Männer. Wir behalten es nur
meistens für uns, damit ihr nicht die beleidigten Leberwürste spielt.“
„So, wirklich?“ Mark lächelte ein wenig. „Alles nur um das männliche Ego nicht zu kränken.“
typischen BWLer-Eigenschaften, über die man sich in anderen Studiengänge ständig lustig
machten. Über was sich die beiden wohl gerade Gedanken machten?
Mike stand gerade auf, klemmte sich ein dickes weiß-blaues Buch unter den Arm und warf
„Klar, was tut man nicht alles um euch bei Laune zu halten.“
Marie im Vorbeigehen ein kurzes „Hallo“ zu. Dem Titel des Buches nach mussten sie sich
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wohl gerade mit Produktionsrechnung und Kostentheorie beschäftigen, aus eigener Erfahrung
hinter sich bringen. Marie passierte die Kontrollen an der Ausleihtheke, holte ihren Rucksack
wusste sie wie unglaublich man sich mit diesem Thema amüsieren konnte, dabei konnte man
aus dem Schließfach und verließ die Bibliothek.
bei diesem Fach sicher Rechnungen bis zum Orgasmus anstellen.
„Hallo, hast du mal kurz Zeit?“
Thorsten verdrehte kaum merklich die Augen, als er zu ihr hochsah. „Klar.“ Eigentlich wollte
er gar nicht gestört werden, und eigentlich hatte er Marie schon nach den ersten fünf Minuten
im längst vergangenen 1. Semester in die Schublade Hübsch-und-intelektuell-belanglos
einsortiert.
Wolfgang Goldschnee hasste nichts so sehr wie die antiseptische Atmosphäre von
Krankenhäusern. Das allein wäre sicher nicht weiter schlimm, für einen Arzt – auch wenn
noch Arzt im Praktikum – war eine derartige Abneigung durchaus bedenklich. Auf der
anderen Seite hatte er auf der Uni auch Leute kennen gelernt die beim Anblick des kleinsten
Tropfen Bluts umkippten. Sie in kalkweißen Gängen mit hässlichen Bildern und
ausgelutschten Grünpflanzen unwohl zu fühlen war dagegen wahrscheinlich wirklich kaum
„Hast du mal was von Partys von einem gewissen Meinheimer gehört?“
bedenklich. Außerdem hatte er ja nicht vor nach dem Abschluss in einem Krankenhaus zu
Die Erwähnung des Namens Meinheimer schien Thorsten in der Wahl seiner Schublade für
arbeiten. Das war die Mühe nicht wert, schon gar nicht das Geld das man dafür bekam. Er ließ
Marie zu bestätigen. „Von denen hab ich schon mal was gehört, was interessiert dich dran?“
sich jetzt ausnutzen, machte Überstunden, übernahm die Drecksarbeiten, kuschte vor den
„Weiß nicht, ich hab einfach mal was davon gehört.“ Thorsten war nicht die neue Monarchin,
alten Hasen, machte selbst seinen Diener vor dieser Walküre von Oberschwester. Richard
er würde sich in fünf Minuten bestimmt noch an das Gespräch erinnern. Trotzdem schien er
Wagner hatte sicher dieses zweizöpfige blonde Ungetüm im Kopf gehabt, als er den Ring
sich mit ihrem Schulterzucken z ufriedenzugeben.
geschrieben hatte. Man brauchte ihr nur einen Helm aufzusetzen, ihr einen Sperr oder ein
„Kennst du die Schlossallee?“
Schwert in die Hand drücken, und schon hatte man die furchterregenste Brunhilde oder
Kunigunde – Opern waren nicht sein Gebiet – die sich nicht mal mehr die Alten auf dem
„Die Straße die nach dem FLZ-Gebäude hochgeht, oder?“
Bayreuther Festspielhügel vorstellen konnten. Diese Hobbywalküre war auch der Grund
Thorsten nickte. „Da hat er von seinen Eltern ein Haus geerbt, mit ziemlich großen Garten.“
warum er sich nicht ungern in die Nachtschicht drängen lies, als Oberschwester hatte es der
„Das Gelände mit der Mauer?“
Angstraum eines jede n Mannes mehr nötig um diese Zeit zu arbeiten. Überhaupt waren
„Ja, aber ich war noch nie drin. Interessiert mich auch nicht, Meinheimer ist so'n typischer
Erbe, der es selbst zu nichts bringt. Keine Ahnung wie alt er eigentlich ist, so um die 30.“
Nachtschichten in Ansbach bisher immer ganz angenehm gewesen, und auch die Mordserie
dort unten in der Stadt war hier nicht mehr als ein Klatschthema, den medizinischen Part an
dem Ganzen erledigten größtenteils die Kollegen aus Nürnberg. Hier bekam man es um diese
„Und was hat es mit diesen Partys auf sich, die scheinen ja schon legendär zu sein.“
Zeit höchsten mit ein zwei Notfällen zu tun, entweder jemand hielt seinen Vorsatz über den
„Scheinen regelrechte Orgien zu sein.“, grinste Thorsten, „Zumindest zerreißen sich die alten
gebrochenen Fuß noch eine Nacht zu schlafen nicht durch, oder es waren Unfälle bei den
Klatschweiber darüber das Maul. Du interessierst dich doch nicht etwa dafür?“
beide n Dingen die man um diese Zeit noch tat: Auto fahren oder Sex. Das Grinsen in seinem
„Nie im Leben.“, Marie streckte beide Arme von sich, „Du kennst nicht zufällig jemand der
Gesicht verdankte er einem ziemlich durchgeknallten Typen dem er gerade eine Colaflasche
mir mehr erzählen kann?“
aus dem Hintern gezogen hatte, die 1 Liter -Version, mit dem lumpigen 0,5er Flaschen konnte
Thorsten sah Marie zögernd und dann breit grinsend an. Offensichtlich glaubte er sie hätte
vor sich an den dortigen Orgien zu beteiligen. „Ich glaub ich wüsste da jemanden, ich kann
dir ja heute Abend ihre Nummer raussuchen.“
„Wäre nett von dir.“ Klasse, Marie konnte sich schon ungefähr denken was Thorsten jetzt
über sie dachte, und was er dem geradezurückkehrenden Mike erzählen würde, sobald sie
wieder verschwunden war. „Bis später dann.“ Sollten sie das Lästern doch am besten gleich
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man sich offenbar nicht wirklich stimulieren. Es liefen schon eine Menge Irre herum, selbst
in einer Kleinstadt wie Ansbach. Nachdem er den armen Kerl vernotarztet hatte wollte er sich
erst mal einen Kaffee gönnen, allerdings nicht das grausige Automatengesöff mit dem die
Besucher vorliebnehmen musste wenn die Kantine dicht gemacht hatte. Oben im
Ärzteaufenthaltsraum stand eine eigene Kaffeemaschine, und als Arzt im Praktikum hatte
man noch keine vollbusige Sprechstundenhilfe, konnte folglich sein en Kaffee noch selber
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brauen. Goldschnee hielt seinen Kaffee für ausgezeichnet, so ausgezeichnet das ihn die
„Das hab ich mal in einem alten Schinken mit Vincent Price gesehen. Er spielte einen
unterbelichteten Schwestern unten in der Notaufnahme bestimmt nicht zu schätzen wissen
missachteten Schauspieler, oder einen Mann der den Tod seiner Frau rächen wollte, ich weiß
würden, also warum sie einladen? Er öffnete die Tür, knipste das Licht an und in der nächsten
es nicht mehr. Auf jeden Fall hat er so einen der Typen getötet. Ich fand das eine ziemlich
Sekunde wurde es schon wieder stockdunkel.
interessante Art zu töten.“
Als Goldschnee wieder zu Bewusstsein kam hätte es keines Medizinstudiums benötigt um
herauszufinden was passiert war. Der stumpfe
Schmerz sagte ihm ganz deutlich
Goldschnee krächzte etwas, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Er spürte wie das Blut aus
seinen Adern schoss. Das Blut, das kostbare Blut.
niedergeschlagen worden zu sein, das wusste er eher, als er die Frage beantworten konnte wo
er sich überhaupt befand. Er musste in einem der leeren Krankenzimmer des Westflügels sein,
eines der Einzelzimmer für Privatpatienten. Die Vorhänge hätten eigentlich zu sein müssen,
aber jetzt bildete das Licht von Mond und den naheliegenden Straßenlaternen die einzige
Lichtquelle. Goldschnee wollte sich an die schmerzende Stelle an seinem Hinterkopf greifen,
und merkte erst jetzt das er mit Händen und Füßen ans Bett gefesselt war. Es waren die
Lederriemen, die er selber schon mal nutzen musste um einen besonders widerspenstigen
Patienten unter Kontrolle zu bringen. Jetzt kontrollierten sie ihn, aber warum? Mit Mühe
konnte er seinen Kopf heben, er entdeckte die Kanüle in seinem Arm und erst jetzt spürte er
auch den Schmerz des Einstichs. Oder besser der Einstiche, denn jemand war ziemlich
unfähig dabei vorgegangen. Die Nadel war von fast einem Dutzend anderer Einstiche
umgeben. Er versuchte in der Dunkelheit den Lauf des kleinen Schlauchs zu verfolgen, aber
er schaffte es nicht.
„Guten Morgen.“
Goldschnee riss seinen Kopf in Richtung der Stimme, doch dahinter schien nicht mehr als ein
menschenähnlicher Umriss zu stecken. Ein Schatten der sich langsam auf ihn zu bewegte.
„Was so ll das? Was wollen sie mir da injizieren?“
„Gar nichts, eher das Gegenteil.“ Der Schatten hob die leere Flasche der Nahrungslösung
hoch, die er samt Nadel aus dem Müll gefischt hatte. Anbetracht der Tatsache das er damit
morden wollte konnte man in Fragen Hygiene durchaus mal ein Auge zudrücken.
„Was zum –“ Im nächsten Moment wurde ihm ein Taschentuch in den Mund gestopft, er
versuchte es auszuwürgen, schaffte es aber nicht.
Der Schatten drehte an dem Rädchen in der Mitte des Schlauchs, so das ein Unterdr uck
entstand und Blut angesogen wurde. Blitzschnell floss Goldschnees Blut den durchsichtigen
Schlau entlang, der Schatten riss die Flasche ab und legte das andere Ende des Schlauchs ins
Waschbecken. Goldschnee versuchte sich zu wehren, doch er musste erkennen das an seinem
anderen Arm das gleiche abzulaufen begann. Die Kanüle war schon gelegt, jetzt floss auch
dort das Blut.
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07.
Weihnachtsgeschäft verschafft. Aber jetzt schien ihr nichts überflüssiger als in den
Klonregalen der örtlichen H&M-Filiale zu stöbern, sie konnte dem ganzen nicht mal etwas
nützliches abgewinnen, weil ihr Kleiderschrank überquoll. Nicht das sie wirklich einen Grund
brauchte um einzukaufen.
Fred Feuerstein „Yabadabadoooo“ brüllen zu hören war für die weiblichen Fans immer nur
das halbe Vergnügen an der Serie. Wenn Wilma und Betty ihr markerschütterndes
„Eiiiiiiiiiiiiinkaufen“ durch Felsental erklingen liesen schlug das kleine Kinderherzchen der
künftigen Konsumsüchtigen stets höher. Es gab mal eine Zeit, so etwa die Zeit in der die
Zeichentrickserie produziert wurde, da konnte man gar nicht konsumsüchtig werden. Wo
sollte man sich im örtlichen Tante-Emma-Laden, der mehr an einen Kolonialwarenladen aus
dem letzten Jahrhundert erinnerte, auch
infizieren? Doch irgendwo in einem fernen
Königreich, einem Land im hohen Norden, schufen Diener des dortigen Königs Abhilfe. Der
eine Diener zog in die Welt hinaus und verkaufte den Untertanen und Nicht-Untertanen seines
Königs prunkvolle Möbel, an deren Aufbau die Menschen schier verzweifelten. Die Könige
der anderen Länder glaubten schon dahinter könnte ein Hinterhalt des nordischen Königs
stecken, der die Völker zermürben wollte, damit er die Länder im Süden schneller erobern
könnte. Ein anderer Diener zog in die Welt hinaus um die jungen Menschen dort von den
Hosenträgern und Faltenröcken zu befreien, die ihnen ihre Eltern anzogen. Er überzog den
Globus mit unzähligen Läden, in denen die Jugend fortan dem Modekonsum frönen konnte.
Marie und Simone waren noch zu jung um sich an die Zeit vor H&M erinnern zu können. An
eine Zeit in der man morgens noch zur Schule gehen konnte, ohne Gefahr zu laufen im
gleichen Outfit wie ein anderer aufzutauchen. Ja, diese Zeiten waren endgültig vorbei, seit
H&M in jeder Kleinstadt ein oder zwei Filialen aufgemachte hatten.
„Was hältst du davon?“ Simone hielt sich die neongrüne Bluse an ihren Oberkörper. „Steht
mir, oder?“
„Na ja, wenn du zum Ampelmännchen umschulen willst.“ Marie fuhr mehr oder weniger
gelangweilt über die aufgestapelten Blusen in den Regalen, während ihre Augen nach etwas
ruhigerem Ausschau hielten als Kermit dem Frosch.
„Du hast meinen Stil ja noch nie gemocht.“
„Ich bin nur immer wieder überrascht das du dich bei H&M eindecken kannst.“ Marie konnte
der Ablenkung Einkaufen durchaus etwas abgewinnen. Nichts war besser geeignet sich
abzulenken oder seinen Frust abzureagieren als Unsummen von Euros für allerlei Dinge
auszugeben, die in dem Moment nutzlos wurden, in dem man sie bezahlt hatte. Nach
misslungenen Prüfungen, dabei fiel ihr ein das die nächsten ja auch schon anstanden, hatte sie
„Und was ist damit?“
„Hmm?“ Marie sah an dem Mickey Maus-T-Shirt vorbei die Treppe hoch. „Klasse, jetzt
brauchst du nur noch eins von Donald Duck und schon hast du halb Entenhausen im
Kleiderschrank.“
„Dir kann man auch gar nichts Recht machen. Ich geh mal rüber zu den Hosen.“
„Ich komm gleich nach.“ Marie stieg die Treppe hoch, und sah sich oben nach allen Seiten
um. Eine Verkäuferin versuchte gerade einer Schülerin, die nicht wesentlich jünger sein
konnte als sie selbst, einen Badeanzug anzudrehen. H&M-Verkäuferinnen hatten bestimmt
einen Lebenschip in die Hand einoperierte, wie in dem Film „Flucht aus dem 23.
Jahrhundert“, der aufleuchtete wenn sie 25 wurden und dann kamen die Liquidatoren. Gleich
dahinter, in der Unterwäsche – man bezeichnete es hier aber wohl als Dessous-Abteilung
huschten Anna, Stefan und Mark herum. Sie hatte sich also doch nicht getäuscht. Als sie
näher an die Drei herankam hatte Anna gerade einen BH samt Höschen von der Stange
genommen und hielt ihn Stefan entgegen, während Mark sich zu einer Reihe anderer BHs
runterbeugte und so etwas wie Interesse an weiblicher Unterwäsche heuchelte.
„Ich glaube der würde dir nicht stehen.“ Marie grinste breit als Mark rot anlief. „Deine Farbe
dürfte eher ein dunkles Blau sein.“
„Marie, was? Ich – Ha, ha, sehr witzig.“
„Du kannst wieder cool werden, ich stell mir schon nicht vor wie du in Frauenunterwäsche
aussiehst. Was macht ihr hier?“
„Stefan will für seine Ex oder Nicht-Ex ein Geschenk kaufen.“
„Ah, und Anna habt ihr als eine Art Fachfrau eingespannt.“
Anna war also entweder extrem nett zu ihren Kommilitonen, oder sie liebte das Einkaufen um
des Einkaufen willen.
„Und was machst du hier?“
„Ich hab mich von Simone zur Einkaufstour überreden lassen.“
„Wie geht’s ihr, ich hab sie lang nicht mehr gesehen?“
„Na ja, sie ist unten und kauft ein, sie müsste also auf dem Weg der Besserung sein.“ Im
nächsten Moment stürzte sich Anna auf sie, hielt ihr einen getigerten BH unter die Nase und
erklärte Stefan würde ernsthaft mit dem Gedanken spielen das Ding seiner Freundin zu
schon öfters halb Ansbach leergekauft und der örtlichen Geschäftswelt eine Art zweites
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kaufen. Sie schlossen für ein paar Minuten eine Allianz unter Frauen und redeten Stefan den
Im gleichen Augenblick begann hinter ihnen ein lautes Gebrüll, Marie riss ihren Kopf nach
Kauf wieder aus, dann machte sich Marie wieder auf die Suche nach Simone.
hinten und sah wie eine brave ältere Bürgerin mit einer zusammengerollten FLZ auf den
Bettler einprügelte und etwas von „Geh Arbeiten“ kreischte. Der Bettler kreuzte zum Schutz
Mit zwei Einkaufstüten voller geschmackloser H&M-Klamotten in den Händen lief Simone
beide Arme vor dem Gesicht, dankbar das die gute Bürgerin FLZ, statt FAZ las. Der Becher
hinter Marie aus dem Laden. Ihre Lacktretter klapperten auf dem Plasterstein des Platzes als
lag auf der Brücke, zwei Kiddies beugten sich nach unten und sammelten die Münzen ein,
würde sie mit Steppschuhen darüber hinwegmarschieren. Das vormittäglich sonnige Wetter
steckten sie sich in die Tasche und kickten den leeren Becher über die Brücke auf die Straße
hatte sich während Simones Einkaufsorgie in einen trüben verregneten Nachmittag
runter. Die Alte prügelte noch immer mit der Zeitung auf den Bettler ein, die beiden Jungen
verwandelt, der allerdings noch auf den tatsächlichen Regen zu warten schien.
suchten mit ihrer Beute das Weite und aus dem Hintergrund tauchte endlich ein junger Mann
Ob sich das auf der Suche nach dem verlorenen BH befindliche Trio wohl auch schon aus
auf, der die prügelnde Rentnerin, die wahrscheinlich ihr Leben lang auf Kosten des Ehemanns
dem H&M-Tempel verabschiedet hatte? Marie hatte sie beim Rausgehen nicht mehr
und dann auf Staatskosten gelebt hatte, zur Seite schob und dem Bettler so Gelegenheit zur
entdecken können, wahrscheinlich schleppte sie Anna inzwischen schon in Läden, von denen
Flucht gab.
die beiden grünen Jungs gar nicht wussten das man dort Unterwäsche kaufen konnte. Ob sie
Marie blickte mit einer Mischung aus Mitleid, Wut und Trauer auf die sich beendende Szene.
inzwischen schon im Pornoladen angekommen waren? Stefan würde sich nichts dabei
Das Ganze würde wahrscheinlich morgen in der FLZ stehen, damit eine weitere gute Bürgerin
denken, Mark schien seiner Jetzt-ist-eh-alles-egal-Stimmung schon ziemlich nahe gewesen zu
genug Masse zum Prügeln hatte, zu mehr war dieses Provinzblatt eh nicht zu gebrauchen.
sein – Auf der anderen Seite hatten sie mit Anna jemanden als Führerin, die einen für
Oder doch?
Ansba ch bemerkenswert guten Geschmack hatte. Gut, sie war ja schließlich auch keine
Ansbacherin von Geburt, sondern aus den gleichen widrigen Gründen hier gelandet wie Marie
Dem äußeren nach hatte die FLZ, wie man die Fränkische Landeszeitung nannte, um vom
auch: Scheiß NC!
Ruhm des Kürzels FAZ etwas abzubekommen, ihren letzten Relaunch kurz nach dem Krieg
Die beiden hatten inzwischen die Fußgängerbrücke über die Bundesstraße erreicht, die die
bekommen. Seit dem hatte sich kaum etwas getan, wahrscheinlich saß noch immer derselbe –
Altstadt vom Einkaufszentrum und der FH trennte. Gleich am Anfang kniete ein Bettler, Sinti
inzwischen nur noch durch Maschinen am Leben gehaltene – Chefredakteur wie damals in
oder Roma, oder wie immer man sie politisch korrekt nannte, einen alten Plastikkaffeebecher
seinem Büro und leitete die Geschicke einer 50er-Jahre-Zeitung im gerade begonnen nächsten
in der Hand streckte er ihn demonstrativ von sich weg. Hatte ihr Thorsten nicht neulich ne
Jahrtausend. Ein Onlineausgabe existierte natürlich nicht, deshalb auch kein Onlinearchiv,
Story erzählt, das er glaubte die seien organisiert? Immerhin war das hier nicht der erste
wahrscheinlich hatte sich die Existenz des Internets noch nicht bis zu den Harry Hirsch-
Bettler/in der ihr heute über den Weg kniete. Warum sich da noch kein braver CSUler für eine
Ausgaben herumgesprochen, oder sie hielten das ganze für modernes Teufelszeug, das sich eh
Kampagne „Sauberes Ansbach – Befreit meine Augen von Armut“ eingesetzt hatte war Marie
nicht durchsetzen würde. Also musste Marie für ihre geplanten Recherchen auf die
ein Rätsel. Der Bettler sah in ihre Richtung, Simone starrte schon demonstrativ auf die
Druckausgaben zurückgreifen. Zuerst hatte sie es in der FH-Bibliothek versucht, dort hatte
Einkaufstüten in ihren Händen, Marie blickte für einen Augenblick über ihn hinweg. Die
man immer einen Stapel aktueller Ausgaben ausliegen, aber man hob sie für Maries Zwecke
beiden waren schon an ihm vorbei, als Marie plötzlich stoppte, in ihrem Portmonee einen
nicht lange genug auf. Also musste sich Marie zum FLZ-Gebäude aufmachen, das vom reinen
Euro rauskrammte und ihn in den Kaffeebecher warf. Thorsten würde ihr jetzt Vorwürfe
Äußeren durchaus einer Zeitung in Würzburg oder Nürnberg würdig gewesen wäre. Als sie
machen, sie würde organisiertes Bettlertum unterstützen und so, und so was schimpfte sich
das letzte Mal hier gewesen war, hatte sie unter dem breiten Vordach, wo in Schaukästen die
Sozi.
aktuellste Ausgabe aushing, Schutz vor einem Regenguss gesucht, jetzt musste sie ins
„Wetten das er sich davon Schnaps kauft?“, murmelte Simone.
Gebäude rein. Dort hatte man ihr gar nicht die erwarteten Schwierigkeiten gemacht. Sie
„Und, wenigstens einer der heute Abend Spaß hat.“
erzählte dem Mann hinterm Schreibtisch einfach sie sei Studentin der FH, was nicht gelogen
war, und müsste für eine Arbeit schnell recherchieren, was gelogen war. Aber zumindest eine
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gute Lüge. Der Mann führte sie runter ins Archiv und setzte sie vor eine dieser Maschinen,
noch nichts gegessen. – Bei dem Italiener, gerne. Wann? – Bis dann.“ Sie steckte das Handy
mit denen man die abfotografierten Zeitungen lesen konnte. Welcome to the 70’s! Durch
zurück und war mit sich selbst ganz zufrieden.
Claras Tagebuchaufzeichnungen wusste sie ungefähr welche Zeitungen sie durchforsten
sollte, nach was sie aber Ausschau halten sollte wusste sie allerdings nicht. Sie wollte etwas
Eine Stunde später saß sie bei einem Glas Wein und einem Teller Tortelini bei dem kleinen
über diesen Heiner erfahren, wenn sich Clara an ihm wirklich wie angekündigt gerächt hatte,
Italiener, bei dem sie schon mehr als einmal mit Falkenstein essen war. Er schien irgendeine
dann – und da war sich Marie absolut sicher – auf eine schlagzeilenträchtige Art und Weise.
Neuigkeit für sie zu haben, wollte damit aber noch nicht rausrücken. Statt dessen machte er
Und zumindest damals hatte noch nicht viel dazugehört in der FLZ eine Schlagzeile zu
sie lieber neugierig, oder redete demonstrativ übers Essen. Marie wollte schon einen
produzieren.
Capuccino zum Dessert bestellen, als Falkenstein endlich damit rausrückte.
Nachdem sie sich eine halbe Stunde durch die diversen Nichtigkeiten einer mittelfränkischen
„Warst du schon mal in London?“
Kleinstadt gelesen hatte, war sie nahe dran aufzugeben. Himmel, wie langweilig eine Stadt
„Schon, einmal ne Woche mit der Schule und dann mal ein Wochenende mit zwei
doch sein konnte. Da wurden Kavaliersdelikte zur großen Kriminalitätswelle umgeschrieben,
Freundinnen, wir haben so einen Billigflug mit Ryan Air genommen. Warum?“
und das war noch das harmloseste. Clara schien dem Spruch „Rache genießt man am besten
„Och, ich muss zwei Wochen nach den Prüfungen dienstlich nach London, was hältst du
kalt“ zu frönen. Marie schob den Stuhl etwas zurück, stand auf und ging ein paar Schritte.
davon mitzukommen?“
Ihre Augen schmerzten schon ein wenig, in den 70ern hatte man auf eine optimale
„Nach London? Auf Dienstreise?“
Bildschirmauflösung wohl noch nicht viel Wert gelegt. Nach ein paar Minuten Pause setzte
„Klingt schlimmer als es ist. Ich muss ein paar Recherchen in der Bibliothek der London
sie sich wieder an das Gerät, sie wollte noch mindestens zwei oder drei Wochen
University machen, außerdem zwei Vorträge halten und noch ein paar Kleinigkeiten. Aber die
durcharbeiten. Dann fand sie endlich was sie suchte.
Abende und Wochenenden sind nur für uns.“
„Und was ist mit – mit deiner Frau?“
Nackter machte Stadt unsicher
„Die fährt zwei Wochen allein in Urlaub, wir fahren schon seit Jahren nicht mehr zusammen
in Urlaub, sie glaubt das würde unsere Beziehung entspannen und festigen.“
Ansbach
–
Polizei
Am
Morgen
Heiner
S.
nahm
die
fest,
Ansbacher
der
unter
Drogeneinfluss durch die Innenstadt getorkelt
war.
Die
Polizei
stellte
in
seinem
Marie verkniff sich einen Kommentar.
„Also, was ist, willst du mitfliegen?“
„Gerne, ich hab London schon immer gemocht.“
Blut
Spuren von Canabis und anderen Rauschmitteln
die
Der Prof warf einen giftigen Blick in ihre Richtung hoch, als sich Marie durch die Bankreihe
Straßen ging konnte Heiner S. nicht aussagen.
hindurchdrängelte, etwa eine halbe Stunde nach Vorlesungsbeginn, und schließlich auf dem
Die
freien Stuhl neben Mark Platz fand. „Morgen.“
fest,
wie
Polizei
und
warum
geht
von
er
nackt
einem
durch
dummen
Scherz
unter Jugendlichen aus. Der Sprecher meinte,
man hätte ihn ...
„Hat da etwa jemand die Zeit vergessen?“, grinste Mark, ohne von dem Magazin auf dem
ausgeklappten Tisch aufzusehen. „Du weißt doch, unser Prof geht davon aus das es nichts
„Da warst du aber nicht sehr originell. Du hättest ihn zumindest an diesen Metallgaul vor dem
Schloss anbinden können.“, murmelte Marie leise und lehnte sich zufrieden zurück. Im
nächsten Moment hörte sie ihr Handy läuten, vom anderen Ende des Archivs sah ein FLZ-
wichtigeres auf der Welt gibt. Soviel Missachtung muss ihn richtig kränken.“
„Das da ist aber auch nicht die Wirtschaftswoche, oder?“
„Meine Missachtung kriegt er wenigstens nicht mit.“
Mitarbeiter schon wütend zu ihr rüber. „Marie Jacotet! – Salut Alexandre. – Nein, ich hab
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„Bei dem kann man das nie wissen, Gott sei dank sitzen wir in so einem Raum, und nicht in
Chef auch nicht erwarten, er sah nicht nur aus wie aus einem Propagandaplakat der Nazis
einem mit Tischen und Stühlen, da taucht er plötzlich hinter dir auf und dann beschäftigt er
entsprungen, sondern hatte auch diesen militärischen Tonfall perfekt drauf.
sich die nächste Viertelstunde erst mal mit dir.“
„Sie macht in fünf Minuten Pause, dann schicke ich sie ihnen.“
Marie packte ihren schmalen Leitzordner, Kugelschreiber und Block aus. „Was liest du
„Fünf Minuten, Klasse. Danke.“ Was sollte dann die ganze Diskussion? Der arische Prototyp
interessantes?“ Sie warf einen Blick auf den Titel von Marks Zeitschrift. „Literaturen?“
machte auf der Stelle kehrt und marschierte Richtung Eistheke. „Espèce de con.“, flüsterte
„Eh, ich arbeite jetzt an einem Theaterstück mit.“
ihm Marie hinterher, trouduc war für so einen schon eine Nummer zu weich.
„Puh, soll ich schon mal Reich-Ranicki anrufen?“
Ein paar Minuten später brachte Terry ihr einen Becher Spagettieis und lies sich erschöpft
„Du bist wirklich witzig, echt, ich könnt mich wegwerfen. Auf dem Herbstfest nächstes
auf den Stuhl fallen. „Du musst Marie sein.“
Semester wollen wir auf dem Campus ein Stück aufführen.“
„Ja, hallo. Netten Chef hast du da.“
„Kultur, du hältst Einzug in Ansbach.“
„Hmm, ich weiß, aber bevor du dich in die Nesseln setzt, er ist auch mein Freund.“
„Fräulein Jacotet, wenn sie schon zu spät kommen, dann tun sie das wenigstens ruhig. Ihre
„Wer’s hart mag.“, Marie zog nur kurz die Augenbrauen nach oben. „Thorsten hat erzählt
Kommilitonen wollen mich verstehen.“, schrie der Professor zu ihnen hoch.
worum’s geht?“
„Pardon.“, sah sie schuldbewusst auf den kleinen Tisch vor ihr.
„Hat er. Diesen Freitag, so um 8, Alleestrasse 22. Komm einfach vorbei, falls dich jemand
In der Zwischenpause machte sie einen breiten Bogen um den Schreibtisch vor der Tafel,
fragt, sag Terry hätte dich eingeladen. Und jetzt sorry, aber meine Pause ist ziemlich kurz.“
und verschwand in Windeseile durch die Tür nach draußen.
„Eigentlich – Ich meine, bei solchen Partys, da –“
„Eh, Marie.“, Thorsten nahm einen tiefen Zug a n der Zigarette und winkte sie zu sich rüber,
„Eh, die Leute reden dummes Zeug, wir haben einfach nur Spaß und kennen kaum Grenzen,
„Ich hab mal mit meiner Bekannten wegen diesem Meinheimer gesprochen. Sie hat zwar
aber wir machen keinen Gruppensex im SM-Keller. Also, schau einfach vorbei, es wird dir
keine Zeit sich mit dir zu treffen, aber du kannst ja mal zu Paolo’s Eisdiele gehen, dort
gefallen.“
bedient sie. Frag dich einfach nach Terry durch.“
„Wird Heiner auch da sein?“
„Terry, Ossi oder Ami?“
„Klar, glaub schon, aber –“ Terry war praktisch schon verschwunden, kam jetzt aber noch mal
“Ne, ne Deutsche die Amerikanismen liebt.”
an den Tisch zurück, „- nur noch aus Sentimentalitätsgründen, mit ihm ist nicht mehr viel los.
„Merci.“
Am besten du ignorierst ihn einfach.“
„Na dann bis Freitag.“, nickte Marie nur und wusste nicht mal wie sie gerade überrumpelt
Paolo gab es schon längst nicht mehr. Er hatte hier seine Rente verdient und war dann auf
worden war.
dem schnellsten Wege zurück in das sonnige, konfuse aber vor allem lebenswerte Italien
geflüchtet. Inzwischen war Paolo ein zwei Meter großer, halb kahlgeschorener blonder Hüne,
bei dem man das dringende Bedürfnis bekam die Haken zusammenzuschlagen. „Terry, die
muss arbeiten.“, grunzte er Marie an.
„Es dauert auch nicht lange, ich bestell mir auch nen großen Eisbecher.“ Ihre Lockerheit
schien auf Granit zu beißen.
„Wenn sie reden wollen, muss sie Pause machen.“, blaffte er sie an.
„Keine fünf Minuten, ehrlich.“ Sie sah sie in der Eisdiele um, außer ihr saß nur noch ein
Pärchen händchenhaltender Schüler an einem Tisch. Großen Andrang durfte man bei diesem
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man das grelles Licht erkennen, bis zum Tor drang auch schon ein leises aber wildes
Partygemisch aus Stimmen und Musik zu ihr durch. Ein letztes Mal zögerte Marie noch, dann
setzte sie den ersten vorsichtigen Schritt auf den Kies. Nach ein paar Schritten hatte sie das
Licht der Straßenlaterne hinter sich zurückgelassen, obwohl die Laterne die Mauer eigentlich
Erst als sie an der Außenseite des Geländes, das von einer gut zwei Meter hohen Mauer
umgeben war, den steilen Berg hinauf ging konnte sie ihr mulmig bis ängstliches Gefühl nicht
mehr länger ignorieren. Plötzlich hielt sie es doch für ziemlich bescheuert auf Meinheimers
Party aufzutauchen, warum sie es erst jetzt für bescheuert hielt war ihr allerdings schleierhaft.
Als ob die Idee vor zwei Tagen noch nicht genauso bescheuert gewesen wäre, nur hatte sie
sich da irgendwie dazugebracht nicht drüber nachzudenken. Und darin war Marie schon
immer gut gewesen, Dinge verdrängen musste auch gelernt sein und außerdem gingen
Verdränger mit viel sicheren Schritten durchs Leben. Selbst bei der Auswahl der passenden
Garderobe hatte sich eigentlich noch gar keine Gedanken gemacht, obwohl sie nach dem
Kriterium vorgegangen war was wohl am nuttigsten aussah. Diese Kriterium zu erfüllen war
gar nicht so einfach, nuttig war nicht gleich nuttig. In Berlin würde es ausreichen einen
gürtelgroßen Mini und ein enges Top anzuziehen, in Paris müsste es am besten Mini, Hemd
mit ziemlich vielen nicht zugeknöpften Knöpfen und vor allem Strumpfhosen sein, in London
dagegen erforderte es wesentlich mehr Kreativität, obwohl dort im Augenblick gerade der
Schulmädchenschlampenlook im Trend liegen sollte. Aber das war nuttig in der Zivilisation,
überragte schien das Licht aus welchen Gründen auch immer nicht bis auf das Gelände
durchzukommen. Hier gab es nur das Licht das schon vom Haus herüberdrang, ein
schwaches, irgendwie irreales Licht. Aber dieses Licht machte es Marie einfacher, schon nach
ein paar Schritten stand sie vor der Eingangstür, die vor ihr aufgerissen wurde, noch bevor sie
nach so etwas wie einer Klingel suchen konnte. Ein Typ, das war ihre erste Meinung, blickte
sie von der Stufe höher herab an. „Dich kenn ich gar nicht.“, piepste der Typ mehr als
eindeutig bekifft bis zum Anschlag, und Marie war sich über das Geschlecht ihres
Gegenübers nicht mehr sicher.
„Ich dich auch nicht, aber Terry meinte ich könnte gern mal vorbeischauen.“, sie versuchte
sich keinerlei Unsicherheiten anmerken zu lassen, dabei konnte sie sich nicht erinnern je bei
einem normalen Türsteher so nervös gewesen zu sein.
„Na dann komm mal rein, die Party läuft schon auf vollen Touren.“
Auf vollen Touren, das Vokabular übernahm man in Ansbach also auch noch aus US-Teenoder Twen-Serien. Marie drängelte sich an dem femininen Mann, oder der maskulinen Frau,
vorbei und sah sich erst mal um.
was galt dann für Ansbach? Ansbach mit Berlin zu vergleichen war Schwachsinn, Ansbach
mit Paris zu vergleichen ein Zeichen geistiger Verwirrung, und Ansbach mit London messen
zu wollen sollte die sofortige Einweisung in die Irrenanstalt zur Folge haben. Die Jugend
dieser Stadt zog sich so a n als würde sie ihre Modetipps aus alten Folgen von „Berverly Hills
90210“ oder „Melrose Place“ beziehen. Und der weibliche Teil hatte noch nie was von
„Instyle“ oder der „Cosmo“ gehört und suchte sich ihre Schminktipps auch mit Mitte 30 noch
in der „BravoGirl“. Make-up, richtig, das musste auch schön nuttig aussehen. In Sachen
Kleidung hatte sie sich für die Art und Weise a la Paris entschieden. Schwarzer Minirock,
weiße Bluse, deren obere Knöpfe offen blieben und dazu leicht goldschimmernde
Strumpfhosen. Als sie sich abschließend im Spiegel betrachtet hatte fehlte ihr noch immer
einiges um als Partyluder a la Ariane Sommer durchzugehen, aber für Ansbach würde es
schon reichen. Eine Ansbacher Ariane Sommer könnte allerdings nicht besser aussehen. Das
ganze hatte sie ziemlich gut bei Verdrängung unterstützt, doch jetzt, wo sie das Eingangstor
schon sehen konnte nützte die Verdrängung nichts mehr.
Das schwarzgestrichene große Tor stand mit einem Flügel offen, dahinter konnte man einen
Wenn Meinheimer von etwas eine Ahnung hatte, dann vom Schmeißen einer Party. Sich
einen Überblick zu verschaffen war gar nicht so leicht, zumindest keine Aufgabe für fünf
Minuten. Das ganze Haus war umfunktioniert worden. Die Stockwerke schienen verschiedene
Musikrichtungen zu geordnet zu sein. Ganz unten empfing Marie Hiphop, im zweiten Stock
herrschte Technogetrommel und ganz oben tobte sich eine Heavy Metal-CD in der Anlage
aus. Wilde Orgien hatte sie dagegen noch nicht entdecken können. Nicht einmal eine kleine
Domina war ihr bis jetzt über den Weg gelaufen. Die allgemeine Kleiderordnung war von
einer RTL 2-Swingerclub-Dokumentation allerdings auch nicht sonderlich weit entfernt. Und
die große Blonde da h inten in der Ecke konnte man in ihrer Lack- und Lederkluft durchaus
schon als Domina durchgehen lassen, hobbymäßig. Aus den Lautsprechern, jedes Zimmer
war mindestens mit vier Boxen, groß wie Kindersärge, was für einen protzigen Besitzer
sprach, ausgestatt et, trommelte ihr irgendwas Independent entgegen. Von Musik verstand
dieser Meinheimer auch etwas, Thomas D. würde wohl heute nicht aus den Boxen kommen.
In der Hiphoparea herrschte kaum Gedränge, in einem Raum tanzte man, in einem anderen
chillte man auf einem schweren, mindestens antiken Esszimmertisch ab. Wer hatte ihr gleich
gut fünf Meter langen Kiesweg sehen der zum Hauptgebäude führte. Aus den Fenstern konnte
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erzählt das Meinheimers Eltern schon tot waren? Da hatte aber jemand Glück das ihm am
genommen als noch entkommen zu können. Mal an einem Joint ziehen war für sie –
nächsten Morgen kein elterliches Strafgericht bevorstand. Auf der anderen Seite hatte sie
vorausgesetzt Mama und Papa bekommen es nicht mit – ja in Ordnung, aber sie wäre doch
keinen Schimmer wie alt dieser Meinheimer eigentlich war. Marie wollte sich aber erst mal
nicht so dämlich jetzt was von dem Zeug zu schlucken. Schon gar nicht von jemanden in den
einen Überblick verschaffen, bevor sie sich nach Heiner und Meinheimer durchfragen würde.
Mund geschoben den sie nicht kannte. Der Typ legte ihr die Pille auf die Lippen, schob sie
Sie schlängelte sich die enge Treppe ein Stockwerk höher. Allein die Treppe in ih rem
dann langsam, wie in Zeitlupe durch diese hindurch. Wenn sie jetzt wegrennen würde, oder
Bauernhausstil mochte nicht in die Szenerie passen, in die Hiphoparea genauso wenig wie
die Pille einfach nur ausspucken, dann würde sie nie die Antworten bekommen wegen denen
hier oben im Technoland. Marusha war ja noch halbwegs erträglich gewesen, aber um hier zu
sie hier war. Aber was dann? Die Pille war in ihrem Mund, der Finger des Typen auch. Klar!
überleben musste man Ecxtasy sicher wie Smarties schlucken. Oder ziemlich geil sein, denn
Sie lutschte an dem Finger, zog ihn dann raus und warf sich den Typen um den Hals. Sie
hier trug man noch weniger als in einem RTL 2-konformen Swingerclub.
presste ihren Mund auf seinen, küsste ihn und spuckte ihm die Pille in Mund. Der Typ war
bestimmt schon so zugedröhnt, das er’s gar nicht merken würde. Offensichtlich hatte es
Simone presste sich direkt neben die Box und spürte die Vibrationen der Musik von ihrer
funktioniert, er torkelte einfach nur davon, Terry klopfte ihr auf die Schultern und begrüßte
Schulter aus schließlich im ganzen Körper. Was um alles in der Welt wollte Marie hier? Was
sie auf der Party, verschwand aber auch schon wieder bevor Marie sie etwas fragen konnte.
konnte sie bloß hier verloren haben? War das überhaupt Marie gewesen, sie war sich nicht
sicher.
Es gab kein größeres Gefühl als drei Pils auf einmal gezielt ins Klo zu befördern, Heiner war
Sie musste also vorsichtig sein, und sie musste es vor allem schnell hinter sich bringen.
sich sicher das das besser als Sex war. Auf der anderen Seite hatte er ziemlich lange keinen
Sex mehr gehabt und konnte es deshalb auch nicht mehr wirklich beurteilen. Er gab ein paar
Marie stolperte die Treppe wieder in die andere Richtung r unter, nachdem sie sich oben schon
laute Stöhner von sich, fast so wie beim Sex, schüttelte ein paar mal ab und fragte sich ob er,
so dezent wie möglich nach einem der beiden Typen erkundigt hatte. Ziemlich erfolglos,
weil viermal abgeschüttelt, schon Selbstbefriedigung betrieben hatte. Er zog den
deshalb jetzt mal zu den verhinderten Technogroupies. Der Beleuchter, wahrscheinlich nannte
Reißverschluss wieder nach oben und zuckte zusammen, als ihm zwei Hände über die
er sich Light- and Artdirector, hatte auf jeden Fall schon einiges intus, oder er war immer so
Schulter streichelten.
abgedreht. Am andren Ende des langgestreckten Zimmers entdeckte Marie dann endlich ein
„Warum packst du ihn schon wieder weg?“
bekanntes Gesicht. Terry unterhielt sich mit einem großgewachsenen Dunkelhaarigen, sah
Die Stimme lies ihn erschaudern, er wollte seinen Kopf nach hinten drehen, aber die Hände
kurz zu ihr herüber und deutete dann auf Marie, als wollte sie dem Typen auf sie hinweisen.
hielten ihn fest.
Mit Mühe konnte Marie noch sehen wie die beiden tuschelten und Terry ihm etwas kleines in
„Ich weiß wo du ihn wieder auspacken kannst.“, flüsterte Simone weiter und lies ihre Hände
die Hand gab. Dann verlor Marie die beiden aus den Augen, sie drängte sich durch die
wieder über Heiners Schultern hinunter zur Brust gleiten. Oder das was Heiner und so
schwitzenden Körper in die ungefähre Richtung zu ihnen durch, auch wenn ihr Gefühl im
manches Biologiebuch der 6. Klasse als Brust bezeichneten. Die Hände glitten tiefer über
Bauch gerade Amok lief und sie vom Gegenteil überzeugen wollte. Eigentlich riet ihr jede so
seinen Anti-Waschbrettbauch mit den Fingerspitzen in seinen Hosenbund rein. „Na, was
oft zitierte Faser ihrer Körpers möglichst schnell das Weite zu suchen, statt dessen stand sie
hältst du davon?“
Terry und dem Mann plötzlich direkt gegenüber. Sie kam gar nicht dazu den Mund
Heiner grinste breit, so breit wie es nur Besoffene tun konnte, und nickte eifrig. Auch wenn er
aufzumachen, der Typ legte seinen Finger auf ihre Lippen und schüttelte den Kopf. Um sie
seinem Glück noch nicht ganz traute, schließlich konnte dieses Angebot ja von einer fetten
herum tauchte noch ein paar andere auf, genau in die Falle getappt. Der pochende Rhythmus
alten Hausfrau kommen, die sich auf die Party eingeschlichen hatte. Er verdrehte seine Augen
der Musik bemächtigte sich ihnen und in der freien Hand des Typen tauchte zwischen zwei
so, dass er sich und Simone in einem der beiden Spiegel sehen konnte. Was er sah gefiel ihm,
Fingern eine blassblaue Pille auf. Na klasse, die wollen dich nur in Stimmung bringen. Marie
keine Monica Bellucci, aber immerhin. „Lasch unsch gehen.“ Er nickte eifrig mit dem Kopf.
wich einen Schritt zurück, aber sie war inzwischen von der Gruppe schon zu eng in die Mitte
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„Ja, lass uns gehen.“, lächelte ihn Simone angeekelt an, als er sich umdrehte und sie ihn im
zuschütten konnte. Wer so ein Haus in Gang halten konnte, der hatte außerdem bestimmt auch
matten Badezimmerlicht zum erstenmal wirklich sah. Männer wie er ließen sie jeden Morgen
die nötigen Mit tel sich einen Gärtner zu leisten.
Gott danken auf Frauen zu stehen.
Hinter ihr torkelte ein kleiner Zwerg auf den Teich zu, so was wie eine junge als Punk
Die Badezimmertür hatte einen Spalt weit offengestanden, doch als sie sie händchenhaltend
verkleidete Ausgabe von Woody Allen, fuchtelte mit den Armen und stand plötzlich neben
öffnete erschlug sie der Lärm des Metal förmlich. Simone drückte Heiners Hand fester, zog
Marie. Er blickte sie verdutzt an, dann starrte er wieder auf den Teich und kotzte sich die
ihn so hinter sich her. Sie durchquerten den großen Ra um, gingen raus ins Treppenhaus und
Seele aus dem Leib.
dann auf eines der Schlafzimmer des Gebäudes zu. Simone hatte es entdeckt, den Schlüssel
„Mon dieu !“, stöhnte Marie und sprang einen Schritt zur Seite, „Die Party kommt wohl
rausgezogen und abgeschlossen, hier sollte sie niemand stören. Jetzt schloss sie die Tür
langsam in Schwung.“
wieder auf, schob Heiner hindurch und schloss die Tür dann hinter sich wieder. Noch
Der Woody Allen-Punk sah sie für einen Augenblick noch mal verdutzt an, dann musste er
während sie den Schlüssel umdrehte und den Lärm draußen abschloss, hatte sich Heiner
sich schon wieder übergeben. Die Chilloutzone war gestorben, Marie machte sich wieder auf
breitbeinig vors Bett gestellt und versuchte ziemlich ungeschickt seinen Reißverschluss
die Suche nach ihrem Gastgeber.
wieder zu öffnen. Nüchtern hatte er darin genug Übung, da klappte das Ritsch-Ratsch
Im Erdgeschoss lief ihr Terry wieder über den Weg, diesmal lies sie Marie nicht ungefragt
praktisch automatisch, aber besoffen und mit der Aussicht auf jede Menge Sex war das
davon kommen.
Unternehmen doch ne Nummer schwieriger. Er schaffte es schließlich und grinste sie stolz
„Unsern Gastgeber? Den hast du doch schon kennen gelernt, und so wie ihr rumgeknutscht
über seine vollbrachte Tat an, das sich seine weißen Boxershorts langsam vom Urin gelblich
habt, habt ihr euch ziemlich gut kennen gelernt.“
färbten ignorierte er mal
„Das war er?“ Na Klasse, so zugedröhnt wie der Typ sein musste, konnte er ihr
„Jetzt wirst du zahlen.“ Simone flüsterte, und Heiner konnte sie wohl nur verstehen weil die
wahrscheinlich nicht mal auf die Frage nach seinem Namen eine passende Antwort finden.
Tür des Schlafzimmers ziemlich gut den Lärm wegisolierte.
„Zahlen? He Schätzschen, so ham mer nit gewettet! Ich zahl doch nichts für disch. So gut
Zugedröhnt war Meinheimer wirklich, allerdings nicht halb so unzurechnungsfähig wie Marie
siehscht auch nischt aus.“ Heiner fuchtelte wild mit den Armen, was seine Worte wohl
vielleicht vermutete. Reine Übung, er müsste die Dinger schon wie Smarties schlucken, damit
betonen sollte. Dann versuchte er seine Hose wieder anzuziehen und bekam mit was Simone
er wirklich zu wäre. Statt dessen bewegte er sich zwar durchaus wie unter Extasse durch sein
unter „bezahlen“ wirklich verstand.
Haus, aber eben doch völlig bewusst. Er spielte den perfekten Gastgeber, begrüßte die Gäste,
hatte Fun. Die Technorhythmen durchzuckten seinen Körper, als er durch die Massen glitt
Den Garten hatte die Party auch längst in Besitz genommen, was bei dessen Größe durchaus
und plötzlich stoppte, als sich Simone an ihn schmiegte. Sie rieb ihren schwitzenden Körper
eine Leistung war. Marie schlenderte mit einem Drink, was immer der Typ da auch
an seinen, was deutlich Wirkung tat. Jetzt durchströmte der Rhythmus sie beide, vereinnahmte
zusammengemixt hatte, übers Gras und lies Licht und Lärm für einen Moment hinter sich.
sie, nahm sie sogar ganz in Besitz. Die Spannung zwischen den beiden war mit Händen zu
Offensichtlich hatte sie die Chilloutzone entdeckt, ein kleiner Gartenteich gleich neben der
greifen. Simone drehte sich um, presste ihre Brust an seine und küsste ihn. Das heißt
Mauer die das Gelände von der Straße trennte. Jemand gab sich bei dessen Pflege Mühe, er
eigentlich schob sie ihm ihre Zunge zu einer ausführlichen Mandeluntersuchung rein,
sah tadellos aus, das Gras darum herum war geschnitten als wäre sie auf einem Golfplatz und
während seine Hände eine ausgiebige Untersuchung ihrer Schenkel in Angriff nahmen. Sie
soweit sie das in der trüben Helligkeit der Nacht erkennen konnte, war auch die kitschige Pute
verschlangen sich regelrecht, bis Simone ihn an sich presste und mit sich zog.
sauber geputzt. Sie konnte sich nur schwer vorstellen das jemand der solche Partys schmiss
Meinheimer irritierte es nicht besonders das sie den Schlüssel zu einem seiner
sich so einen Gartenteich hielt. Vielleicht war das ganze ja eine Art Denkmalpflege für die
Schlafzimmer hatte, die Vorfreude hatte ihn genauso wie zuvor Heiner ergriffen. Er lies sich
Eltern, der Lieblingsteich seiner Mutter, den er trotz der abgrundtiefen Kitschigkeit nicht
willenlos von ihr mit dem Rücken zu offenen Tür drehen und hindurchschieben. Sie schloss
hinter sich wieder die Tür und hinderte ihn nicht daran sich umzudrehen. Er tat es, sah den mit
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aufgeschlitzter Kehle auf dem Doppelbett liegenden Heiner und wollte schreien. Als er sich
„Na klar, why not? Wer soll denn die Glückliche sein?“ Einer der Dre i schmiegte sich
umdrehte sah er das glänzende Metal auf sich zu kommen. Ratsch. Er griff sich an die Kehle,
zusammen mit Terry in deren Ecke, lies seine Hände über ihre nackten Schultern streicheln
das Blut rann zwischen seinen Fingern hindurch. Er konnte nicht mehr schreien, presste auch
und schien eher an ihr, als an einem Frischling interessiert zu sein.
die zweite Hand auf die Wunde. In seinen Augen zeigte sich blan kes Entsetzen, er torkelte ein
„Eh, nicht so stürmisch.“ Terry nahm seine Hand, küsste sie und legte sie dann auf seine
paar Schritt, wie aus einem Geysir schoss das Blut zwischen seinen Fingern hindurch. Es
eigene Brust. „Erst mal die Kleine dort drüben, und später – wer weiß.“, schmunzelte sie ihn
wurde schwarz vor seinen Augen, er schwankte Richtung Simone, die wich aus, er knallte
zu.
gegen die Tür. Noch kämpfte er, noch gab er sich nicht auf. Sein halbgeöffnetes Hemd sog
„Ich nehm dich beim Wort.“, er streichelte ihr gierig über die Wangen und drehte sich dann
sich voll Blut. Sein Mund öffnete sich, aber noch immer konnte er nicht mehr als ein Röcheln
um, „Wer?“
von sich geben. Dann krachte er nach vorn und breitete sich auf dem Boden aus.
„Die kleine Brünette da hinten.“
„Na endlich, ich dachte schon du wolltest gar nicht mehr abkratzen.“, seufzte Simone auf und
„Sieht süß a us, wie diese kleine Lolitatussi aus Fronkreisch.“ Er betrachtete Marie eine ganze
legte das Messer beiseite. Sie packte den toten Meinheimer an den Schultern und zerrte ihn
Weile lang, dann legte er seine Arme um die Schultern der beiden anderen. „Allright Jungs,
ins Bett. Die beiden toten Männer lagen nebeneinander, Simone beobachtete sie lange,
haben wir ein bisschen Spaß.“
während sich in ihr die Wut wieder steigerte. Diese beiden Männer hatten ihre arme kleine
Marie sah wie sich Terry mit den drei Jungs reden, die mit ihrem Oberkörper
Clara zugrunde gerichtet, diese beiden Männer waren der Grund ihres Unglücks gewesen,
wahrscheinlich mehr Ölverbrauch hatten als die Vereinigten Staaten und Kanada zusammen,
diese beiden Männer waren schuldig und sie hatte wie alle anderen bisher für ihre Schuld
und bekam zum erstenmal das längst überfällige Gefühl das da jemand seinen Spaß mit ihr
gezahlt. Aber noch war die Rechnung nicht vollständig beglichen. Simone hatte kaltblütig
haben wollte. Erst indem man ihr eine nette kleine Pille zum Schlucken geben wollte, und
getötet. Rachemorde mussten kaltblütig begangen werden, nur so waren sie effektiv und
jetzt indem man ihr drei Typen auf den Hals hetzte, die sich für die nächste Generation der
genussvoll zugleich. Doch waren die Morde geschehen, konnte man die Rache in den
California Dream Boys hielten. Und diese Terry hielt sich offensichtlich für eine kleine
Vordergrund stellen. Simone packte wieder das Messer, stellte sich zuerst vor Meinheimer
Highschoolqueen, die mit den anderen nur spielte um so ihren Spaß zu haben. Mit Marie
und stach dann mit dem Messer auf seine Schenkel ein. Zuerst noch gezielt, genau auf sein
spielte sie wohl gerade das Tun-wir-nett,-aber-dann-sind-wir-böse-Spiel. Auf zuvorkommend
bestes Stück – in seinem Zustand eh nicht mal mehr zum pinkeln zu gebrauchen – doch dann
und hilfsbereit machend, aber nur um sie dann auf der Party zu demütigen. Nicht mit mir, du
stach sie wild und ziellos auf den Unterleib ein. Zehnmal, zwanzigmal, unzählige Male. Urin
Kleinstadtschlampe. Marie machte auf der Stelle kehrt und prallte gegen eine der drei
schoss heraus, mischte sich mit dem Blut und sog die Laken voll. Simone schwitzte, atmete
eingeölten Brüste. Roch nach Babyöl, was immer sie sich da auch auf die glatt rasierten
schwer, roch den furchtbaren Gestank, dann wand sie sich Heiner zu, lies ihm die gleiche
Brüste gestrichen hatten. „Eh, nichts für ungut, aber mir ist nicht mehr nach tanzen.“
Behandlung zugute kommen. Sie wusste nicht wie lange sie auf die beiden Toten
„Uns auch nicht.“
eingestochen hatte, fünf Minuten, zehn, sogar eine Viertelstunde? Sie schwankte ein paar
Sie konnte nicht mal mit der Wimper zucken, als die drei sie schon gegen die Wand gedrückt
Schritt zurück, dann beugte sie sich über die beiden Reste von Männern und legte sie so
und sich selbst in die anderen drei Himmelsrichtungen gestellt. Die sechs Hände schienen
zusammen, als wären sie mitten im Liebesspiel gekillt worden. Sie atmete durch, zog sich aus
plötzlich überall zu sein, sie hielten sie fest, fuhren über ihre Brüste, zwischen ihre Schenkel.
und holte ihre frischen Sachen aus dem mitgebrachten Rucksack, in den sie dann die völlig
Sie hörte irgendein lüsternes Stöhnen wie aus einem billigen Porno von „Zier dich nicht so“
blutbesudelten alten Sachen verstaute und das Weite suchte.
bis zu „Du willst es doch“. Um sie herum herrschte Gedränge, die Musik spielte laut, keiner
schenkte der Szene auch nur die geringste Beachtung.
„Kommt mal her.“ Terry winkte die drei Jungs mit offnem Hemd, damit man den eingeölten
„Nein, will ich ni- “ Einer presste ihr seinen Mund auf ihre Lippen und rammte seine Zunge
Oberkörper auch bewundern konnte, zu sich. „Was würdet ihr von ein bisschen Spaß mit nem
rein. Ein andere zog ihre Strumpfhose nach unten und fuhr mit seiner Hand in ihren Slip.
Frischling halten?“
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Dann herrschte plötzlich Stille, die Musik war verstummt, im ganzen Gebäude war kein Ton
mehr zu hören. Bis dann jemand meinte man müsse die Polizei rufen.
Nie wieder Alkohol, dröhnte es mantraartig in ihrem Kopf, als sich Marie noch im Halbschlaf
„Fräulein Jacotet, sie hier?“, rief ihr Krüger hinterher und marschierte in großen Schritten auf
auf ihrem Nachttisch Richtung Radiowecker vortastete. Britney Spears war ja schon Scheiße
sie zu, weil sie ihm drohte durch die Tür zu entkommen.
und höchstens was für halbpädophile Lesben, aber diese ganzen Retorten-Britneys, die jetzt
Wirklich zu entkommen hatte Marie gar nicht gehofft, schließlich hatte sie einem der
gleich im Dutzend aus den Versuchlaboren der Plattenfirmen hervorkrochen waren die reinste
Polizisten schon ihren Namen geben müssen. Aber lieber lies sie sich von Krüger morgen
Gehörgangvergewaltigung. Marie fand den Ausschaltknopf nicht, zog statt dessen den
nerven, als das sie ihm jetzt schon Rede und Antwort stehen musste. Doch damit war’s jetzt
Wecker zu sich ins Bett, warf einen kurzen Blick auf die Digitalanzeige und stopfte sich das
essig, er hat te sie noch vor dem Ausgang abgefangen und stellte sich schon direkt vor sie.
Ding dann unters Kopfkissen. Auf die Idee den Stecker rauszuziehen kam sie in ihrem
„Was wollten sie hier?“
Zustand noch nicht. Das war so natürlich kein Zustand, spätestens als der x-te No Angels-
„Mich von drei Typen durchvögeln lassen.“ Marie hatte deutlich zuviel Alkohol intus, da
Song durchs Kissen drang krabbelte sie aus den Federn, ging ein paar Schritte und beschloss
hätte sie auch gleich die Pille am Partyanfang schlucken können, die hätte sie auch bestimmt
RTL 2 vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen, wer die No Angels auf
nicht stärker zugedröhnt.
die Menschheit losgelassen hatte, der war bestimmt nicht menschlicher als Osama bin Laden.
„Bitte was?“
Ein Land das No Angels oder Brosis-Gegrölle als Musik anerkannte, sollte man eigentlich
„Pardon, drei Spinner wollten sich nur was rausnehmen, was ich nicht so wirklich wollte.
sowieso aus der internationalen Gemeinschaft ausschließen. Auf der anderen Seite was konnte
Aber ich bin ja ein großes Mädchen und kann schon auf mich aufpassen.“
man von einem Volk schon erwarten, dessen weibliche Seite sich von Boris „Wäschekammer-
„Kannten sie eines der beiden Opfer?“
Blow-Job-Specialist“ Becker angesprochen fühlte, und dessen männliche Seite Alexandra
„Nö.“ Klar, sie würde ihm jetzt erzählen das sie nur auf diese Provinz-macht-auf-Weltstadt -
„Froschmaul und Lache wie aus den Abgründen der Hölle“ Kamp sexuell erregend fand?
Party gekommen war, weil sie gerade mit den beiden Männern sprechen wollte die da oben
Marie rieb sich die pochenden Schläfen und setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen.
wie die Schweine abgeschlachtet worden waren. Genau die Formulierung hatte einer der
Ihr Mund war knochentrocken, ihr war schummrig vor Augen und das Anti-Alkohol-Mantra
Bullen gebraucht, den Marie zufällig belauscht hatte. Wie hatte er es formuliert? „Ich
kreiste noch immer in ihrem Kopf herum – auch wenn es natürlich wieder völlig umsonst
schlachte ja noch selbst, aber bei keiner Sau hab ich je so viel Blut gesehen. Und dann noch –
seine mahnende Stimme erhob. Welcher deutsche Student hörte schon auf eine Stimme, die
“ Statt was zu sagen hatte er Bulle schützend seine Hände ü ber den Unterleib gehalten. Marie
ihm vom Alkohol abriet. Da konnte man einem auch gleich weiß mac hen wollen das es
konnte sich ungefähr vorstellen warum er das tat.
biologisch nicht nötig war seinen Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Sie hatte das kleine
„Gehen sie oft auf solche Partys.“
Bad, jene Duschkabine mit integrierter Toilette, fast schon erreicht, als ihr auffiel das sie das
„Ich hab gehört die sollte ganz lustig sein, aber da hab ich mich wohl getäuscht.“
No Angels-Gedudel noch immer quälte. Kurzentschlossen marschierte sie zurück, riss den
„Lustig ist das wirklich nicht mehr. Halten sie sich zu meiner Verfügung.“
Stecker raus und beförderten den Wecker in die aufgewühlten Laken. Wenn er ihr morgen
„Ah, qui, qui moi commissaire !“
noch mal so einen Schrott anbieten würde, dann hieß es Fenster auf und raus. Mit dem
„Bitte? Ach ja, Französisch.“, er stöhnte und schüttelte den Kopf. „Schlafen sie gut.“
Wecker natürlich.
Das letzte musste wohl seine Art von Humor gewesen sein, Arschloch.
Nach einer kalten Dusche war zumindest das Schwindelgefühl verschwunden, der trockene
Rachen lies sich mit einer halben Flasche Evian befriedigen und für die Kopfschmerzen hatte
sie sich zwei – bis jetzt aber noch immer wirkungslos gebliebene – Aspirin reingeworfen.
Solche Pillen lies sie sich eingehen. Ein Volk das das Aspirin erfunden hatte, dem konnte man
seine sexuelle und musikalische Verwirrtheit durchaus verzeihen. Mit einem großen Handtuch
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um ihren Körper gewickelt torkelte sie vor der Küchenzelle herum, entschied sich ge gen die
„Ich wäre dir also gar nicht aufgefallen?“, grinste sie ihn schief an und schüttelte leise den
komplizierte Bedienung der Kaffeemaschine und stellte statt dessen eine Tasse Wasser in die
Kopf.
Mikrowelle, in die sie später Instand-Café au lait verrühren würde. Ihr Augen fielen auf die
„Sagen wir, es würde einem Kollegen nicht auffallen, weil, und das hoffe ich, er nicht
Klamotten von letzter Nacht, die sie einfach auf den Schreibtischstuhl geworfen hatte. Nur
wahnsinnig wird, dich sehen zu dürfen, aber dich dabei nicht berühren zu können.“
langsam kam ihr wieder alles in Erinnerung.
„Wie kitschig, sag noch mehr solche Sachen.“ Sie küsste ihn.
Diese kleine Schlampe Terry hatte sie also für ein Landei gehalten mit dem sie ihre Spiele
„Ich kann nicht, ich muss noch schnell beim Dekan vorbeischauen. Zieh nicht so einen
treiben wollte. Von einer Ansbacherin, für ein Landei gehalten zu werden, man, das war
Schmollmund, der macht mich noch wahnsinniger.“ – Dafür waren solche Gesten ja da. –
schon nicht mehr als Ironie zu bezeichnen, das war schlicht beleidigend. Wäre sie ein Kerl,
„Treffen wir uns heute Abend, wir gehen essen und danach ins Hotel.“
sie würde Terry verprügeln. Männer hatten es gut, die mussten sich nicht komplizierte und
„Ja, gib ihr was zu essen und dann schläft sie mit dir. Eh, war’n Scherz, liebend gern.“
deshalb gutdurchdachte Rachepläne ausdenken, die durften einfach in der Evolution
Ein Stockwerk tiefer lehnte Mark gegen die Wand und hörte die beiden tuscheln wie
zurückgehen und sich prügeln.
verliebte kleine Teenies. Vor seinem geistigen Augen tauchte eine flammenumkrönte
Die zwei Morde schossen ihr in den Kopf! Aber natürlich, sie passten ja genau ins Muster.
teuflisch lachende Marie auf, die ihre Hand durch sein Hemd und die Brust bohrte, um ihm
Heiner zumindest hatte was mit Clara gehabt, auch wenn er’s danach sicher bereut hatte. Und
das Herz rauszureisen damit sie vor seinen Augen darauf herumtrampeln konnte. Irgendwann
auch wenn Meinheimer keinen Swingerclub geführt hatte, Marie könnte sonst was drauf
im Paradies musste Adam Gott mächtig auf den Senkel gegangen sein, und als Rache dafür
wetten das die beiden es auch miteinander getrieben hatte. Meinheimer erfüllte die
erschuf Gott das Weib. Und Mark war genauso besessen von ihr wie es Falkenstein war, und
entscheidende Bedingung die Clara stellte, er war am Leben. Jetzt natürlich nicht mehr, und
das er von seinem Nebenbuhler wusste steigerte seine Besessenheit nur noch. Was hieß hier
nach dem Gesprächsfetzen die Marie von dem Bullen mitbekommen hatte, würde er auch
überhaupt Nebenbuhler, müsste er sich Marie nicht offenbaren, um als solcher bezeichnet zu
nicht mehr besonders viel für Nekrophile hergeben, so mit dem ganzen Brei zwischen den
werden? Aber wusste Marie nicht längst von seinen Gefühlen für sie? Konnte sie so blind sein
Schenkeln.
für seine verliebten Blicke, sein anhimmelndes Lächeln?
Marie nippte an dem heißen Café au lait und warf einen Blick auf die Uhr. Vorlesungen? Die
Prüfungen rückten näher, noch ein Schluck, dann löste sie den Knoten des Handtuchs, ging
„Woran arbeitet ihr?“, Marie setzte sich mit ihrer Colaflasche zu Mark und Peter, auch
zum Schrank und suchte sich schnell was zum anziehen raus. Nur keine Eile, pünktlich würde
bekannt als Mrs Fachschaft.
sie eh nicht mehr kommen. Es in ihrem Zustand innerhalb einer halben Stunde ganze 200
„Ich mach mir ein paar Gedanken über das Theaterstück.“
Meter von W ohnheim zu FH zu schaffen, ein Ding der Unmöglichkeit.
„Und ich treibe ihn zur Arbeit an.“, grinste Peter, immer darum bemüht ein in drei Monaten
beginnendes FH-Herbstfest schon jetzt bis ins kleinste Detail durchzuplanen.
Falkenstein sah kaum merklich auf und versuchte ein breites Lächeln zu unterdrücken, als
„Theaterstück? Ach, ja, fürs Herbstfest. Wie pietätlos.“
Marie an ihm vorbeischlich und sich zwischen den Tischen einen freien Platz suchte. Zehn
Peter stöhnte laut auf: „Mach keine Witze, ich hoffe bis dahin hat dieser Wahnsinn endlich
Minuten später war eh Pause und das Getümmel strömte nach draußen. Marie und Falkenstein
aufgehört, die Planung fürs Sommerfest haben wir ja schon eingestellt.“
warfen sich schweigende Blicke zu, nickten beide beinahe synchron, bevor er sich an ein paar
„Warum überhaupt, wir hätten an der Kasse doch einfach so schwarze Trauerbänder ausgeben
Studenten vorbei nach draußen drängelte. Marie folgte ihm ein paar Augenblicke später.
können. Wie heißen die Dinger gleich, die die man sich um den Arm bindet.“ Marie nippte an
„Du solltest besser beim nächsten Mal gleich in der Pause kommen, dann würde es gar
ihrer Cola. „Und ne Schweigeminute, ja, ne Schweigeminute hätte man natürlich auch
nicht auffallen.“, meinte Falkenstein, nachdem sich seine Ohren versichert hatten das sie
machen müssen.“
beide allein im Treppenhaus waren.
„Sehr witzig.“, Peter stand auf, „Sehen wir uns noch in WPR?“
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„Ich nicht, so was tue ich mir heute nicht an.“, schüttelte Marie den Kopf, Mark zuckte nur
Kommilitonen nachdenken. Biblisch ausgedrückt: Er war von Heuchlern und Pharisäern
mit den Schultern.
umgeben. Manchmal hielt er es für seine einzig gute Charaktereigenschaft kein Heuchler zu
„Er hat Recht.“, flüsterte Mark schließlich, als Peter schon auf den Campus verschwunden
sein, nicht jemanden freundlich anzulächeln, damit man hinterher über ihn herziehen konnte.
war.
Doch wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er einsehen längst selbst zum Pharisäer
„Recht, womit?“
oder Heuchler geworden zu sein. Man musste es einfach tun, man musste es, weil man sonst
„Manchmal bist du so zynisch, dass es nicht mehr lustig ist.“
selbst Ziel von Lästereien wurde. Manchmal wünschte er sich dem ganzen gelassen
Die merkwürdig abweisende Kälte in seiner Stimme erschreckte Marie, aber in ihrer Reaktion
gegenüberzutreten, so wie Anna beispielsweise. Die wusste das sie mit ihrer Art aneckte, aber
realisierte sie es noch nicht wirklich. „Bis jetzt hat dir mein Humor doch immer gut gefallen.“
es schien ihr egal zu sein. Hatte sie letztlich nicht Recht mit ihrer These: Die Meinung der
„Nur weil ich lache, muss ich es nicht zum totlachen finden. Manchmal lächelt man auch aus
Mehrheit über einen sei nicht so wichtig, wie die Meinung der eigenen Freunde. Sie war
Höflichkeit.“
bewundernswert.
„Mon dieu, da ist einer heute aber schlecht drauf.“
Mark nahm den Papierklumpen, stand auf und warf ihn in die Mülltonne.
„Vielleicht habe ich heute einfach kein Lust höflich zu lachen.“
Heute war einfach kein kreativer Tag für ihn.
„Man sieht sich.“ Marie stand auf und schüttelte den Kopf, machte auf der Stelle kehrt und
verschwand ebenfalls über den Campus.
Krüger sah hinter seinem Schreibtisch hervor, musterte Marie müde und warf einen
„Marie, tut mir leid.“, flüsterte Mark noch, aber sie konnte ihn schon nicht mehr hören. Er sah
abschließenden Blick auf die schwarze Diskette, die sie in ihrer Hand wippen lies. „Also, was
ihr nach, bis sie in einem der Gebäude verschwunden war, dann starrte er kopfschüttelnd auf
wollten sie mir sagen?“, fragte er schließlich, ohne dabei allzu viel Wissensdurst an den Tag
das leere Blatt vor sich, auf dem er sich ein paar Notizen für das Theaterstück machen wollte.
zu legen. Es war kurz vor Feierabend, und eine anhaltende Mordserie war kein Grund
Die Betonung lag dabei auf „wollte“, denn geschrieben hatte er noch nichts. Die
unbezahlte Überstunden zumachen.
Organisatoren wollten eine Satire auf das Leben hier an der FH aufführen, was angesichts der
„Sie wollten doch wissen warum ich auf der Party war.“
anhaltenden Mordserie ein ethisch nicht ganz leichtes Unterfangen war. Über die Klischees
„Das kann ich mir ungefähr vorstellen.“, stöhnte Krüger mit einem Blick auf die Uhr. Um zu
der einzelnen Studiengänge war man sich rasch einig geworden, den Hochsicherheitstrakt
saufen, oder war saufen für die Jugend von heute nicht schon viel zu altmodisch. Heute nahm
Bibliothek hatte man auch schnell ins Programm genommen, aber ansonsten sah das
man ja Drogen, und davon hatten sie letzte Nacht in Meinheimers Haus genug gefunden.
Drehbuch noch ziemlich leer aus. Man musste noch ein paar Personen aufs Korn nehmen,
„Eigentlich ist’s ne längere Geschichte. Sie wissen doch das ich auf Claras Beerdigung war,
ohne dabei beleidigend zu werden oder – im Falle von Professoren – zu riskieren bei der
danach hat mir ihre Mutter eine Diskette gegeben. Sie konnte damit einfach nichts anfangen.“
nächsten Klausur durchgeflogen zu werden. Man könnte auch ein paar besonders auffällige
Krüger schwankte zwischen Vorfreude auf sein Feierabendbier und so etwas, was man mit
Studenten hoch nehmen, wie die eine die ständig in ausgewaschenen Ganzkörperjeans über
viel Wohlwollen als mäßiges Interesse bezeichnen konnte. Sein Gesichtsausdruck blieb dabei
den Campus trottete und bei der sich einige des Geschlechts wegen nicht sicher waren.
aber so gleichgültig, das man weder das eine noch das andere daraus lesen konnte.
Angeblich hielt sogar eine Professorin sie für einen Kerl. „Oh, Scheiße.“ Mark zerknüllte das
„Das war ein Monat von ihrem Tagebuch.“
Blatt Papier vor sich und widerstand gerade noch der Versuchung es einfach
Ein bisschen Aufmerksamkeit keimte auf. „Wir haben keine Tagebuchaufzeichnungen
wegzuschleudern. Wurde er jetzt schon einer dieser Idioten die er wie die Pest hasste? Zu
gefunden, weder in ihrer Wohnung noch bei ihrer Mutter.“
einem jener Meinungsführern denen man nicht die Meinung sagen konnte weil man ansonsten
„Dann hat sie keins mehr geführt, oder was weiß ich.“
sein gesellschaftliches Leben gleich abschreiben konnte? Diese auf Weltbürger machende
„Von wann ist das Tagebuch? Und sie wissen schon, dass das Unterschlagung von
Typen, die in Wahrheit aber den Kleingeist in persona verkörperten? Er hätte nie zusagen
Beweismitteln ist, dafür kommt man in diesem Land ins Gefängnis.“
dürfen sich an dem Stück zu beteiligen, seit dem musste er viel zu viel über sich und seine
„Ich da chte nicht das das ganze wichtig sei.“
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„Hören sie auf zu denken, das macht die Polizei.“, brüllte Krüger plötzlich los, als wollte er
leicht ein paar mal auf die Matratze und blickte dabei auffordernd in Maries Richtung. Das
einen Anfall damit kompensieren
internationale Männer-Zeichen für „komm mal her“, galt für Frauen und Hunde. Ma rie
„Das halte ich für ein Gerücht.“, murmelte Marie vor sich hin und biss sich schon im nächsten
verstand es schon, es stand praktisch in Verbindung mit ihrer Dusche danach. Psychologisch
Moment auf die Zunge. Der bayrische Polizist an sich steckte seine gesamte Energie in das
wahrscheinlich so etwas wie eine Dominanzgeste, sie mochte duschen gehen, aber wenn er
Bemühen die perfekte Nachbildung von Chuck Norris als Texas Rangers zu werden, die dafür
dann auf die Matratze klopfte und sie kam wieder, ja dann gehörte sie wieder ganz ihm. Doch
in Anspruch genommene Gehirnkapazität fehlte natürlich an anderen Stellen. Deshalb begriff
diesmal schien sie zu zögern, einen Augenblick nur, scheinbar ganz und gar unterbewusst,
nur jeder zehnte bayrische Sheriff wenn man ihn verarschte, aber dann war der Zehnte
und Falkenstein hätte es beinahe nicht einmal bemerkt. Doch sie kam, setzte sich brav neben
mächtig sauer – aber mächtig sauer.
seinen in die Hotellaken gehüllten verschwitzten Körper auf die Matratze und sah lächelnd zu
„Erst die Justiz behindern, und dann auch noch frech werden? So läuft das hier nicht ab. Ich
ihm hin, während seine Finger über ihre Oberschenkel glitten.
könnte sie jetzt gleich einsperren lassen, ist ihnen das klar?“ Das war natürlich eine leere
„Sag mal, wie kommst du eigentlich bei mir für die Prüfungen voran?“
Drohung, erstens der Gesetzeslage wegen, zweitens könnte er damit seinen Feierabend
„Prüfungen?“
endgültig abschreiben.
„Die sind schon in ein paar Wochen.“
Aber die Drohung schien trotzdem zu fruchten, Marie gab nach und machte auf unterwürfiges
„Das weiß ich auch, aber das ist doch nicht gerade ein After-Sex-Thema, oder?“, schüttelte sie
kleines Mädchen. „Pardon, es tut mir leid, ich weiß auch nicht warum ich das gesagt hab. Ich
den Kopf, „Da redet man eher über so was wie: Wie hast du eigentlich verhütet? oder: Kann
bin nur völlig übermüdet, und das Ganze zerrt an meinen Nerven.“ Das dazugehörende
ich die Alimente für dein Kind auch per Dauerauftrag überwiesen bekommen?“
Lächeln und der Augenaufschlag wirkte eigentlich besser als die Worte.
„Lass den Mist, das ist gar nicht komisch.“
„Das ist die Diskette? Geben sie sie mir!“ Er streckte ihr die Hand entgegen und lies die
Ansichtssache, zuckte Marie innerlich mit den Schultern und gab eine allgemeingültige
Diskette dann in seiner Schublade verschwinden. “Und was hat die Diskette mit der Party
Antwort auf seine eigentliche Frage. Sinngemäß so etwas wie: Ich arbeite dran.
zutun?“
„Wenn du willst kannst du dir das ganz sparen.“
„Das weiß ich eigentlich selbst nicht mehr so genau.“
„Oh, du gibst mir also so oder so eine 1?“
„Das geht nicht, falls doch mal ein Zweitkorrektor dran geht. Aber ich könnte dir vorher die
Sollte man als Mann beleidigt sein, wenn die Frau nach dem Sex gleich unter die Dusche zu
Fragen geben und die Musterlösung, natürlich nur wenn du willst.“
springen pflegte. Immerhin könnte man darin doch so etwas sehen wie sie wollte sich
„Betrügen willst, meinst du.“ Sie blickte ihn ein wenig nachdenklich an. Eine gespielte
möglichst schnell waschen um den Schweiß – den Schmutz - des Mannes im Ausguss der
Nachdenklichkeit, die nur den Sinn hatte ihm glauben zu lassen sie hätte dabei Skrupel, dabei
Dusche verschwinden zu lassen, wo er sich durch die alten verbleiten Rohre hinunter in die
hätte sie sein Angebot am liebsten schon im ersten Augenblick mit Jubelgeschrei dankend
Kanalisation schlängelte, und sich dort angekommen schließlich mit dem ganzen anderen
angenommen.
Dreck im großen unterirdischen Kloakenparadies der Ratten vereinigte.
„Natürlich muss das unter uns bleiben, auch keine heimlichen Hilfestellungen an Freunde von
Falkenstein presste seinen Kopf tiefer in die Daunen des Kissens und lauschte dennoch dem
dir.“
laufenden Wasser der Dusche im Zimmer nebenan. Seine Blicke waren starr zur Decke
„Das würde sich natürlich von selbst verstehen.“, nickte sie, noch immer darum bemüht die
gewandt und auf seinen Lippen zeichnete sich das diebisch-zufriedene Grinsen eines kleinen
Zögernde zu geben.
Jungen ab – natürlich das eines ziemlich frühreifen sexuell befriedigten kleinen Jungen. Die
„Und, möchtest du?“
Tür zum Badezimmer öffnete sich, sein Grinsen wurde zu einem breiten Lächeln, als Marie
„Ich weiß nicht so recht.“ Langsam drohte sie den Bogen zu überspannen. „Kann ich – Oder,
mit einem Handtuch umschlugen heraus kam. Sein Kopf tauchte wieder aus dem dicken
ja, gut. Danke.“
Kissen auf und Falkenstein richtete seinen Oberkörper nach oben. Mit einer Hand klopfte er
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Simone tänzelte über den nächtlichen Gehsteig am Studentenwerk, als wäre sie die
kleines Mädchen das sich auf ein Spielzeug freute. Irgendwer hatte ja mal rausgefunden das
Reinkarnation von Gene Kelly aus „Ein Amerikaner in Paris“. Es fehlte nur noch Regen, ein
kleine Kinder im Straßenverkehr nur gut 1/3 von dem mitbekommen was ein Erwachsener
dazu passender Schirm und eine Straßenlaterne, um die sie sich schlingen konnte. Es war ein
sehen würde, in diesem Rauschzustand war es wohl nicht anders. Simone lachte, drehte sich
langer Weg gewesen, aber sie fühlte sich wie kurz vor dem Ziel. Am Anfang hatte sie nur
um sich selbst, sprang vom Gehsteig –
rumgeheult, wie ein dummes kleines Mädchen das sich nicht anders helfen konnte. Ja, sie war
Der klapprige Audi hatte ungefähr die dreifache Geschwindigkeit des Erlaubten drauf, als er
so abgrundtief hilflos gewesen! Bis sie beschlossen hatte etwas zu tun, bis sie wirklich mit der
in Schlangenlinien mal auf der, mal auf der anderen Straßenseite raste. Der Fahrer war in
Trauerarbeit begonnen hatte. Um jemanden zu weinen war keine Leistung, jeder konnte um
einem anderen Rauschzustand, völlig zugedröhnt, eigentlich sah er nicht mal mehr den
jeden weinen. Weinen war keine Leistung, was waren Tränen schon mehr als Wasser das
Schmutz der Windschutzscheibe vor sich.
salzig schmeckte wenn es die Lippen berührte. Weinen konnte man auch bei „Love Story“,
Simone erwachte plötzlich aus ihrem Rauschzustand, sie riss die Augen auf und sah die
oder um den verstorbenen Promi im Nachruf der Fernsehnachrichten, oder um ein paar zu
beiden grellen Fernlichter des Autos auf sich zurasen. Ausweichen! Die Motorhaube erfasste
Gulasch verarbeitete Bernhardiner in chinesischen Schlachthäusern. Das war doch keine
sie, ihr Körper wurde durch die Luft geschleuderte und knallte auf das Wagendach, dann auf
Trauer, das war doch „Du bist tot, aber morgen habe ich das und vor allem dich auch schon
den harten Asphalt.
wieder vergessen“. Nur um jemanden zu weinen war nicht besser als den Betreffenden zu
verachten. Wirkliche Trauer bedeutete mehr. Es war zum Beispiel die Vollendung des Lebens
Mark schreckte aus dem Schlaf hoch, sich zuerst nicht sicher ob die Sirene die ihn weckte
des Toten, Trauern war die Vollendung einer Oper oder eines Buches, das war Trauerarbeit.
durchs Fenster drang oder doch aus dem noch laufenden Fernseher. Er rieb sich müde die
Das war die eine Möglichkeit Trauerarbeit zu betreiben, die andere war die gute alte Rache. In
Augen, die sich nur langsam an die Lichtverhältnisse gewöhnten. Die Sirene musste von
den ach so zivilisierten Zeiten des Hier und Jetzt war Rache ein wenig aus der Mode
draußen kommen, im Fernsehen lief MTV: „I’m gonna be alright“ von Jennifer Lopez, ein
gekommen, se lbst die gute alte sizilianische Blutrache gab es nur noch in der x-ten
Clip den man um diese Uhrzeit nicht mehr von einem der Sozialhilfepornos auf 9 Live
Wiederholung der „Golden Girls“. Aber es gab nichts besseres als Rache um zu trauern. Und
unterscheiden konnte. Mark war einfach eingeschlafen, trug also noch immer seine Sachen
Simone trauerte um ihr Leben. Nach und nach hatte sie sich an all denen gerächt die ihrer
vom Tag. Müde stemmte er sich aus dem Bett, torkelte zum Fernseher und schaltete um, dann
kleinen Clara wehgetan hatten, die sie missbraucht hatten, die sie letztlich alle gemeinsam
ging er zum Fenster, warf einen Blick nach draußen und versuchte überhaupt etwas zu
getötet hatten. (Das auch ihr wirklicher Mörder unter ihnen war, da war sich Simone ganz
erkennen. Ein paar Lichter, zwei Sirenen , ein paar dunkle Schatten, wahrscheinlich hatte
sicher.) Am Anfang hatte sie es noch mit Trauermine getan, hatte sich danach schlecht gefühlt
irgendein Besoffener sein Auto gegen einen der paar Bäume gesetzt. Mark wusste schon
ein Menschenleben beendet zu haben, ganz egal ob derjenige es verdient hatte. Aber mit
warum er kein Auto fuhr. Er schloss das Fenster wieder, lies sich aufs Bett fallen und blickte
jedem neuen Mal war sie sich bewusste geworden das einzig richtige zu tun, sie hatte eine
gelangweilt in die Widerholung von Oliver Geissen, während er den Rest aus der Colaflasche
Aufgabe, nein, sie hatte ihr Schicksal, ihre Berufung zu erfüllen. Andere Frauen fühlten sich
trank. Abgestandene Coca Cola schmeckte fast genauso schlecht wie die DDR-Cola, die er
berufen Nonne zu werden, sie wurde ein Racheengel. Und es war ein berauschendes doppelt
damals kurz nach der Wende als Kind bei einem Besuch in Thüringen getrunken hatte. Ein
berauschendes Gefühl, sie erfüllte eine Aufgabe und sie besaß die absolute Macht über Leben
Geschmack der so grauenhaft war, das er ihn bis heute nicht vergessen hatte. Wahrscheinlich
und Tod. Das verursachte in ihr Gefühle, die man mit Berauschtheit nur unzulänglich
war DDR-Cola nichts anderes als zusammengeschüttete Reste aus dem Westen. In der
beschreiben konnte.
Talkshow, angesichts der Gerichtsshows schon so etwas wie ein Klassiker, ging’s mal wieder
Es war dieses Hochgefühl das sie jetzt so berauscht tanzen lies. Der Grund dafür mochte
um das Thema schlank-mollig-fett. Es war die alte Geschichte, alle Frauen hielten sich für
schon fast 24 Stunden her sein, aber dieser unbeschreibliche Rausch dauerte noch immer an.
mollig. Die magersüchtige Blonde ebenso wie die fette Brünette, die zwei Minuten vorher
Keine Droge der Welt könnte diese Wirkung haben. Sie tanzte von einem Bein aufs andere,
ihre Tonnen kaum noch durch die Tür hatte bugsieren können. Sie saß da wie ein
sprang vom Gehsteig auf die Straße und von der Straße wieder auf den Gehsteig. Wie ein
schwabbeliger Haufen Fleisch, eingepackt in Dessous, und schrie in die Welt hinaus die
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Männer seien verrückt nach ihr. Offensichtlich war das Fett schon in andere sehr hoch
08.
gelegene Regionen ihres Körpers gewandert. Mark schaltete um, dann aus. Der Fernseher war
die einzige Lichtquelle gewesen, jetzt saß er in der Dunkelheit, aber sämtliche Sehnsucht nach
Schlaf war verschwunden. Er stand auf und knipste das Licht an. Draußen war der Lärm
erloschen, nur noch ein paar Autos fuhren ab und zu auf der Straße unter dem
Studentenwohnheim vorbei. Hatte er überhaupt Sirenen gehört, oder hatte er sich das ganze
nur eingebildet. Mark hielt die Stille plötzlich nicht mehr aus und schaltete das Radio an.
Klasse, schon wieder J.Lo. Sie verlor irgendwie wenn man sie nur singen hören konnte, statt
dabei gleichzeitig mit ihrem Hintern zu wackeln. Wahrscheinlich war sie deshalb auch eine
bessere Schauspielerin, wenn auch nicht unbedingt eine gute.
Er warf einen Blick auf die Uhr, noch nicht mal 3, aber er hatte das Gefühl die Nacht sei für
ihn beendet. Also ging er zum Kühlschrank, verschlang ein Five -Pack Milchschnitten und lies
sich dann in den großen Schreibtischstuhl fallen. Vor ihm lagen die Notizen für das
Theaterstück, noch immer hatte er kaum etwas zustande gebracht.
„Ich hätte auf meine Eltern hören sollen.“, murmelte er leise vor sich hin.
Ja, nach dem Quali hätte er KfZ-Mechaniker werden sollen, oder Elektriker, oder was man
sonst mit diesem Schulabschluss, der doch nur auf dem Papier einer war, heutzutage noch
werden konnte. Ein Freund von ihm hatte das gemacht, der war inzwischen verheiratet, das
erste Kind war unterwegs, sie hatten eine kleine Wohnung in der sie bald eine kleine
glückliche Familie sein würden. Ein glückliches Leben in der Belanglosigkeit der Masse, die
Erreichung eines Lebensziels auf niedrigem Standard, aber immerhin die Erreichung eines
Ziels. Er hatte dagegen höhere Ziele, wollte es zu etwas bringen und dabei dachte er nicht
einmal unbedingt an das BWL-Diplom. Doch das war noch in weiter Ferne, die kleine
Familie hätte er inzwischen schon gründen können. Seine Mutter würde ihm aus Dankbarkeit
dafür wahrscheinlich die Füße küssen. Und vielleicht wäre er mit diesem kleinen Ziel ja auch
zufrieden gewesen, aber jetzt war es zu spät. Vielleicht wäre er dann auch ein richtiger Mann
geworden, was wiederum seinen Vater dazu bringen würde ihm die Füße zu küssen, aber
vielleicht würde er Marie dann auch endlich gestehen was er für sie empfinden würde?
Vielleicht! Vielleicht! Vielleicht! Mark blickte ins Leere. Aber es war nicht so.
Die Türen des Krankenhauslifts schoben sich nur langsam und unter lautem Geknarre vor
Marie auf. Sie hatte die ganze Zeit ungeduldig mit dem Fuß auf den blitzblank geschrubbten
Kabinenboden getippelt, dieser Aufzug war nicht nur klapprig und keimfrei, sondern bewegte
sich auch scheinbar nur im Zeitlupentempo. Als sich die Türen endlich ganz öffneten kam es
Marie so vor als hätte sie Stunden vom Erdgeschoss hier nach oben gebraucht. Schon nach
dem
ersten
Schritt
aus
der
Kabine
heraus
fühlte
sie
sich
völlig
im
Krankenhausparalleluniversum angekommen. Jener keimfreien Welt der absoluten Sterilität,
physischer wie psychischer. Ihre Schritte hallten durch den weißgetünchten Korridor, der nur
von blassgrauen Türen und mattgrünem Grünzeug eingefärbt wurde. Ihr begegnete zuerst
keine Menschenseele, Menschen wirkten an diesem Ort auch irgendwie deplaziert. Sie bog
um eine Ecke, blickte den langen Korridor hinunter bis zur kleinen Warteecke, wo sie
Simones Eltern stehen sah. Sie konnte sich nicht mehr erinnern wann sie die beiden kennen
gelernt hatte, in ihrem Kopf schwirrte so viel herum, dass sie sich nicht mal sicher war die
beiden nicht nur von Fotos zu kennen. Simones Eltern gingen von einer Ecke zur anderen,
was so etwa drei Schritt waren, und schienen Marie gar nicht zu bemerken.
„Herr und Frau Schneider, Guten Tag, ich bin eine Freundin von Simone, erinnern sie sich
noch an mich?“
Simones Mutter schien sie noch immer nicht zu registrieren, nur ihr Vater sah zu ihr hinüber
und nickte. „Marie, nicht wahr?“
„Ja, wie geht es ihr, ich hab nur gehört das sie von einem Auto angefahren wurde.“
„Sie ist noch nicht wieder bei Bewusstsein.“, begann ihr Vater zu berichten, „Aber die Ärzte
meinen sie sei über den Berg. Sie wissen nur noch nicht ob sie bleibende Schäden haben wird,
sie könnte gelähmt sein oder ihr Gehirn könnte beeinträchtigt sein.“ Jetzt standen ihm ebenso
Tränen in den Augen wie seiner Frau.
„Kann ich sie sehen?“
„Sie lassen nicht mal uns zu ihr.“ Mit einem Kopfnicken deutete Simones Vater auf eine halb
geöffnete Tür des Krankenzimmers ein paar Schritt weiter. „Die Ärzte sind gerade bei ihr, wir
warten hier bis sie wieder raus kommen.“
Marie sagte nichts weiter sondern ging schweigend, fast wie in Trance an dem Vater vorbei.
Sie versuchte Simones Mutter ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, aber es kam nicht
mehr als ein mitleidiges dabei heraus. Lag wahrscheinlich daran, dass sie selbst ein
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aufmunterndes Lächeln hätte brauchen können. Sie wusste gar nichts, außer das es gleich
„Frauen sind doch wie Engel.“, philosophierte Heiko plötzlich vor sich hin.
hinterm Studentenwohnheim einen Autounfall gegeben und das es Simone erwischt hatte. Sie
„Egal was für Drogen du nimmst, hör auf damit.“
wusste nicht ob Simone nur ein paar Kratzer abgekriegt hatte, oder ob sie praktisch schon tot
„Was denn?“
war. Marie blieb vor der Krankenzimmertür stehen und sah fast ängstlich hinein. Es war ein
Mark beugte sich zu Heiko hin. „Willst du die Wahrheit über Frauen wissen? Menschen sind
ängstlicher Blick der nicht recht wusste was er hinter der Tür zu erwarten hatte. Da hinter
schon schlecht, aber Frauen, die sind das allerletzte. Frauen haben nur ein Ziel, möglichst
hätte alles sein können, vom Garten Eden bis zur Hölle. Doch sie sah nichts weiter als zwei
vielen Männern bei lebendigem Leib das Herz rauszureißen. Natürlich nur um darauf
Ärzte und eine Schwester von denen ihr die meisten den Rücken zudrehten und über dem Bett
herumzutrampeln. Und wenn sie sich später mal zum Kaffeeklatsch treffen, dann nur weil sie
gebeugt waren. Marie streckte ihren Kopf ein bisschen weiter nach rechts, um auf das
wissen wollen wie viel Herzen die beste Freundin schon geschafft hat. So viel zum Thema
Kopfende des Bettes sehen zu können. Für einen kurzen Augenblick konnte sie Simones
Frauen. Sei froh wenn der Kelch an dir vorübergeht.“
einbandagierten Kopf sehen, dann tauchte plötzlich die Krankenschwester vor ihr auf, sah sie
„Autsch, da ist jemand aber ganz schön desillusioniert.“
mit grimmiger Mine an und schloss die Tür – eigentlich schlug sie die Tür vor ihrer Nase zu.
„Da hat nur jemand endlich die Wahrheit erkannt.“, schüttelte Mark den Kopf, „Eine Welt
ohne Frauen wär gar nicht mal so schlecht.“
„Rechts!“, zischte Stefan in Richtung Mark und Heiko, die ihm gegenüber vor der Mensa
„Außer den Ausklappbaren.“, warf Gerd ein.
saßen.
„Oder Ally McBeal.“, gab Stefan zu bedenken.
„Rechts, was?“ Rechts läuft Frau vorbei, hätte der Satz wohl vollständig heißen sollen. Marks
„Setz noch Jessica Alba auf die Liste, aber dann ist’s auch gut.“
Nachfrage war also ziemlich überflüssig und eher ein Ausdruck seines allgemeinen
Heiko schüttelte nur den Kopf. „Ach, das meint ihr doch nicht ernst.“
Desinteresses an der Welt.
„Oh doch, todernst. Frauen sind Menschen, und Menschen mochte ich nie.“ Mark lehnte sich
Gerd, der neben Stefan saß, und Heiko hatten unterdessen ihren Kopf schon mal nach rechts
wieder zurück und lies seine eigenen Worte auf sich wirken. Die letzten Tage hatte ihn
gedreht, und sahen der Rothaarigen in den engen Jeans mehr oder weniger flüchtig hinterher.
ziemlich verbittert. Wie fragte sich seine Lieblingsautorin doch so schön selbst – „Hab ich
„Netter Hintern.“
denn ein kaltes Herz?“
„Wenn du meinst.“
„Na ja, zumindest sieht sie gut aus, kann man von deinem Geschmack nicht immer
Der Weißwein glänzte im künstlichen Licht aus dem Restaurant fast golden, als Marie durch
behaupten.“, grinste Gerd, „Obwohl Geschmack kann man das ja auch nicht nennen,
das Glas hindurch über den zugewachsenen Zaun sah, der die Gartenwirtschaft von der
Hauptsache Frau.“
Außenwelt trennte. Die Stadt lag auf der anderen Seite, von hier aus konnte man nur über
„Stimmt, du könntest dir zumindest ein paar Kriterien ausdenken. Nur Rothaarige zum
Hügel und Felder sehen. Zumindest über das was die Nacht noch davon preisgab, sie war
Beispiel. Dann würdest du nicht mehr alle fünf Sekunden irgendeiner hinterhergaffen und ich
wolkenverhangen und der Mond war nur ansatzweise zu sehen. Es war so eine merkwürdige
könnte in Ruhe essen.“ Wirklich Hunger hatte Mark allerdings nicht.
Stimmung zwischen Romantik und absoluter Trostlosigkeit. Nein, eigentlich war es gar keine
„Ich finde es nicht gut das ihr so über Frauen redet.“
Stimmung, Landschaften oder Tageszeiten erzeugten keine Stimmungen, Menschen taten das.
Die anderen Drei blickten Heiko halb fragend halb grinsend an. Sie erkoren Stefan dazu den
Marie tat es, sie schwankte immer wieder zwischen Romantik und Trostlosigkeit hin und her.
tödlichen Schlag auszuführen: „Wer steht denn hier auf kleine süße Polinnen?“
Sie und Falkenstein saßen allein hier draußen, tranken noch ein Glas Wein nachdem sie
„Das ist etwas ganz anderes.“
zusammen gegessen hatte. Auf dem Tisch brannten zwei Kerzen, aus dem Restaurant selbst
„Nein, ist es nicht, du hast dir nur Kriterien zugelegt. Kleine süße Polinnen eben.“ Mark
hörte man leise Musik. Es war romantisch, vielleicht nur ein billiger Abklatsch von Romantik,
lehnte sich an die Stuhllehne und warf als letzter einen Blick auf die vorbeigehende
aber das erkennen zu können war ein Privileg des Außenstehenden. Für Marie reichte die
Rothaarige. Netter Hintern, dachte er, was er natürlich nie offen zugeben würde.
Romantik völlig aus. Und die Trostlosigkeit? Die Ärzte hatten auch Marie versichert das
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Simone wohl über dem Berg sei, es wäre nur eine Frage der Zeit bis sie wieder zu
gerade widersprechen würde. Sie war auch attraktiver als Clara, ihr Körper hatte etwas
Bewusstsein kommen würde. Aber zu ihr gelassen hatten sie weder Marie noch Simones
graziles, wenn auch nicht unbedingt weibliches. Clara war ohne Zweifel weiblicher gewesen,
Eltern. Und solange sie nicht mit eigenen Augen sehen konnte wie es Simone ging, so lange
aber auch auf eine plumpe Art und Weise. Nur beim Sex hatte Clara wesentlich mehr Talent
könnten ihr auch Hundertschaften von Ärzten etwas von Besserung erzählen, sie würde
gehabt. Falkenstein neigte den Kopf ein wenig zur Seite und musterte Marie mit dem Ich-
keinem einzigen glauben. Ihre Gedanken kreisten um dieses geschundene Gesicht in den
kann-durch-deine-Kleider-sehen-Blick. Beim Sex schien Marie irgendwie eine Art Grenzlinie
weißen Bandagen, auf das sie nur für ein paar Momente hatte einen Blick werfen können.
zu ziehen, sie gab sich nicht total hin. Für Clara war Sex eine Religion gewesen, die sie
Dennoch hatte es sich bei Marie ins Gedächtnis eingebrannt. Es war beinahe so als wäre
predigte und lebte. Eine Kombination die bei allen Religion ja nicht gerade häufig war. Marie
Simone schon immer so herumgelaufen, an ihr normales gesundes Gesicht konnte sich Marie
war diesbezüglich nicht atheistisch, aber sicher auch nicht das, was man eine begeisterte
nicht entsinnen.
Kirchgängerin nennen würde. Manchmal kam es ihm so vor als würde sie nur die
„Du siehst müde aus.“, meinte Falkenstein plötzlich, und da hieß es immer Männer seien
Pflichtgottesdienste zu Ostern, Pfingsten oder Weihnachten besuchen wollen. Jetzt wo er
diesbezüglich unsensibel.
darüber nachdachte zog Marie eigentlich in allen Dingen eine Grenze, nur war es ihm in
„Was, wirklich? Pardon, sind wahrscheinlich noch Nachwirkungen vom Krankenhaus.“
anderen Bereichen noch nicht aufgefallen. Sie verschloss immer einen letzten Rest von sich
„Krankenhaus?“ Ach, ja, der Unfall. Er erinnerte sich am Rande davon gehört zu haben,
vor der Welt, wachte über diesen und würde ihn mit ihrem Leben verteidigen. Dieser letzte
endlich mal ein stinknormaler Autounfall und nicht schon wieder ein Mord. „Du bist mit dem
Rest begann ihn zu reizen, er würde sie nie ganz besitzen können ohne diese letzte Grenze zu
Unfallopfer gut befreundet?“
überschreiten. „Wollen wir gehen? Ich hab uns schon das gleiche Hotelzimmer reserviert.“
„Ziemlich, ja.“, nachdenklich blickte sie noch einmal durch das Gold des Weines, aber die
Marie blickte ihn für paar Momente mit einem Typisch -Mann-Blick an. Gerade heuchelte er
Welt dahinter wollte ihr einfach nicht goldschimmernd erscheinen. „Weißt du, zuerst dachte
noch Mitgefühl und Verständnis, und jetzt wollte er mit ihr in die Kiste springen. „Heute
ich sogar sie hätte sich vor das Auto geworfen.“
nicht, ich möchte einfach nur schlafen.“
„Selbstmord?“
„Das kannst du danach auch.“, lachte Falkenstein dreckig.
„Simone und Clara waren – waren ziemlich eng befreundet. Claras Tod hat sie ziemlich
„Alexander, ich will nicht.“
mitgenommen, auch wenn sie’s verdrängt hat.“
„Schon gut, musst ja nicht gleich sauer werden.“ Dann musste er heute eben mal wieder mit
Eine gute Freundin von Clara? Falkenstein konnte sich nicht erinnern das Clara eine Simone
seiner Frau schlafen, so zur Abwechslung.
je erwähnt hätte, aber sie hatte ja ohnehin nie soviel von sich erzählt – oder überhaupt so viel
gesprochen – wie Marie. „Das tut mir leid.“ Im Nachhinein war Claras Wortkargheit
Mark nickte nur beiläufig während er Karl nur mit einem Ohr zuhörte und statt dessen durch
wahrscheinlich sogar als Plus ihrer Beziehung zu sehen. Wenn sie mal was längeres erzählt
den Glaseingang des Studentenwohnheims auf die Müllcontainer direkt gegenüber sah. Ein
hatte, war es belanglos gewesen, dämlich oder schlicht ein Grund taub zu werden. Er konnte
äußerst idyllischer Ausblick, da hatte sich jemand aber Gedanken über die Wohnqualität für
sich da an ein paar Unterhaltungen erinnern, die allein seinen Mord an ihr vor jedem Gericht
Studies gemacht. Auf der anderen Seite sparte man sich so zumindest lange Wege um sein
der Welt rechtfertigen würden. Damit würde er selbst vor einem texanischen
Altpapier loszuwerden, und es war bald Prüfungszeit, danach würde es wieder eine Menge
Todeszellenrichter durchkommen, ein guter Anwalt und ein Schwarzer oder Latino der zur
Altpapier geben. Mark wusste im Grunde gar nicht worüber Karl gerade redete, Dialekte
Tatzeit in der gleichen Stadt war, und schon würden sie ihn mit Jubelgeschrei aus dem
wurden bei ihm, obwohl selbst Franke, immer unverständlicher je weiter südlich sie waren.
Gerichtssaal tragen und jemand anderen gut durchbraten lassen. Intelligenter war Marie auf
Bei Hamburgern oder gar Plattdeutschen hatte er keinerlei Probleme, aber bei Hessen fing es
jeden Fall, Clara hatte man bestenfalls etwas wie Bauernschläue nachsagen können. Sie war
schon an. Die sprachen alle wie dieser Aaaaaaaaaaaschhhhhhheeeeeenbesccccchhhhhhhhher-
nicht nur klüger, sie war kultivierter, kleidete sich jung, aber geschmackvoll, man konnte sich
Typ aus dem Quatsch Comedy Club. Schwaben hatte er nie verstanden, die sprachen alle als
mit ihr sehen lassen. Na ja, wenn das den Grundprinzipien einer heimlichen Affäre nicht
hätten sie zwei Teller Spätzle auf einmal im Mund. Als Kind war er mal mit seinen Eltern im
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Bayrischen Wald in Urlaub gewesen, damals hatte er nicht mal die Speisekarte lesen können.
„Scheiß auf die Prüfungen.“, zuckte er mit den Schultern, „Die Prüfung die man nicht
Mit den Österreichern ging es dann schon wieder, Wienerisch fand er – zumindest bei Frauen
schieben kann ist noch nicht erfunden.“
– fast schon wieder ansprechend, nur Switzerdytsch war für ihn immer die reinste
„Ich hab letztes Semester schon geschoben wie’n Weltmeister, wenn ich nicht ein halbes
Fremdsprache geblieben, da war Suaheli ja schon verständlicher. Bei Karl gab es Phasen, im
Dutzend Semester dran hängen will muss sich die ein oder andere Prüfung diesmal
Augenblick war Mark die Phase aber egal, in seinem Kopf schwirrten ganz andere Dinge
schreiben.“ Und außer bei Falkensteins Prüfung müsste sie dafür sogar lernen.
herum. Von Simones Autounfall hatte er gerade eben erst etwas gehört, sein erster Impuls war
Die Aufzugstüren schob sich auf, beide gingen hinein und schwiegen bis sich die Kabine
es gewesen nach Marie zu sehen, aber dann erinnerte er sich daran ja beschlossen zu haben
wieder schloss.
über sie hinwegkommen zu wollen. Ein ziemlich zweckloser weil undurchführbarer
„Mark?“
Beschluss, aber so kurz nach Beschlussfassung wollte er zumindest versuchen sich daran zu
„Ja?“ Im nächsten Augenblick spürte er wie sich Marie um ihn schlang und ihr Gesicht an
halten. Also wimmelte er Stefans Gehen-wir-in-die-Kneipe-Gedrängel ab und wollte sich statt
seine Schulter drückte. Er konnte zuerst nur ein leises Wimmern hören, dann wie sie weinte
dessen einen gemütlichen Abend machen. Sofern er auch nur halbwegs dazu in der Lage war.
und wie sich sein dünnes T-Shirt langsam an ihren Tränen nässte. Er spürte wie sie sich an ihn
Das Schreiben am Theaterstück beschäftigte ihn ein wenig, auch wenn er sicher war die
schmiegte und Worte des Trost erwartete, ja danach flehte. „Es wird schon wieder.“,
Hälfte davon wieder opfern zu müssen, man durfte schließlich den Finger nicht allzu tief in
dämliches Versprechen, „Simone wird schon wieder.“ Er wusste es nicht wirklich, aber er
die Wunde legen, wenn einem die Wunde entweder Noten geben konnte – sprich Profs – oder
konnte sich sehr gut denken das sie sich da wegen mehr an seiner Schulter ausheulte.
verprügeln – sprich seine Kommilitonen. Richtig, davon redete Karl gerade. Ein paar Worte
Sie weinte sich an seiner Schulter aus, und er versuchte sie zu trösten. Wie konnte sie
Bayrisch – korrekt geschrieben wahrscheinlich: Bairisch – verstand er also doch. Jetzt, wo er
eigentlich so gefühlskalt sein, wusste sie denn nicht was sie ihm damit antat? Wusste sie denn
wieder im Thema war, bekam er sogar wirklich was mit, solange bis Marie durch die Glastür
nicht wie sie ihm dabei das Herz rausriss? Jede ihrer Tränen brannte wie Säure auf seiner
trottete, mit einem deprimierten Ausdruck auf ihrem Gesicht der seines gleichen suchte.
Haut. Wusste sie wirklich nicht was sie tat? War Marie nicht darauf aus ihm bei lebendigen
„Hallo.“
Leib das Herz rauszureißen, wie er es heute Vormittag als Pauschalisierung allen Frauen
„Hey.“
unterstellt hatte? Tat sie es unbewusst? Was machte das für ihn schon für einen Unterschied?
„Sag mal, Simone ist doch nicht - ?“ Mark wagte es gar nicht die Frage zuende zu stellen.
Gar keinen.
„Was? Nein, nein, sie ist nur noch nicht wieder bei Bewusstsein, aber die Ärzte meinen sie sei
Die Aufzugstüren öffneten sich wieder und sie gingen hinaus, Marie noch immer eng an ihn
stabil.“
geschmiegt. Fast wie im Zeitlupentempo liefen sie durch den Gang, bis sie schließlich vor
„Gott sei dank. Tut mir leid, aber ich muss dann.“ Karl winkte den beiden kurz zu und
Maries Wohnungstür angekommen waren. Benommen wirkend schloss Marie die Tür auf.
verschwand dann nach draußen, wahrscheinlich hatte er Stefans Gehen-wir-in-die -Kneipe-
„Soll ich noch mit reinkommen?“
Gedrängel nicht abwehren können.
„Danke, es geht schon, ich hab mich schon wieder unter Kontrolle.“, Marie drückte ihm einen
„Ist alles in Ordnung?“ Beschlüsse brach man immer solange man dafür nicht erschossen
Kuss auf die Wange und verschwand in ihre Wohnung.
werden konnte, und selbst dann war man nicht immer standfest.
„Wenn du mich noch brauchst, sag bitte nur Bescheid. Ruf mich einfach.“ Mark kickte mit
„Geht schon, danke, ich bin nur ein bisschen müde. Das war in letzter Zeit eben alles ein
den Füßen sein herausgerissenes Herz vor sich her den Gang hinunter.
bisschen viel.“
Sie hatten inzwischen die Aufzugtüren erreicht. „Warum spannst du nicht einfach aus, weit
Für die Vorlesungen der letzten Woche vor den Prüfungen könnte man als Vollzeitkapitalist
weg von dem Kaff hier?“
eigentlich Eintrittskarten verkaufen. Wenn die magischen Worte „Prüfungsvorbereitung“ und
„Weil Prüfungen sind? Ich schätze es sind noch nicht genug gestorben um die auch
vor allem „Stoffeingrenzung“ fielen, war der Andrang auf den Vorlesungssaal groß. Das
abzusagen.“
Dumme war nur das die Vorlesungsräume im Grunde nie nach Anzahl der Studenten, sondern
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nach Beliebtheit des Fachs vorgenommen wurden. Deshalb bekamen 20 Hörer von
einige Minuten bis sich der Vorlesungsbeginn rumgesprochen hatte, und der Prediger hatte
Wahlfächern, für die man naturgemäß meist Interesse hatte, Räume, die auf 40 Leute
die wirklich wichtigen Informationen wahrscheinlich schon längst runtergerattert. Möglichst
ausgelegt waren, 80 Buchführungsbesucher mussten sich dagegen mit 50 -Mann-Räumen
schnell, damit sich die Hölle füllen könnte.
zufrieden geben. Unter dem Semester war das kein Problem, da gingen eh nur 30 Leute in die
„Dürfen wir nen Taschenrechner benutzen?“ Auf Nanettes Frage, die neben Anna saß, kam
Vorlesung, aber bei der magischen letzten Vorlesung quetschten sich eben alle 80 und noch
erst einmal ein langes Schweigen, unterbrochen nur von ein paar Aufstöhnern. Die Frage war
mal 20 und mehr Wiederholer in den gleichen Raum. Vielleicht steckte dahinter ja auch
zugegeben ein wenig dämlich, in Buchführung konnte man nicht mal die Theoriefragen ohne
Methode, so eine Art Rache für all die Faulenzer die lieber durchschliefen als in die
Taschenrechner lösen.
Vorlesung zu gehen. Vielleicht dachte aber auch nur niemand wirklich über die
Marie schloss für einen Moment die Augen, Mike stöhnte neben ihr laut auf, und der Blonde
Raumverteilung nach, was wohl die wahrscheinlichste Theorie war.
auf der anderen Seite, so was wie eine Miniausgabe von Mike, murmelte etwas wie „Ist die
Marie hatte gerade noch ganz hinten einen Sitzplatz gefunden, ihren Block samt Stift auf
blöd!“. Offensichtlich murmelte er ein bisschen zu laut, denn im nächsten Augenblick drehte
dem Tisch ausgebreitet und damit begonnen ins Leere zu starren. Eigentlich war ihr die
sich Anna um und fauchte: „Man wird doch mal fragen dürfen.“
Buchführungsprüfung so was von egal, sie hatte noch nicht mal damit begonnen, den Stoff
Da war sie wieder, diese merkwürdige chemische Reaktion zwischen Anna und Nanette. Jede
überhaupt zu sichten. Und bei ihrem Lerneifer, verbunden mit dem ausgehängten Zeitplan,
für sich waren sie für Menschen wie Mike oder seine Kopie halbwegs erträglich, aber wenn
war das nicht gerade die beste Vorraussetzung. Der Raum füllte sich schwallweise, die ersten,
die beiden zusammen waren entwickelte sich eben diese chemisc he Reaktion die sie nicht nur
diejenigen die auch in die eigentlichen Vorlesungen gingen, waren schon lange vor Marie hier
für Mike & Co zu einem roten Tuch werden lies. Gerade hatten Nanette und Anna wieder
gewesen, sie selbst kam mit der zweiten Welle. Inzwischen hatte die Dritte den Raum
weit sichtbar mit dem Tuch gewedelt. Und die Stiere sprangen drauf an.
erreicht, gleich dahinter kam der Buchführungsprof. Er warf immer wieder einen Blick auf die
„Klar darf man fragen, aber doch nicht so einen Scheiß! Natürlich darfst du einen
Uhr und setzte sich dann vorn hinters Pult. Nach ihm kam dann endlich die vierte Welle und
Taschenrechner benutzen!“, schrie Mike nach vorn.
stopfte sich in den Raum, als wären sie ein paar von den Verrückten die zwecks Weltrekord
Jemand anders verlangte mal schnell nach irgendetwas, was man nach vorn schmeißen
zu Zwanzigst in eine Telefonzelle wollten. Freie Stühle gab es längst nicht mehr, ein paar
könnte.
stellten sich einfach an die Wand, ein paar andere setzten sich auf die Tische und wer immer
„Könntet ihr aufhören euch über so was aufzuregen.“, meinte Marie, gerade mal so laut, dass
von den Studentinnen einen Freund hatte, fand auf dessen Schoß einen Platz. Was gar nicht so
sie nur ih re Tischnachbarn hören konnten.
wenige waren, Conny, die Wiflerin, ging ja davon aus das sich BWLer eh nur untereinander
„Nervt dich das etwa nicht?“, wollte die Kopie wissen.
vermehrten.
„Doch, klar, aber vielleicht nerven mich die Trottel, die sich darüber aufregen, noch mehr!“
Der Raum hatte sich inzwischen wirklich gefüllt, selbst Diana war gekommen, jemand der,
Diesmal brüllte Marie laut genug um im ganzen Raum gehört zu werden. „Wisst ihr was, ihr
sagen wir mal, ihren eigenen Stil gefunden hatte, es auf Langzeitstudium anlegte und sich mit
könnt mich alle mal kreuzweise!“ Sie sprang auf und warf dabei ihren Stuhl um, der Student
Stefan einen Wettbewerb lieferte, wer in die wenigsten Vorlesungen ging. Dieses Semester
hinter ihr konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, sonst hätte er das Teil dorthin
hatte sie übrigens gewonnen. Neben Marie stöhnte sich Mike gerade mit seiner Freundin
bekommen wo’s ziemlich wehtut. Im nächsten Moment stürmte sie aus dem Raum und
Karin, siehe Connys Theorie von oben, über die Raumbelegung aus, während vorn der Prof
hinterließ eine schweigende Menge, so lange bis jemand flüsterte „Da hat wohl eine Stress“
langsam aufstand und beginnen wollte. Das gab der Lärmpegel natürlich noch nicht her, aber
und ein anderer hinzufügte „Und wahrscheinlich ihre Tage“.
das hatte den guten Mann eh nie interessiert. VWL- oder Mathematikprofessoren lehrten ein
Anna sah ihr durch die Tür nach und schüttelte den Kopf, um Nanette schon von Vornherein
Vorlesungsfach, das zur Erreichung des Diploms notwendig war, Buchführungsprofessoren
zum Schweigen zu bringen. Mark war einen Moment versucht aufzustehen, um ihr
predigten eine Religion und wollten auch als Prediger verstanden werden. Und wer die wahre
nachzurennen, doch stattdessen blieb er feige sitzen. Später nahm er zumindest Maries Block
Religion nicht hören wollte, der sollte dafür eben in die Hölle kommen. Es brauchte also
und Stift an sich, um sie ihr zu bringen.
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09.
„Du kommst die psychopathische Zicke besuchen?“ Marie lies ihn an sich vorbei in ihre
Wohnung.
„Du hast deine Sachen vergessen.“ Mark hielt Block und Stift in die Höhe. „Und
psychopathisch bist du nicht.“
„Nur ne Zicke?“ Sie legte grinsend ihren Kopf zur Seite. „Ist schon gut, danke das du mir
mein Ze ug bringst.“
„Gern.“
„Hab ich noch was wichtiges verpasst?“
„Du kannst dir ja meine Notizen ansehen.“
„Später vielleicht, danke.“
„Gut, dann – dann geh ich mal wieder.“ Er torkelte förmlich zur Tür zurück, als würde er
erwarten aufgehalten zu werden.
„Mark!“
„Ja?“
„Ach nichts. Danke.“ Eigentlich hatte sie ihm jetzt sagen wollen, er solle sie doch endlich
vergessen, aber dann war sie sich nicht sicher ob das nicht noch schmerzlicher für ihn wäre.
War es nicht besser wenn er glaubte sie wisse nichts darüber wie er heimlich in sie verknallt
war? „Salut.“ Warum hatten Poeten einst die Liebe erfunden? Als es nur um die
Fortpflanzung und das Beschützen der Jungen ging, war die Welt noch viel einfacher
gewesen.
Über den Wolken, muss die Freiheit wohl grenzenlos sein ... Was für ein absoluter
Schrottsatz, als ob man eingezwängt in den engen Sitzen der Lufthansa etwas von grenzenlose
Freiheit spüren könnte. Das einzige was man zu spüren bekam war das halbe Tablett, das die
schussligen und äußerst unattraktiven Stewardessen über die Passagiere verteilten. Und das
einzige was man zu riechen bekam, war der Schweiß des Dicken vor einen. Fliegen für ein
paar Hundert Euros war mit der Lufthansa nicht wesentlich angenehmer als die 50-EuroFlüge mit Ryan Air. Dafür hatte man dann nicht mal den Spaß der abenteuerlichen Anfahrt,
war der Frankfurter Flughafen doch leichter zu finden als der Pampasflughafen etwas
außerhalb von dem Ryan Air abhob. Nicht stundenlang durch Frankfurt kurven zu müssen
war Maries Meinung die finanzielle Differenz allerdings allemal wert, Frankfurt war die
grauenvollste Stadt die sie kannte. Sie hatte mal einen Ferienjob bei der Niederlassung von
L’Oréal gehabt, auf Vermittlung ihres Vaters, und musste einen ganzen Monat in dieser Stadt
verbringen.
Seit
dem
Bevölkerungsschichten
war
sie
bestand:
davon
1.
überzeugt
das
Frankfurt
Geschlechtslose
und
deshalb
nur
völlig
aus
drei
asexuelle
Bankangestellte; 2. Kampflesben; 3. Männer die sich zwecks Fortpflanzung, jedes Mal wenn
der Mondkalender der „Brigitte“, wahlweise auch der der „Petra“, es vorsah, mit den
Kampflesben paarten – oder sich wahrscheinlich eher paaren ließen. Auf dem Weg zum
Flughafen war es wahrscheinlich mehr als erfreulich, eine Stadt wie Frankfurt möglichst
schnell zu durchqueren.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen ... Zumindest das schien zu
stimmen, das Flugzeug hatte erst vor zehn Minuten abgehoben, und schon war jeder Gedanke
an die sie anfallen wollenden Kampflesben vom Main wieder vergessen. Stattdessen aß Marie
den Rest ihres Menüs und nickte Falkenstein dankbar zu als er vorschlug ein Glas Wein zu
trinken. Wein war gut, irgendwie musste man die Geschmacklosigkeit des Essens ja
ausgleichen. Sie überließ es seiner Eitelkeit wegen Falkenstein den Wein aus dem spärlichen
Angebot auszuwählen, er nahm zwar den Teuersten, allerdings bei weitem nicht den Besten.
Falkenstein mochte Weine, kannte sich aber nicht gerade mit dem Thema aus. Nicht das
Marie eine in der Fachwelt weit bekannte Weinkennerin wäre, aber sie hatte zumindest ihre
Vorlieben und italienischer Weißwein gehörte entschieden nicht dazu. Aber Männer bei der
Wein- oder Menüauswahl im Allgemeinen zu kritisieren war eine sichere Methode selbst eine
60jährige Ehe mit einem Schlag zu ruinieren, das war fast genauso schlimm wie wenn man
ihm vorhielt er würde keinen mehr hochkriegen.
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Marie nippte an ihrem Glas, lies sich in den Sitz zurückgleiten. Sie war müde, im Flugzeug
zu verlieben, erst die Geschichte mit – Ja, warum eigentlich nicht. Auf der anderen Seite war
wurde sie immer müde, das Gläschen Wein würde das nur noch verstärken. Die Prüfungen
es wahrscheinlich genauso aussichtslos. Er hatte eben dieses Talent.
lagen hinter ihr, bedauerlicherweise waren die meisten wirklich nicht so leicht gewesen wie
Auf dem Bildschirm flimmerte immer noch einer der neueren James Bond-Filme. Mark hatte
die von Falkenstein. Das sie das ganze doch ziemlich geschlaucht hatte, daran konnte auch
sie eigentlich alle schon mindestens je zwei- oder dreimal gesehen, aber an den konnte er sich
ihre Ich-will-das-Zeug-nur-schreiben-bestehen-ist-mir-eigentlich-sowas-von-egal-Einstellung
nur im Kino erinnern. Wäre sein Mund nicht voller Chips könnte er glatt noch das Popcorn
nicht wirklich etwas ändern. Auf der anderen Seite war das wahrscheinlich genau die richtige
schmecken, solange konnte das doch noch gar nicht her sein. Mark wischte sich die fettigen
Einstellung um locker genug reinzugehen, um am Ende auch noch eine gute Note zu
Finger an seinem T-Shirt ab, lehnte sich in die Couch zurück und schenkte der auf den
bekommen. Der Notenaushang in einem Monat – mit viel Glück und Fleiß der Professoren –
Bildschirm auftretenden Sophie Marceau seine ganze Aufmerksamkeit.
würde schon Klarheit schaffen, vielleicht hatte Marie bis dahin auch ihre Einstellung
„Ich hätte dir die Welt schenken können.“, hauchte sie James Bond, alias Pierce Brosnan
geändert. Marks Note dürfte nicht mal so schlecht ausfallen, hatte sie sein Lernen auf
entgegen. Worauf er ihr kühl erwiderte: „Die Welt ist nicht genug.“ Und schon war eine der
Falkensteins Prüfung doch in die richtigen Bahnen gelenkt. So unauffällig wie möglich, das
dämlichsten aller Bondfilmtitel gefunden.
schlechte Gewissen ihn mies zu behandeln hatte sie dazugetrieben. Aber irgendwie schien er
Was bildete sich dieser Bond überhaupt ein? Sich von Sophie Marceau die Welt schenken zu
alles zu ahnen, ja, wenn sie darüber nachdachte, schien er sogar alles zu wissen. Und wenn er
lassen konnte man(n) doch wohl schlecht ablehnen. Es gab sicher Männer die allein schon für
wirklich etwas wusste, dann half sie ihm nicht, sondern quälte ihn nur noch mehr.
einen lächelnden Blick von ihr Königin und Vaterland verrieten. Überhaupt, Himmel, das war
Falkensteins an ihren Schenkeln entlangstreichelnde Hand weckte sie wieder aus ihrem
Sophie Marceau!!! Von dieser Frau hatte Mark dank „La Boum“ pubertierende Träume
Halbschlaf. Für einen Moment blickte sie genervt auf den speckigen Nacken ihres
gehabt als er noch gar nicht in der Pubertät gewesen war. Genau, und deshalb war sie an allem
Vordermannes, bis sie sich ein Lächeln abrang und zu Falkenstein rübersah. „Also wirklich.“
Schuld: Einmal in eine kleine Französin verliebt, immer in eine kleine Französin verliebt.
„Was denn?“ Er beugte sich zu ihr hinüber und sprach flüsternd in ihr Ohr. „Weißt du wozu
Genau, es gab nur eine Frau die an seinem Unglück schuld war: Sophie Marceau, bezaubernd,
ich jetzt Lust hätte?“ Ein Blick auf den Gang zur Toilette.
aber schuldig.
Marie stöhnte leise auf. „Oh, ist das nicht eine billige Männerfantasie?“ Sie küsste ihn.
Nachdem er jetzt die Schuldige an seinem Unglück gefunden hatte verschlang Mark den
„Weißt du, wir sollten uns das besser aufsparen, fürs Hotelzimmer. Das ist doch auch viel
letzten Rest der Chips, sah sich den Film zu Ende an und setzte sich dann an seinen
gemütlicher und – und langfristiger.“ Sie grinste ihn an, küsste ihn noch mal und hoffte damit
Schreibtisch. Gerade hatte er endlich die Idee zu einer guten Szene für das Theaterstück, und
aus dieser Pornofantasie verschwinden zu können.
die würde er sich von niemanden ausreden lassen, auch wenn man ihn anschließend eine
Verleumdungsklage anhängen könnte - oder auch wenn Marie ihn dafür hassen könnte.
Der Fernseher flimmerte durch das dunkle Zimmer, während Mark sich daran machte auch
noch die zweite Hälfte der Tüte Chips in sich reinzustopfen. Vor ein paar Wochen war er mal
Was Falkenstein in London machte hatte Marie eigentlich schon wieder vergessen,
auf die Idee gekommen seinen kleinen Bauch mit einer halbherzigen Diät zu bekämpfen, zu
irgendwelche Recherchen verbunden mit irgendwelchen Vorträgen. Irgendwie war’s ihr auch
der natürlich keine Chips gehört hätten, aber die Idee hatte er schnell begraben. Irgendsoein
egal, so konnte sie den Tag dazu nutzen allein durch London zu streifen. Die Stadt war ja
Body-Was-weiß-ich-Index hatte ihm nämlich nur leichtes Übergewicht bestätigt, außerdem
immerhin der einzige Grund England nicht im Meer zu versenken, die Stadt wäre ein Grund
konnte er ja noch eine Treppe hochgehen ohne außer Atem zu kommen. Und letztlich, und
die ganze Erde nicht zu sprengen. Hier war der Nabel der Welt, auch lange nachdem sie die
das war wohl das entscheidende, würde Marie ihn auch nicht erhören, wenn er plötzlich über
olle Victoria verbuddelt und ihr Denkmäler gesetzt hatten. New York war groß, vor allem ein
Nacht einen Waschbrettbauch bekommen könnte. Dazu brauchte es wahrscheinlich mehr als
großer Müllhaufen der Doppelmoral. Paris war klein und romantisch, eine Stadt zum
einen Waschbrettbauch. Er hatte aber auch ein Talent sich in die falschen Kommilitoninnen
verlieben, aber auf Liebe konnte man notfalls auch verzichten. Und Berlin? Berlin war ein
Treppenwitz der Geschichte der Metropolen dieser Welt, ein kleines Spreedorf das sich im
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kollektiven Massenwahn für eine Weltstadt hielt. Berlin war Provinz, die passende Hauptstadt
Gallery hatte keine Gemälde Blakes, in dem kleinen Nebenflügel hingen nur DIN-A-4 große
für ein Volk von Kleinbürgern die sich alle für Weltbürger hielten – solange die Welt aus den
Zeichnungen und Skizzen. Aber selbst die hatten etwas hypnotisches. Es war irgendetwas
Gartenzwergen vorm Haus bestand. Aber London, London war wundervoll. Von der City bis
diabolisches, etwas wahnsinniges. Als sie jetzt ein zweitesmal die Zeichnungen abschritt
raus zur letzten Station der Tube, die dort natürlich längst überirdisch war. Allein der Tube
schien nichts von dem Wahnsinn verschwunden zu sein.
wegen konnte man London lieben, das 400 Kilometer-Netz der Londoner U-Bahn war eine
der größten Attraktionen der Stadt. Marie hatte den Vormittag praktisch nur in der Tube
„Grausamkeit hat ein menschlich Herz,
verbracht, hier konnte man London in all seinen Facetten kennen lernen. Von Horden
Und Eifersucht ein menschlich Antlitz,
Schuluniformen über indische Saris bis zum Rastafari, der noch ziemlich nach dem
Schrecken, des Menschen göttliche Gestalt.“
Frühstücks-Joint roch. Sie fuhr die Central ab, stieg in der Liverpool Street in die
William Blake
Metropolitan um, fuhr bis zur Baker Street und von da aus schließlich nach Harrow, wo sie
Hunger bekam und sich die Gegend ansah. In ihrem kleinen Merian live -Taschenbuchführer
War Blake nicht wahnsinnig geworden, oder schon sein ganzes Leben gewesen. Marie konnte
stand nichts über diesen Stadtteil, oder war es schon eine Vorstadt? Sie hätte sich eben doch
sich nicht erinnern, sie überflog die an der Wand hängende Biografie, bevor sie sich aus dem
sorgfältiger einen Reiseführer kaufen sollen, statt diese abgespeckte Version auf dem
kleinen Blake -Flügel losriss und in den Flügel für die wechselnden Ausstellungen ging. Dort
Frankfurter Flughafen. Harrow schien aber eine nette kleine Stadt zu sein, sie fand schnell den
musste man zwar Eintritt bezahlen und von einem britischen Maler namens Stanley Spencer
Weg in die Fußgängerzone. Ziemlich viele Inder, Kinder statt Inder schienen englische
hatte sie noch nie etwas gehört, aber so kurz nach Reiseantritt konnte sie sich die 6,50 £ jetzt
Politiker nicht in den Mund zu nehmen, prägten das Stadtbild, also ging Marie auch in einem
noch leisten. Sie blätterte das Prospekt durch, bei 6,50 £ war ein Prospekt ja auch das
der zahlreichen kleinen indischen Restaurants essen. Während sie das pikante Hünchen aß
mindeste, während sie schon im ersten Raum war. Offensichtlich war der Preis nicht
studierte sie die Karte, die sich sich heute morgen für ein Pfund aus dem Automaten gezogen
überhöht, oder Spencer war mordsmäßig bekannt in England, auf jeden Fall herrschte eine
hatte. Für heute Nachmittag hatte sie die Tate Gallery auf ihren Besuchsplan gesetzt, aber die
Menge Gedränge. Auch wenn Marie beim Anblick der ersten Gemälde beim besten Willen
musste man erst mal finden.
keinen Grund dafür finden konnte. Spencers Bilder huldigten, freundlich ausgedrückt, der
Ästhetik des Hässlichen. Besonders gerne malte er laut Prospekt seine Frau und die diversen
Die City war vor allem mit zwei Dingen gut ausgestattet, Hinweisschilder für Touristen und
Geliebten, Künstler konnten sich ja als einzige Sorte Männer beides leisten ohne dabei ein
Überwachungskameras. Wie die IRA bei einem derartigen Ausmaß von Kameras überhaupt
Versteckspiel veranstalten zu müssen. Künstlerprivilegien! Auf jeden Fall waren die Frauen
in London hatte operieren können, war wahrscheinlich eine terroristische Meisterleistung.
in ihrer auf den Gemälden porträtierten Nacktheit hässlich, beinahe schon abstoßend. Die
Man fühlte sich immer beobachtet, aber irgendwann konnte man die Kameras auch
Rundungen wirkten wie Abschreckungsplakate der Weight Watchers, die Positionen der
ignorieren. Außerdem lies die Präsenz nach je weiter man sich von Westminster entfernte, in
Modelle ähnelten eher denen von Hausfrauenpornos. Marie marschierte in den nächsten
der Nähe der Tate Gallery fand man nur noch eine Kamera pro Straße vor, an der Galerie
Raum, diesmal ohne Nackte, dafür mit Landschaftsgemälden. Irgendwo klingelte ein Handy,
selbst musste man die Kameras schon suchen. Marie stieg die breiten Treppen zum Eingang
zwei Sekunden später tauchte eine Aufsicht auf und ermahnte den Schuldigen, schließlich
hoch, trat durch die fast schon torartige Tür in den Empfangssaal. Kostenloser Eintritt, so was
waren keine Handys erlaubt. Marie lies ihre Hand beiläufig in ihren kleinen Rucksack gleiten
lies man sich als arme Bettelstudentin doch gefallen. Sie schlängelte sich an einer Schulklasse
und schaltete ihr eigenes Handy aus, weil sie es blind nicht auf lautlos hätte schalten können.
vorbei und versuchte sich an ihren letzten Besuch zu erinnern, damals hatten sie vor allem die
Marie setzte sich auf eine der Stufen vor der Galerie, begann in ihrem Reiseführer zu
Zeichnungen von William Blake interessiert. Blake war ihr damals nur aus dem ersten
blättern. Dann steckte sie die Prospekte der Tate Gallery rein und suchte nach dem U-
Hannibal-Roman von Thomas Harris ein Begriff, der eigentlich noch kein Hannibal-Roman
Bahnplan. Es war kurz nach fünf und in etwa einer halben Stunde war sie mit Falkenstein im
war, weil das „Schweigen der Lämmer“ erst den Hannibal-Mythos ins Leben rief. Die Tate
ihrem Hotel verabredet. Natürlich würde sie die halbe Stunde nie einhalten können, selbst mit
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der idealsten Verbindung. Das lag wahrscheinlich schon allein daran, dass die nächste Station
„Ja, da sind wir. Wie war’s gleich wieder, Bond Street, Nothing Hill Gate und dann
gut eine halbe Stunde zu Fuß entfernt war.
Bayswater?“
„Kann ich dir helfen?“
„Ganz genau. Hat mich gefreut.“
Marie schüttelte leicht mit dem Kopf, als sich der Typ neben sie setzte. „Wenn du dich mit
„Noch mal danke.“ Marie lächelte ihn an und ging auf die Absperrungen zu. Sie fischte ihre
der U-Bahn auskennst.“
Fahrkarte aus dem kleinen Rucksack und wollte sie gerade in den Schlitz stecken, damit sie
„Ist praktisch mein zu Hause.“, versicherte er ihr, „Victor Stern.“ Er reichte ihr die Hand und
die Kontrolle passieren könnte, als sie sich umdrehte und an den beiden Schwarzen
lächelte zufrieden, als sie sie ergriff.
vorbeischlängelte, die hinter ihr standen. „Victor!“
„Marie Jacotet.“
Der schien es geahnt zu haben, denn er hatte sich nicht von der Stelle bewegt. „Ja?“
„Klingt eher französisch als deutsch.“ Er deutete auf ihren deutschsprachigen Reiseführer.
„Wenn ich schon einen Londonfachmann kenne, dann könnte der mir doch ein paar Tipps
„Ich bin von beidem etwas. Also, wie komme ich am besten nach Bayswater?“ Sie hielt ihm
geben was ich morgen so unternehmen könnte.“
den U-Bahnplan unter die Nase.
„Könnte er, er könnte sich aber auch gleich als Fremdenführer anbieten.“
„Bayswater, liegt in der Nähe des Hyde Parks. Ist ganz einfach, du steigst in Pimlico in die
„Das wäre sicher nett von ihm, so ein Angebot könnte ich eigentlich gar nicht ablehnen.“
Victoria Line, fährst bis zur Bond Street und wechselst in die Central, in Notting Hill Gate
„Nur ‚könnte’?“
steigst du dann in die Circle oder District, die nächste Station ist bei beiden Bayswater.“ Er
„Ich will mich nicht aufdrängen.“
hatte wirklich keinen Blick auf den Plan werfen müssen.
„Sagen wir um 9 vor der Station Baker Street, die liegt schön zentral und ich kenne ein nettes
„Ich bin beeindruckt.“
kleines Cafe fürs Frühstück.“
„Hab ich doch gesagt, die Tube ist praktisch mein zu Hause. Du willst in dein Hotel, ich
„Ich werd da sein. Salut.“, sie lächelte ihn noch einmal an und dann verschwand sie wirklich
könnte dich hinbringen.“
in die Katakomben der Tube.
„Ganz selbstlos, nur damit ich mich nicht verlaufe.“
„Ja, natürlich, warum sonst?“
„Und was hast du heute so gemacht?“ Falkenstein nippte an seinem Glas Bier und lehnte
„Ich weiß nicht, wäre wohl keine so gute Idee.“
dabei an die kleine Theke der Hotelbar in die sie nach dem Abendessen gegangen waren.
„Mit anderen Worten du reist nicht allein.“
Marie erzählte ihm von ihrem indischen Vormittag und von dem nachmittäglichen Besuch in
„Sozusagen.“
der Tate Gallery, von ihrer Bekanntschaft mit Victor erzählte sie ihm dann aber doch nichts.
„Okay, man kann nicht immer gewinnen. Aber zur Station kann ich dich doch begleiten?“
Das sie sich morgen mit ihm verabredet hatte, verschwieg sie naturgemäß besser auch.
„Klar, warum nicht?“
Danach hörte sie sich seinen Tag an, der sich kurz zusammenfassen lies in dem man die
Während sie zur U-Bahnstation gingen erzählte Victor ihr das er Anglizistik und Sinologie
Worte Büro, Bibliothek, Vortrag in einen gemeinsamen Satz verband.
studierte und sozusagen rein beruflich in London war, zumindest die zwei Stunden am Tag,
„Falls du mal das Londoner Nachtleben allein erkunden willst, wie wäre es mit morgen.“
die er in den diversen Bibliotheken der britischen Hauptstadt verbringen musste. Er erzählte
„Wie meinst du das?“
überhaupt ziemlich viel, wie ein Reiseführer ratterte er ihr eine Menge über Gebäude an
„Ich bin bei einem Kollegen eingeladen, irgendsoeine stinklangweilige Akademikerparty,
denen sie vorbeikamen herunter, die die echten Fremdenführer wahrscheinlich nicht mal
aber ich konnte nicht absagen. Es sind aber auch ein paar Bekannte eingeladen.“
kennen würden.
„Gemeinsame Bekannte von dir und deiner Frau.“
„Tja, da sind wir. Pimplico.“ Mit einem Kopfnicken deutete er die Treppenstufen hinunter,
Falkenstein nickte. „Ja, tut mir leid, ich würde den Abe nd auch lieber mit dir verbringen, aber
von denen sie nur die Fahrkartenkontrollen trennten.
es geht nicht anders.“
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„Und du bist gar nicht eifersüchtig, wenn ich mich so ganz ohne Aufsicht ins Nachtleben
stürze?“
„Ich bin rasend vor Eifersucht, aber ich werde dir wohl vertrauen müssen.“ Sein Lächeln war
nicht gerade das überzeugenste, aber er hatte sich dabei auch nicht wirklich Mühe gegeben.
„Ich werd mich bemühen nicht gleich mit dem Erstbesten durchzubrennen.“ Der Scherz kam
nicht wirklich an. „Eh, das war doch nicht so gemeint.“ Sie küsste ihn. „Schulde ich dir nicht
noch eine kleine Entschädigung für eine leergebliebene Flugzeugtoilette?“
„Jetzt wo du’s sagst, ich glaube schon.“
Zwischen kopfschütteln und grinsen hin und her schwankend betrachtete Marie die
Kaffeekanne in Form des Kopfes von Lady Di. Schlug man im Lexikon unter „Skurril“ nach
fand man zweifellos eine Landkarte von England. Was für ein kranker Fan konnte sich so eine
Kaffeekanne in die Küche stellen? Allein das man ihren Kopf zu so etwas missbrauchen
konnte rechtfertigte so manche Tunnelfahrt durch Paris im Nachhinein.
„Ziemlich kitschig, oder?“ Victor fuhr über das Diadem auf Lady Di, aus dem gewöhnlich der
Kaffee gegossen wurde, immerhin besser als aus der Nase.
„Ziemlich englisch.“
„Ja, irgendwie fast schon bizarr.“
Marie blickte über den Rest der vor ihr ausgebreiteten Diana -Andenken hinweg. „Ich hab sie
eigentlich nie gemocht.“
„Diana? Psst, lass das die Leute hier bloß nicht hören.“
„Wieso, sperren sie einen dann mit Camilla im Pferdestall ein?“
Victor lachte und schob sie weiter die Westway hinunter, dem Teil des Portobello Market auf
dem man mal nicht nur Antiquitäten fand, sondern allerlei Schätze oder Tand, das war
letztlich reine Ansichtssache. „Ich glaube da wäre es wohl angenehmer in den Tower
geworfen zu werden.“
Marie schritt weiter die Stände und Tische ab, vorbei an asiatisch anmutenden Geschirr,
aufeinandergestapelten Bildern von Segelschiffen, mit Blumen verzierten Toilettenschüsseln,
Blechschildern von Coca Cola – aus einer Zeit in der die Brause wahrscheinlich noch echtes
Kokain enthielt – und und und. Sie blieb vor einem Stand stehen der lauter kleine Buddhas
aus Porzellan anbot.
„Kitsch.“, qualifizierte Victor das ganze sofort ab.
„Da spricht der Sinologe in dir.“
„Eher der gute Geschmack.“
„Kannst du eigentlich Chinesisch oder Japanisch.“
„Ein bisschen Japanisch, aber da lernt man und lernt man. Ich meine irgendwie kann man
zehn Jahre nur Japanisch sprechen, aber man hätte trotzdem Probleme die Automaten in der
Tokioter U-Bahn zu bedienen.“
„Ich bin froh wenn ich die hier in London bedienen kann.“
Nach dem Portobello Market stand ein kleiner Rundgang durch Soho auf dem Plan. Ein
kleiner Abstecher nach China Town, das im Vergleich zu dem was man aus amerikanischen
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Filmen aus den USA kannte aber eher enttäuschende war. Kulturell machten sie einen kleinen
Hände. „Die machen selbst damit noch Geld.“, seufzte er dann, sich sicher die B. B. King-
Abstecher in die National Portrait Gallery, in dessen angeschlossenen Souvenirladen Marie
Kopie die vor ihnen auf dem Stuhl saß würde ihn schon nicht verstehen.
einen kleinen DIN-A-4-Kunstdruck des dort ausgestellten Gemäldes von Mary Shelley kaufte.
„So ein Gebäude will eben auch unterhalten werden, und ich glaube es gibt hier keine
Sie wusste das die Schöpferin von „Frankenstein“ Marks Lieblingsautorin war, und sie hatte
Kirchensteuer.“
nach wie vor das Gefühl etwas bei ihm gut machen zu müssen.
„Wäre ja noch schöner.“
„Woran denkst du?“, Victor bemerkte ihren abwesend wirkenden Gesichtsausdruck, während
Die B. B. King-Kopie drückte ein paar Knöpfe, woraufhin sich die Türen wieder schlossen
sie den Kunstdruck in ihrem Rucksack verstaute.
und der Aufzug setzte sich langsam in Bewegung. Eine lange und klapprige Fahrt später
„An einen anderen Victor.“
öffneten sich die Türen wieder und Victor und Marie stiegen in der Spitze des Kirchturms
„Victor Frankenstein?“
angelangt aus. Einen Augenblick später waren sie wieder allein. „Damit kann man heute
Marie lächelte nur. „Ich hab langsam Hunger, du kennst doch bestimmt einen Geheimtipp in
leider nichts mehr anfangen.“ Victor hielt das langgestreckte Ticket in der Hand, in dessen
der Nähe.“
Innenseite sich eine ziemliche schlechte Zeichnung des Panoramablickes von 1912 befand.
„Klar, wir müssen nur noch mal kurz zurück nach China Town.“
„Heute hat man natürlich alles mit Hochhäusern verschandelt, aber es ist für mich immer noch
der schönste Überblick über London.“
Während die Touristenmassen in die anglikanische Westminster Abbey stürmte, erinnerte sich
„Obwohl man dafür Geld zahlen muss?“, grinste Marie und griff mit ihren Namen nach den
Victor seiner katholischen Wurzeln – auch wenn er längst aus der Kirche ausgetreten war –
Eisenstangen die lebensmüde Touristen davon abhalten sollten einen Kopfsprung nach unten
und führte Marie in die nicht weit davon entfernte Westminster Cathedral. „Die Kurzfassung:
machen zu wollen.
Die Kirche ist relativ neu, aber hier stand schon immer die katholische Hauptkirche der Insel.
„Immer noch 10 Pfund billiger als alle anderen Möglichkeiten.“ Victor stellte sich neben sie.
Man hat sie allerdings abgerissen und einen Knast darauf gebaut. Später hat man sie dann
„London ist eine großartige Stadt.“
wieder aufgebaut. Die vier Seitenschiffe sind den Nationalheiligen der Insel geweiht, Andrew
„Ja, ich wünschte ich könnte öfter hierher kommen.“ In Gedanken fügte sie leise hinzu: „Oder
für Schottland, Patrick für Irland bla. bla. bla.“
nur noch einmal, dafür aber allein.“ Sie spürte wie Victor ihre Hüften umschlang und
„Religion ist nicht so deine Sache, hä?“
schmiegte sich an ihn.
„Wirf mal einen Blick da rein.“ Er deutete auf eine kleine Tür gleich neben dem Eingang.
Sie blieben nur für ein paar Minuten allein, dann schoben sich die Aufzugtüren hinter ihnen
„Das ist der Grund warum ich der Religion nie was abgewinnen konnte.“
wieder auf. „Willst du wieder runter?“
Marie folgte Victor durch die Tür und fand sich in einem kircheneigenen Souvenirshop
„Hmm, ja, gehen wir wieder.“ Wenn sie diesen Ausblick nicht für sich alleine haben konnte,
wieder, jede Menge Kreuze, jede Menge Heiligenbilder, jede Menge Tand – wahrscheinlich
dann wollte sie ihn überhaupt nicht. Sie griff nach Victors Hand und lies sich an den frisch
mehr als auf dem Portobello Market.
nach oben gebrachten Touristen vorbei in den Aufzug führen. Die B. B. King-Kopie nickte
„Aber deshalb sind wir nicht hier, komm mit, genießen wir die Aussicht.“ Victor führte sie
ihnen kurz und oberflächlich zu, dann wurden wieder ein paar Knöpfe betätigt und schon ging
ein paar Schritte weiter in einen kleinen Nebenraum, ging zu einer Aufzugstür und drückte
es bedenklich rapide nach unten.
einen Klingelknopf. „Er ist nicht gerade der schnellste.“
„Wer?“
Marie streichelte über den Löwen aus Stein, der in vielen Jahrhunderten menschliche
„Der Aufzug.“
Berührungen gelitten hatte, aber dennoch stolz in die langgezogene Halle eines Teils der
Die Türen ließen sie wirklich fast fünf Minuten warten, bis sie sich öffneten. „Du bist
Ägyptischen Abteilung des Britischen Museums hineinsah. Sie hatte nie zu den Spinnern
eingeladen.“, verkündete Victor nur kurz und drückte dem Mann im Aufzug 2 Pfund in die
gehört die sich per Hypnose in ein früheres Leben versetzen ließen, um dann jedem der es
(wahrscheinlich eher nicht) wissen wollte zu erzählen sie seien Ritter oder Prinzessin
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gewesen. Marie hielt das schon aus mathematischen Gründen für Schwachfug, soviel Ritter
vier Männer die sich an die Instrumente setzten, beziehungsweise stellten, und ganz vorn
oder Prinzessinnen hatte es doch gar nicht gegeben um die Massen dieser Spät-Hippie-
postierte sich die Sängerin die sofort etwas auf Spanisch ins Mikrofon hauchte. Das schien
Esoterik-Idioten ein früheres Leben zu geben. Aber dennoch durchlief sie ein kleiner Schauer
das Signal gewesen zu sein, denn noch ehe der nächste Song kam hatte sich das La Carreta bis
über Stein fahren zu können der vor mehr als 3.000 Jahren in Löwenform verwandelt worden
zum letzten Platz gefüllt. Was vorher eine verschlafene Strandkneipe schien, verwandelte sich
war. Geschichte zum Anfassen, mit kleinen Rillen und Löchern, Vertiefungen und Spuren der
plötzlich in den In-Club ganz Südamerikas schlechthin. Victor hatte Mühe die beiden Drinks
Zeit. Wenn sie später mal steinalt wäre, so mit 40 oder vielleicht auch schon 35, dann würde
durch die tanzenden Massen an ihren Tisch zu bugsieren.
sie hierher zurückkehren, diesen Löwen erneut streicheln und im Vergleich zu ihm wieder
„Und, hat es sich nicht gelohnt zu warten?“
blutjung werden.
„Danke.“ Sie nippte an ihrem Drink. „Was ist das?“
Victor schien sich nicht nur in der Tube wie in seinem Wohnzimmer auszukennen, scheinbar
„Ein –“ Victor kam nicht daz u die Frage zu beantworten, weil ein Pärchen ihn anrempelte und
kannte er auch das Britische Museum wie seine Westentasche. Er hatte zu jeder Abteilung
praktisch auf den Tisch warf.
eine Anekdote zu erzählen, von den nordamerikanischen Indianerpfählen bis zu den
„Achtung, nicht so stürmisch.“, lachte Marie.
Geldscheinsammlungen aus aller Welt. Während sie an den in Glaskästen verstauten Mumien
vorbeigingen erzählte er von einem Wärter der verrücktgeworden war und glaubte von
„Du bist aber kein armer Student wie unsereins, oder?“ Der erste Blick in Victors Apartment
untoten Mumien verfolgt zu werden. Marie zweifelte etwas am Wahrheitsgehalt der Story,
ließ ihn wirklich nicht gerade als Bettelstudent dastehen.
lachte aber trotzdem. In der Ausstellung zum Thema China, vorwiegen Vasen aber auch
„Das gehört einem Freund der Familie.“
prächtige Stücke aus glänzender grüner Jade, konnte er ebenso mit seinem Fachwissen
„Einem reichen Freund, die Gegend ist doch bestimmt nicht gerade wegen ihrer niedrigen
glänzen wie in der Koreanischen Abteilung. Ein paar Minuten später stiegen sie eine fast
Preise bekannt.“
menschenleere Treppe in einem der Seitenflügel hinauf, oben angekommen fanden sie sich in
„Noch einen Drink? Ich glaube ich habe da noch etwas typisch französische, einen
einer Spezialausstellung wieder. 100 Views of Mount Fuji Gleich nach der Tür fand sich ein
Augenblick.“
kleiner traditioneller japanischer Raum mit Papiertür und Tatamiboden.
„Lass dir Zeit.“ Marie schritt die zwei Stufen in den Hauptraum herunter. An der Wand gleich
„Ich hoffe ich langweile dich nicht.“
neben der Tür hing ein gerahmtes Filmplakat von „Casablanca“, einen Meter weiter ein Plakat
„Unsinn.“ Marie beugte sich ein wenig nach vorn und betrachtete die traditionelle japanische
von „Der dünne Mann“.
Zeichnung, die den Fuji bei untergehender Sonne zu zeigen schien.
„Ein Filmfreak.“, erklärte Victor, als er aus der mit einer Theke vom Rest abgetrennten Küche
Dieser Raum hatte nichts von dem Trubel der anderen, keine knipsenden Touristen oder
zurückkam. Er reichte ihr eines der beiden kleinen Kristallgläser. „Einen Calvados, stammt
umherziehenden Schuluniformhorden, hier war es ruhig, das hatte alles fast schon etwas
aus der Normandie, nicht wahr? Ich hoffe es hat sozusagen einen regionalen Bezug.“
meditatives. Es war kühl, aber auf eine angenehme Art und Weise, verbunden mit dem
„Na ja, ich hab ne Tante da.“ Sie prostete ihm zu. „Santé.“
Anblick der Zeichnungen in ihrer unkomplizierten Einfachheit, stellte sich bei Marie plötzlich
„Santé.“
das Gefühl totale Entspannung ein. Fast hätte sie sich der Illusion hingegeben der einzige
Wie spät war es eigentlich? Marie warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr, kurz vor drei,
Mensch auf der Welt zu sein.
sie war hellwach als wäre es noch nicht mal halb 8. Sie hatte schon das ein oder andere
Gläschen diverser Alkoholika intus, aber der Calvados lies sie trotzdem noch erschauern. „Du
Vor 23 Uhr brauchte man im La Carreta eigentlich gar nicht erst auftauchen, da herrschte hier
willst mich doch nicht etwa betrunken machen?“
bestenfalls die gemütliche Ruhe einer cubanischen Strandkneipe die von deutschen
„Ich fürchte dazu bin ich selbst schon zu angetrunken. Noch einen?“ Er deutete mit seinem
Sextouristen noch nicht entdeckt worden war. Aber schon kurz nach 23 Uhr, man könnte
leeren Glas auf ihres.
beinahe die Uhr danach stellen, ging es plötzlich los. Aus einer Tür tauchten die Musiker auf,
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„Einen letzten.“, nickte sie und torkelte etwas weiter ins Innere der Wohnung, schließlich fiel
„Oh, entschuldige Papa, ich wusste nicht das du mir verboten hast die Nacht über
sie auf die große schwarze Designercouch und streckte ihre Beine unter den großen Glastisch
wegzubleiben.“ Sie stand auf und postierte sich fast schon drohend vor ihm, eine Geste die
auf dem sich der Großbildfernseher spiegelte. „Wann kommt die Putzfrau?“
kaum Wirkung zeigte weil er einen Kopf größer als sie war. „Halt, Stopp, du bist nicht mein
„Warum Putzfrau, traust du mir nicht zu selbst mit dem Staubsauger durchzufegen.“
Vater. Und selbst wenn, der kann mir auch nichts mehr vorschreiben.“
Marie grinste ihn breit an. „Staubsauger saugen, Besen fegen.“ In ihrem Zustand fand sie das
„Gewöhn dir diesen Ton ab wenn du mit mir sprichst!“
sogar witzig, Victor lächelte auch. „Wann?“
„Aber du hältst dich wohl für meinen Vater! Was soll das? Lass mich los!“
„Jeden Montag und Donnerstag. Bitte.“ Er beugte sich über ihre Schultern hinweg und gab ihr
Falkenstein hatte sie an der Schulter gepackt und drückte seine Finger in ihre Haut. „Nicht in
das frische Glas Calvados. „Der hat’s aber ganz schön in sich.“
diesem Ton Marie, zum letzten Mal. Glaubst du ich bin blöd? Wie heißt er?“
„Ich war mal eine Woche in der Gegend in Urlaub, mit ein paar Freunden. Einer hat ein
„Wie heißt wer?“
ganzes großes Cola-Glas von dem Zeug getrunken.“
„Der Kerl mit dem du die Nacht verbracht hast, das hast du doch, lüg mich nicht an!“
„Und er hat’s übe rlebt?“
„Du bist ja irre.“ Er war rasend eifersüchtig, er konnte es doch nicht ernsthaft wissen. Woher
„Ja, er hat keine Innereien mehr, aber er lebt noch. Santé.“
denn?
„Stell ich mir auch nicht gerade angenehm vor.“
„Lügnerin! Schlampe!“ Er stieß sie mit aller Kraft von sich.
„Ich könnte mir da wirklich was angenehmeres vorstellen.“ Marie stellte ihr Glas auf dem
Marie stolperte über einen Stuhl und krachte mit voller Wucht auf den Boden. Sie stöhnte vor
Tisch ab und tat das gleiche mit dem von Victor. „ Hast du ein Kondom hier?“
Schmerzen auf, krabbelte auf den Rücken von ihm weg, bis sie gegen die Wand schlug. „Was
Victor schluckte und nickte. Im nächsten Augenblick beugte sich Marie zu ihm hoch, küsste
machst du da?“ Die ersten Tränen schossen ihr aus den Augen und rannen über die Wangen.
ihn und zog ihn zu sich auf die Couch. Die Arme der beiden verschlungen sich ineinander, sie
Sie wischte sie m it dem Ärmel ihres Sweatshirts weg und versuchte sich wieder zu beruhigen.
rissen sich die Kleidung vom Körper und übersät en sich mit Küssen. „Dann hol es jetzt, ich
Sie kannte Falkenstein gut genug, und den Gefallen das flennende kleine Ding zu spielen,
bin ziemlich ungeduldig.“
denn genau das mochte er wahrscheinlich, wollte sie ihm nicht tun. Doch mit dem plötzlichen
Gewaltausbruch schien die Sache für ihn erledigt zu sein. Es tat ihm nicht leid, er
Am nächsten Abend wartete Marie über die heutige Ausgabe des Independent gebeugt auf
entschuldigte sich nicht, die Sache war für ihn einfach erledigt.
Falkenstein, der sich mal wieder verspätete. Wahrscheinlich hatte er in der Bibliothek in
„Zieh dir ein Kleid an, ich habe Karten für ein Konzert in Kenwood Lakeside. Wir sind spät
letzter Minute einen alles über den Haufen werfenden Wälzer gefunden und konnte sich von
dran, also beeil dich lieber.“
ihm nicht termingerecht losreißen. Sie warf nur einen flüchtigen Blick auf die Uhr des
„Ja, natürlich.“ Marie stand auf und spürte die Abschürfung an ihrem Körper. „Ich beeil
Nachttisches, als sie die Hotelzimmertür sich öffnen hörte. Sie hatten sich seit gestern morgen
mich.“ Fast wie in Trance ging sie zum Kleiderschrank, zog das rote Sommerkleid heraus das
nicht mehr gesehen, weil Marie heute erst gegen zehn ins Hotel gekommen war.
sie extra für solche Anlässe mitgenommen hatte und verschwan d im Badezimmer. Im Spiegel
„Hallo.“, lächelte sie ihn an und verkniff sich jede weitere Äußerung der guten Laune schnell
sah sie sich in ihr verheultes Gesicht, kaum zu glauben das man in so kurzer Zeit soviel
wieder, Falkenstein schien nämlich ziemlich mies drauf zu sein.
Tränen vergießen konnte. Sie versuchte sich die Spuren mit kaltem Wasser aus dem Gesicht
„Wo warst du letzte Nacht?“, brüllte er sofort los.
zu wischen, mit zweifelhaften Erfolg. Warum fühlte sie sich plötzlich sogar noch schuldig
Marie seufzte leise, möglichst unauffällig um ihn nicht auch noch zu reizen, legte ihre Zeitung
geschlagen worden zu sein, nur weil Falkenstein mit seiner blinden Eifersucht ins Schwarze
weg und blickte ihn mit einer fast schon ironisch wirkenden Neutralität an. „Ich hab die Stadt
getroffen hatte? Hör auf wie eine Frau zu denken, blöde Kuh, zischte sich Marie selbst an und
unsicher gemacht, so wie du’s vorgeschlagen hast.“
schlüpfte in das Sommerkleid.
„Ich hab dir gesagt du kannst ausgehen, nicht die ganze Nacht wegbleiben!“
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Eher reflexartig tippte sie mit ihren Fingern in das Weihwasserbecken der Westminster
Marie würde sich beim besten Willen nicht als besonders religös bezeichnen, aber auch nicht
Catherdal, alleine, also ohne Victors atheistischen Einfluss tat sie es wieder ganz automatisch,
als atheistisch. Sie war seinerzeit nicht wie einige Freundinnen mit 15 oder 16 aus der Kirche
so wie sie es eben immer bei einem Kirchenbesuch tat, so selten die auch geworden waren.
ausgetreten, weil man so dem Religionsunterricht entkommen konnte und Ethik nicht
Das breite Kirchenschiff war beinahe menschenleer, kaum Touristen, aber eben auch kaum
angeboten wurde. Sie glaubte vielleicht an Gott, hatte mit der Amtskirche aber nicht viel am
Gläubige. Eine Kombination von beidem traf man an solch Orten nur zu selten. Maries
Hut. Mit Buddhisten und Konsorten hatte sie ebenfalls nie viel anfangen können, nicht mit
Schritte hallten auf dem harten Steinboden wider, so laut das sie vo rsichtig jeden Fuß vor den
den Buddhisten an sich, sondern mit den ganzen Spinnern die Buddha nur zu ihrem Helden
anderen setzte, nur um niemanden zu stören. Sie ging an dem Souvenirshop vorbei, durch die
erkoren hatten, weil sie das von Richard Gere abkupferten. Diese Spinner die vom
hohe Tür in den kleinen Nebenraum mit dem Aufzug. Alles schien wie beim letzten Besuch
Buddhismus nicht viel verstanden, sich das Gute, für westliche Hirne verständliche
zu sein, der Stuhl mit dem verschlissenen violetten Polster, der Aushangkasten mit ein paar
herauspickten, und das Negative, die Pflichten oder die Sache mal als Kakerlake
Informationen über den Kirchturm in Englisch, Französisch, Deutsch, Spanische und dem
wiedergeboren werden zu können, dafür ignorierten. Dann doch lieber Probleme mit der
natürlich nicht zu ignorierenden Japanisch. Nur das Schild das an der Aufzugstür hing war
Amtskirche haben und zu wissen das man nach dem Beichten zweimal das Vaterunser sprach
neu. Closed
– auch wenn der Pfaffe 20mal gesagt hatte – und die Sache war erledigt. Notfalls könnte man
Was hast du dir überhaupt eingebildet Mädchen, hast du zuviel romantische Filme
es ja nächstes Mal beichten. Aber auf jeden Fall war das allemal besser als dieser
gesehen oder gar dein Geld für Groschenromane verschwendet? Hast du wirklich geglaubt er
Wiedergeburtsschrott, bei dem man jetzt Scheiße baute und eben erst im nächsten Leben
würde dich suchen, nur weil du dein Handy ausgemacht hast und er dich nicht erreichen
dafür bestraft wurde.
konnte? War das Grund genug für Victor ganz London auf den Kopf zu stellen, jeden Stein
Bevor Marie in die Bank ging kniete sie nieder und bekreuzigte sich. So wie sie es als kleines
umzudrehen, in jeden Papierkorb – wie die Polizei es früher aus Angst vor IRA-Bomben
Mädchen gelernt hatte und seit dem eigentlich nie wieder getan hatte, selbst wenn sie zu
getan hatte – zu schauen, sich nach dir zu erkundigen, wildfremde Menschen in den
Schulgottesdiensten – gut, da auf keinen Fall, man wollte sich wegen seines nicht
schielernsten Farben dein Aussehen zu beschreiben, in der Hoffnung sie hätten dich vielleicht
vorhandenen Atheismus ja keinen Hänseleien aussetzen – oder den Weihnachtsmessen
gerade eine Minute vorher genau in das Geschäft dahinten gehen sehen? Wach auf Mädchen,
gegangen war. Machte man das in England überhaupt? Sie war sich nicht sicher, aber die
die Welt ist nichts für Romantiker und Träumer. Romantik, Liebe auf den ersten Blick, das
beiden alten Frauen die ein paar Reihen vor ihr saßen schenkten ihr ja eh keine Beachtung.
einem in den Schoß fallende Glück gibt es nur im Fernsehen und der seichten Literatur. Die
Marie rutschte ein paar Meter in die Reihe hinein, setzte sich dann auf das dünne Polster,
Welt war hart und ungerecht, nicht die Guten, Braven, Anständigen, Trauernden, Liebenden,
faltete die Hände und legte sie auf den Tisch vor ihr. Zum erstenmal seit Jahren betete sie
Träumenden, Schmachtenden, Aufrechten wurden belohnt, sondern die Aktiven, selbst wenn
wieder bewusst, sie wusste nur selbst nicht warum.
sie Massenmörder waren.
Marie lief sanft an der langestreckten Kapelle von St. Andrew vorbei Richtung Altar, der
sich vor ihr in einer geradezu beleidigenden Prächtigkeit und Schönheit zeigte, blieb aber ein
paar Meter vor ihm stehen und ging da nn in ein kleines Seitenschiff das mit einem Seil vom
übrigen Teil der Kirche abgetrennt war. An den beiden Eingängen hingen Schilder in den
üblichen Touristensprachen, die darauf hinwiesen das dieser Teil der Kirche den wirklich
Gläubigen vorbehalten bleiben sollten. Den seltenen Ausgaben von Menschen die tatsächlich
noch in die Kirche gingen, um so etwas abwegiges zu tun wie zu beten. Welch bizarre
Vorstellung im 21. Jahrhundert der Spaßkultur in der der Pfarrer schon No Angels Songs an
der Orgel spielen lassen musste, nur um jemanden unter 60 in den Gottesdienst zu locken.
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10.
Die Landschaft flog an ihrem Zugfenster vorbei als Marie nach draußen sah, mehr oder
weniger gedankenverloren eigentlich gar nicht auf die Umgebung achtend. Neben ihr lag die
kleine Reisetasche, sie hatte nur das Nötigste eingepackt, schließlich wollte sie Alexa nur
übers Wochenende besuchen, nicht gleich den ganzen Monat bleiben. Sie brauchte einfach ein
bisschen Ablenkung und da kam ihr das Angebot einer alten Freundin mehr als gelegen. In
der Schule waren sie unzertrennlich ge wesen, aber nach dem Fachabi hatte Alexa zuerst
einmal eine Tour rund um die Welt gemacht und später ein Alibistudium in Hannover
gestartet. In dieser Zeit hatten sie sich meist ein paar Emails pro Woche geschrieben, ab und
zu telefoniert, aber gesehen hat ten sie sich in den letzten zwei Jahren nur etwa zwei oder
dreimal. Auf Maries Schoß lag eine praktisch ausgelesene Ausgabe der Paris Match, das
Magazin war auch nicht mehr das interessanteste der Welt. Zumindest konnte sie eine
Homestory über Jaques Chirac nicht vom Hocker reißen, der Mann konnte eh nicht
wiedergewählt werden, da sollte er sich doch besser aufs regieren verlegen, statt Homestorys
zu fabrizieren. Aber es war wohl ein Nachteil das Politiker in der Demokratie stets um
Beliebtheitspunkte beim Volke buhlen mussten. Die Landschaft veränderte sich langsam,
Felder und Bäume verschwanden beinahe wie durch ein Fingerschnippen, statt dessen
tauchten die ersten Ausläufer von Hannover auf. Vorstadt, Kleinstadt, Hannover eben. Marie
steckte schon mal die Zeitschrift in die Reisetasche, und packte die dann statt der Paris Match
auf ihren Schoß.
Alexa warf ihr gerade im Bahnhofsladen gekauftes Blond in den Dosenteil des
Bahnabfalleimers, nachdem sie bei Einfahrt des ICEs aufgesprungen war und jetzt versuchte
Marie aus den Massen der aussteigenden Passagiere herauszufiltern. Kaum zu glauben das so
viele Menschen tatsächlich nach Hannover wollten, wahrscheinlich wollten sie alle Gerhard
Schröders Geburtshaus sehen. Sie entdeckte Marie hinter einer Gruppe von Nonnen, die
konnten wohl schwer auf dem Weg zu Gerd sein. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und
winkte Marie über die Pinguintruppe hinweg zu. Zwei Sekunden später fielen sich dich
beiden in die Arme. „Hab dich vermisst.“
„Ich dich auch. Eh, und was hat sich im Nabel der Welt Hannover verändert?“
„Pass auf was du sagst, in was für einem Kaff studierst du gleich wieder?“ Alexa lachte laut
auf. „Los komm, ich steh im Halteverbot.“
„Fährst du immer noch diesen alten Toyota, da wagt sich doch ehe keine Politesse ohne
„Eh, pass auf was du sagst, schließlich sind Taxis nicht billig.“
Alexas Wohnung lag im 3. Stock eines typischen Altbaus der verdächtig nach
Vorkriegsmodell aussah, von Außen machte er den Eindruck den nächsten Montag nicht mehr
zu erleben, von Innen machte es zwar auch nichts her, sah aber zumindest stabiler aus.
Trotzdem war Alexas Wohnung etwas wovon Marie heimlich nur träumen konnte. Für
jemanden der bis jetzt erst bei den Eltern und dann in den Sardinenbüchsen eines
Studentenwerks gewohnt hatte, waren 60 m² verteilt auf zwei Zimmer mit großer Küche und
einem Bad das über eine Dusche mit Waschbecken und Klo hinausging das reinste
Wohnparadies aus einem Ikeakatalog.
„Wollen wir hier essen bevor’s zur Party geht?“
„Was hast du denn auf der Speisekarte?“
In ihrem Wohnzimmer zündete Alexa gerade ein Räucherstäbchen an, auf die Dinger hatte sie
schon immer gestanden. „Keine Ahnung, was ich so im Kühlschrank habe. Oder warte, wir
sehen uns lieber nen knackigen Hintern an.“
„Den kann man aber nicht essen, oder?“
„Wem’s schmeckt. Was willst du vom Chinesen?“ Alexa nahm das Prospekt des Chinesen
von der Pinnwand und drückte es Marie in die Hand, während sie zur Stereoanlage ging und
ihre CD-Sammlung nach etwas passendem durchsuchte. „Wie wär’s mit The Hives?“
„Klar, warum nicht. Wie ist das Huhn Sezchuan-Art?“
„Der Trick bei dem Chinesen sind die Frühlingsrollen extra scharf, die isst du als erstes, dann
hast du die nächsten zwei Stunden eh keine funktionstüchtigen Geschmacksnerven mehr.“
„Dann nehm ich das Hühnchen.“, schüttelte Marie den Kopf und lies sich auf die alte
Ledercouch fallen die direkt neben Schreibtisch stand.
„Also, wie war’s in London?“
“Ist ne lange Geschichte.”
„Das klingt nicht gerade nach ner Menge Spaß“ Alexa ging vor dem Schreibtisch in die Knie,
griff in den Abfalleimer voller Papier und fischte ihr tragbares Telefon raus, das sie nach dem
letzten Telefonat dort rein geworfen hatte. Die Szene verwunderte Marie nicht besonders,
Alexa war schon immer so drauf gewesen, und wenn man sie erst eine Weile kannte
überraschte einem eigentlich nichts mehr an ihr. „Kannst dich gleich ausheulen.“
„Deshalb bin ich nicht hier, du hast mir ne gute Party versprochen, das kann ich nach den
Monaten in Ansbach gut brauchen.“ Natürlich war sie auch hier um sich auszuheulen, Alexa,
Begleitschutz ran.“
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als Außenstehende und Mitglied ihres eigenen persönlichen Kreises zugleich, war genau die
„Das ist Marie, ne alte Freundin.“, brüllte Alexa in die Runde und hielt sich schon leicht
Person die sie jetzt brauchte.
angetrunken an der Schaufensterpuppe in NVA-Uniform fest, die mitten im Partykeller stand.
„Ich bestell uns erst mal was, du kannst ja schon mal in der Küche nach einem passenden
„Ja, ich denke jetzt wissen sie’s alle.“, schüttelte Marie kaum merklich den Kopf und lächelte.
Wein suchen.“
„Ah, da hat schon jemand trainiert.“ Ein knapp 1.60 großer Blonder kam auf die beiden
Marie hörte wie Alexa im Wohnzimmer das Essen bestellte, während sie sich nach unten
Neuankömmlinge zu. „Hey, ich bin Christoph, der Gastgeber.“
beugte und die sechs zur Auswahl im Metallgerüst liegenden Flaschen Wein begutachtete.
Ein kleiner Partykeller mit Garten, und wie Marie später feststellen sollte auch mit
Nachdem sie keinen wirklich kannte griff sie nach dem argentinischen Roten und versuchte
Schwimmbad, war die Kulisse für die Party. Da musste einer nicht protzen wie manch
sich dran zu erinnern in welchem der oberen Schränke der Einbauküche Alexa gleich wieder
Ansbacher der gleich ein ganzes Haus in eine gigantische Disco verwandelte. Wer weiß,
die Gläser aufbewahrte.
vielleicht wurde Christoph belohnt und nicht mit abgeschlachteten Eiern engumschlungen mit
„Ganz rechts oben.“ Alexa band sich das lange wild gelockte Pechschwarzhaar zu einem
nem anderen Typen, dessen Unterleib nicht besser aussah, am nächsten Morgen im Bett
Zopf, während sie in der Küchentür stand. „Also, willst du dich ausheulen?“
gefunden.
„Ach komm schon, dazu ist morgen auch noch genug Zeit.“
wahrscheinlich genauso reich wie die von Meinheimer, allerdings waren sie noch am Leben
„Ganz wie du meinst. Dann reden wir über was angenehmeres.“
was wohl der Grund für die nicht ganz vollständige Hausbesetzung war. Hatte er es insofern
Der knackige Hintern gehörte wie erwartet dem Lieferjungen, allerdings konnte man ihn
Belohnung für Bescheidenheit musste sein! Dabei waren Christophs Eltern
überhaupt verdient nicht abgeschlachtet zu werden?
wirklich nicht essen, man – oder besser frau – konnte ihn nicht mal anfassen, na ja, aber
Als Marie und Alexa gekommen waren war die Party schon in bester Stimmung gewesen,
angaffen schon. Ob der Typ wohl wusste das man – oder besser frau – oder manchmal eben
ein Stapel frischgelieferter Pizzas ersetzte das kalte Büffet und der erste Kasten Bier machte
doch mann – nur bei seinem Boss bestellte, damit man – oder besser frau – oder m anchmal
sich schon mal dünne. In der hinteren Ecke des Partykellers stand ein überdimensionales
eben doch mann auf seinen Hintern schauen konnte? Beim Essen verkniff sich Marie einen
Weinfass, ob es tatsächlich so große Fässer gab bezweifelte Marie ein wenig, das zur Bar
Vergleich zwischen den scharfen Frühlingsrollen und dem Lieferjungen, sondern quatschte
umfunktioniert worden war. Dahinter hatte sich jemand kraft eines nicht vorhandenen Amtes
lieber über eine Menge Belanglosigkeiten die plötzlich ganz wichtig wurde n, nur weil man sie
zum Barkeeper des Abends erklärt. Das hatte den Vorteil das man nicht mehr zum
solange nicht untereinander austauschen konnte. Gut eine Stunde später machten sie sich auf
Kühlschrank dahinter gehen musste um sich ein kaltes Bier zu holen, das hatte aber auch den
den Weg zur Party.
Nachteil das man auch immer einen der gerade eben erst erfunden Drinks probieren musste.
Die Kreationen gingen etwas über die Einfachheit eines Cuba Libre hinaus, sahen auch nicht
Es gab Partys, Partys und eben Partys. Die ersten firmierten unter dem schön nach Agatha
halbwegs so lecker aus, sondern eher wie die in einen Eimer zusammengeschütteten Farbreste
Christie klingenden Namen Dinnerparty. Die konnten ganz witzig sein, vorausgesetzt man
eines Malerunternehmens – und manche Drinks rochen auch so. Immerhin mixte er auch
konnte ein Jackett vorweisen und gehörte nicht zu jenen engstirnigen Prolls die den Morgen
antialkoholisches, das war die erste Party auf der Marie war, bei der ein Antialkoholiker als
damit verbrachten sich vor dem Seite 1-Mädchen der BILD auf dem Dixiklo die Palme zu
erstes überm Klo hing die Pizza am falschen Ende wieder los wurde. Zumindest griff jetzt
schütteln. Die zweite Party konnte auf keinen Fall ganz witzig werden, vor allem weil sie sich
endlich Christoph ein, schickte den Hobby-Giftmischer zu den anderen und kümmerte sich
selbst für cool und überhaupt den Event des Jahres hielt. Leute die dort hingingen verstanden
ein paar Minuten selbst um die Bar. Aus der Stereoanlage dröhnte Kelly Osbourne mit Papa
nichts von Partys, wollten sich einfach mal wieder vollaufen lassen oder rissen ihren
don’t preach Da hatte jemand einfach wild ein paar MP3s zusammengebrannt um gute
Pflichtauftritt ab. Die dritte Art war aber letztlich die einzig richtige, solche Partys fand man
Stimmung zu machen. Kein durchgestyltes Partymusikprogramm nur um cool und hip zu
nicht häufig, weil sie es nicht nötig hatten Laternen mit ihrer Ankündigung vollzukleben,
erscheinen, in dem läppischen Versuch sich wie ein Angehöriger der modernen Modekultur
vielleicht weil man sonst zu der Party Kategorie II werden könnte. Solche Partys fand man
aufzuspielen.
nur durch Mund zu Mund Propaganda, dazu musste man die richtigen Leute kennen.
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Gegen halb eins kam die Party erst richtig in Schwung. Am Tisch neben dem Weinfass
„Ein wahres Wort!“, schrie Alexa und fügte flüsternd in Maries Ohr hinzu: „Ich hab noch was
waren ein paar Jungs mit einem Trinkspiel gerade dabei eine Flasche Jägermeister zu leeren,
zum rauchen, was hältst du davon wenn wir uns das Zeug brüderlich teilen?“
wobei sie wahrscheinlich ke ine Ahnung mehr hatten welches Spiel sie spielten und ob
„Du meinst schwesterlich.“
gewonnen oder verloren ihr Glas kippten. Das war aber noch das harmloseste Partyspielchen,
„Mein ich.“
draußen auf der Terrasse spielten zwei Pärchen gerade Balloon-Job. Ein recht einfaches Spiel:
Der Mann lies sich einen Luftballon in die Hose stopfen und die Frauen bliesen dann um die
Regelmäßig zu Wahlkampfzeiten entdeckten Politiker aller Parteien die Familie als Keimzelle
Wette, gewonnen hatte das Paar dessen Luftballon als erstes platzte. Ein Riesenspaß, außer
des Staates, als das schützenswerteste Gut der Nation. Verlogene kleine Drecksäcke, in
vielleicht für den Mann in dessen Hose der Luftballon platzte. Aus dem kleinen
jeglicher Hinsicht. Aber vor allem in ihrem Familienbild, was war Familie schon mehr als
Hallenschwimmbad gleich neben an konnte man Leute planschen hören, was Christoph nicht
Zweckgemeinschaften die man nicht so einfach beenden konnte wie andere. Früher als die
sonderlich zu begeistern schien. Allerdings hatte er es schon längst aufgegeben die Party unter
Ehen noch arrangiert worden waren, da war die Familie an sich noch in Ordnung gewesen.
Kontrolle zu bringen, who cares, shit happens und Mama und Papa kamen eh erst
Man sorgte füreinander, machte ein paar Kinder und ging anso nsten seiner eigenen Wege.
Übermorgen wieder, die Putzfrau allerdings schon morgen. Die hätte dann aber bestimmt so
Solch hinderliche Dinge wie tiefe Zuneigung oder gar Liebe ließ man aus dem Familienleben
viel zu tun, dass man halb Russland einbürgern müsste um wieder klar Schiff zu bekommen.
raus, übertrug es bestenfalls auf die Kinder, aber meistens suchte man es sich außerhalb.
Marie tänzelte vor der Toilette auf und ab, bis sich die Tür endlich öffnete und ein Pärchen
Dieses System hatte sich jahrhundertelang bewährt, doch dann waren arrangierte Ehen aus der
grinsend rauskam. Klasse, als ob die es nicht wo anders hätten treiben können. Sie schlug die
Mode gekommen und aus der Familie als Keimzelle des Staates wurde die Familie als
Tür hinter sich zu und schüttelte den Kopf, an den weißen Fliesen klebte noch Rest von
Keimzelle des Wahnsinns. Ehepartner gingen aufeinander los, Geschwister gingen auf die
Erbrochenen. Wie konnte man hier bloß in Stimmung kommen. Sie beugte sich nach unten,
Eltern los, oder auf sich gegenseitig. Im Gr unde machten es die Wölfe richtig, man zog den
bearbeite die Sitzbrille mit einer halben Rolle Klopapier und kickte dann angeekelt das
Wurf auf und setzte ihn dann nach Ablauf einer Frist unsanft vor die Höhle. Und wenn die
gebrauchte Kondom mit den Fußspitzen weg. Ja, die Party hatte was. Vor allem musste man
lieben Kleinen wieder zurück an Mamas Zitzen wollten, dann wurden sie eben Papas
nicht aufpassen was man tat, außer Alexa würde sie keinen der anderen Gäste je wiedersehen.
Abendessen.
In ihr reifte kurz der Plan im Eva Kostüm durch die Gegend zu marschieren, aber dann kam
Mark zog die Augenbrauen el icht nach oben, gut, das war vielleicht doch eine Spur zu
ihr der Gedanke jemand könnte ne Kamera dabei haben und ihr Bild wäre vor Ablauf des
drastisch, außerdem war er sich nicht sicher ob die Jungen wirklich gefressen wurden. Alles
nächsten Tages im Internet zu betrachten.
was er über Wölfe wusste stammte wahrscheinlich aus Disneys Dschungelbuch, und das war
Als sie zurück in den Partykeller kam sah sie Alexa alleine vor der Stereoanlage im
mit ziemlicher Sicherheit nicht die beste Quelle für solche Fragen. Die Jungs von Disney
hypnotisierenden Rhythmus von Velvet Chains Fall Away tänzeln. Sie winkte ihr zu. „Eh,
waren ja amerikanischer als Amerikaner. Bei Herkules zum Beispiel schrieben die Amis, die
und, wie gefällt dir die Party?“
selbst auf eine kümmerliche Geschichte von nicht einmal einem halben Jahrtausend
„Ganz gut.“ Die beiden fielen sich in die Arme und bewegt en sich jetzt gemeinsam im
zurückblickten, gleich die griechische Antike um. Dem Halbgott gaben sie Zeus und Hera,
Rhythmus der Musik. Alexa roch nach einem Joint, anbetracht der Lage hatte sie die erste
statt Zeus und dem menschlichen Seitensprung, als Eltern, natürlich war er dann kein
Phase schon hinter sich gebracht und kam jetzt nach den Glücksgefühlen zur Die-Welt-ist -
Halbgott mehr, aber Moral siegt eben über alles andere.
Scheiße-Phase. Sie pressten sich eng aneinander und bekamen nicht mit wie Velvet Chain zu
Er schweifte schon wieder ab, er schweifte immer ab wenn er im Zug nach Ansbach saß
Xavier Naidoo wurde, der Rhythmus durchdrang sie nicht minder.
und die Landschaft an sich vorbeifliegen lies. Die klapprige Regionalbahn machte nicht
„Die Welt ist zum kotzen.“, flüsterte Alexa, „Und Männer erst recht.“
gerade vertrauensweckende Geräusche, wäre nicht die Hoffnung die Tür würde so klappern,
„Wem sagst du das Schwester?!“, grinste Marie in Alexas Schulter hinein. „Man sollte sie alle
die meisten Fahrgäste hätten wahrscheinlich eine Scheißangst. Mark war das egal. Er könnte
zusammentreiben und dann auf den Mond schießen.“
im ICE nach Eschede sitzen, es wäre ihm so gleichgültig wie sonst was. Die Semesterferien
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waren zu kurz gewesen, als das er hätte sein Tief überwinden können. Die meiste Zeit war er
Der Zug stoppte und Mark kam es so vor als hätte er es ohne Vorwarnung getan. Die ersten
eh in einer stinkenden kleinen Halle gewesen und hatte Autozubehörteile zusammengesteckt,
Fahrgäste hatten sich schon in Bewegung gesetzt und bis zur Tür bildete sich eine kleine
eine ebenso sinnige Arbeit als wenn man den ganzen Tag diesen kleinen Krimskrams aus den
Schlange. Mark seufzte nur leise, griff seine Reisetasche und stand auf. Die Semesterferien
Ü-Eiern zusammenstecken müsste – und ebenso schlecht bezahlt. Jetzt wo er wusste warum
waren kurz gewesen, die Realität hatte ihn wieder. Er war wieder in Ansbach.
sich eine Türknopf nicht mehr nach oben bewegte, wenn man ihn runterdrückte, hatte er
einen neuen Grund gefunden Autos zu hassen. Wie viel Cent hatte man gleich wieder pro
Stück bekommen? 0,001, wahrscheinlich eine viel zu günstige Schätzung. Ausbeuterbetriebe,
glatt ein Grund in die Gewerkschaft zu gehen, die kümmerten sich zwar einen müden
Scheißdreck um die Zukunft, aber im Hier und Jetzt waren sie ganz gut für ihre Mitglieder da.
Morgen, morgen war morgen und nicht heute. Aber wahrscheinlich wurde man in so lchen
Betrieben eh gleich nach Gewerkschaftseintritt entlassen, ein Grund fand sich immer, so eine
Minute zu spät aus der Mittagspause zurückzukommen war schon ein ziemlich guter Grund
einen armen Studenten ins finanzielle Nirwana zu stoßen. Studenten bekamen ja eh alles
hinten reingeschoben. Nächste Semesterferien musste er sich was anderes suchen, oder seinen
Eltern endlich sagen das er wusste, dass die Familie nicht am Hungertuch nagte und dieser
ganze Geh-arbeiten-Mist nur Nostalgiegründe hatte. Eh, sch ickte Donald Trump die kleine
Ivanka vielleicht arbeiten, oder putzten diese beiden Hilton Schwestern vielleicht Hotelklos?
Nein, die gingen halb nackt auf Partys und zeigten der Welt das man auch mit Millionen
Dollar in der Hand keine gute Erziehung genossen haben musste. Nur er durfte Aschenbecher,
Türgriff und sonstigen Schrott zusammensetzen von dem er nicht die geringste Ahnung hatte
wo das im Auto hingehörte. Solange es nicht die Bremsscheiben waren, er hatte nämlich
irgendwann die Lust gehabt für diesen Hungerlohn auf so was wie Qualität zu achten. War die
Unfallrate bei BMW nicht erst kürzlich sprunghaft und unerklärlich gestiegen?
Aus dem Lautsprecher tönte die Ansage des Zugbegleiters: „In wenigen Minuten erreichen
wir Ansbach. Dort haben sie Anschluss ...“ Seit die Bundesbahn nicht mehr Bundesbahn hieß,
Zugschaffner auch nicht mehr Zugschaffner, waren eben jene scheißfreundlich geworden. Das
musste man der Privatisierung schon zugestehen. Natürlich hielten auch die Zugbegleiter den
Fahrgast in erst er Linie als störendes Hindernis zwischen sich und dem Feierabend, aber sie
versuchte das hinter einem Lächeln zu verbergen. Das war ein offenes Geheimnis, Deutsche
dienten nicht gerne, ebenso wenig wie sie sich bedienen ließen. Dienen und bedienen erfüllt
sie mit einem Gefühl der Gedemüdigtkeit. Bedienen ließen sie sich höchsten im Türkeiurlaub
von dem kleinen Schuhputzjungen und fühlten sich dann noch wie die besten
Entwicklungshelfer, in der Heimat hätten sie ihm schlimmstenfalls einen Tritt in den Hintern
gegeben.
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„Hat sie denn aufgehört?“ Erst jetzt wurde Marie bewusst, das sie fast zwei Monate nicht
mehr daran gedacht hatte, aus den Augen, aus dem Sinn – eine Meisterleistung der
Semesterferien waren irgendwie immer zu kurz, selbst wenn sie sich über zwei Monate
hingezogen hatten. Eigentlich sollte man das Semestersystem völlig neu organisieren, am
besten studierte man ein Semester und dann legte man sofort ein komplettes Urlaubssemester
ein. Ja, so ließe es sich gut studieren, natürlich würde die Durchschnittstudienzeit dann auf
etwa 36 Semester steigen, aber was soll’s? Irgendwie musste man ja schließlich auch die
Vorurteile der tatsächlich arbeitenden Bevölkerung bestätigen, oder?
Marie verdrehte die Augen nach oben, als der Student an der Aufzugstür den Türaufknopf
drückte, damit der anstolpernde Dozent noch in die gläserne Kabine kommen konnte. Na
Klasse, der hat mir noch gefehlt, sie drückte sich in die hinterste Ecke, versuchte sich hinter
Mario zu verstecken, der auf ihre merkwürdige Reaktion mit dem üblichen, selbst durch die
Mordserie nicht zu erschütterndes Grinsen reagierte. Dummerweise war er kein 2 x 2 Meter Typ, weshalb es ziemlich wenig Sinn hatte sich hinter ihm verstecken zu wollen.
„Ah, Frau Jacotet, schön sie mal wiederzusehen.“, grinste der Dozent und zwirbelte sich dabei
an seinem Hercule Poirot-Bärtchen.
„Herr Schimon.“, erwiderte sie kurz, mit dem Mann würde sie nie wieder was zu tun haben,
also keine Grund die Schleimkanone rauszuholen.
Ein Stockwerk später stoppte der Aufzug schon wieder und Schimon stieg aus.
„Wer war denn das?“
„Bei dem hatte ich im Ersten mal ein Wahlfach, hab’s aber hingeschmissen.“
„Isser so schlecht?“
„Keine Ahnung, er war nie da und wenn, dann hat er ständig seinen Bart sexuell belästigt.“
Mario lachte kopfschüttelnd und stieg zusammen mit Marie ein weiteres Stockwerk später
aus.
„Ich hab übrigens rausgefunden woran mich dein Dauergrinsen die ganze Zeit schon erinnert
hat.“ – Mario sah Marie fragend an. – „Wir mussten mal in der Schule so ein Jugendbuch
lesen, da ging’s um einen Indianer auf den Aleuten glaube ich, dessen Insel überfallen wurde.
Die meisten wurden abgeschlachtet, aber einer hat überlebt der am Mund so verletzt wurde,
dass es jetzt so aussah als würde er immer grinsen. Mir fällt aber der Titel nicht mehr ein.“
„Irgendwas mit Delphinen.“, er schüttelte den Kopf, „M ussten wir auch lesen. Hat mein
grinsender Freund das Ende erlebt?“
„Glaube nicht, überlebt hat nur der Junge.“
Verdrängung.
„Ja, seit zwei Monaten kein einziger Mord mehr, die Boulevardpresse weiß schon gar nicht
mehr wo Ansbach liegt.“
„Zwei Monate? Passend zu den Semesterferien? Der Mörder ist ein Student.“ Die Feststellung
war halb im Spaß, halb im Ernst. Marie blieb für einen Augenblick stehen und sah aus dem
Fenster auf den Campus runter. Es war vorbei, nickte sie sich selbst zu, der Alptraum war
vorbei.
„Du kannst mit der Theorie ja zur Polizei gehen, die hat nämlich immer noch keine Spur.“
Mario stellte sich neben sie. „Immerhin hatten sie deshalb keinen Grund auch noch das
Herbstfest abzusagen, kommst du eigentlich?“
„Klar, eine letzte Party bevor der Ernst des Studiums wiederlosgeht.“
„Eh, ist da eine über Nacht zur Streberin geworden. Da fällt mir ein, gratuliere zur 1 beim
alten Falkenstein, das muss dir erst mal einer nachmachen.“
Marie zuckte kurz zusammen. „Es war nicht die einzige.“
„Schon, aber die einzige 1 für einen normalen Menschen.“
Am nächsten Morgen hatte man schon begonnen den Campus teilweise mit meterhohen
Gittern abzusperren. Die ersten Vorzeichen der großen Herbstparty. Studenten tranken nun
mal gern, und im besoffenen Zustand taten sie dann Dinge, die die Versicherung des
Veranstalters in den Wahnsinn trieb. Einmal hatten sie ein halbes Dutzend der ungefähr
hüfthohen Lampen zusammengetreten, die am Abend den Campus ein wenig Licht schenkten.
Die Dinger waren hässliche schwarze Röhren mit eingebauter Glühbirne, die Dinger waren
aber vor allem teuer. Sobald die Gitter standen baute man sie teileweise wieder ab, damit der
Transporter mit dem Material für das Zelt auf den Campus fahren konnte. Sobald der
abgeladen und wieder verschwunden war baute man die Gitter wieder auf, um sie am gleichen
Nachmittag wieder abzubauen, weil sonst der andere Transporter mit den Bänken und Stühlen
nicht durchgekommen wäre. Die Organisation war offensichtlich von einem Informatiker
übernommen
der
die
Ankunft
der
beiden
Transporter
nicht
in
dem
überrascht worden war. However, am Abend stand das Zelt, und die Party konnte morgen
steigen.
„Und, wie geht’s mit den Proben voran?“, Marie setzte sich zu den anderen an den Tisch.
„Nette Aussichten, dann wollen wir mal hoffen das die Mordserie nicht wieder losgeht.“
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worden,
Computersimulationsprogramm mit eingeplant hatte und folglich von deren Eintreffen völlig
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„Die Generalprobe ist in einer Stunde, aber was soll’s, ich hab getan was ich konnte, jetzt
11.
müssen’s die Schauspieler machen. Ich klinge schon wie ein echter Autor, oder?“
„Klar Mark, du solltest das Studium an den Nagel hängen und nur noch schreiben.“, nickte
Stefan, wahrscheinlich meinte er es sogar ernst.
„Schade nur, dass die ganze Mühe wohl umsonst war, weil das Stück nicht die
Hauptattraktion sein wird, oder Anna?“ Gerd lachte ein wenig verstohlen in seine Eistüte,
wahrscheinlich die letzte die man dieses Jahr in der Mensa hatte kaufen können.
„Du bist echt witzig.“
„Wie meint er das, du planst doch nicht etwa einen Strip auf der Bühne. Als Frau müsste ich
dir dringend von einer derartigen Ausbeutung deines Körpers abraten.“ Marie machte ein
bierernstes Gesicht, solche Sätze völlig ernst rüberzubringen hatte sie schon immer perfekt
draufgehabt.
„Und du bist auch echt witzig.“
„Jetzt lasst mich nicht zappeln, was passiert morgen so we ltbewegendes?“
„Sie bringt ihren Freund mit.“, grinste Nanette plötzlich hinter Anna auf, „Sie setzt den armen
Kerl mitten in der Höhle des Löwen aus.“
„Ernsthaft? Du bist echt mutig, Respekt.“, nickte Marie und konnte sich noch immer auch das
kleinste Lächeln verkneifen, „Dann lernen wir den großen Sigmund also kennen?“
„Siegfried.“, verbesserte sie Mark.
„Ein Hoch auf die Nibelungen.“
„Nennst du ihn eigentlich Siggi?“
„Klingt eher nach der Abkürzung für Siegrid.“
„Ihr seid alle echt witzig, vielleicht so llte ich’s mir doch noch überlegen.“
„Ach komm schon, du machst uns ganze das Semester lang den Mund über ihn wässrig, und
jetzt dürfen wir nicht mal ein paar Scherzchen machen.“, Marie versuchte entwaffnend zu
lächeln, „Wird schon nicht so schlimm werden, du musst ihn nur schnell rumreichen und dann
verlieren die Trottel schon das Interesse an ihm.“
Anna beschloss endlich einen Themenwechsel zu provozieren. „Was ist eigentlich mit
Simone? Ich habe sie noch gar nicht gesehen.“
„Wirst du demnächst auch noch nicht. Ihr geht’s gesundheitlich wieder gut, aber sie will noch
ein paar Wochen zu Hause bei ihren Eltern bleiben.“, berichtete Marie, „Ich habe gestern
noch mal kurz mit ihr telefoniert.“
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Nervös war gar kein Ausdruck für Marks Zustand, eigentlich merkwürdig, denn zumindest im
letzten Part des Theaterstücks hatte er gar nichts mehr damit zu tun gehabt. Im Grunde hatte
er mit den beiden anderen Co -Autoren das fertige Stück abgegeben, bei der Kommilitonin, die
sich für die Regisseurin hielt, und damit war die Sache eigentlich erledigt gewesen. Bei ein
paar Proben war abwechselnd immer einer von ihnen dabei, sozusagen um das schlimmste zu
verhindern. Schauspieler waren ja schon schlimm, aber bestimmt nicht halb so schlimm wie
Laienschauspieler. Am Ende würde keiner der drei sein Stück wiedererkennen, das galt es zu
verhindern. Am Ende erkannten sie ihr Stück allerdings wieder, und nach der Generalprobe
hatten sie sogar das Gefühl eigentlich ein ziemlich gutes, von Schauspielern nicht verhunztes
Stück abge liefert zu haben, Marks Nervosität tat dies allerdings nicht den geringsten Abbruch.
Wie hieß es doch so schön, letztlich war das sein Baby, und vom Nachwuchs wollte man
schließlich das er gedieh und Erfolg im Leben hatte.
„Und, was hältst du von ihm?“, Stefan hielt ihn den Ü-Ei-Figuren-großen Ork direkt vor
die Nase. Einen von ihm eigenhändig umgebastelte Ork, der jetzt vor einem Schlagzeug stand
als wäre er bei den Rolling Stones. Freakig genug für einen Stone sah er ja aus. „Cool, oder?“
„Mal realistisch betrachtet, falls man bei Orks und Morks überhaupt von Realismus sprechen
kann, ist so ein Schlagzeug bei der Schlacht nicht eher im Weg?“
Stefan hielt sich die Figur jetzt vor die eigene Nase, betrachtete sie lange und mit einer Spur
von Nachdenklichkeit in seinen Gesichtszügen. „Stimmt, aber Orks ham eh eine ziemlich
geringe Überlebenschance, dafür sieht er halt cool aus.“
„Cool in den Tod, schon klar. Steht das auf den Bannern der Orkarmee?“ Er stand auf, ging
ein paar Schritte, die paar, die in de r engen Studentenwohnung gehbar waren, blieb
schließlich stehen und warf einen Blick aus dem kleinen Fenster auf die Straße runter.
„Du genießt die Aussicht?“
„Ich glaub ich werd nach dem nächsten Praktikum in eine Wohnung irgendwo in der Stadt
ziehen, diese Sardinenbüchsen gehen mir auf die Nerven.“ Manchmal gingen ihm weniger die
Büchsen, als die Sardinen auf die Nerven. Er brauchte etwas Abstand, etwas mehr Abstand als
man bekam, wenn man nur die Tür abließen und sich tot stellen konnte.
„Du hast mal wieder die Schnauze voll von uns.“
„Entweder du kannst hellsehen oder wir hängen zu oft zusammen rum.“
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Stefan sagte erst mal nichts, sondern begann sich den nächsten Ork vorzunehmen. Er ritzte
draußen auf dem Korridor hatte sie wahrscheinlich auch gar keine andere Wahl mehr als auf
mit einer Rasierklinge an dem ausgestreckten Arm herum, stellte die Figur dann wieder auf
die Party zu gehen, da hatten sie Stefan und Gerd sie schon in die Mitte genommen und
die kleine Werkbank und meinte: „Schon aufgeregt des Stückes wegen?“
schleusten sie Richtung Tür zur Treppe nach draußen.
„Na ja es gibt da eine ganz bestimmte Szene, die ich besser rausgelassen hätte.“
„Und, auch schon neugierig auf Annas Freund?“
„Zu realistisch?“
„So was können auch nur Jungs fragen. Was ist, seid ihr etwa alle eifersüchtig, weil sie mit
„Sagen wir, es gibt da jemanden, der es jemand anderes ziemlich übel nehmen könnte weil
ihm zusammen ist, statt mit einem von euch.“
dieser jemand den anderen jemand mit jemand anderes in Verbindung bringt. Ich hoffe nur
„Jetzt sag bloß, du bist nicht neugierig?“
dieser jemand wird der einzige sein, der merkt worum es geht, sonst könnte der erste jemand
„Sagen wir’s so, meine Neugier hält sich in Grenzen. Ich brenne ja auch nicht darauf deine
ziemlich großen Mist gebaut haben.“
Freundin um jeden Preis kennen zulernen.“
„Von den ganzen jemand’s schwirrt einem ja der Kopf.“
Gerd zuckte mit den Schultern. „Ich erzähl aber auch nicht ständig ihr.“
„Ich hab’s ja selbst nicht mal verstanden.“, Mark warf einen Blick auf die Uhr, „Ich muss los,
„Das ist’n Punkt für ihn.“, stimmte Stefan zu.
ich hab versprochen beim Bühnenbild mitzuhelfen. Himmel, Bühnenbild, klingt fast schon
„Männer, da wollt ihr immer von euren Freundinnen über alle Maße gelobt werden, und dann
wie echtes Theater, oder?“
tut das auch mal eine, aber das passt euch dann auch nicht.“
„Will uns da etwa jemand ein schlechtes Gewissen einreden?“
Eigentlich war Marie noch immer nicht zu einer großen Partygängerin geworden, wie nannte
„Könnte ich damit etwa Erfolg haben?“
man das eigentlich genau? Partymaus, Partyluder, Ariane Zwo? Die Party in Hannover war
toll gewesen, eine der besten auf der sie je gewesen war, aber auch dorthin hatte sie Alexa
Bühnenbild war an sich eine Übertreibung, fand Mark zumindest, auch wenn die
schleppen müssen. Ihr wäre es lieber gewesen mit ihr um die Häuser zu ziehen, sich eine
Bühnenbildnerin anderer Meinung sein musste. Es war im Grunde ja nur eine Frage der
Kneipe oder Bar zu suchen, und einfach was trinken und quatschen. Bei den FH-Partys in
Einstellung, was für die einen ein bisschen armselig wirken mochte, war für andere wiederum
Ansbach war es nicht unbedingt besser. Die waren unterm Strich zwar ganz in Ordnung, aber
die Kunst des Minimalismus. Man hatte einfach ein paar rotbraune Wände aufgestellt und
alles in allem keine Partys die man von mal zu mal herbeisehnt. Letztlich hatte sie nur Simone
Zettel mit den Gebäudenummerierungen dran geklebt. Die Nummerierung auf dem Gelände
zu jeder dieser Partys geschleift, pünktlich eine Stunde vor Beginn hatte sie jedes Mal an die
stammte noch aus den Zeiten als das ganze noch Kaserne war, und da es bei der Ausbildung
Wohnungstür gehämmert und sie praktisch mit vorgehaltener Waffe gezwungen mitzugehen.
eines Soldaten wichtiger war ihn morden und vergewaltigen beizubringen, als etwa lesen und
Und auch jetzt wartete Marie irgendwie darauf das Simone gleich an ihre Tür klopfen würde,
schreiben, hatte damals niemand notiert warum die Gebäude nicht einfach durchnummeriert
doch das würde nicht geschehen, Simone war noch immer zu Hause bei ihren Eltern und
worden waren, sondern dem ganzen ein kompliziertes und völlig unverständliches System
versuchte wahrscheinlich alles einfach zu vergessen. Die Eigenmotivation hatte bis jetzt aber
zugrunde lag. Manche vermuteten dahinter ein raffiniertes Zahlensystem, das im Ernstfall die
schon mal dazugereicht sich umzuziehen, wenn es auch nicht unbedingt das Partyoutfit
Sowj ets so stark verwirrt hätte, das sie von alleine wieder nach Russland geflohen werden,
schlechthin war. Dunkle Hose, hellblaue Seidenbluse mit dunkelblauen Rose darauf, sie hatte
wiederum andere vermuteten dahinter schlicht eine Verschwörung der Freimaurer. Die
keine Lust noch mal so rumzula ufen wie auf Meinheimers Party. Fast erschöpft wirkend war
Wahrheit hatte wahrscheinlich irgendein General mit ins Grab genommen. Was nun das
Marie auf dem Schreibtischstuhl zusammengesunken, starrte wartend die Wohnungstür an
Bühnenbild betraf, hatte man auf das offensichtliches Merkmal des Campus verzichtet, jenes
und lauschte der Musik aus dem Radiowecker. Also keine guten Vorraussetzungen noch den
zu landesweiter – hatte nicht auch CNN mal kurz über die Mordserie berichtet – jenes zu
Hintern hochzuheben und a uf die Party zugehen.
weltweiter Berühmtheit gelangte rote Ungetüm. Jemand hatte vorgeschlagen einen Statisten in
Zehn Minuten später hatte sie es doch geschafft sich irgendwie auf ihre beiden Beine zu
eine knallrote Ganzkörperstrumpfhose zu stecken und ihn während der Vorstellung dann auf
quälen und sich tatsächlich in Bewegung Richtung Party zu setzen. Nach zwei drei Schritten
der Bühne zu platzieren. Die anderen hatten seinen Vorschlag niedergestimmt, aus
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Pietätgründen und dem Gefühl Männer in Ganzkörperstrumpfhosen gehörten in die
„Seit er nicht mehr Kanzler ist hat er eine Menge Zeit und besucht jetzt Studentenpartys in
Schlafzimmer ihrer Eltern. Die waren schließlich schon alt, und da musste man das
ganz Deutschland.“, stöhnte Marie hinter ihm.
Sexualleben doch irgendwie wieder in Schwung bringen. Jetzt, bei Licht betrachtet fehlte
„Okay, wir haben alle gelacht, hast du auch einen Zettel richtig ausgefüllt.“ Die Zweite an der
dieser rote Mittelpunkt schon irgendwie, man hätte dem Statisten ja nicht unbedingt eine an
Kasse hatte niemand der drei schon mal gesehen, wahrscheinlich eine Tussi vom Sponsors.
einem Seil hängende Barbie in die Hand drücken müssen.
Entweder eine angestellte Studentin oder eine einfache Angestellte die auf jung und flippig
Mark warf einen Blick hinter sich, an der der Bühne gegenüberliegenden Bar wurden gerade
machte. Eben ne nervtötende Tussi.
die letzten Kästen Bier reingetragen. Seiner Uhr nach würde sich das Zelt und der
„Bitte.“ Stefan reichte der Kleinen an der Kasse einen zweiten Zettel.
dazugehörige abgesperrte Vorplatz wahrscheinlich bald mit den ersten Partygästen füllen. Das
„Das ist mein Name.“ Diesmal schien auch sie mehr genervt als amüsiert zu sein.
Theaterstück selbst war gut eine Stunde nach Partybeginn angesetzt, wenn die meisten schon
„Also mir reicht’s, entweder du fül lst jetzt ernsthaft einen Zettel aus, oder du zahlst den vollen
eingetroffen waren, aber noch einen Alkoholspiegel hatten der niedrig genug war das Stück
Preis.“, forderte die Walküre des Sponsors so vehement, als würde sie bei einer falschen
auch bewusst mitzubekommen. Ob die Cheforganisatoren ihre Drohung wohl wahrgemacht
Adresse ihren Job verlieren.
und versucht hatten jemanden von der FLZ zu kriegen? So ne Art echten Zeitungskritiker?
„Tu lieber was sie sagt, sonst wird sie noch sauer und sagt die Party ab.“, gab Marie zu
Mark wäre auf seinen ersten Veriss gespannt, denn nichts anderes könnte dabei
bedenken, während Gerd die ganze Zeit über schon lächelnd mit dem Kopf geschüttelt hatte.
herauskommen. In seiner innersten Überzeugung hatten sie da gerade ein avantgardistisches –
„Ist ja schon gut.“ Der dritte gezückte Zettel trug tatsächlich Stefans richtigen Namen samt
er hatte keinen Ahnung ob das der passende Begriff war, aber er klang zu gut als auf ihn
Adresse.
verzichten zu können – und progressives Stück zustande gebracht, das konnte von der Haus-
„Danke, geht doch.“, stöhnte die Walküre und nahm den Zettel wie einen kleinen Schatz um
und Hofzeitung der örtlichen CSU-Größen, und der nicht minder CSU-ergebenen Sozis, doch
ihn zu den anderen zu legen. „Kann ich deinen auch gleich haben?“
nur als Teufelswerk betitelt werden. Hilfe, die 68er haben sich geklont und führen in Ansbach
„Ich zahl den vollen Preis, mit den Idioten von PLM hab ich mich schon mal rumgeschlagen.“
Theaterstücke auf!!! Okay, vielleicht übertrieb er da ein wenig. Vielleicht hatten sie da nichts
Die Walküre kam zu dem Schluss das Ansbacher Studenten alle bescheuert waren, und fragte
weiter als ein belangloses kleinen Stückchen Theater zustandegebracht, ein bisschen Satire
sich, ob es sich wohl lohnte von denen überhaupt die Adressen zu speichern?
hier, ein bisschen Ironie da. Gerade soviel das jeder der nicht aufs Korn genommen wurde
„Gut, wir sind drin, wo ist die Bar?“ Marie streckte übertrieben den Kopf in Richtung Zelt.
noch beleidigter war als jene die aufs Korn genommen wurden. Vielleicht versuchte er sich
„Hat man dir schon mal gesagt das es unvorteilhaft für eine Frau ist sich zu betrinken?“
damit nur davon abzulenken nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt zu haben den
„Sexist, das kann auch nur jemand sagen der überhaupt keinen Alkohol trinkt.“
lüsternen Prof rausgeschrieben zu haben.
Das war also die große Attraktion der Party, Marie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite,
Findige Unternehmen hatten längst herausgefunden das es gleich bei welcher studentischen
während Siegfried – ob man ihn jetzt ungestraft Siggi nennen durfte – gerade zum x-ten Mal
Veranstaltung stets am Geld mangelte, und da man in Deutschland werbetechnisch noch auf
einer Runde Kommilitonen seiner Freundin vorstellt wurde. Händeschütteln, lächeln,
Vorkriegsniveau war, man also nicht gleich eine Uni fand die sich in AOL -Uni umbenennen
Händeschütteln, lächeln, beinahe als ob er auf Staatsbesuch wäre. Wahrscheinlich ging ihm
wollte, musste man sich eben die Geldknappheit der jeweiligen Fachschaften zunutze machen.
das alles schon ziemlich auf die Nerven, wahrscheinlich hatte ihn Anna nicht intensiv genug
Hier hatte ein namhaftes Wirtschaftsunternehmen, nennen wir es maoam-mäßig mal PLM,
vorgewarnt. Dabei hatte er das schlimmste noch gar nicht überstanden, bis jetzt hatte er nur
zugeschlagen, das einem den halben Eintritt sponsorte. Nicht ganz uneigennützig natürlich,
Leute kennen gelernt die sich gut mit Anna verstanden. Marie kam an die Reihe, wieder
man musste auf dem Gutschein schon seine Adresse angeben.
Händeschütteln, wieder lächeln .
„Helmut Kohl?“, die Kleine an der Kasse, die Stefan und seinen Humor wohl schon flüchtig
„Der legendäre Drachentöter. Pardon, ich wette die Anspielung hörst du nicht zum
kannte, sah ihn halb belustigt, halb genervt an.
erstenmal.“
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„Ich kann mir schlimmere Vergleiche vorstellen.“
sollte, baute vorn noch ihre Lichtshow auf und sprach sich dabei mit jemanden vom Stück ab,
Bei dem Namen und Annas Schilderungen hatte sie sich ihn irgendwie größer vorgestellt, so
schließlich sollten die Akteure später nicht über Kabel ins Publikum stolpern, die würden
an die 2 Meter oder so, mindestens. Aber im langsam verschwindenden Tageslicht musste
schon oft genug über ihre eigenen Füße stolpern können. Wie gesagt, eigentlich hatte er hier
man ihn dann doch irgendwo zwischen normal und gewöhnlich einordnen. Kein Übermensch,
gar nichts mehr zu tun, seine Hauptaufgabe hinter der Bühne bestand im Moment
und wenn sie ihn so betrachtete sicher auch kein Sexgott. Auf der anderen Seite wollte sie das
hauptsächlich darin nicht im Weg zu stehen. Er unterhielt sich mit ein paar Leuten, lehn te
auch nicht wirklich beurteilen, sie hatte es schon mit einem Typen zu tun der sich
ansonsten an einem der Pfeiler und überlegte nicht doch noch das Weite zu suchen. Seine
wahrscheinlich für eben dieses hielt. Marie tänzelte noch ein wenig in der Gruppe hin und her,
Blicke fielen auf die kleine Lolita, die eigentlich zwei Rollen übernehmen sollte und nebenbei
unterhielt sich ein wenig und warf immer ein paar Seitenblicke Richtung Zelt. Stefan hatte ihr
noch ein Wachmann vor der Bibliothek spielen musste. Dazu lief sie die eine Hälfte des
vorhin gesteckt das Mark des Stückes wegen nervöser als nervös war. Sie hatte keine Ahnung
Stücks im weiten Polizeikostüm rum, das aussah wie aus der Kulisse von „Cagney und
worum es in dem Stück ging, die Organisatoren hatten das ganze wie ein Staatsgeheimnis
Lacey“ geklaut, die andere im kurzen karierten Schulmädchenrock und mit Pipi Langstrumpf-
gehütet, wahrscheinlich war das Gold in Fort Knox nicht besser geschützt. Mark hatte sie seit
Zöpfen. Wo hatten sie eigentlich die Polizeiuniformen her, gab’s in Ansbach einen
gestern nicht mehr gesehen. Marie konnte nicht mehr leugnen das sich ihr Verhältnis
Kostümverleih? Eigentlich war’s ihm egal.
zueinander merklich abgekühlt hatte, wahrscheinlich lag es daran das sie nicht einfach bei
ihm vorbeigeschaut hatte, so wie sie es vor ein paar Wochen sicher noch getan hätte. Wieder
Vor der Bühne konnte man an den bereitgestellten Tischen längst keinen freien Platz mehr
fragte sie sich was er wohl wissen konnte, oder hatte sie ihn einfach nur durch eine dauerhafte
finden, wer jetzt noch ins Zelt kam musste schon mit einem Stehplatz hinten an der Theke
mit Lächeln verzuckernde Abweisung zugrunde gerichtet. Als sie aus ihren Gedanken wieder
vorlieb nehmen. Na ja, so nah an der schier unerschöpflichen Quelle des Alkohols zu sitzen
zurück in die Realität kam, war Anna und ihr Freund schon zum nächsten Grüppchen
konnte natürlich auch seine Vorteile haben. Marie saß ziemlich weit vorn, sozusagen an der
gezogen.
Quelle des Versuchs Kultur nach Ansbach zu bringen. Na ja, vielleicht urteilte sie da ein
„Suchen wir uns schon mal einen Tisch an der Bühne?“, tippte Stefan sie kurz an.
bisschen zu hart über ihre Zweitheimatstadt, ein paar löbliche Versuche hatte es auch schon
Marie nickte nur und trotte zusammen mit ihm ins Zelt hinein.
vorher gegeben. Folglich lag es weniger an den Versuchen, sondern eher daran wie die
Versuche in der Bevölkerung aufgenommen wurden. Für eine sachliche Ausarbeitung über
Nach Annas übertriebenen Schilderungen hatte sich Mark Siegfried irgendwie kleiner
das Ansbacher Kulturleben schien dies allerdings weder der passende Ort noch die passende
vorgestellt und dicker, im allgemeinen ein bisschen hässlicher. Anna war irgendwie der Typ
Zeit zu sein. Als Marie gerade zu einer verkürzten Fassung ansetzen wollte, bekam sie von
der tatsächlich auch so was wie innere Schönheit sehen konnte, statt nur muskelbepackte
ihrem Tischnachbarn nur ein „Psst“ zu hören.
Bizepsjunkies. Seiner Meinung nach gab es viel zu wenige Frauen die bei einem Mann auf
Auf der Bühne begann die Show, die ersten zwei Akteure traten auf. Ein paar Sekunden
mehr achteten als auf einen knackigen Hintern. Außerdem hatte er ein altes Foto in
später wusste man das es sich bei ihr um eine Offizielle der FH und bei ihm um einen
Erinnerung, das Anna im Portmonee trug und irgendwann mal gezeigt hatte, auf dem
Reporter hielt, der eine große Story über sie schreiben wollte. Man machte also seine Runde,
Siegfried eher einem pickelgesichtigen Teenie ähnelte. Auf der anderen Seite erinnerte er
kam in die Bibliothek, wurde vom Sicherheitsdienst zu Boden geworfen und gefilzt als hätte
Mark jetzt eher an einen Pseudoskater, der sich bei Karstadt einzukleiden pflegte. Aber was
das FBI gerade Osama bin Laden beim Knacken eines Kaugummiautomaten erwischt.
interessierte es ihn, er schüttelte sein Hand, wechselte ein paar Worte mit ihm und
Nachdem der Gruppensex überstanden war ging man Richtung Mensa, wo ein
entschuldigte sich dann weil er noch was fürs Stück zu erledigen hatte. Eigentlich hatte er das
wildgewordener Snackautomat gerade unschuldige Studenten mit Marsriegeln steinigte.
zwar nicht, er hatte bloß keine Lust auf lästigen Smalltalk, die Attraktion der Party könnte er
Marie konnte nur hoffen das die Riegel gefaket waren, sonst würden einige wohl bald
auch später noch näher kennen lernen. Er ging zurück ins Zelt, schlängelte sich zwischen den
ziemlich viele blaue Flecken davontragen. Aber selbst wenn die Dinger zehn Jahre alt und
Tischen durch und verschwand hinter der Bühne. Die Band, die gleich nach ihnen spielen
versteinert waren, die Lacher die der amoklaufende Automat erntete war es wahrscheinlich
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wert. Dann kehrte die Besichtigungsgruppe zurück auf den stilisierten Campus, nach ein paar
Mark seufzte kaum merklich auf, schloss für ein paar Sekunden die Augen und zwängte sich
weiteren Gags Marke alte Folgen von „Sketchup“ kam dann endlich der Auftritt von Lolita.
dann durch die Massen im Zelt nach draußen. Dort war es inzwischen dunkel, nur ein paar
Mit ihren Zöpfen und dem gürtelgroßen Minirock rannte sie kreuz und quer über die Bühne,
Leute hatten sich versammelt, aber er konnte Marie nirgends entdecken. Er lief zur Kasse,
fuchtelte wild mit den Armen herum und schrie um Hilfe. Keinen wirklichen Augenblick
fragte die Kleine dort ob eine kleine Brünette gerade gegangen war, aber sie schüttelte nur
später rannte ein zweiter Schauspieler auf die Bühne, im abgetragenen Tweedjackett und mit
den Kopf und zuckte dabei gleichzeitig mit den Schultern – unter anderen Umständen hätte
dicker Hornbrille. Das er dadurch nicht vollkommen blind war, war eine nicht zu
Mark diese Bewegungen wahrscheinlich lustig gefunden. Einen anderen Ausgang gab es
unterschätzende Leistung.
nicht, es sei denn Marie wäre auf die Idee gekommen über den Zaun zu klettern.
„Was geht hier vor?“, rief der Reporter.
„Suchst du jemanden?“ Maries Frage ließ ihn zusammenzucken.
„Ach das, das ist nur Professor Liebestoll!“
„Marie.“ Der Ausdruck in ihren Augen ließ nicht den geringsten Zweifel daran das sie die
Professor Liebestoll sabberte, ein großartiger Schauspieler, ohne Zweife l. Weinen und
Anspielung sehr wohl verstanden hatte, darüber konnte das lange Schweigen zwischen ihnen
sabbern gehörte sicher zu den schwersten Leistungen die ein Schauspieler vollbringen musste.
nicht hinwegdeuten. „Es tut mir leid.“, entschuldigte sich Mark schließlich, nur um
Nicht einmal zehn Minuten später war der Spuk vorbei und alles lachte sich schlapp, nur
irgendetwas zu sagen.
Marie blickte starr auf die Bühne, als hätte sich das Bild do rt eingefroren und würde nicht
„Leid tut es dir?! Na toll, du machst mich vor aller Welt lächerlich und glaubst es sei dann mit
mehr vorangehen. Ein kalter Schauer durchlief sich, gefolgt von einem heißen, sie fast
einem ‚tut mir leid’ getan? Hast du den Verstand verloren?“
verbrennenden Schauer. Das war Marks Szene, das war ihr in dem Moment klar geworden in
„Marie, kein Mensch weiß das du gemeint warst, keiner!“
dem die kleine Lolita die Bühne betreten hatte. Sie konnte es zu dem Zeitpunkt zwar
Sie brüllten sich beide gerade die Seele aus dem Leib, schwer zu glauben das es jetzt niemand
unmöglich schon wissen, aber ihr Gefühl ließ die Alarmglocken läuten. Damit war sie
mitbekam.
gemeint! Und dann dieser sabbernde alte Lustmolch, die Karikatur eines Professors der seinen
„Warum hast du das getan?“ Marie wurde plötzlich stiller, und in ihrer Stimme lag etwas
Studentinnen hinterher stieg. Professor Liebestoll, wie originell!
flehendes, fast weinerliches.
„Alles okay?“, Anna stieß sie leicht in die Seite.
„Vielleicht weil ich mich rächen wollte?“, erst jetzt wo er es aussprach wurde Mark klar das
„Wie, ach so. Ja, ja, alles okay.“, nuschelte sie in sich hinein während sie nur langsam
dies wirklich der Grund sein konnte, „Ich wollte mich von dir befreien.“
registrierte das die Zeit auf der Bühne nicht stehen geblieben war.
„Du bist doch durchgeknallt, was habe ich dir getan?“
An der Seite seiner Mitautoren ging Mark vor bis ans Ende der Bühne, ließ sich hinten am
„Was du mir getan hast, jedes Mal wenn ich dich ansehe blutet mir das Herz, jedes Mal wenn
Mikrofon vorstellen und den Applaus auf sich niederprasseln. Die Leute applaudierten schon
ich deine Stimme höre zuckt mein ganzer mein ganzer Körper zusammen, jedes Mal wenn ich
ziemlich lange, schließlich hatte man jeden Schauspieler einzeln vorgestellt. Die Intensität
auch nur deinen Hauch spüre, oder gar deine Haut berühre, möchte ich am liebsten sterben.“
ließ nach, aber Mark achtete eh nicht auf den Applaus. Seine Augen suchten Marie in der
„Du bist verrückt kitschig.“
Menge, vorhin hatte sie noch an dem Tisch ganz vorn gesessen, aber jetzt war ihr Platz dort
„Und, vielleicht bin ich das, ich stehe wenigstens zu dem was ich bin. Ich habe mich nicht zu
verwaist. Er suchte das ganze Zelt ab, bis ihn die beiden anderen unsanft mit sich hinter die
einem kleinen Miststück entwickelt, ich vögle ja auch nicht mit einem Prof um mir ne Eins zu
Bühne zogen, wahrscheinlich dachten sie er sei größenwahnsinnig geworden und wollte den
besorgen.“ Er spürte wie sie mit voller Wucht ausholte und ihn ohrfeigte. Die Wucht, oder
ganzen Applaus nur für sich einheimsen. Hinter der Bühne schlich er sich an der Zeltwand
mehr die Überraschung der Ohrfeige, drohte ihn beinahe umzuwerfen. „Ich – Ich bin zu weit
entlang, bis er an Maries Tisch ankam.
gegangen, das war nicht so gemeint.“
„Habt ihr Marie gesehen?“
Für die Unendlichkeit einer Sekunde starrte Marie ihn einfach nur, dann schossen ihr die
„Die ist gleich nach Ende mal rausgegangen, keine Ahnung warum sie es so eilig hatte.“
Tränen aus den Augen und sie rannte davon. Unfähig auch nur einen Schritt zu tun stand
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Mark wie zur Salzsäule erstarrt da und konnte nicht einmal den Kopf drehen, um ihr
Stunde vor der Tür und wagte weder zu klingeln noch zu klopfen. Wahrscheinlich hoffte er
nachzusehen.
darauf sie würde irgendwann die Tür öffnen, vielleicht weil sie seine Anwesenheit ahnte,
„Tequilla?“, Mario tauchte plötzlich neben ihm auf und streckte ihm ein Glas entgegen, „So
vielleicht aber auch nur weil sie den Müll runterbringen wollte. Er war ein Idiot! Als ob das
wie das gerade aussah kannst du einen brauchen.“
Leben wie in US-Sitcoms wäre. Nur kurz später sah der Feigling die Unmöglichkeit seiner
Hoffnung ein und ging zurück in se ine Wohnung wo er seine schlaflose Nacht allein
Marie torkelte den Gang hinunter, sich sicher mehr Alkohol als Blut im Körper zu haben. Es
beendete.
war kurz vor sechs Uhr morgens, es herrschte Stille, der Lärm der Party und der unzähligen
kleinen Nachpartys im Wohnheim war längst erloschen. Das einzige was sie hören konnte
war Stille, absolute quälende Stille. Sie schloss ihre Wohnung auf, knallte die Tür hinter sich
zu und schwankte Richtung Fenster um es aufzureißen. Ihr war heiß, ihr ganzer Körper
schwitzte. Doch die kühle Nachtluft brachte gar nichts. Plöt zlich überkam sie der Brechreiz,
sie rannte durch ihre Wohnung, riss die Badtür auf, fiel auf die Knie und steckte ihren Kopf in
die Toilettenschüssel. Im nächsten Moment kotzte sie sich die Seele aus dem Leib.
Als Marie die Augen wieder öffnete hatte sie bestimmt nicht mehr als eine Stunde
geschlafen. Draußen war es noch immer nicht wirklich hell, nur hatte das offene Fenster jetzt
dafür gesorgt das ihr kalt war. Unter lautem Stöhnen vergrub sie sich tiefer in ihre Decke,
rollte sich wie ein Embryo im Mutterbauch zusammen und versuchte zu ignorieren das sie
sich fühlte wie an der Schwelle zum Tod – eine Schwelle die sie möglichst schnell
überspringen wollte. Der Tod konnte nicht viel schlimmer sein als ihr jetziger Zustand. Doch
diesen Gefallen wollte ihr vorerst niemand tun, sie wurde sich immer klarer im Kopf warum
sie sich in diesem Zustand befand. Wie hatte Mark ihr das bloß antun können? Hasste er sie
so sehr? Und hatte er nicht sogar jedes Recht der Welt sie zu hassen? Sie rollte aus dem Bett,
kna llte dabei auf den Boden und schrie der Schmerzen wegen kurz auf. Wie in Zeitlupe
bewegte sie sich zu ihrem Schreibtisch, tastete sich mit geschlossenen Augen zum Telefon
durch. Wie sie in diesem Zustand Falkensteins Nummer auswendig wählen konnte war ihr
später selbst schleierhaft, aber sie schaffte es.
Doch das blieb der einzige Erfolg daran, am anderen Ende meldete sich eine der frühen
Stunde wegen ziemlich genervte Frau Falkenstein, die ein paar Mal „Hallo? Hallo?“ ins
Handy rief und dann wütend auflegte. Marie hielt das Gerät in ihrer Hand, starrte es an und
schleuderte es dann mit aller Gewalt gegen ihre Wohnungstür. Das Handy zersprang in alle
Einzelteile und es herrschte wieder Stille.
Mark schreckte zusammen als er auf der anderen Seite der Tür de n Lärm hörte. Er wusste
nicht was in Maries Wohnung vorging, wie sollte er auch, stand er nicht seit gut einer halben
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12.
„Meine Frau fährt mit unserer Tochter übers Wochenende zu ihrer Mutter.“
„Und da hast du nichts besseres zu tun, als deine Geliebte ins Haus zu holen. Du spielst gern
„Du hast gestern morgen angerufen?“, Falkenstein stöhnte lauf hinter der Speisekarte auf,
mit dem Feuer, oder?“
„Ich hab dir doch gesagt, dass du das auf keinen Fall tun sollst.“
„Wie meinst du das, sie ist ja schließlich nicht da und kommt erst Sonntagabend wieder.“
„Ja, ich weiß, es tut mir leid.“ Marie blickte schuldig zu Boden, fast wie ein kleines Mädchen
„Und die ganzen Spuren?“
das man beim Süßigkeiten klauen erwischt hatte.
„Geschirr kann man abspülen.“
Falkenstein seufzte noch mal mit einer nicht zu verbergenden Verärgerung, legte die
„Und die Gerüche?“
Speisekarte auf den Tisch und beugte sich zu Marie hinüber. „Gott weiß was meine Frau jetzt
„Was für Gerüche?“
denkt! Hast du eigentlich irgendwas am Telefon gesagt?“
Marie lachte. „Du hast offensichtlich keine Ahnung von Frauen. Aber warum nicht, ich
Marie schüttelte noch immer schuldbewusst und seinem Blick ausweichend mit dem Kopf.
komme gern.“ Es wäre eine passende Gelegenheit mit ihm Schluss zu machen. Und genau das
„Gut, wenigstens was, vielleicht glaubt sie nur da hätte sich jemand verwählt. Oder das es
hatte sie gerade beschlossen, keine fünf Sekunden zuvor. Es war eine dieser im Inneren lange
einer dieser durchgeknallten Studenten war, kam schon oft vor, dass sich ein paar Spinner so
schwellenden Entscheidungen, über die man sich selbst nicht einmal bewusst war, die dann
melden. Dabei hab ich noch Glück, du solltest mal die Gästebucheinträge auf den
aber plötzlich und regelrecht vesuvartig ausbrachen und getroffen wurden. Jetzt, wo sie sich
Internetseiten von ein paar Kollegen sehen.“ Seine Stimmungsschwankungen waren wieder in
so entschieden hatte, waren alle Pro’s der Beziehung bedeutungslos geworden, es galten nur
den positiven Bereich gependelt. „Man könnte meinen gut ausgebildete junge Leute wie ihr
noch die Contra’s. Der nicht erwiderte Anruf, er war nicht da, wenn sie ihn brauchte. Seine
wärt in der Lage euch ein bisschen gesitteter auszudrücken.“
Gewalttätigkeit, immer dann auftretend, wenn seine Besitzansprüche über sie auftauchten. Ja,
„Du hattest noch nicht soviel Kontakt mit deinen Studenten, oder?“
das war wahrscheinlich sogar der Hauptgrund für ihren Entschluss, nicht die Gewalttätigkeit,
Falkenstein sah sie eine ganze Weile schweigend an und als er zu einer Antwort ansetzen
sondern seine Besitzansprüche. Sie wollte sich nicht besitzen lassen, von nichts und
wollte, unterbrach ihn die anrückende Kellnerin.
niemanden. Sie gehörte nur sich selbst, und wenn jemand seine Hände nach ihr ausstreckte,
„Was möchtest du?“
dann bekam er eins auf die Finger.
Marie strich über die in schwarzes Kunstleder gebundene Speisekarte. So appetitlich wie das
Angebot klang hätte sie am liebsten einen Salat und ein Glas Wasser bestellt, da konnte man
Mark tippte gelangweilt den Visual Basic-Code von der Tafel in den PC ab, überflog den
nicht viel falsch machen. „Die Spargelcremesuppe bitte, und dann – dann das Pilzragout.“ Sie
Text und verglich ihn noch mal kurz mit dem Vorbild. Das heißt eigentlich tat er nur so, in
schob die Karte über den Tisch Richtung Kellnerin.
Wahrheit hatte er längst aufgehört der Vorlesung zu folgen und befand sich damit in breiter
„Für mich die Tomatensuppe und den Zwiebelrostbraten.“ Falkenstein wartete bis die
Gesellschaft. Gut die Hälfte der Studenten folgten der Datenverarbeitungsvorlesung nur mehr
Bestellung aufgegeben war, „Wo waren wir, ach ja richtig, bei kindischen Studenten.“
oder doch eher weniger, man tippte ein bisschen mit, versuchte das dadurch entstandene
„Eh, wir sind junge Menschen im Reifungsprozess, junge Menschen die dir mal die Rente
Programm laufen zu lassen und machte sich keine weiteren Gedanken darüber das es eben
zahlen, obwohl sie selber keinen müden Cent bekommen werden.“
nicht lief. Auch Marks Programm lief nicht, irgendwo war ein Komma als Befehlsabschluss
„Klingt nicht gerade als hättest du beim letzten Mal SPD gewählt.“
falsch gesetzt, oder er hatte vielleicht „prit“ statt „print“ geschrieben, oder – es interessierte
„Hat ich eigentlich vor, aber dann habe ich die Drogen nicht mehr gefunden, die mich dazu
ihn einfach nicht wirklich. Er klickte MS Access runter in die Windowsleiste und begann sich
gebracht hätten.“
nicht minder lustloser durchs Internet zu klicken. Irgendwie war das surfen auf eigene Kosten
Falkenstein lachte kopfschüttelnd. „Wechseln wir das Thema. Warum verbringst du das
besser, damals, als man pro Minute bei einer zum verzweifeln langsamen Leitung die Reise
nächste Wochenende nicht bei mir?“
durchs WWW antrat, man surfte viel intensiver. Wenn man kostenlos und mehr oder weniger
„Bei dir?“
auch zeitlos surfen konnte, dann langweilte man sich schnell. Mark klickte sich durch den
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Tagesspiegel-Online, las ein paar Nachrichten und warf einen Blick auf die neuen Tiefstände
entweihen. Solche Lindenstraßen-Nachbarn, eine Mischung aus Mutter Beimer und Else
seines kleinen Aktiendepots. Als BWLer musste man ein Aktiendepot haben sonst drohte eine
Kling, waren für Wohnhäuser dasselbe wie Satanisten für Kirchen. Aber Marie konnte es
Zwangsexmatrikulation. Oder noch viel schlimmer, man wurde zu den Informatikern
egal sein. Sollte man sie doch reingehen sehen, Falkenstein konnte sich ja dann was
zwangsversetzt und musste fortan den Rest seines Lebens damit verbringen zwanzig Pizzas
ausdenken, sie hätte damit nichts mehr zu tun, sie war hier um es endlich zu Ende zu bringen.
am Tag zu mampfen und konnte nur noch mit der halbnackten Blondine, die das
Nach ihr die Sintflut, und wenn Falkenstein mit so was nicht rechnete, dann hatte er es doch
Hintergrundbild des Monitors zierte, sexuell verkehren. Auf der anderen Seite zeigte der
auch gar nicht anders verdient.
Programmcode auf Marks Computer wohl überdeutlich das er zum Informatikstudent auch
nicht besonders viel taugte. Wozu taugte er denn überhaupt? Mark klickte auch den
Es war nicht leicht den passenden Augenblick zu finden, das war es nie. Und hätte es sich
Internetbrowser wieder weg, rief das Access wieder auf und versuchte die verlorene Zeit
Marie nicht fest vorgenommen, wahrscheinlich hätte sie es längst wieder verschoben. Morgen
aufzuholen. Schon nach ein paar Sekunden gab er es wieder auf und versuchte bestenfalls
wäre ja auch noch ein guter Tag, auf der anderen Seite war Schluss machen am
noch den Ausführungen des Profs vorn zu folgen.
Frühstückstisch wohl etwas unpassender, als jetzt hier gleich nach dem Abendessen. Obwohl
Die Tür öffnete sich und Mark drehte seinen Kopf in Richtung Tür, irgendwie hoffte er es
das wahrscheinlich eher die Sicht einer Frau war, ein Mann würde wahrscheinlich eher das
könnte Marie sein. Aber sie war es nicht, statt dessen setzte sich irgendein Nachzügler an den
Schluss machen beim Frühstück bevorzugen, denn das hieß er hatte noch mal Sex gehabt und
letzten freien PC. Warum wünschte er sich überhaupt es wäre Marie gewesen? Was hätte das
das wiederum hieß, im Grunde hatte die Beziehung ihren Zweck erfüllt und konnte folglich
schon geändert, außer das er be i ihrem Anblick gelitten hätte wie ein streunender Hund auf
ohne größere Verluste beendet werden.
Mallorca. Hätte er etwa das Rückgrat gehabt und wäre aufgestanden? Wohl kaum, er hätte sie
„Und, ich hoffe es hat geschmeckt.“
verstohlen angeblickt, dann weggeschaut und nur noch auf den Monitor vor sich gestarrt. Es
„Es war köstlich.“ Mein Kompliment an den Lieferservice, verkniff sie sich als Zusatzsatz.
hatte doch eh keinen Sinn, sie war nicht hier, aber irgendwie hatte er sie doch die ganze Zeit
Sie wollte ihn nicht noch unnötig mit ihrem Humor auf die Palme bringen, sie hatte das Ziel
vor Augen. Er musste sie nicht in der Realität sehen, nur um leiden zu können. Langsam kam
des Abends ohnehin schon zu lange hinausgezögert. Sie hatte schon den ganzen Abend über
er zur Überzeugung Masochismus würde langsam zu einer seiner Charaktereigenschaften
die Bedrückte gespielt, um alles herumgedruckst und allgemein versucht nachdenklich bis
werden, zumindest im Bezug auf Frauen.
trübsinnige Stimmung zu machen, alles in der Hoffnung Falkenstein würde so etwas wie eine
Antenne dafür haben. Dabei schien sie aber völlig übersehen zu haben das es sich bei
Marie zog die Augenbrauen ein wenig nach oben, als sie aus Falkensteins Wagen stieg und
Falkenstein um einen Mann handelte, Männer und Eltern hatten keine Antenne für solche
ihm langsam Richtung Gartentor folgte. Was hatte sie erwartet, Neuschwanstein? Aber das es
Signale. Also musste sie es wohl direkt ansprechen: „Es gibt da etwas, über das ich eigentlich
so gut bürgerlich und kitschig wirkte, das enttäuschte sie dann doch ein wenig.
schon den ganzen Abend reden wollte.“
Wahrscheinlich sah es im Inneren des Hauses der Falkensteins genauso nach 50er-Jahre-
Falkenstein stand auf, holte die Flasche Wein von dem kleinen Nebentisch und schenkte ihr
Neckermann aus wie bei Claras Mutter. Es war längst dunkel geworden, und eine
Glas nach. „Das klingt nach schlechten Nachrichten.“
Straßenlaterne erleuchtete den Weg zwischen Garage und Gartentor. Im Haus gegenüber
„Irgendwie sind es auch schlechte Nachrichten.“
konnte Marie für einen kurzen Augenblick ein Gesicht hinter einem Vorhang sehen. In
Falkenstein ließ einen letzten Tropfen ins Glas stürzen. „Dann nur raus damit.“ Er drehte sich
solchen Siedlungen der Kleinbürgerlichkeit waren Nachbarn bekanntlich ja besonders
um, während er die Flasche zurückstellte, so das Marie seine finstere Mine nicht sehen
neugierig. Hier gab es nicht die angenehme Anonymität einer Mietskaserne, sondern
konnte, die er trotz seiner flapsigen Bemerkung plötzlich zog.
aufdringliche Lindenstraße -Nachbarn brachten einem ernsthaft zum Einzug noch Brot und
„Das zwischen uns – Ich glaube nicht das das noch länger gut geht. Ich – Ich glaub es nicht.“
Salz mit, wollten in Wahrheit aber nur die neue Einrichtung begaffen und möglichst viel mit
Sie redete einfach weiter, ignorierte das sie von ihm nur den Rücken sah und nicht mal sagen
ihren fettigen Händen betatschen, die Toilette zustinken und überhaupt das ganze Haus
konnte, ob er tatsächlich zuhörte, „Es liegt an mir, ich brauche einfach mehr als nur eine
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Geliebte zu sein. Es reicht mir nicht, mich nur nach deinem Terminkalender richten zu
muss ich mir eben später was anderes einfallen lassen, vielleicht häng ich dich Kopfüber
können. Ich hoffe du verstehst das, es funktioniert einfach nicht.“
irgendwo an eine Straßenlaterne, dann sieht’s so aus, als würde die Mordserie wieder
„Und zu diesem Schluss bist du gerade eben erst gekommen.“ Falkenstein drehte sich zu ihr
anfangen. Aber jetzt erst mal zu dir.“ Falkensteins Arm erhob sich langsam, in seinem Gesicht
um und zum erstenmal sah sie wieder diesen finsteren Ausdruck der ihr schon damals in
zeichnete sich ein Grinsen ab, die Adrenalinstöße, die er bei Claras Ermordung gefühlt hatte,
London Angst gemacht hatte.
kehrten langsam in seinen Körper zurück. Sein Herz pochte, seine Hand zitterte, auf seinem
„Nein, das war im Grunde schon länger klar, aber ich wollte es nicht über den Zaun brechen,
Gesicht stand der Schweiß der Erregung. „Sparen wir uns den Mist mit den letzten Worten.
ich glaube wir haben es beide verdient sich darüber erst in aller Ruhe klar zu werden.“
Was?!“ Ihr Gesichtsausdruck änderte sich für ihn undefinierbar. Er riss seinen Kopf nach
„Haben wir das verdient? Du sprichst von ‚uns beiden’, aber du hast die Entscheidung
hinten, blickte in Simones hasserfüllte Augen und sah das mit getrocknetem Blut verschmierte
getroffen.“
Messer auf sich zuschnellen. Der Stahl bohrte sich in seinen Körper, zog die Rippen herunter,
„Für uns beide, es hat doch keinen Sinn wenn ich –“ Marie verstummte urplötzlich, nicht das
trat an seinem Bauch wieder aus. Die Haut weitete sich, die Gedärme schossen mit Blut
Falkenstein sie mit einem Wort oder einer Geste dazugebracht hatte, sondern weil sie
geschmiert hervor. In seinem Gesicht zeigte sich noch das blanke Entsetzen, dann krachte er
plötzlich die Gefahr spürte, in der sie sich schon befand als sie das Haus betreten hatte.
nach vorn, breitete sich auf dem Boden aus und starb.
„Tut mir leid, aber so eine Entscheidung kann ich nur akzeptieren, wenn sie von mir kommt.“
„Wenn ich gewusst hätte das du es bist, –“ Simone ging neben dem Toten in die Hocke.
Er stellte die Flasche ab und kam kopfschüttelnd auf sie zu. „Du verstehst mich doch, wenn
„- dann hätte ich dich als erster getötet.“ Sie schien Marie zuerst nicht zu bemerken, die an der
einer von uns beiden unsere Beziehung beendet, dann bin ich das. Und du hast Recht, es ist
Wand gelehnt stand und nicht wusste ob sie vor Freude heulen oder vor Entsetzen schreien
aus.“
sollte. Schließlich stammelte sie Simones Namen, und erst jetzt schien sie wieder von ihr
„Schön, wenn du es so willst.“ Sollte er doch glaube Schluss gemacht zu haben, ihr konnte es
registriert zu werden. Doch nach dem Stammeln herrschte auch schon wieder Schweigen.
egal sein.
Simone stand langsam auf, das blutige Messer noch immer in ihren Händen. Achtlos stieg sie
„Du bist genauso wie Clara, jetzt wo du bekommen hast was du willst, glaubst du mich los
über die Leiche hinweg, ging auf Marie zu und breitete ihre Arme aus. In ihren Augen lag
werden zu können.“ Er ging an ihr vorbei, würdigte sie dabei keines Blickes und verschwand
etwas glasiges, etwas absolut leeres. Im nächsten Moment umarmte sie Marie, presste sie fest
aus dem Raum, sprach aber laut genug weiter, damit sie ihn noch hören konnte. „Aber du
an sich, und auch Maries Arme schlangen sich um ihre Lebensretterin. Sie spürte nicht wie
täuscht dich genauso wie Clara, ich bin sie los geworden, nicht umgekehrt. Und dir wird es
die Klinge des Messers langsam über ihren Rücken streichelte, aber ihr wurde klar wer die
nicht anders gehen.“
ganzen Morde verübt hatte und sie wusste auch warum. Sie hatte in allen Dingen recht
Viel zu lange sa ß Marie beinahe wie paralysiert da, als sie die Worte von Falkenstein nicht
behalten, die Mörderin war Studentin und sie hatte aus Rache gemordet. Dann spürte sie
nur hörte, sondern auch begriff war es zu spät. Sie sprang auf und rannte zur Tür, doch er
plötzlich doch die Spitze des Messers, ein leichtes Pieksen, nicht mehr. Sie löste sich aus der
postierte sich schon im Türrahmen, in seiner Hand hielt er eine Pistole.
Umarmung und streckte ihre rechte Hand in Richtung Simone.
„Oh, überrascht dich das? Man kann heute nicht vorsichtig genug sein, es gab schon oft
„Gib mir das Messer, ja?“
Einbrüche in der Gegend. Und heute hat es eben mein Haus erwischt, nur gut das meine
Simone zögerte, noch immer glasig in den Augen blickte sie auf das Messer in ihrer Hand.
geliebte Frau mit unserer geliebten Tochter nicht im Haus war, und ich habe mich nur
Wie der erste Regen nach zehn Jahren Dürre tropfte noch immer Blut von der Klinge auf den
verteidigt.“
Teppich, dann drehte sie das Messer, griff es an der Klinge und reichte es mit dem Griff zu
Marie wich zurück und schüttelte wild mit dem Kopf. „Das glaubt dir doch kein Mensch,
Marie. Marie nahm es, legte es aber sofort wieder weg.
nicht mal hier sind die Bullen dumm genug dazu.“
„Lass uns gehen.“, murmelte Simone nur und zog sich ihre Handschuhe aus. „Bitte, lass uns
Falkenstein sah sie richtig nachdenklich an, sie hatte wohl Recht, bayrische Polizisten waren
gehen.“
vielleicht nicht die hellsten, aber so dumm waren sie wahrscheinlich wirklich nicht. „Dann
„Ja, gehen wir.“ Marie fasste sie an der Hand und führte sie zuerst aus dem Raum.
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Doch in der Tür blieb Simone noch einmal kurz stehen, drehte ihren Kopf nach hinten und sah
schließlich seine Karte. „Kommen sie morgen doch bitte vorbei, dann lassen wir einen
das zurückgebliebene Messer auf den Tisch stehen. Ihre Rache war vollbracht, Falkenstein
Zeichner aus Nürnberg kommen.“
war der letzte, jetzt, wo sie wusste auch den wahren Mörder ihrer geliebten Clara seiner
gerechten Strafe zugeführt zu haben. Für sie war es vorbei.
Für Hauptkommissar Krüger begann der ganze Scheiß von neuem. Na ja, nicht ganz.
Jemanden einfach nur den Bauch aufzuschlitzen war eine vergleichsweise unspektakuläre Art
und Weise zu töten, fast schon irgendwie banal. Und außerdem hatte er inzwischen den neuen
Kollegen auf dem Hals, sollte der ihm doch dann auch Arbeit abnehmen. Wobei Krüger da so
seine Zweifel hatte. Der Neue sprang von einer Ecke des Tatorts in die andere, damit machte
er vielleicht einen aktiven Eindruck, allerdings keinen besonders kompetenten. Er war kurz
nach dem die Mordserie zu Ende ging nach Ansbach gekommen, bei Krügers Glück rechnete
man dem Neuen eben dieses Ende schon als ersten Erfolg an. So gesehen war es gut diesen
Professor mit aufgeschlitztem Bauch vor sich zu haben.
„Sie können ihn dann wegbringen lassen.“, Krüger nickte dem Uniformierten zu.
„Die Zeugin wartet dann immer noch draußen Herr Hauptkommissar.“
„Welche Zeugin?“
Der Neue sah zu ihm hinüber. „Irgendeine alte Schrulle von Nachbarin, ich glaube sie wollte
nur mal reinsehen.“
Krüger schloss für einen Moment die Augen und seufzte leicht. „Hat sie gesagt was sie
gesehen hat?“
Der Uniformierte nickte. „Eine junge Frau mit der das Opfer am Abend gekommen ist.“
„Ich komme gleich.“ Er sah den Neuen an. „Haben sie sie wenigstens gefragt was sie gesehen
hat, bevor sie sie als Wichtigtuerin abgetan haben?“
„Sie war der klassische Fall aufdringliche Nachbarin.“
Der Neue war ein Idiot, offensichtlich war die Personaldecke der Polizei so dünn, dass man
jetzt schon jeden einstellen musste. „Ich weiß nicht was man ihnen heute bei der Ausbildung
so beibringt, aber ab sofort hören sie sich eine Zeugenaussage an, und dann entscheiden sie
darüber.“ Krüger stöhnte noch einmal leise auf, dann wartete er bis man die Leiche
abtransportierte und folgte dem kleinen Tross nach draußen. Die besagte Nachbarin stand am
Gartenzaun und unterhielt sich mit einem anderen Polizisten. Irgendwie konnte er die
Einschätzung des Neuen schon verstehen, falsch war sie trotzdem. Er ließ sich also
Falkensteins Gast beschreiben, blickte nachdenklich an der Frau vorbei und gab ihr
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Ich ganz bestimmt nicht, lächelte Simone immer noch zufrieden. „Marie, nichts wird
passieren, weil nichts passiert ist.“ Sie nahm Simone in die Arme, wiegte sie beinahe wie ein
Als Marie am nächsten Morgen aufwachte gab sie sich für ein paar kostbare Augenblicke der
kleines Kind und flüsterte immer wieder: „Nichts ist passiert.“
Illusion hin alles könnte nur ein Traum gewesen sein. Doch je mehr sie sich an das Tageslicht
gewöhnte, desto klarer wurde ihr die Realität wieder. Die schweren Glieder machten es ihr
nicht gerade einfach aus dem Bett zu steigen, fast schien es so als würde sie etwas mit Gewalt
zurück ins Bett drücken wollen. Irgendwann stand sie aber auf beiden Beinen, mitten am Tag,
aber noch todmüde. Sie war wieder in ihrer Wohnung, aber sie war wie ein Betrunkener, der
zwar zuhause war, aber beim besten Willen nicht sagen konnte wie er hierher gekommen war.
Irgendein Gutwilliger fand sich immer, packte den Alkoholiker in seinen Wagen und fuhr ihn
nachhause. Aber sie war auf keiner Party gewesen, mon dieu, es war wirklich keine Party
gewesen.
Marie hatte sich kaum angezogen, als sie schon vor Simones Wohnungstür stand und
klopfte. Aus irgendwelchen Gründen at t sie es so leise wie möglich, nur mit den
Fingerknöcheln, als könnte jemand der sie in Simones Wohnung gehen sah schon Verdacht
schöpfen. Es schien eine Ewigkeit gedauert zu haben bis Simone endlich auftauchte und sie
herein winkte.
„Guten Morgen.“
„Guten Morgen?“, Marie drehte sich zu ihr um und wartete bis die Wohnungstür wieder zu
„Bingo, es ist das gleiche Messer.“, verkündete der Neue und hielt den dazugehörigen Bericht
bei Eintritt ins Büro in die Höhe, als hätte er ihn selbst verfasst. „Man hat ältere Blutspuren
gefunden, von Meinheimer und dem anderen.“
„Und sonst, Fingerabdrücke?“
„Ein Haufen erstklassiger sogar, sowohl in der Wohnung, wie auch an der Waffe. Die
Standardüberprüfung hat aber noch nichts gebracht.“
Krüger lehnte sich zurück und lächelte, ein paar Spuren, eine eindeutige Verbindung zu der
Mordserie und der Neue konnte sich deren Ende nicht mehr zuschreiben lassen. Ja, heute war
ein toller Tag.
„Und was machen wir jetzt?“
„Jetzt holen sie uns erst mal einen Kaffee und ich schau rüber wie weit unsere
Phantomzeichnung ist.“, Krüger schwang sich auf die Beine und war zufrieden wie ein Mann
der seinen Hund herumkommandieren konnte, als der Neue nickte und tatsächlich Kaffee
holen ging. Ja, er hatte sich endlich als Platzhirsch durchgesetzt, er war hier der Macker, der
Obermacker sozusagen.
Krüger klopfte an die Tür, öffnete sie und ging hinein. Die Zeugin von letzter Nacht
war, „Das klingt fast so als wäre nichts passiert.“
Simone sah sie eindringlich an, packte sie sogar an den Schultern, damit sie sie besser fixieren
konnte. „Es ist auch nichts passiert.“
„Nichts passiert!“
Simone blieb die Gelassenheit in Person, ging auf Marie zu, legte ihr den Zeigefinger kurz auf
die Lippen und schüttelte den Kopf. „Es ist nur etwas passiert, wenn du sagst das etwas
passiert ist.“
Marie sah sie fragend an. Sie musste es ja wissen, schließlich hatte sie eine Menge Erfahrung
darin, oder etwa nicht? Innerlich lachte Marie ein wenig bitter, äußerlich wusste sie noch
immer nicht was sie tun sollte – nicht mal was sie denken sollte. Sie hatte einen schlaflosen
Traum gehabt, keine Alpträume, kein Blut, kein Garnichts. Aber sie wusste das diese
Alpträume kommen würden, ganz sicher, und davor hatte sie Angst. „Aber es ist etwas
passiert, was ist wenn man jemanden gesehen hat.“
Mich ganz bestimmt nicht, lächelte Simone zufrieden. „Das hat niemand.“
„Und wenn wir Spuren hinterlassen haben?“
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schüttelte dem Beamten am Computer gerade die Hand, verabschiedete sich und tat das
gleiche auch bei Krüger, während der Beamte schon den Ausdruck rausjagte.
„Und, hat sie was sagen können oder sieht unsere Tatverdächtige aus wie Claudia Schiffer?“,
Krüger schloss die Tür hinter ihr und griff nach dem Ausdruck.
„Nein, ich glaube wir haben ein ziemlich gutes Ergebnis. Man muss natürlich das Übliche
berücksichtigen, aber das Ergebnis ist ganz gut.“
Krüger warf einen Blick auf das Phantombild, sagte eine ganze Weile lang nichts und blickte
dann den Kollegen an. „Es ist wie ein Foto von ihr.“
„Sie wissen wer das ist?“
Krüger nickte. „Ich muss mit dem Staatsanwalt telefonieren, wenn ihre Fingerabdrücke auf
der Mordwaffe sind, dann können wir den Fall als gelöst betrachten.“
„Sie sehen nicht glücklich aus.“
„Na ja, nicht das mir die Kleine sympathisch wäre, aber mein Gefühl hätte niemals auf sie
getippt. Was soll’s, gelöst ist gelöst.“
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Der fensterlose blassgraue Raum wirkte auf Marie wie ein Sarg, es kam ihr vor als wäre sie
Der Polizeidirektor lächelte breit als er Krüger aufforderte Platz zu nehmen. „Und, wie fühlt
lebendig begraben worden. Einsam und verlassen saß sie an dem weißen Tisch,
man sich, wenn man eine Mordserie gelöst hat? Sie sehen nicht gerade glücklich aus.“
zusammengesunken auf dem harten Stuhl. Das war sicher volle Absicht, man wollte das sie
„Das bin ich auch nicht. Wir können ihr drei Morde nachweisen, die anderen sind reine
sich einsam und verlassen fühlte, auf einem harten Stuhl, auch das gehörte sicher zur Taktik.
Mutmaßungen.“
Ebenso wie das warten lassen, Marie hatte bestimmt jede Minute auf ihre Uhr gesehen,
„Wir waren ohnehin nie der Meinung sie würden hundertprozentig zusammenhängen.“
45mal. Als sie gerade das 46. Mal ihr Sweatshirt zurückziehen wollte, um auf die kleine Uhr
„Sie und der Polizeipräsident waren dieser Meinung, wenn ich mich richtig erinnere. Und bei
an ihrem Handgelenk zu sehen, öffnete sich die Tür.
allem Respekt, es schein so als hätten sie sich geirrt.“
„Grüß Gott.“, Krüger setzte sich gegenüber von ihr an den Tisch und legte zwei braune
Der Polizeidirektor sah ihn halb belustigt, halb verärgert an. „Rücken sie schon raus damit,
Aktenmappen vor sich hin.
was haben sie?“
„Warum haben sie mich verhaften lassen?“
„Einen Zusammenhang. In Falkensteins Büro befand sich eine CD-Rom mit kleinen Filmen
Krüger atmete ein paar Mal demonstrativ tief durch bevor er antwortete. „Ich habe sie wegen
die Clara Bauer mit diversen Männern beim Sex in einem Hotelzimmer zeigen.“
dreifachen Mordes verhaften lassen.“
„Ich erinnere mich, sie hatte da etwas von einer versteckten Kamera erwähnt.“, das belustigte
„Bitte, was?!“
aus der Mine seines Vorgesetzten war verschwunden.
„Dreifacher Mord. Waren sie gestern im Haus von Alexander Falkenstein?“
„Alle Opfer nach Clara Bauer und mit der Ausnahme von Heiner Sc hnitzler sind auf diesen
„Nein.“
Filmen zu sehen.“
„Doch, eine Zeugin hat ise zusammen mit dem Opfer reingehen sehen. Sie wird sie
„Auch Falkenstein?“
identifizieren, schon das Phantombild ist praktisch ein Foto von ihnen.“ Krüger öffnete eine
„Ja, das gibt mir ein wenig zu denken. Der Zweck der Filme war ohne Zweifel Erpressung,
der beiden Mappen und deutete auf den Computerausdruck.
aber ich würde eher sagen Falkenstein war Opfer, warum sind die Filme also in seinem
„Das bin ich nicht.“ Natürlich war sie das, kein Zweifel.
Besitz?“
„Oh, doch. Aber das ist noch nicht alles. Sie haben vorhin ihre Fingerabdrücke abgegeben,
„Gut, wir haben uns geirrt, sie hatten von Anfang an Recht, es gab schon immer einen
wir haben sie mit denen auf der Tatwaffe verglichen. Sie stimmen überein. Und die Tatwaffe
Zusammenhang.“
ist die gleiche der beiden Morde auf der Feier von Herrn Meinheimer, auf der sie waren, wie
„Da ist noch etwas, ich gehe doch richtig in der Annahme, dass es der Polizeipräsident war,
ich mich ziemlich gut erinnere. Was ist los, sie sind doch sonst nicht so schweigsam.“
der einen Zusammenhang ausschloss.“
„Das ist alles nicht wahr, ich war ja nicht die einzige auf der Party.“
„Scheiße Krüger, hören sie auf solche Columbo -Spielchen zu treiben.“
„Aber die einzige deren Fingerabdrücke an der Tatwaffe sind. Sie sollten besser ein
„Einer der Männer ist der Polizeipräsident.“
Geständnis ablegen, die Richter mögen so etwas.“
„Sind sie sicher?“
„Ich bin unschuldig.“, schrie sie, was Krüger völlig kalt lies. Wahrscheinlich sagten das
„In aller nackter Herrlichkeit, und lassen sie es mich so ausdrücken, es ist nicht gerade
wirklich alle, ob unschuldig oder nicht. „Warum denn, warum sollte ich diese Menschen
Blümchensex.“
getötet haben?“
Der Polizeidirektor vergrub die Hände im Gesicht. „Wir werden das regeln.“
Krüger schloss die Aktenmappe wieder, das war der wunde Punkt, das Motiv war für ihn noch
Wir werden das regeln hieß: Wir werden die Sache unter den Tisch fallen lassen. Aber im
ein Rätsel. „Warum töten Menschen schon?“ Mit dieser für seine Verhältnis wahrhaft
Grunde war es Krüger egal ob man dem Polizeichef seine SM-Spielchen vorhalten würde, er
philosophischen Worte lies er Marie wieder allein, er hatte noch einen Termin beim Chef und
hatte andere Sorgen. Warum war eines der Opfer einer Erpressung in Besitz des
er hatte schlechte Neuigkeiten.
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Erpressungsmaterials. Doch gemach, in seinem Büro saß die Lösung auf all seine Fragen:
„Wie bitte?“
Simone Schneider.
„Ach nichts, ich danke ihnen für ihre Hilfe.“
„Was kann ich für sie tun?“
Marie sah wieder verängstigt zur Tür, Krüger hatte sie die ganze Zeit über im Verhörzimmer
„Es tut mir leid, ihr junger Kollege meinte ich könne hier auf sie warten.“, begann Simone,
warten lassen. „Habe ich nicht das Recht auf einen Anwalt?“
das kleine Mädchen spielend, das sich in Gegenwart eines Polizisten nervöser als nervös
„Sie haben einen nötig, ich hatte gerade ein sehr interessantes Gespräch mit einer Frau
fühlte. Dabei musste sie sich ganz auf ihren Plan konzentrieren, jetzt wurde das letzte Spiel
Schneider.“
gespielt und es ging um alles.
„Simone?“
„Das geht schon in Ordnung, darf ich fragen wer sie sind und was ich für sie tun kann?“
„Ja, sie hat mir sehr weitergeholfen. Der Verlust von Clara muss sie sehr geschmerzt haben.“
„Simone Schneider, sie haben doch Marie Jacotet verhaftet?“
„Ihr Tod war mir scheißegal.“
„Ja.“
Krüger lachte: „Lügnerin, sie war ihre Geliebte. Wir haben Beweise das Clara Bauer mit allen
„Wegen Mord an Professor Falkenstein?“
Toten eine Affäre hatte, einschließlich Falkensteins. Sie haben sie alle aus Rache getötet.“
Die Verhaftung war mitten auf dem Campus geschehen, schwer vorstellbar das es sich noch
„Was? Das sind doch Hirngespinste, ich habe niemanden getötet und ich hatte auch nichts mit
nicht rumgesprochen hatte. „Das habe ich, ja?“
Clara. Simone, Simone war es.“
„Ich habe auch gehört das sie noch mehr Menschen getötet hat.“
Krüger schüttelte den Kopf: „Also bitte, was für ein plumper Versuch. Haben sie sich an allen
„Wir verdächtigen sie, ja.“
rächen wollen, oder haben sie nicht gewusst wer ihre Geliebte ermordet hat?“
„Wissen sie, es gibt da etwas was sie wissen sollten. Das habe ich schon immer befürchtet, ich
„Ich habe niemanden getötet.“
hätte früher zu ihnen kommen sollen, ich hoffe ich habe mich nicht strafbar gemacht.“
„Wussten sie das es wahrscheinlich Falkenstein war?“
„Keine Sorge, erzählen sie mir erst mal was sie zu erzählen haben.“
„Ich – habe – niemanden – getötet!“
„Marie ist eine Freundin von mir, deshalb weiß ich das sie mit dem Professor eine Affäre
„Wissen sie was ich glaube, wir haben Erpresserfilme bei Falkenstein gefunden, die er
hatte.“
wahrscheinlich in der Wohnung von Clara Bauer gefunden hat. Vielleicht haben sie die
„Interessant, wie lange ging das schon?“
gefunden und dann kamen sie zu dem gleichen Schluss wie ich. Sie haben ja offenbar geplant,
„Kurz vor den Prüfungen sozusagen.“
wahrscheinlich haben sie die Filme gesehen, ihre Rache geplant und ausgeführt.“
„Damit wollen sie andeuten das es keine Liebesbeziehung war?“
„Lesen sie’s mir von den Lippen ab: Ich war’s nicht!“
„Klar, die Lesbe hat nur mit ihm geschlafen um ne Eins zu kriegen.“ Simone wurde rot,
„Verdammte Scheiße, hören sie auf mir was vor zu machen, ich habe genug Beweise, sie sind
innerlich lachte sie sich halb tot, aber nach außen spielte sie ihr Spiel.
geliefert!“
„Fräulein Jacotet ist lesbisch?“
Marie schüttelte den Kopf, die Tränen standen ihr in den Augen, Verzweiflung überkam sie.
„Das ist das, was ich ihnen eigentlich sagen sollte. All diese Morde, man sagt sich, die Opfer
Sie befand sich in einem Alptraum, das war alles nur ein Traum, mehr nicht. „Es war Simone,
seien alle mal Geliebte von Clara Bauer gewesen. Sind das nur Gerüchte?“
sie hat alle getötet. Letzte Nacht wollte Falkenstein mich töten, da ist sie dazugekommen und
Krüger lehnte sich in seinen Schreibtischstuhl zurück. „Nun, es sind Gerüchte die man
hat ihn zuvor getötet.“
ernstnehmen kann.“
„Und warum wollte er das tun?“
„Clara und Marie waren ein Pärchen, als man Clara ermordet hat ist Marie ausgerastet. Erst
„Er ist ausgerastet weil ich Schluss gemacht habe.“
am nächsten Morgen, aber sie ist ausgerastet.“
„Weil sie ihre Eins bekommen haben, nicht wahr? Muss schwer sein für eine wie sie, es mit
„Rache?“, flüsterte Krüger und in seinem Kopf begannen die Zahnrädchen zu rattern.
einem Mann zu treiben.“
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„Eine wie mich?“
wirklich so etwas getan haben? Nein, unmöglich, nicht Marie. Oder doch? Marie, immer
„Frau Schneider erzählte mir von ihrer sexuellen Ausrichtung, ich meine das sie auf Frauen
wieder spukte ihr Name in seinem Kopf herum. Die arme kleine Marie, aber was konnte er
stehen.“
schon tun? NICHTS! Und in der Runde seiner Kommilitonen fühlte er sich ebenso hilflos, sie
„Sie! Sie ist doch die Lesbe, sie hat alle getötet. Warum glauben sie mir denn nicht, warum
mochten alle genauso ungläubig reagieren wie er, aber sie waren auch genauso hilflos. Es gab
glauben sie mir denn nicht?“
nichts was sie tun könnten, aber wer könnte es statt Marie gewesen sein? Simone, aber
„Weil ihre Fingerabdrücke an einer Tatwaffe waren, weil sie keine Alibis haben, weil sie ein
natürlich, sie hatte doch eine Affäre mit Clara. Das könnte es sein, für einen kurzen
Motiv haben!“
Augenblick lächelte Mark, aber zu kurz um von den anderen bemerkt zu werden. Dann
„Nein, nein, nein! Das hat alles Simone konstruiert, sie hat mich reingelegt, sie war es!“
begrub er diesen Gedanken wieder, Unsinn, Simone würde so etwas doch nie tun. Nein, das
Krüger schüttelte nur wieder mit dem Kopf. „Sie sollten gestehen, das macht sich vor Gericht
war Unsinn, damit würde er sich doch nur lächerlich machen. Außerdem, warum sollte er sich
besser.“ Er stand auf. „Man wird sie rüber in die JVA bringen, sie können vorher gerne
überhaupt für Marie einsetzen? Hatte sie ihn nicht gedemütigt, und da sollte er mit so einer
telefonieren.“
Theorie zur Polizei gehen? Nein, sicher, wenn er Beweise hätte, aber was hatte er schon?
Nichts, rein gar nichts. Oder machte er es sich überhaupt zu einfach? Sicher, Simone hatte mit
„Ich kann es nicht glauben.“ Mark zündete sich eine Zigarette an und blies den ersten Rauch
Clara rumgeknutscht, aber Clara hatte mit einer Menge Leute rumgeknutscht, warum also
weit über den Tisch.
auch nicht mit Marie? Marie hatte es doch auch mit Falkenstein getrieben, sie war doch nicht
Heiko wedelte den Rauch we g, hustete und beschwerte sich. „Muss das sein?“
der unschuldige kleine Engel für den er sie mal gehalten hatte. War sie’s am Ende wirklich
„Du kannst mich mal, ich hab andere Dinge im Kopf als deine Rauchphobie, du kratzt jetzt
gewesen? Er wusste es nicht, und es war ihm langsam auch egal.
schon nicht an Lungenkrebs ab.“, Mark schüttelte mit gesenktem Haupt den Kopf, „Tut mir
leid, war nicht so gemeint.“
„Meinst du wirklich sie war es? Ob sie wirklich mit Falkenstein eine Affäre hatte?“ Anna
strich sich eine Haarsträhne von der Stirn. „Ob sich das Simone vielleicht doch nur
ausgedacht hat?“
„Nein, hat sie nicht.“ Mark drückte die angerauchte Zigarette aus. „Sie hatten eine Affäre, ich
habe sie selbst zusammengesehen.“
„Gott, wirklich?“
„Ja, aber das heißt doch noch lange nicht das sie es auch getan hat. Und schon gar nicht all die
anderen Morde.“
„Ich weiß nicht, sie hat sich bei Thorsten doch nach diesem Meinheimer erkundigt, warum
sollte sie das sonst getan haben.“ Im Grunde konnte auch Stefan es nicht glauben.
„Aber das heißt doch noch nichts!“, schrie Mark.
„Schon gut, wir können es ja alle nicht glauben.“, Anna griff beruhigend nach Marks Hand,
„Weißt du, Simone, der würde ich es fast zutrauen, die war schon immer ein bisschen
undurchschaubar.“
Mark hörte ihr schon gar nicht mehr zu, in seinem Kopf herrschte nur noch Chaos, er konnte
keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er war am Ende, absolut am Ende. Konnte Marie
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Epilog
„Ach Marie, du bist so herrlich naiv.“, lächelte Simone sanft, „Was kriegt man eigentlich für
dreifachen Mord, ich hab ja gelesen das sie dir die anderen noch nicht nachweisen können,
Irgendwie war sie es Marie ja schuldig. Zumindest mal in der JVA vorbeizusehen, das konnte
man doch erwarten, schließlich saß die Kleine für sie im Knast. Also wenn Simone
unschuldig für jemand anderes im Gefängnis sitzen würde, würde sie ja auch erwarten
zumindest mal besucht zu werden. Das verlangte schließlich der Anstand. Die
Sicherheitsvorkehrungen waren gleich null, eigentlich hatte Simone ja erwartet durchsucht zu
werden und seitenweise darüber belehrt zu werden was sie durfte und was nicht. Statt dessen
gab es eine Ausweiskontrolle und das Eintragen ihres Namens in eine Besucherliste. Dann
führte sie eine Vollzugsangestellte in den Besucherraum, der schon wesentlich mehr ihren
klischeebehafteten Vorstellungen. Ein zweigeteilter Raum, zerteilt durch eine langgestreckte
Theke. Zwar gab es keine Gitter oder Glas, aber doch eine Trennung. Als sich Simone an
einen freien Platz setzte war Marie noch nicht hier. Neben ihr unterhielt sich eine
ungewaschene Brünette mit ihrem inhaftierten Macker. Damit schien das Klischee dann
wieder völlig perfekt, die Ungewaschene war ohne Zweifel dazu prädestiniert ihre Geschichte
gleich Morgen in einer Talkshow zu erzählen. Solche Leute fand man ja nur noch im Knast,
mal auf der, mal auf der anderen Seite, oder bei Arabella und Konsorten. Simone warf einen
arroganten Seitenblick zu ihr, den die Brünette mit einem lautlosen Fauchen erwiderte.
Daraufhin kümmerte sie sich wieder um ihren Macker, der das ganze nicht mitbekommen
hatte, und lieber wieder an seiner Freundin rumfummelte. Tja, da war die blöde Kuh doch
selbst schuld, sollte sie sich doch einen Macker suchen der genauso schlau war wie Simone.
Sie war intelligent genug jemand anderes für sie ins Gefängnis zu schicken. Die Tür öffnete
sich, Simone sah auf und lächelte Marie breit an, als diese von einer Vollzugsbeamtin
hereingeführt wurde.
„Hallo Marie, wie geht’s dir?“
„Wie’s mir geht? Du hast vielleicht Nerven hier aufzutauchen.“, zischte Marie sofort, noch
bevor sie sich setzte.
„Warum so gehässig, ich bin doch hier um dich zu unterstützen.“
„Unterstützen? Du kannst zur Polizei gehen und ihr die Wahrheit erzählen.“
„Das hast du doch sicher schon gemacht, oder? Zu dumm das man dir nicht glaubt, warum
sollte man mir glauben?“
„Wie konnte ich mich bloß so in dir täuschen?“ Maries Hass hatte sich innerhalb von
Augenblicken in die totale Resignation gewandelt, in der sie steckte seit sie begriffen hatte
auch wenn du für keinen ein Alibi hast. Das ist ein Glück für dich, obwohl, sei froh, wir sind
ja nicht in Amerika.“
„Simone, bitte, sag die Wahrheit.“
Simone schüttelte nur den Kopf. „Die Wahrheit? Die Wahrheit ist doch reine Ansichtssache.
Hier hat jeder die Ansicht das du die Mörderin bist, das ist also auch eine Wahrheit.“
„Weißt du wohin du dir dein philosophisches Geschwätz stecken kannst?“
„Aber Marie, so ordinäres Gerede hat dir nie gestanden.“ Simone schüttelte tadelnd den Kopf.
„Na ja, die Jahre im Gefängnis werden dir schon etwas von deiner Naivität nehmen. Brauchst
du noch irgendwas, Zigaretten oder so? Braucht man so was nicht im Gefängnis?“
„Verschwinde!“
„Schon gut, war ja nur ein Angebot. Ich dachte mir vielleicht brauchst du was. Aber wenn
nicht, na gut.“, sie zuckte mit den Schultern, stand auf und beugte sich über die
Besuchertheke. „Auf Wiedersehen.“ Sie gab Marie einen flüchtigen Kuss auf die Wange und
ging. Sie würdigte sie zwar keines weiteren Blickes mehr, aber sie konnte sich ihre Reaktion
gut vorstellen. Sie musste sicher kreidebleich geworden sein und vor Wut kochen. Das sie
dagegen genauso cool geblieben war wie sie es von Anfang an geplant hatte erfüllte sie
vielleicht gerade deshalb noch ein bisschen mehr mit Stolz, während sie die kalten Gänge der
JVA hinunter ging, die Besucherschleuse wieder passierte und ins Freie ging. Die paar
Schritte über den Hof ging sie etwas schneller, fast so als würde sie ihre Coolness ein wenig
verlassen. Sie passierte den Ausgang und stellte fest das dieses Klischee vom Duft der
Freiheit wahrscheinlich wirklich stimmte. Es mochte objektiv nach Autoabgasen stinken,
subjektiv aber roch es irgendwie nach Freiheit. Was für ein Kitsch!
Simone drehte sich kurz um als die Tür hinter ihr zuging. Es war vorbei, zwar war noch kein
Urteil gesprochen, aber das konnte sicher nicht anders lauten als schuldig. Die Beweise waren
einfach zu erdrückend, es war ihrer Ansicht nach nur eine Frage der Zeit, also bedeutungslos.
Sie hatte ihr Schicksal erfüllt und niemand könnte sie daran hindern ihren Triumph
auszukosten, niemand?
Warum war Mark noch nicht zur Polizei gegangen, er wusste doch zumindest das nicht Clara
und Marie ein Verhältnis gehabt hatte, sondern Clara und Simone. Das würde Maries Gerede
doch etwas an Glaubwürdigkeit geben, aber ihres Wissens nach hatte er es noch nicht getan.
Sie hatte keine Ahnung warum er noch nicht zur Polizei gegangen war, oder ob er es
überhaupt tun würde. Auf jeden Fall lag darin ein gewisses Risiko, sie müsste sich um ihn
ihre Gefängniszelle nicht einfach so verlassen zu können.
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kümmern. Natürlich durfte es kein so spektakulärer Mord sein, niemand sollte ihn mit der
Mordserie in Verbindung bringen können. Schade das Mark kein Auto fuhr, sie verstand nicht
viel von Autos, aber es konnte doch nicht so schwer sein eine Bremsleitung
durchzuschneiden. Vielleicht könnte man es wie Selbstmord aussehen lassen, ein
Abschiedsbrief war schnell am Computer getippt. In den modernen Zeiten des 21.
Jahrhunderts schrieb man doch keinen schnöden Abschiedsbrief mehr mit Tinte und Papier.
Ja, vielleicht schrieb sie die Wahrheit, etwas von der unglücklichen Liebe zu Marie, das er
enttäuscht war das der reine Engel in den er sich verliebt hatte so eine bestialische Mörderin
hatte sein können. Es musste so richtig melodramatisch und kitschig klingen, nur dann würde
jeder glaube Mark hätte es selbst geschrieben. Genau so würde sie es machen. Armer Mark,
irgendwie tat er ihr ja leid, er hatte aber auch wirklich ein Talent sich in die falschen Frauen
zu verlieben.
“All judges had rather that ten innocent should suffer
than that one guilty should escape.”
Mary W. Shelly
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Nachwort:
Dieser Roman war natürlich reine Fiktion, in Ansbach gab es nie eine dermaßen
erschreckende Mordserie. Ich habe trotzdem lange überlegt, ob ich Ansbach zu liebe den Ort
der Handlung nicht im Dunkeln lasse, oder ihn zumindest mit einem anderen Namen
versehen. Da der Leser aber sicherlich ohne Mühe die dargestellten Orte nach Ansbach
versetzen würde, so etwas spricht sich schließlich auch schnell herum, habe ich diese Idee
genauso schnell wieder verworfen.
Ich gebe zu manchmal ein zynisches Wort über meine Umgebung zu verlieren. Im Grunde
spricht Marie aber etwas aus, was ich auch denke, wenn sie sagt: „...Studentin in Ansbach, ... ,
an einer FH, die sie mochte, was sie aber nie und nimmer zugeben würde, wie die Tatsache
das sie ihre Kommilitonen im Grunde auch ganz gerne hatte.“ Nichtsdestotrotz konnte ich
mir ein paar Seitenhiebe auf Ansbach nicht ganz verkneifen.
Was die auftretenden Personen angeht, kann ich dem Leser versichern, dass keine der
Hauptakteure ein reales Vorbild hat. Wenn Ähnlichkeiten bestehen, dann höchstens mit mir
selbst. Ein paar Nebenakteure werden sich auf der anderen Seite wohl unschwer
„Alle Richter ziehen es vor, eher zehn Unschuldige
wiedererkennen, ich mag sie manchmal durchaus auch kritisch geschildert haben, aber hier
leiden als einen Schuldigen laufen zu lassen.“
gilt wohl, wen ich nicht mag, den erwähne ich auch nicht. (Den Umkehrschluss zu treffen,
Mary W. Shelley
würde jetzt allerdings meinen Ruf gefährden.)
Sollte trotz allem irgendwelche persönlichen oder lokalpatriotischen Gefühle verletzt
haben, entschuldige ich mich an dieser Stelle dafür. Es war keinesfalls so gemeint und schon
gar nicht beabsichtigt. Ma rie würde sagen: „Milles excuses, milles excuses!!!“ Dem kann ich
mich nur anschließen.
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