Buenos Aires - Ein Reisebegleiter
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Buenos Aires - Ein Reisebegleiter
Literarische Streifzüge durch Buenos Aires Die argentinische Hauptstadt Buenos Aires hat seit ihren Anfängen Menschen aus aller Welt angezogen. Der deutschsprachige "Reisebegleiter" von Sieglinde Oehrlein verfolgt die Spuren berühmter Bewohner und illustrer Besucher aus aller Welt im Labyrinth der Metropole des Tangos. Er führt vor Augen, wo die Dichter, Schriftsteller, Musiker, Sänger, Künstler, Abenteurer oder Wissenschaftler gelebt, wie sie in der Stadt gearbeitet, sie geprägt oder an ihr gelitten haben. Und er zeigt auf verschiedenen Rundgängen die Metropole aus vielerlei ungewöhnlichen Perspektiven Einige illustre Namen Evita Perón, Carlos Gardel, Ernesto "Che" Guevara, Julio Cortázar, Manuel de Falla, Enrico Caruso, Federico García Lorca, Antoine de SaintExupéry, Witold Gombrowicz, Aristoteles Onassis, Jorge Luis Borges, Maria Callas Buenos Aires Ein Reisebegleiter Originalausgabe Von Sieglinde Oehrlein Mit farbigen Fotografien insel taschenbuch 3215. 240 Seiten Aus dem Inhalt Mit Ulrich Schmidl im Tango-Viertel San Telmo · Schätze aus Großmutters Wohnstube: Der Antiquitätenmarkt von San Telmo · La Boca: Stadtviertel mit Mundgeruch · Fährmann, Kellner und Tabakhändler: Aristoteles Onassis - bescheidene Anfänge eines Krösus · Arbeitsplatz »Pralinenschachtel« - das Fußballstadion La Bombonera und Diego Maradona · Carlos Gardel, die Stimme von Buenos Aires · Mit dem blinden Seher durch die Parks von Palermo: Jorge Luis Borges und »sein« Viertel · Höhenflug über die Betonwüste: Antoine de Saint-Exupéry · Mit García Lorca »in den Kneipen der Straße 25 de Mayo russischen Wodka trinken« · Vaclav Nijinskij - der Göttliche · Spurt mit Julio Cortázar zur Plaza de Mayo · Der »Engel der Armen« auf dem falschen Friedhof: Evita Peron und das Nobelquartier Recoleta · Mit Eugene O'Neill in den Niederungen des Hafenviertels · Jose Ortega y Gasset - abgeschreckt von der Maske der Eitelkeit · Rabindranath Tagore zu Gast bei Victoria Ocampo · Buenos Aires nach den Plänen von Le Corbusier · Besuch im Göttertempel der Diven und Dirigenten: Das Teatro Colón · Enrico Caruso auf Verwandtenbesuch in Buenos Aires · Maria Callas am Teatro Colón: »Buenos Aires ist zum Hassen« Besprechung in: Tango Danza, Zeitschrift für Tango Argentina Nr. 2 April/Mai/Juni 2007 Buenos Aires Ein Reisebegleiter Einen Reiseführer für Buenos Aires zu finden ist mittlerweile nicht mehr schwer, angeboten wird eine ganze Reihe. Dieser hier ist allerdings anders und nennt sich nicht umsonst „Reisebegleiter“. Denn Sieglinde Oehrlein folgt einem ungewöhnlichen Konzept: Sie versucht die Stadt näher zu bringen, indem sie sie mit den Augen anderer sehen und beschreiben lässt. Diese anderen sind Künstler, Komponisten, Literaten und weitere Personen der Zeitgeschichte, die alle für kurze Zeit oder lange Jahre in Buenos Aires weilten. Die Liste ist erstaunlich lang, so lang, dass man ins Staunen kommt. Zu den Personen gehören García Lorca, der Tänzer Vaclav Nijinski, Witold Gombrowicz, der Dramatiker Eugene O’Neill ebenso wie Antoine de Saint-Exupéry und der Sänger Enrico Caruso, um nur einige zu nennen. Oehrlein hat zusammengetragen, was sie über Buenos Aires gesagt, geschrieben oder gedichtet haben. Die Grundlage ihres Buches sind Romane, Briefe, Reportagen oder Gedichte. Das Buch gewährt dadurch auch Einblicke in die Biografien der Künstler – und die sind oft ganz schön spannend. Wer weiß schon, dass sich ein späterer Literaturnobelpreisträger wie Eugene O'Neill um 1910 in den wüstesten Ecken von La Boca herumgetrieben hat, und dass Enrico Carusos Stargagen im Teatro Colón heftig diskutiert wurden? Oder dass der Autor von „Der kleine Prinz“ 1929 die technische Leitung beim Aufbau der argentinischen Luftpost übernommen hatte? Gleichzeitig ist Sieglinde Oehrleins Reisebegleiter auch ein Architekturführer für Buenos Aires. Ausgehend von den jeweiligen Wohnungen und Wohnorten der entsprechenden Persönlichkeiten hat die Autorin kleinere Rundgänge entworfen: Umfelderkundungen, bei denen es vieles zu entdecken gibt. Oehrlein weist, kunsthistorisch versiert, den Weg zu interessanten Gebäuden, historischen Örtlichkeiten, architektonischen Besonderheiten und versteckten Sehenswürdigkeiten. Immer wieder hält sie dabei inne, um kundig auf die verschiedenen Bauphasen der Stadt und die jeweiligen Veränderungen im Stadtbild hinzuweisen. Und die sind oft ebenso spannend wie die Erfahrungen und Augenzeugenberichte der Künstler. Sieglinde Oehrleins Buch ist kein klassischer Reiseführer. Den braucht man separat, ebenso wie einen größeren Stadtplan. Ihr Reisebegleiter ist vielmehr eine Mischung aus Lesebuch und kunsthistorischem Kompendium. Mir gefallen daran gleich mehrere Dinge. Erstens handelt es sich hier, abgesehen von wenigen Unvermeidlichkeiten, um einen Leitfaden, der die üblichen touristischen Trampelpfade weitgehend meidet. Zweitens ist dies ein Buch, in dem es nicht nur um nackte Infos, sondern auch um Menschen, Lebenswege und Literatur geht. Drittens gefällt mir ihre Idee, sich gezielt und selektiv einen Teil von Buenos Aires zu erlaufen, statt nur vom pulsierenden Trubel der Metropole getrieben zu werden. Jürgen Bieler, Bonn Rede des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Rolf Schumacher Am 12. April 2007 veranstalteten der Rotary-Club "Río de la Plata" und der Deutsche Klub in Buenos Aires eine Präsentation des Buches "Buenos Aires. Ein Reisebegleiter". Bei dieser Gelegenheit hielt der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Rolf Schumacher, eine Rede, die wir nachfolgend auf Deutsch und Spanisch wiedergeben Die Lektüre eines Buches bereitet mir beinahe immer Vergnügen. Ein faszinierendes Buch zu lesen, was schon eine Steigerung bedeutet, ist logischerweise ein noch größeres Vergnügen. Und was wäre das größte Vergnügen? Ein Buch als ständiger Begleiter, ein Buch, von dem man sich nie trennen möchte. Das Buch von Frau Oehrlein ist ein solches Buch. Es ist kein Führer für Touristen in Buenos Aires, wie es schon so viele gibt, das heißt, ein Führer, in dem technische und historische Daten aufgezählt werden, die man schon beim Umblättern wieder vergessen hat. Dieses Buch ist etwas völlig anderes, und vor allem, es ist etwas mehr. Es ist ein Begleiter, um Buenos Aires zu durchstreifen, wie schon der Untertitel sagt. Es ist ein Buch, das uns Pforten in die Vergangenheit dieser Stadt öffnet und diese gleichzeitig heraufbeschwört, es öffnet Wege zur kulturellen Vergangenheit dieser Stadt, und als Leser möchte man nicht aufhören, zu entdecken, zu erleben und die Personen und Ereignisse aus der Geschichte der Stadt, die sich auf so vielfältige Weise verschränken, näher kennenzulernen. Auch der Untertitel des Buches gefällt mir: Ein Reisebegleiter. Das klingt recht heiter und angenehm und spielt an auf eine Zeit, als man eine Stadt noch durchwanderte, erforschte und sich zu Fuß erschloss, da es die City-Tour im Omnibus noch nicht gab. Es ist klar, daß man Buenos Aires so viel besser und viel intimer kennenlernt, als wenn man einem vorgefertigten Programm folgt, das einem kaum Zeit läßt, zu sehen und wahrzunehmen und ganz davon zu schweigen, Streifzüge und Lektüre zu kombinieren. Auf diese Weise geleitet das Buch den Erforscher und Beobachter, ohne es zu sagen, an die entscheidenden Orte dieser Stadt, in das Herz von Buenos Aires. Was ist das Herz von Buenos Aires? Für mich sind es die Cafés. Und in Buenos Aires sind die Cafés weiterhin das, was man in Deutschland früher „Kaffeehaus“ nannte, Orte, an denen man sich niederläßt und die zivilisierte Welt der Mittelklasse genießt. Immer, wenn ich vom Auto aus die Porteños in den Cafés sitzen sehe, dann beneide ich sie um ihre Zeit, um diese Inseln des Aromas, um ihre Muße, um die ruhigen Momente der Lektüre und der Konversation inmitten der Hektik, die uns treibt. Dann würde ich am liebsten aussteigen und mich zu ihnen setzen. Dieses Buch führt den Leser in diese Inseln des Verweilens und vermittelt damit viel mehr vom Leben der Porteños als andere Bücher. Frau Oehrlein, ich möchte Ihnen gratulieren zu diesem so gelungenen Buch. Ich empfehle es allen Touristen und auch denen, die keine Touristen sind, das heißt, den Porteños; sie würden staunen, wenn sie entdecken, daß sie in einer so faszinierenden Stadt leben, wie sie es sich nie hätten träumen lassen. Dieses Buch öffnet dem Leser wirklich die Augen. Palabras del Sr. Embajador de la República Federal de Alemania, Dr. Rolf Schumacher La lectura de libros es para mi casi siempre un placer. Leer un libro fascinante, lo cual ya sería una comparación, es lógicamente un mayor placer aún. ¿Y qué sería lo máximo? Un libro como acompañante permanente, un libro del cual uno no quisiera desprenderse jamás. El libro de la señora Oehrlein es un libro de estas características. No es una guía para turistas de Buenos Aires, como existen tantas, es decir, una guía que enumera datos técnicos e históricos, que uno olvida ya al pasar de renglón. Es algo totalmente diferente y, ante todo, es algo más. Es un compañero, como ya lo dice el subtítulo, para recorrer Buenos Aires. Es un libro que nos abre puertas hacia el pasado de esta ciudad, a la vez que lo evoca. Abre caminos hacia la historia cultural de esta ciudad, y como lector uno no quisiera terminar de descubrir, de experimentar y de conocer más de cerca a las personas y a los sucesos de Buenos Aires, que se interrelacionan de múltiples maneras. El subtítulo también me gustó: un compañero de viaje. Suena bastante ameno, casi placentero, alude a una época en la que una ciudad se recorría, se exploraba, se transitaba a pie porque aún no existía el city-tour en ómnibus. Es obvio que Buenos Aires se conocerá mucho mejor y más íntimamente de este modo en lugar de respetar un programa pre-establecido, que casi no deja tiempo para ver y apreciar. Ni hablar de intercalar el paseo con la lectura. De esta forma el libro conduce al lector investigador y observador -sin decirlo- a los sitios decisivos de esta ciudad, al corazón de Buenos Aires. ¿Qué es el corazón de Buenos Aires? Para mi son los cafés. Y en Buenos Aires los cafés siguen siendo lo que en alemán antes se llamaba “Kaffeehaus”, un lugar para quedarse disfrutando de un mundo civilizado de la clase media. Cada vez que desde el auto veo a los porteños sentados en sus cafés, los envidio por su tiempo, por sus islas de aroma, por su ocio, por los momentos tranquilos de lectura y de conversación en medio de la vertiginosidad con que vivimos. Preferiría bajarme del auto y sentarme con ellos. Este libro, además, conduce al lector a estas islas del permanecer y transmite mucho más de la vida porteña que otros libros. Señora Oehrlein, quiero felicitar a usted por este libro tan acertado. Le recomiendo este libro a todos los turistas. Aún quienes no son turistas, es decir, los porteños, se asombrarían al descubrir que viven en una ciudad sorprendente como jamás siquiera hubieran imaginado. ¡Este libro realmente le abre los ojos al lector! Leseproben Einleitung Wie »europäisch« ist Buenos Aires? Die Stadt am Río de la Plata wollte schon immer Paris, London, Berlin oder Madrid ebenbürtig sein. Wer durch die Avenida de Mayo schlendert, die Prachtstraße der argentinischen Hauptstadt, kann sich noch heute auf jedem Schritt in eine dieser europäischen Metropolen versetzt fühlen. Auch wenn gesichtslose Bürotürme und Wohnsilos die Stadtarchitektur überwuchert haben, auch wenn Krisen und der allgemeine Verfall Lücken geschlagen haben, überlebten im gesamten Stadtgebiet imposante Paläste wohlhabender Familien mit klangvollen Namen neben verspielten französischen »Petits Palais« mit Mansarden und rokokohaften Verzierungen, Häuser im Stil der italienischen Pseudo-Renaissance oder gestrenge englische »Mansions« aus rotem Backstein mit Zinnen, Türmchen und Kaminen. Auch die große Zahl der Caféhäuser, der »Confiterias«, beschwört mit ihrer meist originalen Einrichtung die Glanzzeit der Stadt, die ersten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts. Hinter dem hektischen Habitus einer modernen »globalisierten« Geschäftsstadt gibt es noch das im alten Europa verwurzelte Buenos Aires, mit einem regen Geistesleben und einem prosperierenden Kulturbetrieb, der sich in mehr als 200 Theatersälen, ungezählten Galerien und Veranstaltungsräumen jeder Art auslebt. Man muß nur den täglichen Kulturkalender durchsehen und ist überrascht von der Fülle der Vorträge, Debatten, Vernissagen, Theateraufführungen, Konzerte und künstlerischen Aktionen. In dieser quirligen Szene ist Europa tatsächlich noch immer Richtschnur, Vorbild, Partner. Für den intellektuellen Austausch mit Europa ist Buenos Aires der wichtigste Brückenkopf in Südamerika. Von jeher schickten die wohlhabenden argentinischen Familien ihre Kinder auf Studien- und Bildungsreise nach Europa. Sie kamen zurück als Architekten, Juristen oder Künstler, die ihre persönlichen Eindrücke, den europäischen Geschmack, Moden und Marotten der jeweiligen Epoche auf den neuen Kontinent übertrugen. Als edel und standesgemäß galt, was aus Europa stammte. Umgekehrt kamen aus ganz Europa Geistesgrößen, Literaten, Theaterleute, Publizisten, Musiker in das umtriebige Buenos Aires, die Wiege des Tango und jahrzehntelang eine der reichsten Städte der Welt. Zur Hundertjahrfeier der Revolution von 1810 weilten Georges Clemenceau und Anatole France in Buenos Aires, die spanischen Literaten Jacinto Benavente,Vicente Blasco Ibäñez und Ramón del Valle Inclän. Dem norwegischen Südpolforscher Roald Amundsen wurde am 14. Januar 1912 mit einem Bankett gehuldigt. In den Theatern und Opernhäusern gastierte, wer in Europa Rang und Namen hatte – Sarah Bernhardt, die Tänzerin Ana Pavlova, der spanische Dramatiker Federico García Lorca und Edith Piaf. Der spanische Philosoph Ortega y Gasset und der Architekt Le Corbusier waren zu Vorträgen eingeladen, der Dichter Rubén Darío schrieb im – heute frisch renovierten – Casino im Tigre-Delta seine Divagaciones. Das Teatro Colón ist durchweht vom Geiste Carusos und der Callas; Toscanini, Richard Strauss und Herbert von Karajan gaben sich hier die Ehre ebenso wie der Tänzer Nijinskij, der 1913 während einer Tournee in der Kirche Erzengel Sankt Michael heiratete, und Enrico Caruso, der in einer Vorstadtkirche als Taufpate fungierte. [...] Die illustren Besucher erlebten Buenos Aires in Aufbruchstimmung. In den Hotels, in denen die Herrschaften nächtigten, mag es noch nach frischer Farbe gerochen, auf den Straßen muss ein babylonisches Sprachengemisch der neuen Einwanderer geherrscht haben. Avenidas wie die 9 de Julio waren gerade erst im Entstehen, die Avenida Corrientes präsentierte sich als eine riesige Baustelle, die Arbeiten an der U-Bahn, der »Subte«, gingen voran. Aus europäischer Perspektive erscheint die argentinische Geschichte überaus jung. Der Fund von Gegenständen aus dem neunzehnten Jahrhundert im Untergrund der Stadt wird schon als »archäologische« Sensation gefeiert. Das Bügeleisen der Großmuttergeneration ist bereits ein »historischer« Gegenstand. International aktenkundig wurde Argentinien im Jahr 1536, als der aus Straubing stammende Ulrich Schmidl an der ersten Gründung der Stadt teilnahm; dann schlummerte Buenos Aires weiter bis zur Mai-Revolution von 1810, nachdem die Jesuiten und ihre Geisteskultur längst wieder vertrieben waren, es folgten blutige Bürgerkriege, wie die berüchtigte »Wüstenkampagne«, die mit der fast völligen Ausrottung der Urbevölkerung endeten. Im Jahr 1880 wurde Buenos Aires zur Landeshauptstadt und somit endgültig zur »Primera Dama« unter den lateinamerikanischen Metropolen der Jahrhundertwende. [...] Mindestens zwei Gesichter hatte Buenos Aires von Anfang an. Die moderne, glamouröse, weltstädtisch-aristokratische Stadt kontrastierte mit der tristen Welt der »Conventillos«. In diesen Gebäuden reihten sich an langen, schlauchartigen Gängen die Zimmer auf, in denen die Einwanderer, oft mit ihrer Großfamilie, dicht gedrängt hausten. Die »Conventillos«, ein Pendant zu den europäischen Mietskasernen, wurden inzwischen gleichermaßen als Touristenattraktion wie für den sozialen Wohnungsbau entdeckt. Mit günstigen Krediten können die Bewohner die renovierten Häuser mit lauschigen Innenhöfen, Balkons und Außentreppen als Eigentum erwerben. In jenem Buenos Aires der »Niederungen«, wie es Eugene O'Neill beschreibt, entstand das bekannteste »Exportgut« des Landes, der Tango. Das Herz der Stadt schlägt selbstverständlich im Tango-Takt, vor allem im Viertel San Telmo mit dem sonntäglichen Antiquitätenmarkt, der durchtränkt ist von Tangoklängen. Das »Goldene Zeitalter« des Tangos waren die dreißiger und vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als die Orchester von Aníbal Troilo, Osvaldo Pugliese und Sänger wie Carlos Gardel, Tita Merello und Dichter wie Enrique Santos Discépolo und Homero Manzi die Argentinier begeisterten und der Tango auch die europäischen Metropolen, allen voran Paris, eroberte. Wer tief in die Seele von Buenos Aires eindringen möchte, braucht nur den Spuren all jener Persönlichkeiten zu folgen, die die Stadt besucht oder in ihr gelebt, sie angebetet oder gehasst, sie mitgeprägt oder an ihr gelitten haben. Diese sehr persönlichen Eindrücke, dokumentiert in Romanen, Reportagen, Gedichten, Berichten oder Briefen, bringen die Stadt dem heutigen Besucher aus einer sehr ungewöhnlichen Perspektive nahe. In dem gewaltigen Labyrinth, als das Jorge Luis Borges die Stadt stets gesehen hat, wird an markanten Stellen wie an völlig unscheinbarem Ort etwas von dem Geheimnis offenbar, das diese wohl tatsächlich »europäischste« aller südamerikanischen Metropolen umgibt. (gekürzt) Ein Rundgang durch das Viertel San Telmo Schätze aus Großmutters Wohnstube: Der Antiquitätenmarkt von San Telmo Wir folgen der Straße Defensa. In dem Ziegelbau an der Straße San Juan 350, wo seit 1989 das Museum für Moderne Kunst von Buenos Aires untergebracht ist, lagerten bis 1918 die Vorräte einer Tabakfabrik. Der damalige Direktor, Juan Gaona, verhalf einst Onassis zu seinen ersten Aufträgen. Das Gebäude La Candelaria (Defensa 1170) aus dem Jahr 1745 mit mehreren Patios war Frauengefängnis und später »Colegio«. Hier ging der Verfasser des Nationalepos Martin Fierro, José Hernandez (1834-1886), zur Schule; 1992 war die Restaurierung zur heutigen Kunstgalerie abgeschlossen. Ein Prachtbeispiel ehemaliger Stadtpaläste ist die Pasaje Defensa, das Haus der Familie Ezeiza aus den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf der anderen Straßenseite, Nr. 1179. Allerdings braucht man hier einige Phantasie, um sich die Pracht vorzustellen. […] Dieses Haus der Familie Ezeiza – der 1949 eröffnete internationale Flughafen von Buenos Aires trägt ihren Namen – war Schule für Taubstumme, danach »Conventillo« für nicht weniger als zweiunddreißig Familien. Um sich in solche Zeiten zurückzuträumen, muß man die romantischmorbide Ruhe des Hofes an einem Wochentag aufsaugen, wenn nur Eingeweihte durch die Läden streifen und der Reichtum vergangener Zeiten nicht durch den Ansturm touristischer Massen »profaniert« wird. Dann bauen Restaurantbesitzer ihre Tische und Stühle auf der Plaza Dorrego auf, und man glaubt sich auf einem kleinstädtischen Marktplatz, umgeben von bunten einstöckigen Häusern, wie auf einem Gemälde naiver Kunst, dann hat man Historie und Atmosphäre für sich allein. In der Straße Humberto I. (Nr. 343) nahe der Plaza Dorrego befand sich die erste Medizinschule von 1858, die imposante Magnolie und Palme davor könnten noch aus der gleichen Zeit stammen. Die Kirche gegenüber, Nuestra Senora de Belén (Unsere Jungfrau von Bethlehem), gekrönt von Türmen mit blauen Kachelmustern, ist die älteste der Gegend. Sie ist Sitz der Pfarrei von San Pedro González Telmo, der Patron der Seeleute bekrönt die Fassade, ein Schiffsmodell in der Hand haltend. Mit dem Bau der Kirche hatten die Jesuiten bereits 1734 begonnen, sie wurde aber erst 1876 in einer Mischung aus postkolonialem Stil, barocken und neoklassischen Elementen vollendet. In der kleinen Kapelle neben der Sakristei steht ein Altar, dessen Marmorplatte während der englischen Invasion als Operationstisch für Verletzte gedient haben soll. In einem Schrein aus Silber und Glas wird eine Reliquie von San Pedro Telmo zusammen mit einigen Steinen seines Hauses in Spanien verwahrt. Göttliche und irdische Gerechtigkeit liegen hier nahe beieinander. In dem an die Kirche grenzenden Gebäude aus dem Jahr 1760/1778 hatten zunächst die Jesuiten ihr Domizil, unter dem späteren Präsidenten Bernardino Rivadavia wurde es 1822 zum Gefängnis, 1890 übernahmen es die »Schwestern vom Guten Hirten«, von 1933 bis 1978 diente es wieder als Gefängnis Del Buen Pastor. Berühmtester »Gast« war die Kunstmäzenin Victoria Ocampo (siehe das ihr gewidmete Kapitel). Bei ihrer Rückkehr von einer Europareise 1963 soll auch die Mutter des Che Guevara mehr als einen Monat inhaftiert gewesen sein, wegen des Besitzes subversiver Schriften und einiger Fotos ihres Sohnes. Seit Dezember 1980 können Besucher im Museum mit dem unverfänglichen Namen Antonio Ballvé an Wochenenden Gefängnisluft schnuppern. In der Straße verlaufen noch die alten Straßenbahnschienen. Das Viertel San Telmo steht unter den Touristenattraktionen von Buenos Aires an erster Stelle. Jedes Jahr kommen mindestens zehn Millionen Besucher in die argentinische Hauptstadt, davon rund dreieinhalb Millionen Ausländer; keiner will den sonntäglichen Antiquitätenmarkt missen, der im November 1970 von dem Architekten und Direktor des Stadtmuseums, Jose Maria Peña, ins Leben gerufen wurde. Die Plaza Dorrego ist nach der Plaza de Mayo der älteste Platz der Stadt, hier versammelte sich das Volk am 9. Juli 1816, um endgültig die Unabhängigkeit zu fordern. Nach diesem Datum ist die 14spurige Prachtallee im Zentrum benannt, die Avenida 9 de Julio. […] Speisen kann man an sagenumwittertem Ort, in der Antigua Tasca de Cuchilleros (Carlos Calvo 319), in Räumen ursprünglich aus dem 17. bis 19. Jahrhundert, oder dem üppig grünenden Patio. In dem Haus wohnte Margarita, die Tochter eines Offiziers unter Juan Manuel de Rosas; ihr Vater zwang sie zur Ehe mit Ciriaco Cuitiño, seinem Vorgesetzten. Verliebt war sie natürlich in einen ganz anderen, den Gaucho-Sänger und berüchtigten Bandolero Juan Cruz Cuello. Sie floh mit ihm, wurde von dem verschmähten Cuitiño verfolgt und in der Gegend von Luján ermordet. Internationalität bietet nicht nur das Geschäftszentrum von Buenos Aires, auch die verschiedensten Kirchengemeinden drängen sich auf engstem Raum. In Carlos Calvo Nr. 257 befindet sich beispielsweise die 1931 von einem dänischen Architekten erbaute Dansk Kirke, ein einfacher roter Ziegelbau. Hier gibt es evangelischen Gottesdienst in dänischer Sprache. Auf dem Paseo Colón (Nr. 850), der noch Anfang des 20. Jahrhunderts Flußbett und Sumpfgebiet war, erhebt sich eines der wenigen erhaltenen Gebäude des Peronismus, eine Pseudo-Akropolis, gedacht als Sitz der Stiftung Eva Perón. Die alles bekrönenden Statuen von Evita und Ehemann sollten nicht mehr aufgestellt werden, nach dem Staatsstreich von 1955 bezog die Ingenieursfakultät hier Quartier. (gekürzt) Karte San Telmo 1 Azopardo 1422/Ecke Juan de Garay: katholische schwedische Gemeinde - Ecke Brasil/Paseo Colón: SchmidlBüste - 2 Brasil 315: russischorthodoxe Kirche - Ecke Defensa/Brasil 399: Café Británico - 3 Defensa 1600: Historisches Nationalmuseum - 4 San Juan 350: Museum für Moderne Kunst - Defensa 1170: La Candelaria Defensa 1179: Pasaje Defensa - Humberto I. Nr. 343: ehemalige Medizinschule - Kirche Nuestra Señora de Belén -Humberto I. Nr. 378: Gefängnis-Museum Antonio Ballve - Plaza Dorrego / Defensa 1094: GoldschmiedeDynastie Pallarols - 5 Carlos Calvo 319: Antigua Tasca de Cuchilleros - Carlos Calvo 257: Dansk Kirke - 6 Paseo Colon 850: Ingenieurs-Fakultät - 7 Balcarce 1053: Viejo Hotel (Altes Hotel) - Balcarce 998: Teatro de la Carbonera - 8 Defensa 845: Viejo Cine Cecil - Pasaje José Modesto Giuffra 371: Scala de San Telmo - Defensa 775: Conventillo de la Paloma - Pasaje San Lorenzo 380: Casa Minima - 9 Mexico 560: Staatl. Zentrum für Musik (ehemalige Nationalbibliothek) - 10 Venezuela 615: Wohnhaus von Gombrowicz - 11 Ecke Defensa/Belgrano: Kirche Santo Domingo mit Mausoleum von General Manuel Belgrano - Defensa 346 bis 356: ehemaliges Wohnhaus von Bernardino Rivadavia (1780-1845) - Defensa/Alsina 380: Convento San Francisco Bolívar 263: Colegio Nacional - 12 Bolivar 225: Kirche San Ignacio -13 Perú 302: Bar El Querandí - 14 Tacuarí 242: Wohnhaus von Gombrowicz Maria Callas am Teatro Colón: Druidenpriesterin als Racheengel Anfang Mai 1949 kommt die Diva in Buenos Aires an, wo sie im Juni und Juli am Teatro Colón in Turandot, Norma und Aida gastiert. Das Bild der zunächst noch »schönen Stadt« verblaßt schnell, als die ersten Ärgernisse auftreten und sie sich in ihren Empfindlichkeiten verletzt fühlt. So sehr sie sich in ihren Briefen an ihren Ehemann Giovanni Battista Meneghini in überschwenglichen Liebesbezeigungen ergeht – sie waren »erst acht Stunden verheiratet«, wie er in seinem Buch schreibt –, so sehr wetzt sie ihre spitze Zunge gegen diese »ekelhaften Kreaturen« am Theater: »Sie wollen mir offenbar übel mitspielen am Teatro Colón, aber sie werden es büßen« (26. April). Daß alle sie maßlos bewundern, unterschlägt sie nicht: Tulio Serafin, mit dem sie Die Macht des Schicksals probte, sagte, sie sei »großartig«. Aida sollte mit einer anderen Sängerin, Delia Rigal, besetzt werden, der Tochter eines italienischen Frisörs, der an der Ecke Independencia/Entre Rios wohnte. Auch ihr ist eine Plakette im Teatro Colón gewidmet. »Hier ist alles sehr teuer, Serafin hat ein Appartement für mich gefunden, -aber es war zu klein, und ich bin in ein Hotel umgezogen. Ich habe ein kleines Zimmer mit Bad und zahle 38 Pesos am Tag, ohne Essen. Heute mittag war ich im Hotel-Restaurant. Stell Dir vor, ich habe 16 Pesos bezahlt für Suppe, ein Beefsteak, Gemüse, Fruchtsalat und Kaffee. Das ist zuviel. Abends war ich in einem weniger luxuriösen Restaurant, aber das Essen war gut, und ich habe nur sieben Pesos bezahlt. Was für ein Unterschied, diese verdammten Ganoven!!! Wenn die Direktoren des Colón darauf bestehen, daß ich drei Monate hier bleibe, bringe ich sie um«, schreibt die Callas am 14. Mai. Am nächsten Tag berichtet sie: »Glücklicherweise haben mir die Serafins ihre kleine Wohnung überlassen, mit einem Schlafzimmer, Wohnzimmer und einer kleinen Küche, wo ich mir Milch warm machen und etwas kochen kann (...) Buenos Aires ist eine schöne Stadt, groß, voll von riesigen Autos, die Du >Häuser< nennst. Trotz der eleganten Geschäfte und breiten Avenidas ist mein Herz immer bei Dir, und keines von all den schönen Dingen gefällt mir. Du bist der Sinn meines Lebens. Ich bete Dich so sehr an, daß ich in Deinen Armen sterben möchte.« In der Nacht des 16. Mai schreibt sie, daß eine Señora Covies sich um ihre Garderobe kümmern und deren Tochter als ihre Sekretärin fungieren werde. Und allmählich beginnen die Klagen. »Der Kaffee hier ist schrecklich. Was ich so sehe, wenn ich spazierengehe — die Eleganz ist nur Fassade. In Italien ist es schöner, dort sind die Leute höflicher, und das Leben ist eleganter.« Am 17. Mai trinkt sie »ein herrliches Glas heißer Milch mit viel Zucker und viel Cognac, um diese ewige Kälte zu bekämpfen«. In den nächsten Tagen klagt sie über Erkältung, Krankheit, Fieber; immerhin nimmt sie dabei ein paar Kilo ab. Dennoch singt sie, und bis auf eine Zeitung, die von ihrer »schwachen Stimme« schrieb, sei die Presse wohlwollend gewesen, »sogar die Zeitung von Evita Perón«. Am 27. Mai, nachdem die Aida-Premiere ohne sie stattgefunden hat, verdüstert sich ihr Panorama weiter: »Ich gehe nie aus. Ich hasse Buenos Aires (...) Hier interessieren sich alle nur für ihre eigenen Angelegenheiten, so liegen hier die Dinge. Als ich krank wurde, kam mich nur Maestro Serafin besuchen, und er lief Gefahr, sich anzustecken. (...) Draußen ist es sehr schön, fast wie im Frühling, aber die Luft ist voll von Kohlenstaub, der einem in die Augen dringt und die Kleidung schmutzig macht. Ausgehen ist eher eine Qual als ein Vergnügen. Das Klima wechselt von einer Stunde zur anderen: bald ist es heiß, bald kalt. Die Feuchtigkeit schadet meinen Beinen. Es ist alles eine Misere!« Keiner der Kollegen habe sie besucht. »Die waren froh, daß ich nicht singen konnte. Die armen Kerle haben Angst. Sie wissen, daß sie verblassen, wenn sie neben mir auf der Bühne stehen.« In den nächsten Tagen probt sie intensiv für Norma. Sie klagt, daß die Aufführungen zeitlich weit auseinander liegen, während sie sich nur nach Hause sehnt, sich flüchten will »in Deiner reinen, sauberen und ehrlichen Liebe« (12. Juni). Für den 10. Juli hat sie bereits einen Platz im Flugzeug reserviert. Am nächsten Tag will sie sich in der »kleinen griechisch-orthodoxen Kirche segnen lassen. Gott war so gut zu mir.« In dieser 1928 erbauten Kirche in der Straße Julián Alvarez 1036 im byzantinischen Stil (Zutritt nur nach Anmeldung) mag sich die Griechin wohlgefühlt haben. Auch Borges hatte hier dem orthodoxen Ritus gelauscht. Am 17. Juni kann die Callas über die Kostümprobe zu Norma berichten: »Nach der >Casta Diva< hatten alle Tränen in den Augen.« Kritiker hatten sie gebeten, mit voller Stimme zu singen, da sie ihre Berichte nur auf diese Probe stützen könnten. [...] Dank Evita Perón gab es Vorführungen für Gewerkschaften, viele, die noch nie ein Theater betreten hatten, sahen nun den Göttertempel von innen. Wer engagiert wurde, richtete sich allerdings auch einzig und allein nach dem »göttlichen« Willen Evitas, und sie protegierte die von der Callas so geschmähte Delia Rigal, die ihr zunächst Aida und Die Macht des Schicksals wegnehmen sollte. Wäre Maria Callas ein halbes Jahr früher gekommen, hätte sie miterleben können, wie am 23. September 1948 am Teatro Colón das Mordkomplott gegen das Ehepaar Perón, das sie aus tiefstem Herzen hasste, aufgedeckt wurde; elf Verschwörer, die den Mord während der Galavorstellung am 12. Oktober geplant hatten, wurden festgenommen. Die Callas dagegen rächte sich als »Druidenpriesterin«. Der Enthusiasmus über ihre Norma war – natürlich – grenzenlos, ihre Aida am 2. Juli ein Triumph. »Es hat alles hinweggefegt, was es hier gab. Das Publikum betet mich an.« Ihre Abschiedsvorstellung gab sie am Unabhängigkeitstag, dem 9. Juli 1949, zusammen mit einer »argentinischen Sopranistin, die nicht schlecht ist« - das höchste Lob, das sie einem einheimischen Künstler oder einer Künstlerin spendete. Und noch ein Ungemach ereilte sie, wie ihre Mutter in dem Buch My daughter Maria Callas schreibt: Nach argentinischem Gesetz durfte sie die Gage für ihre Auftritte nicht ausführen, so sah sie sich gezwungen, das Geld in Pelze zu investieren. (leicht gekürzt)