IN DER RS
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IN DER RS
März 2013 Nr. 260 In der rS 5 Editorial Ach-tung! Die Folio-Redaktion ist ins Militär eingerückt und hat die Rekruten während 21 Wochen begleitet. Auf jeden Kopf passt ein Helm. Nicht nur wer beim Titel «Ach-tung!» innerlich Haltung angenommen hat, ist hier richtig. Mit diesem Heft nehmen wir auch alle unsere Leserinnen und Leser mit ins Militär, die den Dienst nur vom Hörensagen kennen. Und zwar vom ersten Tag an, an dem sich 550 junge Männer in Kapuzenpullis und Jeans in Rekruten verwandeln. Am 12.März 2012 rückte die Folio-Redaktion mit ihnen in der Kaserne Neuchlen ein. Dort, in der Nähe von Gossau im Kanton St.Gallen, hat die Infanterie-Rekrutenschule 11 ihren Standort. Wir wollten wissen, wie die Armee heute Bürger zu Soldaten macht – Soldatinnen gab es in Neuchlen keine. Frauen, die freiwillig Dienst leisten, entscheiden sich selten für die körperlich anstrengende Infanterie. Wir hatten sie gewählt, weil sie die Haupttruppengattung der Schweizer Armee ist; die meisten von denen, die für den Militärdienst tauglich sind, werden Infanteristen. Während 21 Wochen haben wir «unseren» Zug, den Zug Bivio der 2.Kompanie, immer wieder besucht. Wir waren mit den Rekruten auf dem Schiessplatz und auf den Märschen, beim Exerzieren und Biwakieren. Zwei von ihnen haben wir auch im Auge behalten, als sie nach elf Wochen die RS verliessen, um weiterzumachen – eine der Neuerungen in der Armee XXI, die 2003 beschlossen wurde. Altgedienten Wehrmännern wird in unserem Heft einiges unvertraut vorkommen, nicht nur, dass man den Korporal heute Natokonform Wachtmeister nennt und dass Offiziere ECTS-Punkte für das Bologna-konforme Hochschulstudium sammeln können. Es gibt aber auch manches, was sich nicht verändert hat: der Geruch von Schuhwichse und Gewehrfett zum Beispiel und der Jubel am Tag der Entlassung, wenn es zum letzten Mal heisst: Ruhn! Daniel Weber Fürs Folio in der RS waren die Reporter Andreas Heller, Barbara Klingbacher, Florian Leu, Gudrun Sachse und Daniel Weber sowie der Berner Fotograf Chris Däppen. Folio 3 / 2013 6 inhalT 1 TiTelblaTT Max Grüter und Patrick Rohner 5 ediTorial Ach-tung! Daniel Weber 8 beim coiffeur «Ich werfe die Haare in die Luft». Francis Müller 10 Vom fach Auf See. Roger Witschi 10 hier schreibT der Koch Das Glück der Veganer. Peter Brunner 11 enTweder oder Vergeben oder vergessen. Luca Turin 11 icon poeT Hat’s geschmeckt? 12 nomade im specK Die Freude an den Draussenrauchenden. Wiglaf Droste 14 binders Vexierbild Wo ist HD Läpplis Karabiner? 14 räTsel Armée dorée. CUS Thema: In der RS 16 AuFtAkt 18 DAS SCHÖNE DAHER Die Rekruten fassen ihre Waffe; sie lernen die Feinheiten des Gehens und Stehens kennen; es zeichnet sich ab, wer weitermachen wird und wer nicht. 36 GENERAtioN EGo-SHootER Im Ausgang bleiben sie unter sich; in der Militärküche schmoren am Morgen 110 Kilo Kalbshaxen; in der Kirche werden die Obergefreiten zu Wachtmeistern. 50 WiR SiND kÄMPFER. PuNkt. Noch 48 Tage, 1 Stunde, 32 Minuten bis zur Entlassung; am Besuchstag bewundern die Mütter die sauber gemachten Betten; der 50-Kilometer-Marsch wird zum Fiasko. 64 EPiloG Nach 21 Wochen nicht nach Hause: Zwei, die weitermachen. Von Daniel Weber, Andreas Heller, Barbara Klingbacher, Florian Leu, Gudrun Sachse (Text) Chris Däppen (Fotos) 66 wer wohnT da? Gekonnt komponierter Cocktail. Gudrun Sachse 70 das experimenT Schwarzweiss-Denken. Reto U. Schneider 71 meine ZuKunfT «Am liebsten faulenzen». Florian Leu 71 die andere sichT Meine Spuren. Tom Shakespeare 72 leserbriefe 73 folio folies Gerhard Glück 74 Vorschau / impressum ausserdem GESuCHt: iHR BEStES RS-BilD! Für einen Rückblick im Internet, «Die RS im Wandel der Zeit», suchen wir nach RS-Fotos. Mailen Sie Ihr bestes Bild an [email protected]. Vermerken Sie Jahr, Ort und was auf dem Bild zu sehen ist. Sie können Ihr Bild auch per Post schicken: NZZ Folio, Stichwort RS, Postfach, 8021 Zürich. Schreiben Sie in diesem Fall die Angaben und Ihre Adresse auf die Rückseite des Bildes. Einsendeschluss: 18. März. NEuE Folio-WEBSitE Ende Februar haben wir die neue Folio-Website aufgeschaltet. Wir hoffen, unseren Online-Leserinnen und -Lesern gefallen die Neuerungen, das luftigere Layout und die grosszügigeren Bilder. So wie bei der NZZ ist auch beim Folio online nicht mehr alles gratis zu haben. Einige Schwerpunktartikel und Kolumnen bleiben frei zugänglich. Wer alles lesen oder auf das vollständige Archiv (seit 1991) zugreifen möchte, muss sich als NZZ- oder als Folio-Abonnent auf der Site einloggen. «NoMADE iM SPECk» In diesem Heft erscheint die erste Folge der Kolumne «Nomade im Speck». Der in Berlin lebende Schriftsteller Wiglaf Droste ist in Europa unterwegs. Wie es zu dieser Kolumne kam, kann man online auf unserer neuen Website lesen. Folio 3 / 2013 16 IN DER RS 21 Wochen unter Männern DAS SCHÖNE DAHER GENERATION EGO-SHOOTER WIR SIND KÄMPFER. PUNKT. EPILOG Folio 3 / 2013 18 In der rS Das schöne Daher Die Rekruten fassen ihre Waffe – sie lernen die Feinheiten des Gehens und Stehens kennen – es zeichnet sich ab, wer weitermachen wird und wer nicht – einer meint, es gebe zu viele Simulanten. Der erste Tag ist der letzte, an dem die Rekruten ihre private Uniform tragen. FolIo 3 / 2013 19 In der rS Einrücken – 15! 16! 17! 17! 16! 17! 18! 18! Montag, 12.März 2012, 10 Uhr morgens: In einem Zwölferschlag der Unterkunft 3 sitzen fünf junge Männer im Kampfanzug auf schmalen Betten und üben den bösen Blick. Sie sind nervös. Vermutlich nicht weniger nervös als die 550 Rekruten, die an diesem Tag in der Kaserne Neuchlen in der Nähe von Gossau einrücken. «Du musst strenger schauen», sagt Ramadani zu Guci, dem schon wieder ein gutmütiges Lächeln ins Gesicht zu schleichen droht. Ramadani macht es vor: der Ausdruck starr, die Augen kalt, kein Blinzeln. Die Abzeichen mit den drei dünnen diagonalen Strichen am Kämpfer verraten den militärischen Grad: Die fünf sind Obergefreite, angehende Wachtmeister (im alten System der Armee 95 wären sie Korporale gewesen). 17 Wochen ist es her, seit sie selber mit der Rekrutenschule begonnen haben, in gut einer Stunde werden sie Vorgesetzte sein: Der gutmütige Guci, Detailhandelsverkäufer; der selbstsichere Sherifi, Profiboxer; der zackige Ramadani, Kaufmann, mit 19 Jahren der Jüngste; der ruhige Collorafi, ebenfalls Kaufmann; und der glatzköpfige Zumbach, Strassenbauer. Sie sind die Gruppenführer des Zugs Bivio der 2.Kompanie der Infanterie-RS 11. Heute werden sie auf dem Kasernenhof erstmals den jungen Männern gegenüberstehen, die sie 21 Wochen lang «führen, ausbilden und erziehen» sollen, so lautet der Auftrag. Doch wie sollen sie sich den Rekruten überhaupt vorstellen? Den Vornamen nennen oder nicht? Etwas Persönliches erwähnen, das Alter vielleicht oder den Beruf? Sherifi, der Profiboxer, schlägt vor, ein paar Hobbies anzugeben, die die Neulinge einschüchtern werden, «Marschieren» oder «Seckle» zum Beispiel, denn der erste Eindruck, da sind sich alle einig, entscheidet, ob die Rekruten sie als Chefs respektieren oder nicht. Ihre direkten Vorgesetzten, die Zugführer Giovanoli und Brügger, haben die fünf Obergefreiten im Kadervorbereitungskurs in der Woche zuvor kennengelernt, und um den einen rankt sich bereits ein Mythos: Oberwachtmeister Giovanoli sei nämlich der einzige Zugführer gewesen, der sich den Zug Bivio zugetraut habe. Als die Namen der Gruppenführer, also Collorafi, Guci, Ramadani, Sherifi, Zumbach, bekannt wurden, wollte keiner einen Zug, in dem nur ein einziger Obergefreiter Schweizer ist – obwohl natürlich alle Obergefreiten Schweizer sind, sonst wären sie ja nicht beim Militär. Aber vier von fünf haben einen «Migrationshintergrund», wie es offiziell heisst – inoffiziell sind sie «keine Eidgenossen». Ramadani und Sherifi kommen aus Kosovo, Guci ist Albaner, Collorafi hat arabische und italienische Wurzeln. Und so war es still im Saal, als es um den Zug Bivio ging, bis schliesslich Oberwachtmeister Giovanoli vortrat, der keineswegs als Freund alles Multikulturellen aufgefallen war, und sagte, er übernehme den «Balkanzug». So berichten es die Obergefreiten, voller Stolz und Anerkennung für ihren Zugführer. Giovanoli selbst wird die Geschichte später ein bisschen anders erzählen. In diesem Moment aber hat der Oberwachtmeister keine Zeit für Erklärungen. Giovanoli nimmt die neuen Rekruten in Empfang. Der gelernte Koch steht in der Turnhalle der Kaserne Neuchlen, die sich ab zehn Uhr mit jungen Männern füllt. Die meisten sind mit dem Zug angereist und dann im Shuttlebus vom Bahnhof Gossau hinauf zur Kaserne gefahren, manche sind mit dem eigenen Auto da, einige wurden von der Freundin gebracht, ein paar von Mami oder Papi. In den Sporttaschen, die sie über der Schulter tragen, oder im Rollköfferchen, das sie hinter sich herziehen, müssten sich laut Merkliste 2 Waschlappen, 2 Handtücher, 2 Paar wollene feldgraue, dunkelblaue oder schwarze Socken und 1 Paar unauffällige zivile Schaft- oder Halbschuhe befinden. Nachdem die Rekruten Dienstbüchlein und Marschbefehl vorgelegt haben, sitzen sie geordnet nach vier Zügen und in Sechserreihen auf dem Turnhallenboden. Die Züge, die zusammen eine Kompanie bilden, heissen Amboss, Bivio, Canale und Dimitri. Das Zivilleben ist vorbei. Wer jetzt noch einmal hinauswill, ob zum Rauchen oder Pinkeln, muss sich beim Zugführer abmelden. Doch noch sind sie alle in ihre private Uniform gekleidet, Kapuzenpulli, tiefsitzende Jeans, Turnschuhe, und noch tragen sie einen Vornamen: Der grossgewachsene Brillenträger etwa heisst Levi Zehnder, ein Maturand aus Wädenswil. Im Herbst, wenn die RS vorbei sei, werde er mit dem Medizinstudium beginnen, sagt er, deshalb wollte er zuerst zu den Sanitätstruppen, aber: «Ich dachte mir, wenn schon Militär, dann richtig.» Levi Zehnder wird noch überragt von Robin Brasch, einem jungen Mann mit auffallend langen Haaren unter all den vorsorglich kurzgeschorenen Köpfen. Brasch arbeitet als Maurer auf dem Bau und hat: «Null Erwartungen, null Gefühle, null Hoffnungen für die RS.» Es ist zehn nach elf, als ein Bär von einem Mann ans Rednerpult auf der Galerie tritt: Der Kommandant der Infanterie-Rekrutenschule 11, Oberst im Generalstab Ronald Drexel, begrüsst die Rekruten. «Verständlicherweise», ruft er über das Heer strammstehender Männer, «ist das Einrücken mit gemischten Gefühlen verbunden.» Oberst Drexel wählt markige Worte, um zu begründen, warum die persönliche Freiheit des Einzelnen ab sofort eingeschränkt sei, er verkündet die drei wichtigsten Regeln, erstens: Die Armee solle ein positives Erlebnis sein, zweitens: Kameradschaft und Respekt seien wichtig, drittens: Der Dienstbetrieb sei klar geregelt. Und als er mit «hiermit ist die Inf RS eröffnet!» schliesst, brandet Applaus auf. «Das ist heute halt so», sagt er danach schulterzuckend, «sobald einer etwas sagt, wird geklatscht.» Oberst Drexel befehligt eine von sieben Infanterie-Rekrutenschulen in der Schweiz, in denen jährlich über 6000 Rekruten und 1000 Unteroffiziere und Offiziere ausgebildet werden. Was die Rekruten am ersten Nachmittag auf dem Kasernenhof an «formeller Ausbildung» lernen, ist Folgendes: Die Achtungsstellung mit den Füssen in einem 60-Grad-Winkel. Das korrekte An- und Abmelden. Das gleichmässig schöne Daher: die Aufstellung im Halbkreis um den Vorgesetzten. Die 24 militärischen Dienstgrade: Soldat, Obergefreiter, Wachtmeister, Oberwachtmeister, Leutnant, Oberleutnant, Hauptmann – bis hoch zum General. Ausserdem lernen die Rekruten, dass im Militär zwei immer zwo heisst und dass das Dezimalsystem nicht gilt, sobald es um Liegestütze geht. «14! 15! 16! 16!» brüllt der Obergefreite Zumbach, der mitmacht und sich locker auf und ab stemmt, während den Männern um ihn herum bereits die Arme zittern. «17! 18! 16! 17! 18! 18!» Die 33 Rekruten, die im Moment den Zug Bivio bilden, sind auf die fünf Gruppenführer aufgeteilt worden. Als die sich vorstellten, war nichts mehr von der Nervosität vom Morgen zu spüren. Für den Satz «Ramadani, Obergefreiter, von Buchs, mehr müssen Sie nicht wissen», entschied sich der eine, der andere sagte: «Sherifi, Profiboxer, Hobbies Sport, Kampfsport. Ich verlange Teamgeist, Willen, FolIo 3 / 2013 20 In der rS Oberst im Generalstab Drexel: «Manne, Sie haben Ja gesagt zur Armee!» Zuverlässigkeit. Fertig.» Stundenlang hallen die Kommandos über den Kasernenhof, hinter jedem Wort steht nun ein Ausrufezeichen. «Seckle!» ruft der eine Obergefreite, und sein Trüppchen trabt quer über den Platz, «Daher!» schreit der zweite, und die Rekruten strömen zu ihm, als sei er ein Magnet, «Achtung!» brüllt der dritte, und die Gruppe steht stramm. Zwischendurch wird jeder Rekrut in die Unterkunft 3 geschickt, wo Zugführer Giovanoli seine Leute kennenlernen will, im Erdgeschoss neben dem Trog, in dem die Kampfstiefel gewaschen werden. Name, Wohnort, Hobbies, Einstellung zum Militär und für den Notfall die Telefonnummer der Angehörigen: All das fragt der Oberwachtmeister jeden und korrigiert freundlich, wenn einer beim An- oder Abmelden einen Fehler macht. Rekrut Sanchez zum Beispiel, der vor lauter Nervosität eine Gefechtsmeldung durchgibt, statt sich anzumelden. Sport erwähnt jeder der 33 jungen Männer als Hobby, dem Militär stehen sie «normal» bis «positiv» gegenüber. Einer schleppt sich hinkend vor den Oberwachtmeister, ein klarer Fall für die Arztvisite. Im schweizerischen Schnitt wird ungefähr jeder zehnte, der am ersten Tag zur Arztvisite geht, wieder nach Hause geschickt. Auch Rekrut von Niederhäusern, Fussballprofi aus Winterthur, bereitet seinen Abgang vor. Er habe eine gute Einstellung zum Militär, versichert er. «Aber ich weiss nicht, ob ich die RS mit meinem Rücken durchziehen kann.» Zum Arztbesuch hat er sich schon angemeldet. Etwa fünfzig Rekruten sind mit einem Umschlag eingerückt. Darin stecken Atteste, Röntgenbilder, Zweitmeinungen. Es sind Tickets in die Freiheit. Für diese Männer ist Oberwachtmeister Wipfli zuständig. Ein Kamerad von Wipfli führt die Männer aus der Turnhalle. Der Himmel ist wolkenverhangen. Wipfli stapft den Rekruten breitbeinig hinterher und schaut, dass keiner verloren geht. In einem Nebengebäude reihen sie sich auf zu einer Galerie der Leidensmienen. Einer hat beim Eishockey den Kiefer gebrochen, einer hat beim Snowboarden eine Drehung versucht. Einer ist vom Dach gestürzt, einer hat Augenringe wie ein Trinker und spricht von «psychischen Problemen». Einer hat eine krumme Wirbelsäule, und einer war auf Sauftour im Niederdorf, da kreuzten ein paar Typen auf, und er kriegte ein paar Fäuste ins Gesicht. Tauglich ist, gemäss Artikel 2 der Verordnung aus dem Jahr 2004, wer «körperlich, geistig und psychisch den Anforderungen des Militär- beziehungsweise Schutzdienstes genügt und bei der Erfüllung dieser Anforderungen weder die eigene Gesundheit noch diejenige Dritter gefährdet». Tauglich waren in den letzten fünf Jahren konstant um die 65 Prozent für den Militärdienst, weitere 15 Prozent für den Zivilschutz. Aber nicht alle Militärdiensttauglichen rücken auch ein: Etwa 10 Prozent entscheiden sich für den Zivildienst, der anderthalbmal so lang dauert. Seit 2009 müssen Gewissenskonflikte nicht mehr ausführlich begründet werden. Am höchsten ist die Tauglichkeitsquote in den ländlichen Kantonen der Zentral- und Ostschweiz, am niedrigsten in der Stadt Zürich: Da sind nur gut die Hälfte der jungen Männer fit fürs Militär. Erstaunlich oft sind es Sportler, die bei der Rekrutierung untauglich geschrieben werden. Roger Federer wurde ebenso wenig zugetraut, einen Rucksack zu tragen, wie Stéphane Lambiel, dem Weltmeister im Eiskunstlauf. Rekrut von Niederhäusern, der Fussballer mit dem empfindlichen Rücken, wird es ebenfalls schaffen, wegzukommen – wenn auch erst in der fünften RS-Woche. Nach der Konsultation beim Truppenarzt verabschieden sich etwa die FolIo 3 / 2013 21 In der rS Oberwachtmeister Brügger und Giovanoli: «Der Zug Bivio ist der beste Zug.» Hälfte vom Militär, sie ziehen munter ihr Rollköfferchen über den Exerzierplatz und wirken wie Touristen auf Abwegen. Jene, die nicht abgeholt werden, dürfen in einen Militärwagen steigen und dort noch eine halbe Stunde frieren, dann werden auch sie zum Bahn hof in Gossau chauffiert. Wer in die Gesichter im Halbdunkel des Wagens schaut, weiss, wie Erleichterung aussieht. Aber der mit dem Asthma, der mit der Lungenentzündung, der mit der krummen Wirbelsäule: Sie alle müssen – zumindest vorerst – bleiben. Am späten Nachmittag sitzen die Rekruten im Kasernenaudito rium und erholen sich vom Herumgerenne und den endlosen Lie gestützen auf dem Kasernenplatz. Oberst Drexel hat vorne in seiner ganzen Körperlänge von 1 Meter 94 Position bezogen, während Hauptadjutant Hösli sich noch am Laptop zu schaffen macht. Doch der Oberst mag nicht warten und legt los, lautstark, in urchigem Appenzellerdialekt: «Sie haben Ja gesagt zur Armee. Sie haben sich entschieden, Infanterist zu werden. Dazu gratuliere ich Ihnen. Man ne, das war ein guter Entscheid!» Oberst Drexel spricht die Rekruten vorzugsweise als «Manne» an, manchmal als «Herre». In seiner lau nigen, von Hauptadjutant Hösli mit Grafiken und Fotos begleiteten Rede skizziert er, was die Rekruten erwartet: «Manne, die nächsten 21 Wochen werden kein Zuckerschlecken.» In den ersten sieben Wochen geht es um die allgemeine Grund ausbildung: das Exerzieren, das Marschieren im Verband, das Salu tieren, den ABCSchutz, die erste Hilfe am Kameraden. Vor allem aber werden die Rekruten den Gebrauch des Sturmgewehrs erler nen. Jetzt wird der Oberst pathetisch: «Manne, das ist die Waffe, die Sie dank dem Vertrauen des Volkes nach Hause nehmen dürfen. Diese Waffe müssen Sie beherrschen! An dieser Waffe werden wir Sie drillen! Da werden wir Sie plagen!» In der funktionsbezogenen Grundausbildung von der 8. bis zur 13.Woche werden die Rekruten mit der Panzerfaust, dem leichten Maschinengewehr, dem Sprengen mit Trotyl und Plastit vertraut gemacht. Im letzten Drittel der RS soll es dann in Übungseinsätzen richtig zur Sache gehen. Als Hö hepunkt nennt Drexel die Durchhalteübung in der 19.Woche. Viel Leistung, viel Erlebnis und wenig Schlaf, verspricht er. «Sitzen Sie bequem?» fährt der Oberst mitten in seinem Vortrag einen Rekruten an. «Hier kann man sich nicht hinlümmeln wie in der Schule!» Der Rekrut zuckt zusammen, läuft rot an und richtet sich auf, als hätte er einen Bolzen im Rücken. Drexel mag es nicht, wenn einer krumm dasitzt. Loyalität, Treue, Wille – das erwarte er von allen, sagt der Kommandant. «Es soll ja Leute geben, die ab und zu eins kiffen», fährt er fort und schaut leicht bekümmert in die Runde. «Ich sage es Ihnen ein für alle Mal: Das ist hier verboten. Da herrscht bei uns Nulltoleranz!» Beim Alkohol gelte während der Arbeitszeit die 0,0PromilleRegelung. Es habe jedoch niemand etwas dagegen, wenn einer im Ausgang ein «Alpenbitterli» zu viel erwische, er müsse nur darauf achten, dass er sauber nach Hause komme. Die Verhaltens und Tenueregeln gelten im übrigen auch im Ausgang und im Urlaub. «Morgen erhalten Sie die Uniform. Egal, welches Tenue Sie tragen, es muss korrekt sein.» Im Zeughaus – Hosen in 120 Grössen (W 1) Rekrut Brasch trägt ein letztes Mal seine Daunenjacke mit dem Pelz kragen, als er sich am frühen Nachmittag des zweiten Tages in die lange Reihe auf dem Platz vor dem Zeughaus von St.Gallen stellt. Brasch, der Maurer, hat ein Flair für modische Klamotten. Aber auch FolIo 3 / 2013 22 In der rS Kopf hoch, Brust raus, die Hände auf dem Rücken: Der Zug Bivio im Daher. dem Tarnanzug kann er etwas abgewinnen: «Sieht irgendwie cool aus.» Vor vier Wochen ist aus Hinwil das persönliche Material für über 600 Rekruten ins Zeughaus geliefert worden. Vier Bahnwagen mit je 30 Paletten, Tonnen von Material: Tarnanzüge, Ausgangsanzüge, Schutzanzüge, Unterwäsche, Schuhe, Kopfbedeckungen, Handschuhe. Dazu kommen die Gepäckstücke, in denen man sie verstaut: Taschen, Rucksäcke, Rollkoffer. Um alles effizient zu verteilen, hat der Chef der Materialverwaltung im Zeughaus einen Parcours eingerichtet. An verschiedenen Posten «fassen» die Rekruten ihre Ausrüstung, wie es im Militärjargon heisst. Am ersten Posten wird jeder vermessen: Bundweite, Schrittlänge, Kragen- und Oberweite, Kopfumfang. Ein Zeughausmitarbeiter schreibt die Zahlen auf einen Zettel und reicht ihn weiter zum zweiten Posten, wo Jacke und Hose des Tenues B ausgehändigt werden. Rekrut Brasch ist gross und kräftig, mit den üblichen Proportionen. Die Uniform sitzt ihm perfekt. Er geht weiter und fasst Kälteschutzjacke, Tricothemden, Funktionsunterwäsche, Béret, Schirmmütze, Rollmütze, Regenschutzhut; zuletzt erhält er das Tenue A, die Ausgangsuniform mit Veston, hellgrauem Hemd und Krawatte. Es gibt die Kleider in allen Kombinationen von Bundweiten und Schrittlängen, Taillierungen und Ärmellängen – allein bei den Hosen 120 Anfertigungen, Hosen für Lange und Dicke, für Lange und Dünne, Kurze und Dicke, Kurze und Dünne. «Wenn einer nicht grösser ist als 1 Meter 95 und nicht schwerer als 130 Kilo, haben wir etwas für ihn auf Lager», sagt der Materialverwalter. Andernfalls seien Massanfertigungen möglich. Dafür steht im Zeughaus ein Body-Scanner. Die Massuniform wird von einer Firma in Aarburg genäht und kann innert weniger Tage geliefert werden. Doch bei dieser RS bewegen sich alle im physischen Normalbereich. In der Schweiz wird nur noch ein kleiner Teil der Armeeausrüstung hergestellt. Die Bekleidung kommt aus Osteuropa, aus der Türkei, aus China. Bei den «Packungen» ist der Selbstversorgungsgrad höher. Die Firma Pfäffli produziert einen wesentlichen Teil der Gepäckstücke, die Effektentaschen werden im Kanton Uri in Heimarbeit hergestellt. Am letzten Posten erhalten die Rekruten die Transporttasche mit Rollen, in der sie erst einmal das ganze Material verstauen können. Die graue Fleecejacke, die Boxershorts und die Long Pants, die Fingerhandschuhe, die Regenschutzjacke, die Regenschutzhose, die Kapuze. Und dann bekommt jeder noch sein Namensschild, das mit einem Klettverschluss auf der linken Brust befestigt wird. Frisch eingekleidet versammeln sich die Rekruten hinter dem Zeughaus. Es ist ein sonniger Frühlingstag, aber die Luft ist noch frisch. Rekrut Parisi, ein Secondo aus Apulien, zieht sich die Rollmütze über, Rekrut Brasch setzt sich die Schiebermütze auf. Vor der Rückfahrt in die Kaserne studieren die Rekruten das Reglement 51.009 d mit den Tenuevorschriften: «Beim Tenue A leicht darf ohne Krawatte nur das Kurzarmhemd getragen werden.» «Es ist zu beachten, dass beim Tragen von Kampfstiefeln das Beinelastic immer verwendet wird. Das Tragen der Hosen ‹lang› ist nicht gestattet.» Nicht befohlen, bloss empfohlen wird, was man in welcher Tasche verstauen soll: Karten und Reglemente in die linke Beintasche, reflektierende Beinstulpe und Notizmaterial in die rechte, Taschenmesser und Gehörschutzpfropfen in die Oberarmtasche FolIo 3 / 2013 24 In der rS Die Obergefreiten Sherifi, Zumbach, Guci und Ramadani bei der Befehlsausgabe des Zugführers. rechts. Am intensivsten werden sich die Rekruten in den nächsten Tagen mit dem Kapitel «Instandhaltung» beschäftigen, in dem es darum geht, wie man den Tarnanzug mit der Kleiderbürste reinigt und die Kampfstiefel putzt, eincremt und poliert. Denn die werden sie schon bald schmutzig machen. Das Gewehr – eine Freundin fürs Leben (W 1) Seit vier Tagen sind sie hier, doch bereits fällt es schwer, sie auseinanderzuhalten, man sieht fast nur noch Igelfrisuren. Die Sonne scheint warm auf den Kasernenhof. Es ist ein schöner Tag, ein besonderer Tag: Heute bekommen die Rekruten ihr Gewehr. Vor der Kaserne stehen zwei Panzer, an der Kaserne hängen zwei Schweizer Fahnen, am Eingang warten der Kompaniekommandant Oberleutnant Dubois-dit-Bonclaude und der Fähnrich. Auf dem Exerzierplatz stehen die Rekruten in Einerkolonne wie ein Tatzelwurm in Tarnfarben. Im Hintergrund sind Handlanger am Werk und reichen die Gewehre nach vorn, in der Soldatensprache auch bekannt als Guuge, Flöte, Föhn oder Speuzi. Manche Rekruten schreiten entschlossen nach vorn, andere watscheln unbeholfen zwischen den Panzern hindurch. Der Kompaniekommandant blickt unter seinem Béret jeden gleich streng an und scheint seinen Torso aufzuplustern, während er jedem mit dem gleichen Satz das Gewehr aushändigt: «Ich überreiche Ihnen (Pause) Ihre persönliche Waffe!» Zigarettenpause. Wegen der Bise stehen die Raucher eng beisammen. Einer sagt: «Ich habe mich in diesen vier Tagen sicher schon dreihundert Mal gefragt, was ich hier mache. Mindestens.» Antwort: «Das darfst du eben nicht.» Dann brüllt jemand ein Kommando. Die Rekruten laufen zu ihren Obergefreiten, die ihnen den Umgang mit der Dienstwaffe erklären. Obergefreiter Sherifi, breite Schultern, breites Lächeln, sagt seinen Schützlingen: «Dieses Gewehr ist in den nächsten zwanzig Wochen Ihre Freundin. Seien Sie gut zu ihr!» Nach der RS werden die Soldaten ihre Freundin mit nach Hause nehmen – ein Unikum, mit dem die Volksinitiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» Schluss machen wollte. Ausserhalb der Dienstzeit hätten die Armeewaffen im Zeughaus deponiert werden sollen. Das Stimmvolk wollte das nicht, die Initiative wurde 2011 abgelehnt. Kernkompetenzen – Marschieren, Exerzieren (W 2) Wie eine Erscheinung tauchen sie in dieser sternenlosen Märznacht plötzlich aus der Kurve auf: in Einerkolonne, stumm, die Gesichter unter der Tarnfarbe nicht zu erkennen, sie marschieren diszipliniert und schnell, nur das Trappeln der Gummisohlen ihrer Kampfstiefel ist zu hören, dann verschluckt sie die Dunkelheit wieder. Hauptmann Hofmann wendet sich ab. «Der Zug Bivio ist gut unterwegs», sagt er; ausser dass einer seine Leuchtgamasche nicht trug, hat er nichts auszusetzen. Hofmann ist Berufsoffizier und verantwortlich für die 2.Kompanie, als Vorgesetzter von Oberleutnant Dubois-ditBonclaude. Hofmann steigt in seinen Skoda und fährt zum nächsten Kontrollpunkt. Es ist eine milde Nacht, eine Nacht, in der die Frösche wandern. Zu Dutzenden überqueren sie die schmalen Strassen auf dem Gelände des Waffenplatzes, Hofmann fährt Slalom, um ihnen auszuweichen. «Die Frösche kommen nur raus, wenn es wärmer ist FolIo 3 / 2013 26 In der rS Nur in den Pausen dürfen sie rauchen und SMS schreiben. als fünf Grad», sagt er. Es ist die zweite RS-Woche. Der erste Marsch der Rekruten führt über sieben Kilometer, weitere, längere Märsche werden folgen, als Krönung wartet jener über fünfzig Kilometer. Bei dem der Zug Bivio weniger gut abschneiden wird. Zurück auf dem Kasernenhof, lobt Giovanoli seinen Zug – «Ich bin stolz auf Sie!» –, und dann geht es gleich ans Putzen des Gewehrs und der Schuhe. Mit dem Holzschaber kratzen die Rekruten den Dreck aus dem Sohlenprofil und schmieren Wichse auf die Stiefel – bei manchen ist die Tube nach einer Woche schon fast leer. Nach dem Duschen bekommen sie im Esssaal noch Doughnuts und Tee. Was die Rekruten beklagen, sind nicht die müden Füsse, sondern dass sie zu wenig Schlaf haben. Heute werden sie gegen Mitternacht ins Bett kommen, morgen ist um 5 Uhr 15 schon wieder Tagwache, so wie jeden Tag. Im Arbeitsplan ist Ausschlafen nicht vorgesehen. Für Mittag- und Abendessen wird je eine halbe Stunde veranschlagt, in der Regel einmal pro Woche gibt es für die Rekruten einen langen Ausgang von 19 bis 23 Uhr. Laut einer Untersuchung des psychologisch-pädagogischen Diensts der Armee ist Müdigkeit in den ersten RS-Wochen der zweithäufigste Stressfaktor, nach der Abwesenheit von Partnerin oder Familie. Auf Platz 3 und 4 folgen das Einrücken nach dem Urlaub am Wochenende und das Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten. «Es ist alles bloss Kopfsache», sagt Oberwachtmeister Brügger, der mit Giovanoli zusammen den Zug Bivio führt. «Mit der richtigen Einstellung erträgt jeder die körperlichen Strapazen.» Aber auch er kennt Momente, in denen er sich fragt: «Wieso machst du das?» Jeder Rekrut stellt sich im Verlauf der 21 Wochen die Sinnfrage. Wer sie kategorisch verneint, hat bestimmt einen Weg gefunden, nicht hier sein zu müssen. Jene 50 bis 60 Prozent der jungen Männer, die überhaupt Dienst leisten, beantworten sie meist mit einem Schulterzucken: Es brauche halt eine Armee. In den Theoriestunden bestätigen ihnen die Berufsoffiziere, was sie sowieso schon wissen: Ein militärischer Angriff auf die Schweiz ist sehr unwahrscheinlich. Aber wie jedes Land hat die Schweiz ein Sicherheitssystem, und die Armee ist das Instrument, das in Krisen und Notlagen einsatzbereit ist, sei es bei Anschlägen von Terroristen oder bei Naturkatastrophen. Bei den Überschwemmungen in Brig 1993 sorgte die Armee unter anderem dafür, dass es nicht zu Plünderungen kam. Mit Beispielen wie diesem erklärt Hauptmann Hofmann seinen Rekruten, warum sie hier sind. Grundsätzlichen Widerspruch erntet er kaum je. «Ideologie», sagt er, «ist kein Thema mehr.» Aber auch wenn sich die Bedrohungen verändert haben: Kernkompetenz des Infanteristen bleibt das Schiessen und Marschieren. Und zum Beispiel dies: Vorsichtig bewegt sich ein Rekrut über eine Wiese, das Gewehr in beiden Händen, sein Blick sucht allfällige Feinde (Schützenschritt). «Kontakt vorne!» brüllt plötzlich der Obergefreite Sherifi, «Kontakt vorne!» Der Rekrut hechtet ins Gras (Schützensprung), rollt einen halben Meter zur Seite und robbt dann, das Gewehr immer noch in beiden Händen, auf Ellbogen und Knien (Kriechen) zur nächsten Deckung – «Los, los! Beissen, beissen!» schreit Sherifi – und gibt imaginäre Schüsse auf den imaginären Feind ab: «Bämbämbäm!» Oder zum Beispiel das: Auf einer Blache schleift ein Rekrut einen verwundeten Kameraden in Deckung. Der Kleinste der Gruppe versucht es mit dem Schwersten und bleibt prompt an einem Abhang stecken. Der Obergefreite Zumbach übernimmt, mit einem FolIo 3 / 2013 27 In der rS Festessen beim Biwak: Forelle im WC-Papiermantel. ruckartigen Kraftakt zerrt er den Brocken ins Ziel und schreit: «Was haben denn Sie heute gefressen!» Und was der Infanterist natürlich auch lernen muss: in der Zugschule exerzieren, im Gleichschritt marschieren, Viererkolonne, Richtung: rechts, zwomal Richtung: links. Oberwachtmeister Giovanoli zeigt mit seinem Zug das Programm, das der Oberst an der Inspektion verlangen wird, Hauptmann Hofmann bemängelt anschliessend, dass es an der Besammlungsübung auf zwo Gliedern eine Banane gab, dass die Daumenposition bei der Achtungsstellung nicht bei allen korrekt war. Gut gefallen haben ihm Kadenz und Schrittlänge beim Marschieren. Und für jene, die nicht wissen, wozu das Ganze gut sein soll, erklärt es Hofmann noch mal: «Mit der Zugschule können wir die drei Ureigenschaften des Infanteristen überprüfen. Erstens: Der Infanterist muss zu sich selber schauen können, das Tenue ist korrekt, der Fusswinkel stimmt, ich bin mental bereit. Zwotens: Er muss auf die Kameraden links und rechts und vorne schauen, ich bin sauber ausgerichtet. Drittens: Er muss auf den Chef hören, die Anweisungen befolgen.» Im Wald – Biwakieren geht über Studieren (W 3) Hauptmann Hofmann, das Béret in perfekter Schräglage, die Rasur makellos, fährt in den Wald hinter der Kaserne. Mit den meisten Rekruten hat er in seinem Büro bereits über ihre Zukunft bei der Armee gesprochen. Heute befragt er die letzten während einer Übung. Er will herausfinden, wer als Kaderkandidat in Frage komme. Der Entscheid fällt dann nach einem vertieften Gespräch in der sechsten RS-Woche. Schon in der elften Woche verlassen die Anwärter ihren Zug, um in der Infanterie-RS 12 in Chur zum Unteroffizier ausgebildet zu werden. Dort werden sie danach bald als Vorgesetzte vor neuen Rekruten stehen. «Lehrlinge bilden Lehrlinge aus» lautet dieses alte Prinzip in der Armee. Als Hofmann im Wald eintrifft, versuchen sich die Rekruten gerade im Biwakieren. Die Zelte klappen dauernd zusammen; das Feuer, das sie in einem Erdloch entfacht haben, will nicht recht brennen. Ratloses Herumstehen im Rauch. Hofmann gibt Ratschläge und schickt nach dem ersten Rekruten. Eine Minute später erscheint ein grosser, dünner Junge und hebt die rechte Hand zur Schläfe. Hofmann weist darauf hin, dass sich der Rekrut zu nah vor ihm aufgestellt habe: «Drei Meter Abstand!» Der Rekrut tritt zurück, salutiert erneut, dann beginnt das Gespräch. Hofmann will wissen, ob der Rekrut Nachwehen vom gestrigen 10-Kilometer-Marsch verspüre, und gibt ihm einen Tip gegen Blasen: «Die Socken sind ausschlaggebend!» Dann kommt er zur Sache. «Ich will Sie ein bisschen kennenlernen und stelle Ihnen zu diesem Zweck ein paar Fragen. Die erste ist die nach Ihrem Jahrgang.» – «Das ist der 20.9.91.» – «Nächste Frage: Was kommt Ihnen zur Armee und zur Schweiz in den Sinn? Was haben Sie für eine Einstellung?» – (Schulterzucken) «Neutral.» Nachdem der Rekrut abgetreten ist, notiert Hofmann in seinem Ordner, dass bei dem nichts zu machen sei. Erstens, weil seine Firma ihn gerade befördert hat und er ein berufsbegleitendes Studium an einer Fachhochschule aufnimmt. Zweitens, weil seine Einstellung zum Militär über «Neutralität» nicht hinausreicht. Hofmann schickt nach dem nächsten Rekruten. Eigentlich kann er jeden zwingen, länger als 21 Wochen zu bleiben. Aber er tut es selten. Viele brauche er nur ein bisschen anzustacheln, ihnen unter anderem die finanziellen Vorteile zu schildern, die der Dienst mit sich bringe, dann schwenkten sie um. FolIo 3 / 2013 28 In der rS Um das Weitermachen attraktiver zu machen, wird im Auftrag des Armeechefs an Ideen gefeilt. Die Vorschläge sind umstritten. Vorgesehen wäre zum Beispiel, für Nachwuchskader ein Bildungskonto einzurichten, auf das sie nach dem Dienst zugreifen könnten: für die Studiengebühren, einen Sprachaufenthalt, eine Weiterbildung im Beruf. Daneben sollen die Hochschulen Leistungen, die im Militär erbracht werden, als Punkte verbuchen. Die Uni St.Gallen tut das bereits. Die Zugführer, die hinter Hofmanns Rücken noch immer die Kunst des Biwaks lehren, sammeln gleichzeitig ECTS-Punkte für ein allfälliges Studium in Betriebswirtschaft. Biwakieren geht über Studieren. Der nächste Rekrut salutiert, steht stramm und wartet, bis Hofmann das Gespräch beginnt. «Eine wichtige Frage ist die zu Ihrer Einstellung zur Armee und zur Schweiz.» – «Zur Armee? Ja was soll ich dazu sagen? (Pause) Weiss doch auch nicht, was ich dazu sagen soll. (Pause) Das ist echt schwierig.» – «Sehen Sie ein, dass es sie braucht? Oder sagen Sie: Das sehe ich überhaupt nicht ein?» – «Also, es gibt gute Sachen und schlechte Sachen. Man lernt ein bisschen Ordnung und so. Aber an einen Marsch zu müssen und dann am nächsten Morgen so früh geweckt zu werden und der ganze Stress. Auch heute zum Beispiel, ich meine die ganze Hetzerei. Da habe ich gedacht: Wofür eigentlich?» – «Okay. Und zur Schweiz?» – «Weiss auch nicht. (Pause) Ist gut.» Hofmann macht wieder ein paar Notizen in sein Formular und sagt: «Ausgeschlossen.» Der Rekrut hatte, als Hofmann ihn nach Vorstrafen befragte, ohne Umschweife gesagt, dass er wegen Erpressung, Nötigung und Morddrohung vorbestraft sei. Darum wird sein Berufswunsch – Polizist – nicht in Erfüllung gehen. Und darum sei es natürlich auch unmöglich, ihn zu befördern, sagt Hofmann. Obwohl er eigentlich ein flotter Kerl sei. Rekrut Zehnder: Kadermaterial. Übung Sunrise – Biss bis zum Morgengrauen (W 6) Kurz vor zwei Uhr morgens steuert Rekrut Zehnder den Posten 11 an, der laut Karte am Rand des Waldstücks Wissholz liegen müsste. Zu den ersten der 14 Posten des Orientierungslaufs ist er gerannt, nun aber scheint die Vollpackung, Rucksack, Helm, Sturmgewehr, mit jeder Minute schwerer zu wiegen. Trotzdem: Zehnder schreitet auch nach vier Stunden zügig durch die Dunkelheit. Seine Leistung ist bereits wieder überdurchschnittlich, obwohl er gerade noch mit dem Gedanken gespielt hatte, sich bei der Übung Sunrise ungeschickt und langsam anzustellen. Denn in dieser Nacht ist nur die zukünftige Elite des Militärs unterwegs – jene fünfzig Rekruten aus der ganzen Rekrutenschule 11, die für eine Offizierslaufbahn in Frage kommen. Auch Rekrut Sanchez trabt zielstrebig durch den schwarzen Wald. Er stempelt den Posten 14 ab und rennt dann sofort zurück zur Kaserne, um sich im Filmsaal der nächsten Aufgabe zu stellen. Rennen, Tests am Computer lösen, rennen – so geht das schon die ganze Nacht. Man will prüfen, wer den Strapazen einer Offiziersausbildung gewachsen ist. Nicht alle fünfzig Rekruten, die bei der Übung Sunrise dabei sind, werden später den Vorschlag zum Offizier bekommen. Etwa zehn fallen aus dem Rennen. Vielleicht jener Rekrut, der sich gleich zu Beginn im Wald verlaufen hat? Oder jener, der seine Karte nicht mit der Zange gelocht hat, weil er dachte, durch blosses Berühren des Holzpfostens werde ein Signal an die Zentrale gesendet? Sanchez und Zehnder, beide aus dem Zug Bivio, beide auf dem Weg zum Offizier, und doch könnten sie kaum unterschiedlicher sein: Sanchez, ein gelernter Gärtner, der nun im Sicherheitsdienst arbeitet, hat sich nämlich auf das Militär gefreut. Das war nicht immer so, vor zwei Jahren war er noch dagegen, aber ein Kollege hat ihn umgestimmt. Und jetzt möchte er unbedingt Offizier werden, auch für den Job könnte ihm das nützlich sein. Aber das Lernen fällt ihm nicht leicht. Wenn die andern in den Ausgang gehen, bleibt er auf dem Zimmer und studiert die Reglemente. Zehnder hingegen wollte nie weitermachen. Der Maturand hatte geplant, im Herbst mit dem Medizinstudium zu beginnen, ausserdem nervt ihn die RS, diese «Tubelischule», in der alles fünfmal erklärt wird, bis der allerletzte es begriffen hat. Doch als Zehnder sich bei der Aushebung zur Infanterie einteilen liess, weil er die sportliche Herausforderung suchte, hatte er etwas nicht bedacht: Er ist in dieser Rekrutenschule voller Handwerker und Verkäufer einer der wenigen mit Matur – das macht ihn automatisch zu Kadermaterial. Als Hauptmann Hofmann ihm beim Gespräch in der vierten Woche eröffnete, dass man ihn mindestens bis zum Unteroffizier zwingen könne, wollte er «auf Psycho machen», um den Studienanfang nicht zu verpassen. Doch er schafft es einfach nicht, nicht sein Bestes zu geben. Auch diesmal nicht. «Und wenn ich schon ein Zwischenjahr einschalten muss», sagt er fast entschuldigend und leuchtet mit der Taschenlampe auf die eingeschweisste OL-Karte, «dann kann ich auch gleich Offizier werden und in diesem Jahr wenigstens Geld fürs Studium sparen.» Vor der Armeereform 2003 dauerte es mit Unterbrechungen 66 Wochen, bis einer Leutnant war. Heute sind es 52 Wochen am Stück. Fast 48 000 Franken verdient einer in dieser Zeit – das ist viel Geld für einen zukünftigen Studenten. Ausserdem ist Zehnders Mutter ziemlich stolz auf ihren Sohn. FolIo 3 / 2013 Nachtübung: In der Rekrutenschule gibt es keine Bürozeiten. 30 In der rS Vier Stunden zuvor hatte die Übung Sunrise mit einem Aufsatz begonnen. «Das Thema», sagte Oberstleutnant im Generalstab Wolf, der die Prüflinge beaufsichtigte, «steht unter ‹Thema›.» Dort stand: «Vor- und Nachteile einer militärischen Kaderausbildung im zivilen Umfeld», Zeitlimite 40 Minuten. «Obwohl dieser Entscheid nicht allein bei mir liegt», kritzelte Rekrut Zehnder auf das liniierte Blatt, «kann ich die Vor- und Nachteile noch nicht genügend abwägen, um mir ganz klar bewusst zu sein, was ich will.» Dafür gab es von den Prüfern, die alle Aufsätze noch in der gleichen Nacht gelesen hatten, 11 von 15 möglichen Punkten für Inhalt, Form und Struktur. Rekrut Sanchez bekam für sein «Manchmal wird man ein bisschen komisch angeschaut, wenn man sagt, ich will in der Armee weitermachen …» lediglich 6 Punkte, und das nur, weil Hauptmann Hofmann die Punkte für den Inhalt grosszügig aufrundete. Literarische Glanzleistungen sind unter den Aufsätzen nicht zu finden. Und auch beim Test «Allgemeinwissen», bei dem 50 MultipleChoice-Fragen beantwortet werden müssen (Wann wurde die Schweiz Vollmitglied der Vereinten Nationen? In welcher Zeit dreht sich die Erde um die Sonne? Wie heisst der Präsident von Russland?), wird kaum einer die 38 Punkte erreichen, die für ein «Erfüllt» gefordert sind – der Durchschnitt liegt unter 20 richtigen Antworten. «Das Niveau sinkt nicht», sagt Hauptmann Hofmann, der Oberstufenlehrer war, bevor er Berufsoffizier wurde, «es ist konstant ernüchternd.» Die Tests werden von den Rekruten im Filmsaal zwar alle am Computer ausgefüllt, und das Online-Lernsystem wertet die Antworten sofort aus, aber Hauptadjutant Reichmuth, der die Rekruten beaufsichtigt, hat den Allgemeinwissenstest vorsorglich auch auf Papier mitgebracht. Und tatsächlich: Um punkt 2 Uhr bricht die Tarnfarbe für den Obergefreiten Zumbach. Verbindung zum Server ab, alle Computer sind blockiert. Reichmuth weiss auch, wieso: Der Server steht in Bern, und dort macht man jede Nacht um 2 Uhr ein Backup. Aber Reichmuth hatte doch diese Übung extra angemeldet! Er telefoniert mit dem Pikettdienst, der ihm keine Hoffnungen macht. Um halb drei verteilt er den Allgemeinwissenstest auf Papier. «Man kann sich auf diese Bundesstellen einfach nicht verlassen», schimpft er. «Die leben in einem eigenen Raumschiff!» Auch Oberst Drexel ist die ganze Nacht wach. Er führt mit jedem Rekruten ein Gespräch, in alphabetischer Reihenfolge treffen die jungen Männer ein, setzen sich auf die Stühle vor seiner Tür und kämpfen gegen den Schlaf. Drexel geht immer gleich vor: Er fragt zuerst, ob und weshalb der Rekrut Offizier werden will, dann hört er sich etwas über Familie, Beruf und Werte an, zum Schluss lässt er jeden einen Werbespot in eigener Sache sprechen, zehn Sekunden, die mit «Ich bin der Richtige als Zugführer, weil …» beginnen. Rekrut Sanchez kommt um viertel nach drei an die Reihe, er ist nervös, sagt, dass er Offizier werden wolle, um die Herausforderung zu meistern, dass sein Berufsziel der Fachausweis Sicherheitsdienst sei, dass er Kameradschaft, Rücksichtnahme, Höflichkeit schätze, und «Ich bin der Richtige als Zugführer, weil», setzt er an, stockt, fährt fort, «ich kann motivieren, dass sie Freude bekommen.» «Der kommt gut», sagt Oberst Drexel, nachdem Sanchez den Raum verlassen hat. Es gibt fünfzig Beurteilungskriterien dafür, ob einer als Offizier in Frage kommt, aber Drexel verlässt sich auf seinen Instinkt: «Ich kann das meistens nach ein paar Minuten sagen.» Rekrut Zehnder ist der letzte, der vor Oberst Drexel tritt. Seine Antwort auf die Frage, ob er Offizier werden wolle, ist ein zögerliches Ja. «Ja oder Ja?» fragt Drexel, und Zehnder weicht aus, sagt, dass er eigentlich nicht unbedingt weitermachen wolle, aber wenn schon, dann vielleicht doch eher gleich bis zum Zugführer, auch wegen des Geldes … «Das Finanzielle ist ein legitimer Grund», bestärkt ihn Drexel, «und ich verspreche Ihnen: Das, was in der Ausbildung kommt, ist noch viel besser als das, was Sie bis jetzt gesehen haben.» Dann trägt Zehnder noch seinen Werbespot vor, er könne gut organisieren, Verantwortung tragen, mit Menschen umgehen, und schon ist das fünfzigste und letzte Gespräch dieser Nacht zu Ende. Oberst Drexel findet nur einen einzigen der Rekruten nicht geeignet für die Ausbildung zum Offizier, und dieser eine ist nicht Zehnder. «Der will ja eigentlich», sagt er, «ich habe es in seinen Augen gesehen.» Zehnder und Sanchez werden die Übung Sunrise beide bestehen, beide werden auf der Shortlist der Offiziersanwärter landen, beide werden in der elften Woche an die Unteroffiziersschule nach Chur wechseln, aber nur einer von ihnen wird es tatsächlich bis zum Zugführer schaffen. Inzwischen ist es halb sieben Uhr, und die fünfzig müden Rekruten stehen im kalten Morgengrauen neben einem Munitionsdepot. Schon die ganze Nacht ging das Gerücht, am Schluss der Übung warte ein Frühstück, aber die meisten würden jetzt lieber schlafen als essen. Bis zu dem Moment, in dem Oberst Drexel an die Pforte der Halle klopft und ruft, er komme sich vor wie der Samichlaus. Schon öffnet sich die Tür, der riesige Raum erstrahlt in romantischem Licht, Nebelschwaden, genährt von Trockeneis, wabern aus Fasskisten, und darum herum stehen Buffets voller Rührei und Speck, Canapés und Laugenbrezeln, Früchten und Cornflakes, FolIo 3 / 2013 31 In der rS Nickerchen auf der Holzbank: Alle Rekruten leiden unter Schlafmangel. Orangensaftpackungen und Energy-Drink-Dosen – ein Schlaraffenland. Die Rekruten schaufeln ihre Tabletts voll, stopfen sich schon während des Anstehens Sandwiches in den Mund, als könnten sie jeden Moment aus diesem Traum aufwachen, in dem sie genau 45 Minuten verweilen dürfen, bevor sie zurückkehren in den kalten Rekrutenalltag mit Tee und Brot und Vierfruchtkonfitüre, und sogar Oberst Drexel lässt sich verleiten, nach einem bescheidenen Teller mit Rührei und Speck fünf Butterbrezeln in die Taschen seines Kampfanzugs zu stecken, «als zweites Frühstück», sagt er. AGA-Finale – das Problem vor der Tastatur (W 6) «Obergefreiter!» – «Definitiv nicht!» – «Tschuldigung, Oberwachtmeister! Ich hab da eine Frage!» ruft Rekrut Iseli und nestelt an seiner Gasmaske. Gleich muss er zum ABC-Test antreten, dem Schutz vor atomaren, biologischen und chemischen Gefahren. Auf dem weitläufigen Areal des Waffenplatzes sind Posten eingerichtet, an denen in der sechsten Woche die Rekruten zum Abschluss der allgemeinen Grundausbildung geprüft werden. Die ganze Schule tritt zum AGA-Finale an, 452 Rekruten, darunter auch die 128 der Kompanie 2. Sie müssen Karten lesen, Verbände anlegen, das Gewehr auseinandernehmen, die Gasmaske anziehen und ihr Wissen über die Armee unter Beweis stellen. Wer alle Tests besteht, darf bereits am Freitagmorgen in den Urlaub – einen Tag früher als die anderen. Die Rekruten stehen in einer Reihe, Iseli neben Roos, mit dem er im selben Zwölferzimmer schläft. «Wenn wir schon hier sind, machen wir das Beste draus», sagen die beiden, die sich gut verstehen. Der Vollschutz ist angezogen, alle Klettbündchen sind geschlossen. In dreissig Sekunden muss nun noch einem verletzten Kameraden die Schutzmaske übergezogen werden. Der Schweiss tropft unter der Gummimaske in die brennenden Augen. Iseli zerrt an Roos herum, dann zeigt sein Daumen nach oben. Im Ernstfall hielte die Ausrüstung 12 Minuten flüssigen Kampfstoffen stand, 24 Minuten bei Gas. Jetzt aber heisst es «Packung erstellen!», und nachdem alle ihre Ausrüstung im Rucksack verstaut haben, geht es im Gänsemarsch zum nächsten Posten, während eine andere Gruppe mit dem Lastwagen zur Kaserne hochgefahren wird, wo sie zum Wissenstest antreten muss. Im 4.Kapitel des Dienstreglements steht: «Militärische Ausbildung und Erziehung haben das Ziel, die Angehörigen der Armee auf den Krieg und auf die Bewältigung anderer Krisensituationen vorzubereiten.» Und wer die Angehörigen der Armee sind, wird definiert in Kapitel 2, Absatz 5: «Unsere Armee ist grundsätzlich nach dem Milizprinzip organisiert. Sie beruht auf dem Grundsatz der Militärdienstpflicht für alle Schweizer Bürger. Schweizerinnen können sich freiwillig zum Militärdienst melden.» Die allgemeine Wehrpflicht wurde 1848 in der ersten Bundesverfassung der Schweiz festgeschrieben, wie in den meisten europäischen Ländern im 19.Jahrhundert. Seit dem Ende des Kalten Krieges haben jedoch viele auf Freiwilligen- und Berufsarmeen umgestellt. Auch die Volksinitiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht» folgt diesem Trend. Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) hat sie im Januar 2012 eingereicht. Aber bisher scheiterten alle armeekritischen GSoA-Initiativen an der Urne. FolIo 3 / 2013 32 In der rS Oberst Drexel, der Berufsoffizier, ist ein entschiedener Verfechter des Milizprinzips. «Nur dank dieser Durchmischung kommen wir in 21 Wochen mit unseren Leuten so weit», sagt er. «Es gibt Armeen, die rekrutieren ihre Soldaten in den Gefängnissen – und entsprechend sind die auch aufgestellt.» «Allgemein» ist die Wehrpflicht in der Schweiz allerdings schon heute nur noch auf dem Papier. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Mannschaftsbestand der Armee von über 600 000 auf 400 000 und dann auf knapp 200 000 reduziert, davon leisten 120 000 aktiv Dienst, 80 000 bilden die Reserve. Weniger als fünf Prozent der Aktiven sind vollberuflich beim Militär. Hauptadjutant Reichmuth gehört zu den fünf Prozent; er ist seit 24 Jahren Instruktor. Wie schon bei der Nachtübung Sunrise vor zwei Tagen hat er sich im Filmsaal der Kaserne eingerichtet. Diesmal braucht er kein Papier, alle Computer laufen. «Einfach ein Kreuzchen hinter die richtige Antwort», ruft er in die Sitzreihen. «Nicht schwatzen, sonst gibt’s null Punkte.» «Sie, es geht nicht», gibt einer prompt zurück. Reichmuth seufzt. «Das Problem sitzt meistens vor der Tastatur.» Eine Aufgabe lautet: Welches ist der sicherheitspolitische Grundsatz der Schweiz? Antworten: a) Sicherheit durch Koordination; b) Sicherheit durch Kooperation; c) Sicherheit durch Neutralität. Eine andere: Welches sind aktuelle Bedrohungen und Gefahren für die Schweiz? Antworten: a) Rassismus; b) Kommunismus; c) Terrorismus. Richtig ist auch hier Antwort c. Laut Artikel 58 der Bundesverfassung hat die Armee drei Aufgaben: «Sie dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung ausserordentlicher Lagen.» Die klaren Fronten von früher, als der mit roten Pfeilen symbolisierte Feind von Osten her unser Land bedrohte, gibt es nicht mehr. «Darum», sagt Hauptmann Hofmann, «ist die Zwangsmittelausbildung im nonletalen Bereich so wichtig.» Beim AGAFinale müssen die Rekruten zeigen, dass sie Verdächtige anhalten, kontrollieren und festnehmen können; das ist realistischer als der Kampf an der Front. In der Ebene am Fuss des Waffenplatzes stehen die künstlichen Ruinen für den Häuserkampf. Heute dienen sie als Posten für die Sanitätsübungen. «Druckverband habe ich noch nie gemacht, Mann», klagt einer. «Dann hast du schon verloren, Mann», sagt sein Kollege. Auch Rekrut Gassmann hat seine liebe Mühe, Iselis Bein zu verarzten. Der Hobbyschwinger geht zu hastig ans Werk, der zarte Gazeverband verheddert sich in seinen Pranken und fällt zu Boden. Gassmann weiss: «Ich hab’s versaut.» Iseli verblutet, Gassmann ist durchgefallen. Ein Obergefreiter mit schwarzer Ray-Ban-Brille lehnt cool an der Wand und macht sich Notizen. Gassmann muss morgen noch mal ran, wenn Iseli mit seinem blauen Fiat Punto Evo Sport mit schwarzer Motorhaube – «184 PS, mega Felgen» – längst durch Zürich kurvt. Bis zum Schiessen aus hundert Metern Distanz ist Rekrut Sanchez noch gut im Rennen. Er hat den gestrigen Tag, den Tag nach der Nachtübung Sunrise, einigermassen überstanden. «Ich habe mich einfach nie hingesetzt, sonst wäre ich gleich eingeschlafen.» Auch das Essen löffelte er stehend aus der Gamelle. Jetzt kniet er und zielt auf die Scheibe in hundert Metern Entfernung. Wird sie getroffen, kippt sie seitlich weg. Aber mit Sanchez’ Konzentration ist es vorbei. Er schiesst und schiesst, und die Scheibe bleibt hartnäckig stehen. Morgen, beim zweiten Versuch, wird es klappen. Er gehört nicht zu den 29 Rekruten der 2. Kompanie, die schon am nächsten Morgen nach Hause können. Sportabzeichen – Ehrgeiz muss sein (W 7) Rekrut Sanchez: Will weitermachen. In der Turnhalle riecht es nach Schweiss. Der Eishockeyprofi Roos springt aus dem Stand 2,65 Meter und erhält von Zugführer Giovanoli ein anerkennendes «Hervorragend» – die Rekruten kämpfen um das Sportabzeichen. Der Schwinger Gassmann hat einen verspannten Rücken und muss einen Medizinball werfen. Sechs Meter, immerhin. Iseli schmeisst seine Turnschuhe in die Ecke und stellt sich mit nackten Füssen vor die Kletterstange. Zentimeter um Zentimeter zieht er sich hoch. Beim Einrücken wog er 85 Kilo. Als er sich letztes Wochenende zu Hause auf die Waage stellte, hatte er sechs Kilo abgenommen, obwohl ihm seine vielen Freunde ständig Fresspäckli in die RS schicken. Gruppenführer Zumbach treibt die Rekruten gnadenlos die Stange hoch. «Der ist genauso eine Kampfsau wie ich», würdigt Iseli den Obergefreiten. Zumbach war beeindruckt, als sein Oberstufenlehrer für Tina Turner Personenschutz machen konnte und später eine Kampfsportschule eröffnete. Zumbach begann mit Jiu-Jitsu, Kickboxen und Thaiboxen. Er sei der Typ, der sich mit sauberer Uniform lustvoll in den Dreck werfe, weiss Iseli. Fünf Disziplinen sind für das Sportabzeichen zu absolvieren, die maximale Punktzahl ist 125. Das Abzeichen, ein kleines rechteckiges Stückchen Stoff, das sich an der Uniform befestigen lässt, wird ab 80 Punkten vergeben. So ein Abzeichen ist eine geile Sache, da FolIo 3 / 2013 Obergefreiter Sherifi: «Das Gewehr ist Ihre Freundin. Seien Sie gut zu ihr!» 34 In der rS sind sich die Obergefreiten einig. Für Roos ist es eine Selbstverständlichkeit. Er hat das Sportgymnasium in Davos absolviert, heute ist er Stürmer beim HC Thurgau. Ballwurf, Stangenklettern, alles kein Problem, und beim 12-Minuten-Lauf lässt Roos rotgesichtige Kollegen in rutschenden Trainerhosen stehen und läuft leichtfüssig dem Abzeichen entgegen. Das Sportabzeichen ziert auch die Brust des Kommandanten. Natürlich habe auch er sich immer angestrengt, sagt Oberst Drexel, «Ehrgeiz muss sein». Der Kommandant ist eine Frohnatur, aber heute ist er schlecht gelaunt, wegen dieser Sache im «Blick». Gereizt spricht er am Telefon mit einem Anrufer aus Bern. Nein, er wisse nicht, woher dieser Panzer komme, sagt er. «Jedenfalls nicht von uns!» Der «Blick» zeigt im Bild den Unternehmer Hausi Leutenegger mit seinem Bruder Hugo. Hugo feiert seinen Geburtstag mit Rotwein und Cervelas – und einem Radschützenpanzer in seinem Garten. «Jeden Tag was Neues», sagt Drexel genervt und schiebt versöhnlich hinterher: «Das macht meinen Job so interessant.» Heute trifft er sich noch mit Vertretern der Umweltkommission. Nachdem die Volksinitiative «40 Waffenplätze sind genug» 1993 abgelehnt worden war, wurde der 2,4 Quadratkilometer grosse Waffenplatz Neuchlen, den sie verhindern wollte, 1997 fertiggestellt. Dabei bemühte man sich, Anliegen der Naturschützer aufzunehmen (Feuchtbiotope, Magerwiesen, Naturhecken), und zweimal jährlich, so will es eine Vereinbarung, sitzen Umweltschützer und Militär zusammen. «Heute geht es um irgendwelche Mölche», brummt Drexel und stapft über den Kasernenplatz davon. Zugsaussprache – so geht es doch nicht! (W 7) «Zug Bivio daher! Seckle, go!» Zugführer Giovanoli hetzt seine Rekruten vor dem Wochenende ein letztes Mal über die Wiese. Dann dürfen sie die Waffe und den Helm ablegen, in einem Kreis im Gras hocken, Rekrut neben Oberwachtmeister, Oberwachtmeister neben Obergefreitem. Aber das Du wird den Rekruten nicht angeboten. Wer will, darf rauchen – allerdings nur Zigaretten, wie Giovanoli betont. Jeden Freitag, bevor die Rekruten ins Wochenende entlassen werden, gibt es eine Zugsaussprache, bei der die Rekruten vorbringen können, was ihnen gefällt und was nicht. Ohne formelles Anmelden, frisch von der Leber weg. Als erster ergreift Rekrut Egger das Wort. Er finde es gut, dass man endlich ein bisschen mehr Verantwortung tragen dürfe. «Man traut uns zu, dass wir das Gewehr richtig putzen. Man schaut uns nicht mehr ständig auf die Finger.» Für Egger, von Beruf Metzger – Fleischfachmann, wie er sagt –, ist das Militär schlicht «Bürgerpflicht». Er hätte durchaus das Zeug zum Unteroffizier oder gar Offizier, sagen seine Vorgesetzten. Doch man wolle ihn nicht zwingen, schliesslich engagiere er sich bereits für das Gemeinwesen. Egger ist im Vorstand der Jungen SVP und wurde – noch keine zwanzig Jahre alt – am Wochenende vor Beginn der Rekrutenschule ins St.Galler Kantonsparlament gewählt. Einen Namen machte sich der junge Rheintaler mit seinen markigen Worten gegen Jugendgewalt und Sozialhilfebetrug. Auch in der RS, sagt Egger, gebe es zu viele Simulanten: «Mich stört, dass solche, die laut genug klagen, aufs Krankenzimmer dürfen, während andere, die wirklich etwas haben, keinen Dispens bekommen.» – «Hallo, meinst du etwa mich?» ruft einer aus dem Hintergrund. «Natürlich gibt es solche, die sich schneller für einen Dispens melden als andere», räumt Oberwachtmeister Giovanoli ein. Aber Schmerz sei nun einmal eine subjektive Empfindung. Und er erzählt seine Lieblingsanekdote: «Beim 100-Kilometer-Marsch in der Offiziersschule waren meine Knie geschwollen, und die Füsse sahen aus wie geschreddert, die ganze Haut war in Fetzen. Trotzdem bin ich weitergelaufen, bis zum Ende.» Man würde es dem bleichen, hochaufgeschossenen Giovanoli nicht auf den ersten Blick zutrauen. Er ist kein Kraftprotz. Trotzdem strahlt er mit seiner ruhigen Art eine natürliche Autorität aus. «Ich habe ja selber die Rekrutenschule gemacht», fährt er fort. «Mein Ziel ist es, dass ihr eine bessere RS habt, als ich sie hatte. Das Militär soll auch Spass machen, und jeder sollte etwas mitnehmen.» Rekrut Gassmann macht es keinen Spass. Ihn stört vor allem, dass man als Rekrut derart den Launen der Vorgesetzten ausgesetzt sei. Einmal nehme man es eher locker, dann sei man wieder total pingelig. «Das ist nun einmal unser Führungsstil», entgegnet Giovanoli. «Wenn es gut läuft, können wir mehr Freiheiten gewähren, wenn nicht, ziehen wir die Schraube an. Das ist wie bei einem Hund, da lässt man die Leine auch mal lockerer.» Zu locker für den Geschmack des Obergefreiten Ramadani. Er ist empört darüber, dass sich diese Woche gleich zweimal jemand einen Spass daraus gemacht hat, die ordnungsgemäss vor dem Schlafsaal deponierten Sturmgewehre zu entsichern. Dass die Gewehre natürlich nicht geladen waren, spielt keine Rolle. «Das ist völlig daneben! Ein absolutes No-go! So etwas muss sofort den Vorgesetzten gemeldet werden!» Als Oberst Drexel am ersten Tag den Rekruten sagte: «An dieser Waffe werden wir Sie drillen», meinte er damit auch den vorsichtigen Umgang mit dem Gewehr. Ein Rekrut, der bei der Entladekontrolle nach dem Schiessen noch eine Patrone im Gewehr hat, kann sicher sein, dass er abends zur Strafe einsame Runden um den Kasernenplatz drehen wird. Überhaupt findet Ramadani, dass der Zug nicht mehr so zusammenhalte wie zu Beginn der RS. Das äussere sich auch im zunehmend aggressiven Ton untereinander. «Ständig hört man ‹Scheisse› und ‹Wichser›. So geht es doch nicht!» Kollege Guci pflichtet ihm bei: «Wir dürfen nicht nachlassen, wir müssen weiterhin 200 Prozent Einsatz zeigen.» Das Schlusswort hat Oberwachtmeister Giovanoli. «Alles in allem», stellt er fest, «sind wir der beste Zug.» Das zeigten auch die Ergebnisse bei der Übung Sunrise und beim AGA-Finale. «Es wurde zwar keiner von uns Erster oder Zweiter. Aber in der Breite waren wir die Besten.» Leider gebe es auch Enttäuschungen, zum Beispiel die Zugschule gestern. «Die war Scheisse.» Dann schickt Giovanoli die Rekruten zur Entladekontrolle. Ein letztes «Daher!» und noch eine Serie Liegestütze. Zumbach pumpt unermüdlich und treibt die Männer an. Statt zu zählen, brüllt er beim Auf und Ab: «Wil s Frytig isch, wil s Frytig isch.» Bald skandieren alle: «Wil s Frytig isch, wil s Frytig isch, wil s Frytig isch.» FolIo 3 / 2013 Im Schützenpanzer: Die Infanterie bietet über zwanzig Spezialausbildungen an. 36 In der rS Generation eGo-Shooter Im Ausgang bleiben sie unter sich – in der Militärküche schmoren am Morgen 110 Kilo Kalbshaxen – bei einem Unfall verletzen sich 25 Rekruten – in der Kirche werden die Obergefreiten zu Wachtmeistern. Häuserkampf: «Wenn s chlöpft, isch s guet!» FolIo 3 / 2013 37 In der rS In der Kaserne – von der Wache in den Arrest (W 8) Es ist ein ganz gewöhnlicher Tag, einer von vielen, an denen die Zeit in der Kaserne zu stocken scheint. Die RS geht in ihre achte Woche, die Grundausbildung haben die Rekruten hinter sich. Heute haben sie sich mit ihren Vorgesetzten über das 2,4 Quadratkilometer gros se Areal des Waffenplatzes verteilt, sie feuern auf dem Schiessplatz Breitfeld auf Zielscheiben, sie stürmen die Betonhäuser der Orts kampfanlage, sie kriechen irgendwo durchs Unterholz oder stecken in einer Sonderausbildung: am leichten Maschinengewehr (LMG) oder an der Panzerfaust, als Minenwerferkanonier oder Panzerfah rer. Die Infanterie, die grösste Truppengattung der Armee, ist stolz darauf, ihren Soldaten über zwanzig Spezialisierungsmöglichkeiten zu bieten. In Neuchlen treibt der Wind ein paar Blätter über den Exerzier platz, sonst regt sich nichts: eine ganze Kaserne wie ausgestorben. Nur im Wachlokal sitzt der Obergefreite Pfenninger, grossgewach sen, rothaarig, sommersprossig, und bedient den Schlagbaum. Am Wochenende ist der Wachdienst der meistgehasste Job der Kaserne, doch jetzt, unter der Woche, ist es hier recht gemütlich. Personen identifizieren, Fahrzeuge kontrollieren, viel mehr gibt es tagsüber nicht zu tun. Aber weil im Militär ein Mann kein Mann ist, schiebt nicht nur der Obergefreite Pfenninger Wache. Ihm unterstellt sind ein Stellvertreter und fünf Rekruten. Man arbeitet im Schichtdienst, in der Nacht im ZweiStundenTakt: Zwei Mann sind auf Posten. Zwei Mann sind auf Pikett, was heisst, dass sie innert zweier Minu ten einsatzfähig sein müssen und deshalb in Schuhen auf den Prit schen im Nebenzimmer ruhen. Zwei können schlafen, ungestörte zwei Stunden am Stück. Pfenninger führt ins Obergeschoss des Wachlokals zu den sechs Arrestzellen. Im Moment ist keine belegt. Bis zu 10 Tage kann der Arrest dauern, er ist die schwerste Strafe in der Disziplinarstraford nung, die angewendet wird, wenn ein Soldat Vorschriften, Befehle oder die militärische Ordnung missachtet. Bevor ein Rekrut oder Soldat in der Zelle landet, könnte ihm der Kommandant auch einen Verweis erteilen, eine Ausgangssperre oder eine Busse aufbrummen – je nach Vergehen und nach Ermessen des Kommandanten. Kürz lich war ein Rekrut arrestiert, der sich geweigert hatte, einen Befehl auszuführen. Und in der letzten RS gab es einen, der während des Wachdiensts am Wochenende seine Freundin einschmuggelte. Dem Arrestanten steht ab dem zweiten Tag eine Stunde über wachter Hofgang zu, Besuche sind in der Regel nicht erlaubt, ein ziger Kontakt zur Aussenwelt sind Briefe. Ausserdem gibt’s eine Zeitung täglich, dazu die Bibel, den Koran, das Dienstreglement. Zuerst schläft jeder Arrestant, die Langeweile wird erst ab dem zwei ten oder dritten Tag zur Qual, wenn die Müdigkeit verflogen ist. Einer hat die Backsteine gezählt, die seine Zelle bilden, es sind 559, ein anderer hat das Parkettmuster des Bodens abgezeichnet. Der Obergefreite Pfenninger führt den Schalter vor, mit dem man das Licht in der Zelle von aussen ein und ausschalten kann – noch weiss er nicht, dass er in wenigen Wochen selber in der Dunkelheit des Arrests sitzen wird. Wegen zu grosser Hilfsbereitschaft: Er wird einer Zivilistin, die sich verfahren hat, den Schlagbaum öffnen, damit sie auf dem Kasernenareal wenden kann – das ist verboten. Im Hauptgebäude hängt der Geruch von grosszügig versprühtem Deo, er weist den Weg ins Wartezimmer des Truppenarztes. Ein fach so bekommt man hier keinen Termin, wer sich krank fühlt, muss sich über seinen Vorgesetzten und das Kompaniebüro an melden. Und dann gibt es noch eine Regel: Behandelt werden nur propere Wehrmänner. Das sieht man auf einem Blatt Papier, das im Wartezimmer an der Wand hängt: einen Soldaten, der auf einer Bank herumlümmelt und doppelt durchgestrichen ist, und einen Soldaten, der mit bolzengeradem Rücken der Behandlung harrt und nicht durchgestrichen ist. Genau wie er sitzen vier Rekruten in Ausgangsuniform auf ihren Stühlen und warten geduldig, bis sie dem Truppenarzt erklären dürfen, wo es wehtut. Oberleutnant Müggler, im Zivilleben Assistenzarzt in einem Spital, absolviert seinen WK als Truppenarzt. Er weiss, welches Übel in jeder Rekrutenschule gefürchtet ist: Grippewellen, vor al lem die MagenDarmGrippen. Bisher blieb die Kaserne Neuchlen verschont, die Rekruten schleppen sich mit offenen Blasen an den Füssen in die Krankenabteilung, mit Rückenschmerzen oder Knie problemen. Besonders viel gibt es natürlich nach langen Märschen zu tun, aber das Wartezimmer füllt sich auch vor den Märschen oder bei besonders schlechtem Wetter. Dann kommen die Rekru ten, die hoffen, dass der Truppenarzt auf ihrer Dispenskarte hinter möglichst viele Kästchen (Sport/Lauf, Hindernisbahn, Zugschule, Kampfstiefel, Märsche) ein Kreuzchen setzt. Und das für möglichst viele Tage. Nur für das Gefechtsschiessen, sagt der Truppenarzt, füh le sich kaum einer je zu krank. In der Kasernenpost sitzt ein Soldat in seinem Stuhl wie eine Katze, irgendwo zwischen Wachen und Schlaf. Am Nachmittag passiert hier nur selten etwas. Am Morgen allerdings muss die Postordon nanz jeweils etwa vierzig Pakete sortieren. Es sind die Fresspäckli, die besorgte Mütter und liebende Freundinnen nach Gossau schicken. Aber nicht alle Rekruten werden gleichermassen beschert. Es gibt solche, die beinahe täglich ein Paket bekommen und an manchen Tagen zwei, und es gibt solche, die noch gar keines erhalten haben. Und dann gibt es noch jenen jungen Mann, der über eine Trennung von der Freundin nachdenkt, damit aber wohl bis zum Ende der RS warten wird, weil sie so verlässlich Päckli schickt. Bei der Kasernenpost können die Rekruten nicht nur Briefe abgeben und Geld abheben, sondern auch Memorabilien kaufen: Postkarten mit Militärwitzen drauf, InfanterieKleber fürs Auto, InfanterieFeuerzeuge und den InfanterieAufnäher, tannengrün, mit Adler, Panzer, zwei gekreuzten Gewehren. In einem Büro im Kommandotrakt steht Hauptmann Hofmann vor einem Gestell voller Ordner, in der Hand eine Liste. Darauf sieht man, wie gut seine Rekruten bei der Übung Sunrise abgeschnitten haben: «Zehnder, zwölfter von 55, Topmann. Sanchez, zwar in den hinteren Rängen, aber der kommt gut, braucht einfach noch zu lang. Die Empfehlung zum Offizier haben beide auf sicher.» Hof mann spricht von den Vorzügen einer Karriere als Berufsmilitär. Früher hat er als Lehrer gearbeitet, jetzt schätzt er es, dass er «ohne lange zu diskutieren auch einfach mal befehlen kann». Später fügt er an: «Ausserdem gibt es keine Elterngespräche.» Er wirft noch mal einen Blick auf die Liste und sagt: «Schade.» Zehnder fehlte beim Schiessen nur ein Punkt, um ein Abzeichen zu bekommen. Hofmann selbst haften sie reihenweise an der Brust. In der obersten Abzeicheneinschubleiste trägt er das Abzeichen für 550 Diensttage, «mittlerweile habe ich aber bereits etwa 600 beisam FolIo 3 / 2013 38 In der rS men». Weiter unten das Abzeichen «Sturmgewehr 2», «das heisst, dass ich mindestens zweimal hervorragend geschossen habe». Daneben: «Pistole 1». Ausserdem, Ehrensache: «Kameradenhilfe/ABCAbwehr». Weil Hofmann während der Fussball-Europameisterschaft 2008 im Einsatz war, prangt auch das Abzeichen «Inlandeinsatz» an der Brust seiner Ausgangsuniform. Es hat noch Platz, Hofmann rechnet damit, dass er spätestens 2015 für eine Weiterbildung nach Fort Benning reisen kann, ins US Army Infantry Center, und nach seiner Rückkehr das Abzeichen «Auslandeinsatz» bekommt. Und gäbe es das Abzeichen «Hilfsbereitschaft gegenüber Journalisten», Hofmann hätte es hoch verdient. Im Ausgang – Gipsköpfe und Gagel (W 8) Schon nach wenigen Wochen sind die Rekruten sich selbst genug, sogar im Ausgang. Um 18 Uhr 45 steigen sie an diesem Mittwoch im Mai in den Bus, der sie von der Kaserne nach Gossau bringt, gehen eilig in kleinen Gruppen essen, Pizza oder Schnipo, um sich dann wieder zu treffen, im «BBC» beim Bahnhof. Das Lokal, früher ein Güterschuppen, erstreckt sich über mehrere Räume, und die jungen Gossauerinnen haben sich an diesem Dienstag schön gemacht, Glitzer aufgetragen, Stöckelschuhe angezogen – doch ins Gespräch kommt man nur selten. Denn die Rekruten, ans enge Miteinander gewöhnt, stehen lieber dicht an dicht, manchmal umarmen sie sich auch. In den Sätzen, die sie sich durch die Hitparade zuschreien, geht es um Gipsköpfe (Panzerfäuste), LMG (Leichtmaschinengewehre) und Gagel (einzelne Patronen). Wie immer gibt es die Wortführer und die Zuhörer, und mit jedem Schluck – 4 Franken 90 die Stange Bier, 29 Franken der Liter Wodka Red Bull – werden die Lauten lauter und die Stillen stiller. Rekrut Brasch, der grossgewachsene Maurer, ist gerade voll motiviert, weil er in zwei Tagen zum ersten Mal eine Panzerfaust abfeuern darf; Rekrut Zehnder, der unfreiwillige Offiziersanwärter, hatte letzte Woche zwar «eine Riesenkrise», die aber wie durch Zauberhand wieder abgeklungen ist; der Obergefreite Ramadani berichtet, dass er am Wochenende nach Kosovo fliege, um das Aufgebot zu bestellen, 300 Leute werde er zu seiner Hochzeit einladen, dann spricht auch er wieder über das Militär. Ramadani steht mit ein paar Obergefreiten an einem Tischchen, daneben schweigt eine junge, hübsche Frau. Sie ist die Freundin des einen, hat sich nach der Arbeit ins Auto gesetzt, ist eine Stunde von Zürich nach Gossau gefahren, um einen Abend lang bei ihrem Liebsten zu sein. Doch der fachsimpelt mit seinen Kollegen, und ab und zu patrouilliert er ein wenig durchs Lokal und hält ein Auge auf die Rekruten. Rekrut Schoch, Gel im Haar, feines Lächeln, steht allein vor einem der vielen Flachbildschirme und sieht sich ein Fussballspiel an. Während aus den Lautsprechern die Bässe dröhnen, erzählt Schoch, wie es dazu kam, dass er seinen Dienst ohne Waffe versieht. Auch er hat am vierten Tag sein Sturmgewehr 90 erhalten, eins von 450 000 Gewehren dieser Art, die bisher an die Schweizer Armee geliefert wurden. Als er einrückte, dachte er nicht an waffenlosen Dienst. Bei der ersten Schiessübung habe er jedoch einen Widerwillen verspürt. «Ich konnte einfach nicht abdrücken. Mein Zeigefinger war wie gelähmt.» Das rührt wahrscheinlich daher, dass es in seinem Umfeld kürzlich einen Todesfall gab: Selbstmord mit der Ordon- nanzwaffe. Schoch legte das Gewehr nieder. Ein Obergefreiter habe ihn beobachtet und beiseite genommen. Nachdem Schoch erzählt hatte, warum er nicht schiessen könne, und nachdem er die üblichen bürokratischen Pflichten hinter sich gebracht hatte, konnte er das Gewehr abgeben. Schoch hat ein zweischneidiges Verhältnis zum Schiessen. Er sieht sich, «wie fast alle andern», als Teil der «Generation Battlefield». «Battlefield» ist ein Computerspiel, ein Ego-Shooter, ein Ballerspiel. Je nach Version kämpft man sich durch Stalingrad und schiesst auf Deutsche oder Russen, mal als Scharfschütze, mal mit der Panzerfaust. In Neuauflagen nimmt man an Kriegen der Zukunft teil oder sieht, was geschehen wäre, wäre der Kalte Krieg heiss geworden. Lob bekam das Spiel, weil man nicht nur Feinde umbringen, sondern auch die Infrastruktur verwüsten kann. Wer will, tobt sich als Sprengmeister aus und jagt nach einem grauen Tag im Grossraumbüro das eine oder andere Haus in die Luft. «Battlefield» wurde bis im Sommer 2012 fünfzig Millionen Mal verkauft; achtzig Millionen Soldaten haben laut Schätzungen im echten Zweiten Weltkrieg gekämpft. Man könnte die Augenringe der Rekruten als Orden sehen, als Abzeichen der «Generation Battlefield». Oft sitzen sie bis tief in die Nacht hinter ihren Notebooks, tauchen die Schlafsäle in fahles Licht, landen miteinander in der Normandie, feuern zusammen auf Berlin, bevor die Müdigkeit sie übermannt. Schoch sagt, er sei selber angefixt gewesen von diesem Spiel, vom Kitzel, der darin bestehe, dass sich Dutzende von Spielern gleichzeitig einloggen und zusammen in den Krieg ziehen und kämpfen können. Doch Rekrut Schoch hält es für bedenklich, dass in der Rekrutenschule selten über die Bedeutung der Waffe gesprochen werde, dass sich niemand vor Augen halte, worum es eigentlich gehe: «Zu lernen, wie man Leute tötet.» Dass die Rekruten schiessen lernen, um töten zu können, wird in der Ausbildung nicht besonders betont. Die Schweizer Armee bildet nicht Soldaten aus, für die ein Kampfeinsatz absehbar ist. Hubert Annen, Dozent für Militärpsychologie und Militärpädagogik an der ETH Zürich, hat bei seinen früheren RS-Einsätzen als Integrationsberater Rekruten wie Schoch betreut, die nicht schiessen konnten, weil sie in der Zielscheibe einen Menschen sahen. Die meisten, sagt Annen, schafften es dann doch. In der Infanterie ist ihm das Problem selten begegnet. Das Schiessen ist für die Infanteristen in der Regel eine sportliche Herausforderung. «Wenn s chlöpft, isch s guet!» habe ihm einmal ein Infanterierekrut gesagt – Action ist für die «Generation Battlefield» die Hauptsache. Um viertel vor elf nehmen die Männer in Uniform den letzten Schluck, dann spurten sie aus dem Lokal, als habe jemand «Daher!» gerufen. Gleich fährt der Bus vor dem Bahnhof Gossau ab, um 23 Uhr müssen sie in der Kaserne sein, die Vorgesetzten eine Stunde später. Wirklich spät werde es dafür zu Hause, am Wochenende, hatten die Rekruten gerade noch erzählt und vom letzten wilden Ausgang in Zürich, St.Gallen oder Buchs berichtet. Am Samstagmorgen um acht Uhr waren sie abgetreten, am Samstagabend hatten sie sich schon wieder getroffen. Das ist nicht ungewöhnlich: Manche Rekruten verabreden sich auch im Urlaub am Wochenende für den Ausgang. Man könne, formuliert es einer, mit den anderen Kollegen eben fast nicht mehr reden. Sie verstünden einen einfach nicht. FolIo 3 / 2013 39 In der rS Obergefreiter Collorafi: Einer der fünf Gruppenführer des «Balkanzugs» Bivio. Destination «BBC»: Einmal pro Woche dürfen sie in den langen Ausgang. FolIo 3 / 2013 40 In der rS Rekrut Egger und Kameraden in der Gefechtspause. Duro-Unfall – 25 Verletzte, ein Totalschaden (W 8) Sonntag, 6.Mai, 19 Uhr 14. Ein Krachen. Der Lastwagen kippt. Dun kelheit. Rekrut Roos reisst seine Arme schützend über den Kopf. Er spürt die Last der Kollegen, die auf seinen Körper fallen wie schwere Bretter. Das Fahrzeug schleift über den Asphalt und kommt kurz vor einem Stapel grober Holzstämme zum Stehen. Schreie, Gewimmer. Jemand ruft «Ruhe!» ins Chaos, das hilft, es wird still. Roos kriecht aus dem Fahrzeug. Es ist auseinandergebrochen. In der Abenddäm merung füllt sich die Wiese nach und nach mit Verletzten. Seit vier Uhr ist Roos auf den Beinen. Um sieben stand er mit 46 Kameraden in Glarus auf dem Landsgemeindeplatz für Bundesrat Didier Burkhalter Spalier. Die Alten strahlten, wie flott die Rekruten in ihren Uniformen aussahen. Roos sagt, im Grunde seien sie nur dumm herumgestanden. Und so freuten er und seine Kollegen sich auf den Ausgang nach dem verschenkten Sonntag. Ein paar Bier wären schön, dazu ein Hamburger. Auf dem Kasernenareal in Neuchlen stehen zwei Duros für die Fahrt nach Gossau bereit. Seit Mitte der neunziger Jahre dient der hohe und schmale Lastwagen als Truppentransporter. 150 PS, maxi mal 110 km/h. Die Fahrer für die zwei Duros melden sich freiwillig. Noch haben sie ihre Prüfung nicht abgelegt, die erfolgt erst nach sechs Wochen intensiven Fahrtrainings. Die Rekruten quetschen sich in die Fahrzeuge. Erlaubt sind pro Wagen 20 Personen, 2 vorne, 18 hinten. 26 junge Männer sind es im Duro, in den sich auch Roos hievt. Auf der Ladebrücke sitzen die Soldaten auf Seitenbänken. Sicherheitsgurte gibt es nicht. Roos sitzt auf der rechten Seite. Er hat Glück und muss sich nicht im Mittelgang zusammenkauern oder auf dem Schoss eines Kollegen. Zehn Minuten dauert die Fahrt hin unter nach Gossau. Ein leichter Regen nässt die Fahrbahn. Hinten gehen die Rekruten johlend mit den Kurven mit. Nach wenigen Minuten dann der Unfall. Ein schweres Delikt, wird die Militärpolizei später befinden. Man sei knapp einer Katastrophe entkommen, kommentiert Hauptmann Hofmann. Oberst Drexel meint dazu: «Pro Rekrutenschule werden 400 000 Kilometer mit 60 Schützenpanzern und 200 Kleinfahrzeu gen gefahren. So gesehen kommt selten etwas vor.» Meist sind es Bagatellsachen wie Parkschäden. Verkehrsunfälle mit Toten wie vor drei Jahren in Bure und Winterthur gab es in der InfanterieRS 11 zum Glück noch nie. Der Eishockeyprofi Roos, der durch seinen Sport Blut und blaue Fle cken gewohnt ist, nennt, was er gesehen hat, «extrem». Wer konnte, kroch aus dem Fahrzeug. Andere wurden von den Kollegen ins Freie gezerrt. Auf der Wiese sassen die Rekruten mit Schulterbrüchen, Platzwunden, Schnittwunden, Prellungen. «Einem», erzählt Roos, «spritzte Blut aus dem Kopf.» Um 19 Uhr 27 löst ein am Unfallort vorbeifahrender Berufs militär den Rettungseinsatz aus. Militärpolizei und Vorgesetzte werden informiert. Minuten später landet ein Helikopter der Rega. Fünf Ambulanzen, vier Fahrzeuge der Militärpolizei und sechs zivile Polizeifahrzeuge fahren vor. Über sechzig Personen wuseln herum, leisten erste Hilfe, befragen Zeugen, rekonstruieren den Unfallhergang ein erstes Mal. Genaueres erhofft man sich von der Auswertung des Restwegaufzeichnungsgeräts, einer Art Black Box, die sich in jedem Duro befindet. Wie schnell fuhr das Fahrzeug? Hat der Fahrer gebremst? Das wird die Auswertung im Schadenzentrum des VBS zeigen. FolIo 3 / 2013 42 In der rS Beim verstörten Fahrer des Unfallwagens werden ein Alkoholund ein Drogentest gemacht. Beide sind negativ. Über eine Stunde dauert das Verhör mit dem Fahrer. Die RS muss er weitermachen, gleichzeitig wird von Schulkommandant Drexel eine Voruntersuchung angeordnet. Gegen den Fahrer wird ein Strafverfahren eröffnet. Beschuldigt sind der Fahrer und zwei Vorgesetzte. Erst im Sommer 2013 wird das Urteil des Militärgerichts erwartet. Notfallärzte und Polizei führen die Liste der Verletzten. 25 von 26 haben etwas abbekommen, meist leichte Blessuren. 16 werden in die umliegenden Spitäler verteilt. 2 werden die Rekrutenschule abbrechen müssen. Ein Care-Team wird aufgeboten, die Eltern der Rekruten werden informiert. Roos schickte seiner Mutter eine SMS, es gehe ihm gut. Er wird anderntags beim 5-Kilometer-Marsch dabei sein. In der Küche – ohne Mampf kein Kampf (W 10) Der Obergefreite Herb, einer der beiden Küchenchefs in der Kaserne Neuchlen, kennt mittlerweile die Vorlieben seiner Truppe: Fisch wird nur gegessen, wenn er paniert ist, Gemüse ist generell unbeliebt, und Linsen sind für die meisten Wehrmänner «ein Saufrass». Manche würden am liebsten jeden Tag Kebab essen, sagt Herb, oder Pizza oder Hamburger. Als Küchenchef habe er aber den Auftrag, für eine abwechslungsreiche und ausgewogene Verpflegung zu sorgen. So stehe es im Reglement. In der Küche gilt Reglement 60.006 d, das 340 Seiten starke Militärkochbuch. Das 2009 neu aufgelegte Standardwerk versammelt alle Rezepte, nach denen in den Schweizer Armeeküchen gekocht wird. Wie eh und je enthält es traditionelle Schweizer Gerichte wie Rekrut Roos: Träger des Sportabzeichens. Älplermagronen, Walliser Rösti, Suppe mit Spatz. Hinzugekommen sind im Lauf der Zeit Lasagne, Nasigoreng, Ragoût mexikanische Art. Die Militärküche solle nicht nur jeden Soldaten täglich mit mindestens 3500 Kalorien versorgen, heisst es im Kochbuch, sondern auch die Moral der Truppe stärken. Oder wie es ein Küchengehilfe ausdrückt: «Ohne Mampf kein Kampf.» In Neuchlen werden mittags und abends über 550 Mahlzeiten zubereitet; neben den hier stationierten Wehrmännern wird auch die 5.Kompanie in Bronschhofen versorgt. Meistens gibt es ein fixes Menu; wird Schweinefleisch serviert, ist für die Wehrmänner muslimischen Glaubens eine Alternative, meist Poulet, vorgesehen. Die Vegetarier müssen sich mit einer Extraportion Gemüse, Beilagen oder Salat begnügen. Seit 5 Uhr in der Früh steht Küchenchef Herb mit vier Rekruten in der grosszügigen, weiss geplättelten Küche. Nach dem Frühstück – Brot, Butter, Konfitüre und Milchkaffee – hat die Mannschaft mit der Zubereitung des Mittagessens begonnen: Ossobuco alla milanese mit Hörnli und Salat. Ausnahmsweise gibt es auch ein Dessert: Tiramisù. Das Tagesbudget für die Verpflegung beträgt 8 Franken 50 pro Mann. Das gilt auch für Wochenenden und Feiertage, so dass der Küchenchef gelegentlich etwas mehr ausgeben kann. So wie heute. Der Metzger hat 110 Kilo Kalbshaxen geliefert. Sie werden gewürzt und auf einer heissen Eisenplatte Stück um Stück angebraten; um 9 Uhr schmoren sie bereits mit 12 Kilo Rüebli, 15 Kilo Sellerie, 12 Kilo Zwiebeln, 5 Kilo Tomatenextrakt, 10 Liter Weisswein und 50 Knoblauchzehen in Kipppfannen so gross wie Badewannen. Küchenchef Herb hat seine Lehre im «Schwanen» in Wil gemacht, einem kleinen Stadtrestaurant. Die Quantitäten, mit denen er es im Militär zu tun hat, sind natürlich andere. Und auch die Geräte sind grösser – der Schwingbesen ist länger als ein Baseballschläger. Oft muss das Essen ins Feld geliefert werden. Es wird in Wärmekisten transportiert, ist aber trotzdem nur noch lauwarm, wenn es bei den Wehrmännern ankommt. Heute gibt sich Herb besonders Mühe, denn es ist hoher Besuch angesagt: Chefadjutant Zwahlen aus Bern wird zur Inspektion erwartet. Zwahlen ist Chef der Fachausbildung Verpflegung der Schweizer Armee und kontrolliert die 31 Verpflegungszentren, von denen Neuchlen eines ist. Dabei geht es um die Einhaltung von Reglementen und Hygienevorschriften, aber auch um die Qualität: Das beste Verpflegungszentrum der Armee wird von ihm mit der jährlich verliehenen «Gamelle d’or» ausgezeichnet. Punkt 10 Uhr steht der Inspektor im Eingang zur Küche. Zwahlen, ein jovialer Berner, scheint bester Laune zu sein – was vielleicht auch daran liegt, dass dies sein letzter Besuch in der Ostschweiz ist. Der Chefadjutant wird demnächst pensioniert. 50 000 Kilometer habe er Jahr für Jahr mit seinem Dienstwagen zurückgelegt, erzählt er. Der Militärküchengeruch werde ihm allerdings schon ein wenig fehlen. Als Zwahlen selbst in der Küche seinen Militärdienst leistete, wurde das meiste noch selber gemacht, auch die Fleischvögel. Heute kaufen sie die Militärköche beim Metzger ein. «Convenience hält mehr und mehr auch in der Militärküche Einzug», sagt Zwahlen. Kein Rekrut wird heute mehr zum Kartoffelschälen verknurrt, die Rösti und der Gratin kommen fixfertig an. Der Salat wird gerüs- FolIo 3 / 2013 Das Kerngeschäft des Infanteristen ist Kämpfen. Bei jedem Wetter. 44 In der rS tet und gewaschen eingekauft, das Gemüse ebenso. In der Küche arbeiten nur noch Leute, die etwas vom Kochen verstehen. Neuerdings können die Verpflegungszentren der Schweizer Armee sogar Lehrlinge ausbilden. Auf seinem Rundgang inspiziert Zwahlen die Menutafel am Eingang. «Ossobucco», steht da geschrieben, Zwahlen streicht ein c durch: «Ossobuco, so schreibt man das!» Dann schreitet er durch die dampfende Küche zu den Vorratskammern. Bei Zimmertemperatur stapeln sich Packungen mit Fertigrösti und Säcke mit Reis und Teigwaren, türmen sich Konservendosen. Im grossen Kühlraum sind Salatsäcke, Gemüse und Saucen gelagert. Zwahlen kontrolliert Temperatur und Verfalldaten. Bei sofortiger Kühlung dürfen Frischwaren noch 24 Stunden lang aufbewahrt werden. «Hygiene ist das Wichtigste. Ein paar Salmonellen, und die ganze Kompanie ist ausser Gefecht.» Deshalb darf das Tiramisù nicht mit frischen Eiern zubereitet werden, sondern mit einem Pulver, das mit Milch angerührt und mit Mascarpone vermischt wird. In der Küche brodelt mittlerweile das Wasser für die 80 Kilo Hörnli. Zwahlen beanstandet ein paar Teeflecken am Boden. Er weiss genau, wo sich Schmutzreste verbergen, und kontrolliert das Rad des Dosenöffners. Es ist schmutzig. Ebenso die Gummidichtung in der Wand hinter dem Kipper. Zwahlen macht kein grosses Aufheben darum. Zufrieden schnuppert er in der Stahlwanne, in der die Kalbshaxen schmoren. Vor dem Mittagessen will er noch den Abfallcontainer auf dem Kasernenplatz inspizieren. Was er dort sieht, gefällt ihm gar nicht: Auf dem Boden verstreut liegen Speisereste. «Das kann ich nicht akzeptieren», schnaubt er. Er zückt die Kamera, um die Situation zuhanden der Akten zu dokumentieren. Doch die Laune lässt er sich deswegen nicht verderben. «Alles in allem wird hier korrekt gearbeitet», lautet sein Fazit. Kurz nach 11 Uhr stehen die ersten Rekruten in der «Fassstrasse» vor der Küche. Einer wundert sich: «Was ist denn heute los? Das ist ja ein richtiges Festmenu.» Am Kiosk – Energy-Drink im Tarnanzug (W 10) Nach dem Mittagessen holt sich Rekrut Parisi am Kiosk noch einen Energy-Drink. Der Kiosk ist viereinhalb Stunden am Tag geöffnet und der einzige Ort auf dem Kasernenareal, wo man sich den einen oder anderen kleinen Wunsch erfüllen kann. Hier gibt es Schokoladestengel, Kägifret, Ragusa, Choc Ovo, Gummibärchen, Cola, Energy-Drinks, Schnupftabak. Die Preise sind tief, sie liegen im Schnitt nur etwa zehn Prozent über dem Einstandspreis. Zigaretten und Alkohol gibt es nicht. Reissenden Absatz findet vor allem der Energy-Drink der Marke David für 2 Franken 50. Hundert Büchsen gehen davon pro Tag weg. Der Produzent aus dem St.Galler Rheintal hat für die Infanterie-RS deshalb eigens eine Büchse designen lassen. Sie trägt einen Tarnanzug und ist mit dem Wappen der Infanterie-RS 11 geschmückt sowie mit dem Slogan: «Persönlichkeit – Charakter – Stil». 20-Kilometer-Marsch – die «Balkanis» (W 11) Bei Kilometer 10 bricht der erste ein. Der Rücken will nicht mehr. Der Rekrut steht am Waldrand, krümmt sich, jammert. Marschieren könne er noch, sagt er, doch den Rucksack müsse er abgeben. Weil der voll bepackt ist, wiegt er etwa zwölf Kilo. Keiner erklärt sich bereit, einen zweiten zu tragen. Einer ruft: «Was seid ihr denn für Kameraden, gopfertami?» Aber auch er sieht sich ausserstande, noch mehr zu schultern. Erst nach zwei, drei Minuten, es sind schon fast alle Rekruten vorbeimarschiert, übernimmt einer den Rucksack für eine Weile. Es ist ein heisser Frühlingstag, RS-Woche 11, der Himmel ohne Wolken, die Ostschweizer Landschaft in Blüte, den Rekruten rinnt der Schweiss in den Nacken. «Wir beissen stärker durch als sie, wir sind motivierter», sagt der Obergefreite Ramadani, der ganz vorn mitläuft. Mit «sie» meint er die «Eidgenossen». «Vielleicht liegt das daran, dass wir mehr von der Macht des Militärs wissen oder dass unsere Eltern stolz sind, wenn ihre Söhne in der Schweizer Armee dienen.» Ramadanis zweite Heimat, Kosovo, ist in seinem St.Galler Dialekt kaum zu hören und doch immer präsent. Für den Obergefreiten gibt es eine Trennlinie zwischen «wir» und «sie». Auf der einen Seite die Secondos, die «Balkanis» vor allem, wie Ramadani sie nennt, auf der anderen Seite die Meiers, Hubers und Müllers. Dass er als Balkani in einem hierarchischen System plötzlich mehr zu sagen hat als viele geborene Schweizer, macht Ramadani nicht nur stolz, sondern auch dankbar. «Wir haben eine gute Leistung geliefert, und sie haben uns vertraut», sagt er. Das hat er bisher nicht oft erlebt. Die Gruppenführer des Zugs Bivio erzählen die Geschichte von ihrem Aufstieg zu Unteroffizieren gern. Da sind die Rekruten Ramadani, Guci, Collorafi und Sherifi, die ihre RS gemeinsam in der Kaserne Chur begonnen haben, «wo die Ausbildung extrem viel härter ist als in Neuchlen». Sie verstehen sich gut, Ramadani und Sherifi gingen sogar zusammen zur Schule, und sie gaben alle ihr Bestes. Sie waren die, die sich durchkämpften und dann noch ein paar Liegestütze extra machten. Als man ihnen eröffnete, sie seien zum Weitermachen und Befehlen geeignet, sagten sie: Wir möchten einen Zug gemeinsam übernehmen. So entstand der «Balkanzug» Bivio. Doch auch wenn sie die Herkunft eint, haben die Gruppenführer ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Das wissen sie aus dem Kaderkurs. Der zackige Ramadani zum Beispiel ist ein deutliches D, ebenso der Profiboxer Sherifi. Der freundliche Guci hingegen gilt als S, der ruhige Collorafi ist G, und Zumbach gehört klar zur Gruppe I. Willkommen in der Welt nach Disgy. Disgy ist eine Comicfigur mit getupfter Krawatte, die «gehirngerecht» durch das Buch «Das 1×1 der Persönlichkeit» führt. Der Bestseller, der bereits in der 14. Auflage erscheint, wird jedem Kaderanwärter der Schweizer Armee in die Hand gedrückt, auf dass er sich selbst und andere besser verstehen lerne. Laut dem DISG-Modell, das auf einer Typologie aus dem Jahr 1928 basiert, ist jeder Mensch entweder mehrheitlich dominant (D), initiativ (I), stetig (S) oder gewissenhaft (G). Aus den Kombinationen der Eigenschaften ergeben sich insgesamt zwanzig Verhaltenstypen, die vom Pionier über den Perfektionisten bis zum Gralshüter reichen, aber so weit mochte keiner der fünf Gruppenführer das bunt bebilderte Büchlein lesen. Und so sind sie einfach D, I, S oder G, und Ramadani sagt, ihr Zug funktioniere gerade deshalb so gut, weil Collorafi ein bisschen ruhiger sei, Guci ein bisschen geduldiger, Zumbach mitreissend und er und Sherifi ganz klar die strengen Chefs. FolIo 3 / 2013 45 In der rS Handgranatenwerfen: Ein Höhepunkt der Ausbildung. Hände hoch! Was früher der Feind war, heisst heute Gegenseite. FolIo 3 / 2013 46 In der rS Bei Kilometer 15 werden die Stimmen lauter. Die Rekruten marschieren auf einen Hügel, die Riemen des Rucksacks schneiden ein, und weil es gestern geregnet hat, rutschen sie immer wieder aus, ein paar fallen in den Dreck. «So ein verdammter Kack!» – «Wann kommt endlich der nächste Zwipfstand?» Als Zwischenverpflegung gibt es Schokolade, Militärbiscuits, Früchte, Tee und Schleckwaren. Vor ein paar Wochen, erzählt der Obergefreite Ramadani, war die Englischlehrerin, die ihn und Sherifi unterrichtet hatte, nichtsahnend in der Kaserne Neuchlen. Er habe viel Mist gebaut in seiner Jugend, sagt Ramadani, schlimmes, dummes Zeug. Doch nun sei er dank Freundin und Lehre und auch dank dem Militär auf dem richtigen Weg. Jedenfalls, so erzählt er, besuchte diese Englischlehrerin mit einer Gruppe von Jugendlichen die Rekrutenschule. Und plötzlich stehen diese beiden ehemaligen Problemschüler vor ihr, kurzgeschoren, in Uniform – Respektspersonen. «Sie konnte es kaum fassen.» Bei Kilometer 17 wird das Essen serviert, es gibt Spaghetti bolognese, dazu Tee so süss, dass einen die Zähne schmerzen. Tee, so geht das Gerücht seit Generationen, der Antibocktarin enthalte, einen Lustkiller zur Triebdämpfung. Ein Unteroffizier, klein und untersetzt, geht auf und ab und fordert die Soldaten mit schriller Stimme auf, schneller zu essen, worauf sie ihre Spaghetti hektisch runterschlingen. Die Armee macht aus Bürgern Soldaten, aber macht sie auch aus Soldaten Bürger? An der Militärakademie der ETH Zürich wurde 2009 in einer Bachelorarbeit untersucht, ob der Militärdienst zur Integration beitrage. Dafür befragte man 146 WK-Soldaten und Durchdiener – Soldaten, die ihre ganze Militärdienstzeit an einem Stück leisten. Das Resultat zeigte, dass sich fast die Hälfte der Soldaten mit Migrationshintergrund durchs Militär mehr als Schweizer fühlten, und beinahe ebenso viele glaubten ebenfalls, dass sie nun von anderen stärker als Schweizer gesehen würden. Bei Kilometer 19, kurz vor dem Ziel, ist der Obergefreite Guci noch immer das Schlusslicht. Er hat sich sein Sturmgewehr so umgehängt, dass er die Arme aufstützen kann. Er raucht eine Zigarette nach der andern. Wenn niemand hinsieht, hört er Musik, was eigentlich verboten ist. Und wenn er die Musik satthat, spricht er über seine Hoffnungen. Nach seiner Zeit bei der Armee, sagt er, wolle er es bei der Polizei versuchen. Bevor er einrückte, arbeitete Guci als Angestellter in einem Supermarkt. Nach Ladenschluss half er jeweils noch etwa zwei Stunden seinen Eltern, die ein Reinigungsgeschäft betreiben. Er lebt noch daheim, liefert seinen Eltern jeden Monat einen stattlichen Teil seines Lohnes ab. Kürzlich hat er eine Frau aus Zug kennengelernt. Sie ist 22, er 23, mit ihr kann er über Gott und die Welt reden; die unter 20jährigen kommen ihm dagegen so unreif vor. Ein paarmal waren sie schon zusammen aus, nur essen und reden, er will das langsam angehen. Guci ist gern in der Armee, fühlt sich ernst genommen. Doch ab und zu habe er Mühe damit, dass man hier zwischen «Eidgenossen» und «Ausländern» unterscheide, obwohl doch alle einen Schweizer Pass hätten. Er kenne dieses Problem schon aus der Schule. Vielleicht, sagt er, habe er sich im Geschichtsunterricht deshalb so viel Mühe gegeben, und während er raucht und zwischen Hügeln und Bauernhöfen hindurchmarschiert, zählt er zum Beweis Schweizer Schlachten auf, die Schlacht am Morgarten, die Schlacht bei Sempach, die Schlacht bei Murten, und hat die ganze Zeit sein feines, ironisches Lächeln im Gesicht. Zum Glück wissen die Obergefreiten Ramadani und Guci nicht um die Studie «Sicherheit 2012» der ETH-Militärakademie. 1200 Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger werden jedes Jahr zur Verteidigungspolitik befragt, nun hat man erstmals auch Fragen zu «Schweizern mit Migrationshintergrund und deren Militärdienstleistung» gestellt. 85 Prozent der Schweizer finden es gut, dass auch eingebürgerte junge Männer Wehrdienst leisten müssen. 66 Prozent sind der Meinung, dass diese Männer dadurch stärker «in die Schweiz integriert» werden. Aber dass diese jungen, motivierten, begeisterten Secondos wie Ramadani oder Guci im Kriegsfall bereit wären, die Schweiz genauso engagiert und loyal zu verteidigen wie ihre «eidgenössischen» Kameraden, das glaubt nur jeder zweite der Befragten. Häuserkampf – «nicht das Wahre!» (W 11) Obergefreiter Ramadani: Klar ein Chef. In der Böhlstrasse, die durch den kleinen nachgebauten Dorfkern oberhalb der Kaserne führt, tobt der Häuserkampf nicht, er plätschert vor sich hin. Es ist Freitagnachmittag, das Ende der 11.RSWoche naht. Für jene Rekruten, die Offiziers- und Unteroffiziersanwärter sind, ist es der letzte Tag in Neuchlen; sie wechseln nach Chur an die Infanterie-Rekrutenschule 12. Die übrigen werden noch zwei Wochen in Neuchlen bleiben, dann werden sie nach Walenstadt verlegt. Eine Gruppe des Zugs Bivio ist hier oben noch im Einsatz, Zugführer Brügger kommandiert die Erstürmung der Böhlstrasse 1, in der sich als Gegenseite der Obergefreite Collorafi FolIo 3 / 2013 48 In der rS mit einem Rekruten verschanzt hat. Aber zuerst müssen die Laser waffen geprüft und richtig eingestellt werden; eine funktioniert nicht mehr. Sie sollen den Kampf realistisch machen; wird einer getroffen, ertönt ein lautes Pfeifen, bis er sich flach niederlegt und den verletzten oder toten Mann spielt. Die Zeit dehnt sich. Die Rekruten üben sich in der Kunst, die jeder Soldat auf dieser Welt lernt: beschäftigt zu erscheinen, wäh rend man nichts tut. Dann befiehlt Oberwachtmeister Brügger eine Pause. Rauchend und Kraftriegel mampfend sitzen die Obergefreiten und die Re kruten im Gras und klopfen Sprüche. Einer frotzelt über die Ess gewohnheiten der Muslime. «Aber Schlangen dürft ihr essen?» fragt er einen seiner Kameraden. «Ja», gibt der zurück, «Menschen auch.» Giovanoli, ihr anderer Zugführer, habe vor ein paar Tagen die theoretische Autoprüfung bestanden, erzählt einer, hehe. Der Zugführer kann die Rekruten über den Kasernenhof jagen, aber anders als die meisten von ihnen darf er noch nicht einmal Auto fahren. sollen? «Mich scheisst’s an», sagt Guci und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, «die Rekruten auch, ich verstehe das gut. Ich will endlich wieder einmal etwas tun, das mir niemand befohlen hat.» Diesen Wunsch kennt jeder Soldat. Ihn zu unterdrücken, die zivilen Reflexe zu verdrängen, ist die wichtigste Lektion, die er vom ersten Tag an im Militär lernt. «Befehl und Gehorsam sind der deut lichste Ausdruck der militärischen Führung», heisst es im 3.Kapitel des Dienstreglements. Zugführer Brügger beendet die Pause und gibt das Kommando zum Angriff. Geduckt rennen die Rekruten auf die Böhlstrasse 1 zu, Parisi wird noch vor dem Haus aus einem Fenster im Obergeschoss als erster niedergestreckt. Die beiden, die sich verschanzt haben, leisten geschickt Widerstand, Collorafi läuft behende von Fenster zu Fenster, um die Angreifer zu überraschen. Nach einer halben Stunde ist das Haus zwar erstürmt, aber drinnen liegen Rekruten herum wie tote Fliegen. Der Zugführer ist unzufrieden: «Diese Übung war nicht das Wahre! Zu wenig präzis im Ablauf. Und vergessen Sie nie: Keine Bewegung ohne Feuer!» Rekrut Parisi ist frustriert, das Herumsitzen und Warten nervt ihn. Dass der Zug Bivio fast die Hälfte seiner Mitglieder verliert, inter essiert weder ihn noch die anderen besonders. «Jetzt sind dann nur noch die Guten hier», sagt Rekrut Gassmann und grinst breit. Der Obergefreite Guci diagnostiziert bei sich selber eine Motivationskri se. Gestern hat er beim Häuserkampf eine schlechte Note bekom men, nur 2 von 5 möglichen Punkten. Das Funkgerät fiel herunter und war kaputt, da schrie er halt herum. Was hätte er sonst tun Derweil hat Rekrut Sanchez unten auf dem Kasernenhof in Neuch len sein persönliches Material zur Kontrolle ausgelegt: Krawatten, Helm, Namensschildchen, Feldflasche, Taschenmesser. Als Offiziers anwärter wird er am Montag in Chur viele neue Gesichter zu sehen bekommen. So richtig freut er sich aber noch nicht darauf. «Es stinkt mir schon ein wenig, wir hatten hier einen so guten Zug», sagt er und hält seine graue lange Unterhose in die Luft, als der Feldweibel brüllt: «Funktionsunterwäsche!» FRIDAY Giardina rten ä nd der G hr Der Abe U 2 7 bis 2 2013 | 1 rz rich ä ü Z M . e 15 Mess .ch a in rd www.gia <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0sDC2MAYAE1Iddg8AAAA=</wm> <wm>10CFWMMQ4CMQwEX-Ro1xvnbFKi604UiD4Noub_FRwdxTajmT2OGQ2_XffbY79PAj2MmUrN4WrDWTE7sjFrwikHdSFC2DbFX2FgDQfW6RjcqEVYL4tc0WtR58OXBaH2fr4-TzdGk4IAAAA=</wm> 49 In der rS Beförderung – die neuen Wachtmeister (W 13) mit seinem forschen Händedruck für einen Moment aus dem Gleichgewicht zu bringen. Nachdem die Hälfte befördert ist, gibt es Applaus und eine Pause, Oberst Drexel wischt sich den Schweiss von der Stirn, und die Kapelle spielt den Marsch «Feurig Blut» von Hans Heusser. Die schmucke spätgotische Kirche von Herisau ist an diesem Freitagmorgen im Juni bis auf den letzten Platz gefüllt. Aber vorne steht nicht ein Pfarrer, vorne sitzen 125 junge Männer in Ausgangsuniform, das grüne Béret auf dem Kopf, die schwarzen Schuhe gewichst, die Hände flach auf den Oberschenkeln: Obergefreite, die heute zu Wachtmeistern gemacht werden. Statt drei diagonalen Strichen werden sie künftig einen Winkel mit Laub und Kreuz als Gradabzeichen tragen. Auf die Minute genau um 10 Uhr 30 kommandiert Oberstleutnant Wolf, der Stellvertreter von Oberst Drexel: «Detachement auf!» und verkündet: «Ich werde als Chef Regie durch die Beförderungsfeier führen.» Gekommen sind nicht nur Angehörige und Freunde der Wehrmänner, sondern auch hohe Gäste aus Politik und Militär, allen voran Brigadier Caduff; als Kommandant des Lehrverbandes Infanterie ist er der oberste Infanterist des Landes. Auf der Empore intonieren Rekruten der Militärmusik schmissig den «Polizist-Wäckerli-Marsch» von Otto Würsch, dann schreitet Oberst Drexel zur Tat. Bevor die Beförderungszeremonie anfängt, lässt der Oberst die Finger knacken – er weiss, was auf ihn zukommt: 125 Hände gilt es zu schütteln. Der Handschlag findet über der Schweizer Fahne statt, die der Fähnrich tapfer in der Horizontalen hält. Auf der einen Seite der Fahne steht Oberst Drexel, auf der anderen meldet sich zum Beispiel der Obergefreite Zumbach mit seinem alten Grad korrekt an, worauf Drexel ihn mit den Worten: «Wachtmeister Zumbach!» in den neuen Grad befördert. Steht einer zu weit vor der Fahne, macht Drexel sich einen Spass daraus, ihn Nach der Beförderungsfeier lädt die Armee zum Apéro im nur ein paar Schritte entfernten Casino von Herisau. Das strahlendste unter den vielen strahlenden Gesichtern gehört Wachtmeister Sherifi. Denn er hat heute für eine Weile seinen letzten Tag in Uniform. Er ist ein sogenannter Fraktionierer, macht eine Pause und rückt erst im Oktober wieder ein. Bis dahin will der Profiboxer in der Klasse der Cruiser an seiner Karriere arbeiten, der ein zu langer Unterbruch schaden würde. Das Militär hätte gern einen Leutnant aus ihm gemacht, aber Wachtmeister Sherifi hat etwas Grösseres vor: Er will Weltmeister werden. Und schon im herzen von Paris. tgv-lyria.com <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0sLS0MAEAAyVSXQ8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ5CQQwEv6iX7bbXXKkkz70gCL6GoPl_BYdDrJnM7HnWHPjtetwex70U8Cm6MpdX0EZQc5ZjjS8skCDULhp0dZv6Vwg0g0BvR0AhWkNo4tbJbLX90LsGx_v5-gAQyxmFggAAAA==</wm> * Kürzeste Fahrzeit, bis zu 6 tägliche Hin- und Rückfahrten - © Marc Paeps / TGV Lyria Zürich <> PAriS 4:03* | BASEL <> PAriS 3:03* | 6x TägLich* 50 In der rS WIR SIND KÄMPFER. PUNKT. Noch 48 Tage, 1 Stunde und 32 Minuten bis zur Entlassung – am Besuchstag bewundern die Mütter die sauber gemachten Betten – der 50-Kilometer-Marsch wird zum Fiasko – was bleibt, ist das Positive. Unter der Maske wären sie 24 Minuten lang gegen Gas geschützt. FolIo 3 / 2013 51 In der rS Walenstadt – der Countdown beginnt (W 14) Die Churfirsten leuchten in der Morgensonne, der See glitzert. Der Waffenplatz Walenstadt befindet sich an bester Lage direkt beim Strandbad. Im Restaurant Seepromenade hat sich das Kommando zum Morgenkaffee versammelt. Stabsadjutant Widrig, von der Truppe wegen seiner gemütlichen Art und seines Schnurrbarts «Papa Moll» genannt, blättert im «Blick». Aber noch bevor er beim Sportteil angekommen ist, mahnt Hauptmann Hofmann zum Aufbruch. Er macht einen leicht gestressten Eindruck. «Heute bin ich grausam im Seich», sagt er, während er zum Parkplatz eilt. Ausserdem ist er immer noch verärgert, dass in Neuchlen Material im Wert von 4000 Franken verloren ging, was auch einen beträchtlichen administrativen Aufwand bedeutet. Dann steigt er in seinen Skoda und braust davon zum Rapport auf dem Waffenplatz St.Luzisteig. Der Umzug der Rekrutenschule von Neuchlen nach Walenstadt in der RS-Woche 14 ist ein organisatorischer Kraftakt, der vor allem die höheren Kader fordert. Für die letzten RS-Wochen müssen die Züge neu geordnet, die Chargen neu verteilt werden. Die Züge Canale und Dimitri verschwinden, sie werden mit den Zügen Amboss und Bivio zusammengelegt. Die Zugführer Brügger und Giovanoli, die vom Oberwachtmeister zum Leutnant befördert wurden, bleiben dem Zug Bivio erhalten. Ihr Zug wird um 20 Mann auf 44 verstärkt – die heissen jetzt Soldaten, auch die Rekruten wurden letzte Woche befördert. Bei den Unteroffizieren hat es Veränderungen gegeben. Wachtmeister Collorafi wurde den Opfor, den Opposing Forces, zugeteilt; er wird bei den kommenden Übungen die Rolle der Gegenseite spielen, wie man heute den Feind nennt. Ramadani fungiert jetzt als Stellvertreter des Feldweibels. Ihm sind sieben Soldaten unterstellt. Guci, der in der Woche zuvor in einer Motivationskrise steckte, wird als Materialchef eingesetzt. Die neuen Kollegen von Wachtmeister Zumbach heissen Muriq, Pfenninger und Wettstein. Zumbach trägt’s mit Fassung: «Hier kann man sich seine Kollegen nun einmal nicht aussuchen.» Er freut sich vor allem auf den Schiessplatz Paschga, der mit seinen für den Nahkampf ausgerüsteten Häusern als eine der modernsten simulationsgestützten Ausbildungsanlagen gilt. Und auf den 50-Kilometer-Marsch, versteht sich. Bevor es richtig losgeht, müssen die Soldaten das Material wieder fassen, das sie vor dem langen Pfingsturlaub in Neuchlen verladen hatten: Rucksack, Schanzwerkzeug, Notkocher, Gamelle, Zeltblachen, Schlafsack und Liegematten. Bis alle Utensilien verteilt, sachund fachgerecht verstaut und wiederum kontrolliert sind, dauert es einen Vormittag. Auf dem Handy von Soldat Serbanovic läuft der Countdown: Noch 48 Tage, 1 Stunde und 32 Minuten bis zur Entlassung am 1.August. Serbanovic sagt, er leide seit der 6.Woche an Rückenschmerzen. Nun habe man ihn endlich als Betriebssoldat bei der Materialausgabe eingeteilt. Er langweile sich, sagt der gelernte Polymechaniker, doch er wolle den Dienst zu Ende bringen. «So muss ich wenigstens keinen Militärpflichtersatz zahlen.» Soldat Egger ist nicht der Typ, der sich beklagt. Er hat auch keinen Grund dazu. Als frischgewählter Kantonsrat bekommt er regelmässig Urlaub. Letzte Woche war er für seine erste Session gleich vier Tage weg. Er votierte im St.Galler Kantonsparlament gegen die Abschaffung des Pendlerabzugs und reichte seinen ersten Vorstoss ein: für die Schaffung einer Meldestelle für IV- und Sozialhilfebetrüger. Nun sitzt er als Wache beim Eingang zu den Truppenunter- künften und passt auf, dass kein Unbefugter das Gebäude betritt. Im 1.Stock hat sich Oberleutnant Dubois-dit-Bonclaude einquartiert, mit strenger Miene weibelt er durch die Gänge. Der 30jährige, der sich für die Karriere des Berufsoffiziers entschieden hat, hat mit seiner Büroordonnanz die neuen Organigramme und die Einsatzpläne für die nächsten Wochen erstellt. Gefechtsschiessen – das Beste am Militär (W 15) Die Warnflagge zuckt an der Fahnenstange, die Soldaten liegen in den Gräben, die Maschinengewehre rattern. Gefechtsscheiben sind das Ziel, kleine und grosse, die Panzer darstellen. Sie bewegen sich auf einer Schiene, wenn einer im Führungsstand an der Fernsteuerung dreht. Kompaniekommandant Dubois-dit-Bonclaude schiesst eine Petarde in den Himmel, das Zeichen für: Feuer einstellen. Der Rauch verzieht sich, die Gewehre werden neu geladen. Dann tritt Kommandant Dubois-dit-Bonclaude wieder aus dem Führungsstand, schiesst erneut eine Petarde in die Luft, das Zeichen für: Feuer wiederaufnehmen. Wer nur auf die Geräusche achtet, hört ein minimalistisches Musikstück: das Knattern der Gewehre, das Rumsen der Handgranaten, das Zischen der Panzerfaust. Eine Maschinengewehrkugel kostet 55 Rappen, und an diesem Nachmittag feuern die Rekruten nach Hauptmann Hofmanns Schätzung etwa 3000 Schuss ab. Die Patrone ist einer der günstigsten Teile der Ausrüstung, die sich pro Soldat auf 5700 Franken beläuft. Die Infanterie-Rekrutenschule 11 kostet, für fünf Kompanien und den Stab, 2 Millionen Franken, die Hälfte davon macht der Sold aus, 700 000 Franken die Verpflegung. Während der Rekrutenschule werden insgesamt über 91 000 Diensttage geleistet, einer kostet 22 Franken, hinzu kommen 6 Franken pro Soldat und Diensttag für die Transportkosten in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Wehrleute in Uniform gratis benützen können. Nach der Schiessübung marschieren die Soldaten zurück in die Kaserne. Sie wirken glücklich, fast schon euphorisch. Der Tenor ist eindeutig: Das Schiessen ist einfach das Beste am Militär. Kadervorkurs in Chur – die vier H (W 16) Ungeeignet, mangelnde Leistung, Disziplinlosigkeit: Nach einem Monat hat man 22 von 149 Kaderanwärtern bereits wieder von Chur nach Walenstadt in die RS zurückgeschickt. Das erstaunt nicht, denn dem Kommandanten der Kaserne Chur ist sein Ruf vorausgeeilt. Der Baumgartner sei einfach ein harter Siech, hatten die Gruppenführer des Zugs Bivio, die hier in ihre RS eingerückt waren, anerkennend gesagt. Streng, fordernd, aber auch stets bereit, selber durch den Dreck zu kriechen. Nun steht Oberst im Generalstab Peter Baumgartner im Vortragssaal vor den höheren Kadern der nächsten RS. Während der Korpsvisite ist es einen Moment lang so still, dass man das Knarren der Dachbalken hört. «Guten Tag, Kader!» ruft Oberst Baumgartner endlich in den Raum. «Guten Tag, Kommandant!» schallt es vielstimmig zurück. Hätte man in einem Hollywoodfilm die Rolle eines Colonels zu vergeben, der Kommandant der Infanterie-Rekrutenschule 12 wäre eine gute Wahl: durchtrainiert, kurzgeschoren, die markanten Gesichtszüge eine Lizenz zum Befehlen. Baumgartners Lieblingswort ist «tagg!», die Dialektform von «zack!». «Tagg, das muss sitzen!» sagt er gern. An diesem Morgen sollen die Anwärter im Kadervor- FolIo 3 / 2013 52 In der rS Im Zwölferschlag: Tagsüber herrscht hier perfekte Ordnung. kurs seine Führungskultur kennenlernen. «Das Dienstreglement beschreibt die Führungskultur der Schweizer Armee,» sagt er, «und die stelle ich ins Zentrum! Wir setzen auf den Bürger in Uniform, wir verlangen Mitdenken, Engagement, Initiative. Wir führen durch Zielvorgaben.» Dann folgt eine Kaskade von kernigen Sätzen, eine Einführung in die Welt der Infanterie im Powerpoint-Modus: Wir sind Kämpfer. Punkt. Das ist unser Kerngeschäft! Die sechs Grundfertigkeiten des Infanteristen: Bereit sein. Sich schützen. Savoir-être. Kommunizieren. Bewegen. Schiessen! Kein Bullshit während der Übungen! Informiert ist motiviert! Das Motto jedes Infanteristen: Ich bin verantwortlich! Das Credo der Kader: Die vier H. Hingabe. Härte. Herz. Und Humor. («Einmal täglich muss Ihr Zug etwas zum Lachen haben. Das ist ein Auftrag!») «Es gibt Dinge im Militär», sagt Oberst Baumgartner, «die nicht auf den ersten Blick verständlich sind. Es gibt jedoch für alles eine Begründung. Warum muss die Zimmerordnung einheitlich sein? Weil das zur Präzision erzieht und wichtig ist für den Einsatz: Ich muss im Notfall reflexartig nach der Ausrüstung greifen können.» Während im Dachstock zum Schluss die Nationalhymne gesungen wird, üben die Kaderanwärter in der Kaserne noch das Führen. Die zukünftigen Unteroffiziere, zum Beispiel die frischgebackenen Obergefreiten Brasch und Iseli aus dem Zug Bivio, werden hier nach gut vier Wochen als Gruppenführer vor ihren Rekruten stehen. Die Ausbildung der Offiziersanwärter hingegen dauert noch lang. Man dürfe, sagt Zehnder, einfach nicht so weit denken, man müsse auf Autopilot schalten. Nach der Unteroffziersschule wird Zehnder vier Wochen den Offizierslehrgang in der Kaserne Bern besuchen. Dann folgen zehn Wochen Offiziersschule in Liestal und Birmensdorf, bis er Ende Oktober als Zugführer in die Kaserne Neuchlen zurückkehrt. Natürlich wird er auch autoritär sein, sagt er; im Buch «Das 1×1 der Persönlichkeit» war er eine Mischung aus G und D, aus gewissenhaft und dominant. Aber sinnloses Herumschreien ist nichts für ihn, er will seine Rekruten überzeugen. Ein bisschen, so scheint es, freut sich Zehnder inzwischen sogar auf den 29.Oktober, jenen Montag, an dem er seinen eigenen Zug übernehmen wird. Der zweite Anwärter, Obergefreiter Sanchez, hat seinen Offizierstraum nach zwei Wochen in der Unteroffiziersschule mit einem «Sechseinhalber» begraben. Mit einem Formular 6.5 teilte er seinem Vorgesetzten mit, er wolle lieber Unteroffizier sein. All die Theorie, die ein Zugführer beherrschen muss – das ist ihm zu abstrakt, das liegt ihm einfach nicht. Als Obergefreiter wird er näher bei den Soldaten sein. Der Gedanke an den bevorstehenden ersten Tag mit den neuen Rekruten macht ihn ein bisschen nervös. «Der Anfang ist entscheidend, da muss alles sitzen.» Am liebsten wäre er eine Mischung aus Guci und Zumbach, nicht zu lieb, aber auch nicht zu grob im Umgang. Besuchstag – herzig, wie der Kleine rennt (W 16) Die meisten Besucher drängen sich auf dem Dach des Bunkers in der prallen Sonne. Ein paar quetschen sich in den Schatten daneben: Mädchen, die mehr auf die Displays ihrer glitzernden Handys achten als auf die Heldentaten ihrer Geliebten in Tarnfarben. Und Grosseltern, zum Beispiel jene, die in die Kaserne Walenstadt gekommen sind, um zu sehen, wie der Michi sich macht. Und um FolIo 3 / 2013 53 In der rS Tag der Angehörigen: Hauptmann Hofmann zeigt seinem Sohn das Militär. nebenbei auch beim Verpflegungsstand zuzulangen. Die Grossmutter hat sich gerade zwei Bananen, zwei Äpfel, zwei Orangen und ein paar Packungen Militärbiscuits gesichert. Dann erzählt sie von ihrem Michi, der in einem der Panzer sitze und ihr vorhin, während einer kurzen Pause, zugewinkt habe. «Es ist schon in Ordnung, dass die Buben all diese Sachen lernen», sagt sie nachdenklich, isst eine halbe Orange, schiebt sich ein paar Biscuits in den Mund. «Aber am Ende bringt alles nichts. Gegen die Aliens sind wir machtlos.» mit grosszügigem Ausschnitt schlägt ihrer Freundin vor: foltern. Überhaupt wird der gespielte Ernstfall wenig ernsthaft kommentiert: «Herzig, wie der Kleine rennt», sagt eine, als ein Soldat mit letzter Kraft in Vollmontur an ihr vorüberkeucht. Hauptmann Hofmann zieht am Trinkschlauch. Dann erklärt er die schwere und gefürchtete Panzerfaust, die eben vorbeigeschleppt wird, und macht darauf aufmerksam, dass nachmittags Panzer und Gerätschaften auf dem Kasernenhof stehen und «angefasst werden dürfen». 400 Angehörige werden heute, am Freitag der 16.RS-Woche, erwartet. Das lässt Kompaniekommandant Dubois-dit-Bonclaude angespannt auf und ab tigern. Er hat den Besuchstag organisiert und wird ihn mit einer kurzen Ansprache eröffnen. Bisher sind erst einige Dutzend der Angemeldeten eingetroffen. Es ist neun Uhr und bereits über zwanzig Grad warm an diesem strahlenden Junitag. Kluge Omas haben Regenschirme mitgenommen, die sie jetzt als Sonnenschutz aufspannen. Hauptmann Hofmann hat seinen Wasserkanister im Rucksack aufgefüllt. Der Trinkschlauch hängt ihm locker über die Schulter, allzeit saugbereit. Die Soldaten stehen stramm neben Dubois-dit-Bonclaude, der die Gäste begrüsst. Dezenter Applaus. Geschafft. Ab nun wird Hauptmann Hofmann gewandt die Übungen kommentieren. Mit einem Megaphon ausgerüstet, steht er lässig im offenen Puch. Obwohl nur mit Markierpatronen geschossen werde, ermahnt er die Anwesenden, die bereitgelegten Ohrstöpsel einzusetzen. Kurz darauf folgen die ersten Detonationen. Schüsse zischen, Vorgesetzte brüllen, Gefangene liegen am Boden, werden mit Kabelbindern gefesselt. Hauptmann Hofmann fragt rhetorisch durch das Megaphon: «Und, was machen wir jetzt mit denen?» Ein Mädchen Auf dem Kasernenareal ist das Mittagessen bereit. In Zweierreihen warten die Angehörigen neben ihren Jungs auf die Ausgabe von Gehacktem mit Hörnli und Salat. Alles landet auf einem Plasticteller und wird mit Reibkäse bedeckt. Soldat Roos sitzt mit Eltern und Grosseltern an einem der langen Festbänke. Seine Mutter konnte bei ihrem Sohn bisher weder positive noch negative Veränderungen durch die RS feststellen. Er war stets selbständig, schon mit vierzehn Jahren zog er aus dem Thurgau nach Davos ins Sportgymnasium. Während der RS habe er nie geklagt oder gejammert. Sonntags packe er seine frisch gewaschenen Hemden ein und gehe. Nach dem Essen steht die Kasernenbesichtigung auf dem Programm. Als wandelten sie durch ein Museum, gehen die Eltern murmelnd und staunend durch die Schlafsäle, in denen alles seinen festen Platz hat. Handtücher müssen ganz rechts auf der Stange über dem Bett hängen, die Transporttasche gehört anliegend an die Rückwand des Bettes gestellt, im Kleiderschrank gilt die Reihenfolge «leerer Kleiderbügel, Dienstanzug, Kälteschutz, Ausgangsanzug, Kleidertasche», ausserdem müssen die Kleider so hängen, dass man beim Öffnen des Schranks das Wort Suisse auf dem Oberarm der Anzüge erkennt. Über dem Bett herrscht die sogenannte Plan- FolIo 3 / 2013 54 In der rS kenordnung (v.l.n.r.): Helm (Gradabzeichen vorne), Gamelle mit Deckel (Öffnung vorne), Gamelleneinsatz, Feldflaschenbecher. Was die Mütter am meisten beeindruckt, sind die Betten: Sie sind so geometrisch gemacht, als wären die Söhne mit dem Lineal am Werk gewesen, das Duvet überall dreimal umgeklappt. Chur ihre neuen Rekruten. Bei einem ist die Veränderung unübersehbar: Als Robin Brasch vor 17 Wochen in Neuchlen einrückte, grossgewachsen, aber noch etwas kindlich, mit ziemlich langen Haaren und pelzbesetzter Daunenjacke, da erwartete der Bauarbeiter «überhaupt nichts» vom Militär. Nun ist er das Militär. Obergefreiter Brasch, Gruppenführer des Zugs Canale der Infanterie-RS 12 in Chur, sitzt in einer Halle auf dem Kasernenareal und nimmt seine Rekruten in Empfang. Der Raum ist mit Eisengattern verstellt, die ein bisschen an einen Viehmarkt erinnern, nur dass hier statt Rinder gegen sechshundert junge Männer in Turnschuhen und Jeans kanalisiert werden. «Name?!» herrscht Brasch jeden an, der vor seinen Tisch tritt, «Dienstbüchlein?!», «Kampfstiefel gefasst?!», dann schickt er die Jungs in den Canale-Pferch, hinsetzen! Viererreihe! Wer aufs WC muss: melden! Es ist nicht nur das Gradabzeichen mit den drei dünnen Strichen auf der Uniform oder die Glatze, die einen anderen aus ihm machen. Es ist der Gesichtsausdruck. Brasch, vier Monate lang nur allzu bereit, Spässe zu machen, jeden zum Lachen zu bringen, verzieht keine Miene. Er schaut vollkommen ausdruckslos, die Augen leer, als würde er durch die neuen Rekruten hindurchsehen. Das habe er trainiert, sagt er, stolz auf dieses selbstsichere, kalte Auftreten. Schliesslich hat er bei seinen eigenen Vorgesetzten gesehen, wie wichtig der erste Eindruck ist. So wie Zumbach will Brasch wirken: hart, aber fair. Oder wie Sherifi: extrem respekteinflössend. Am Abend zuvor hat er sich den Schädel rasieren lassen, so wie auch die anderen Gruppenführer des Zugs Canale. Alle ausser einem, «der ist ein bisschen gegen das Militär», sagt Brasch und grinst kurz. Eine Woche lang hat Zugführer Giovanoli mit seinen Männern für diesen Moment trainiert: Die Zugschule mit humoristischen Einlagen ist der Höhepunkt des Angehörigentags, und natürlich will jeder Zug der beste sein. Bei 35 Grad lässt Giovanoli die Soldaten antreten, er ist nervös, aber dann klappt alles wie am Schnürchen. Der Zug formiert sich zu Vierer-, Zweier-, Einerreihen, schlängelt sich wie ein Tatzelwurm über den Exerzierplatz, marschiert vorwärts, rückwärts, seitwärts, friert mitten in der Bewegung ein. Und spätestens bei den Formationen Samba, Tetris, Herz und Gorilla, wo affenähnliche Bewegungen mit affenähnlichen Lauten untermalt werden, applaudieren die Angehörigen begeistert. Grossmutter Roos sitzt auf einem Stuhl unter einem Baum und lächelt zufrieden, die Väter johlen, die Mütter klatschen, die Freundinnen kreischen und filmen mit ihren Handykameras, und Giovanoli strahlt. Nun ist er sich sicher, dass seine Entscheidung, noch mindestens ein Jahr als Zeitmilitär zu dienen, die richtige war. Als Koch will er nicht wieder arbeiten. Ihm schwebt die Polizeischule vor, und das Jahr als Zeitoffizier wird ihm dafür eine gute Ausgangslage schaffen. Verschwitzt, aber glücklich beobachtet er die anderen Züge, und dann hört er zum ersten Mal davon, dass er bei seinen Gruppenführern von Anfang an als Held galt. Weil alle anderen Zugführer schwiegen, als die Namen der Obergefreiten des Zugs Bivio verlesen wurden, Ramadani, Sherifi, Guci, Collorafi, Zumbach, weil niemand den «Balkanzug» haben wollte und es Giovanoli war, der schliesslich vortrat und verkündete, er übernehme ihn. Aber diese Geschichte ist ein Missverständnis. «Ich bin an diesem Tag ein bisschen zu spät gekommen und habe die Namen gar nicht gehört», sagt Giovanoli, «ich war schon als Rekrut im Zug Bivio und habe mich einfach gemeldet, als sich sonst niemand meldete.» Bei einem anderen ist die Veränderung weniger sichtbar: Der Obergefreite Sanchez, der sich freiwillig als Offizier abmeldete, versucht zwar, als Gruppenführer streng und bestimmt zu wirken. Das sei sein oberstes Ziel für diesen ersten Tag, sagt er und geht unruhig dem Gitter entlang. Dahinter verteilen sich noch ziemlich ungeordnet die jungen Männer des Zugs Dimitri. Sanchez’ Vorgesetzter, Zugführer Rada, weist ihn an, eine Viererkolonne zu befehlen, und Sanchez stellt sich zum ersten Mal vor seine Rekruten: «Zuelose!» kommandiert er, beinahe sanft, «wir machen jetzt eine Viererkolonne, Sie können auf der Packung sitzen oder stehen, los!» Der Obergefreite ist keine geborene Führungspersönlichkeit. Ob er die Männer durchnumerieren lässt oder ob er ihnen «Achtung!» und «Ruhn!» beibringt – stets ist sein Ton verhalten. Als Kader in Chur – alles wieder von vorn (W 17) SAC-Hütte Sellamatt im Toggenburg, Ostschweiz / Liechtenstein Während die Soldaten der Infanterie-RS 11 ihre letzten Wochen in Walenstadt in Angriff nehmen, erwarten ihre ehemaligen Kameraden, die weitergemacht haben und Obergefreite geworden sind, in <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MDeyNAQAH3ip2A8AAAA=</wm> <wm>10CFWMsQ4CMQxDvyiVnTSXlIzothMDur0LYub_J65sDJZs6T0fR3nDL_f9ce7PItBdmKGD5e7NB1gMb9GTBaUpaDeapXYq_gwBx6bAXIxAhTavYiGaExnXWA9z2dD2eb2_JO6OBYIAAAA=</wm> A ngebote reismit Bestp Garantie. om / er la nd .c M yS w itz to p5 0 FolIo 3 / 2013 Für Sie aufgespürt: Top50-Angebote. MySwitzerland.com/top50 Unsere Experten sind darauf spezialisiert, touristische Highlights in der Schweiz aufzuspüren. Wir beraten Sie gerne: Tel. 0800 100 200 (kostenlos). 55 In der rS «Sanchez!» tadelt Rada, «seien Sie bestimmter!» Später wird der Zugführer erklären, dass der Obergefreite Sanchez halt noch im Kükenstadium sei, dass er sich entwickeln müsse. Aber schliesslich ist dies ja auch der erste Tag und Sanchez voller Vorsätze für die nächsten 21 Wochen: «Ich werde an mir arbeiten, ich werde lauter reden, ich werde bestimmter auftreten», sagt er, stellt sich vor eine Einerkolonne von Rekruten und marschiert mit ihnen zum WC; sie gehen beinahe im Gleichschritt. Durchhalteübung – Operation gescheitert (W 19) Die St.Luzisteig war bereits während der Bündner Wirren des Dreissigjährigen Kriegs (1618–1648) von strategischer Bedeutung. Österreicher und Franzosen errichteten auf der Passhöhe im 17.Jahrhundert Wehrmauern und Sperren. Bündner und Eidgenossen bauten sie zu einer Festungsanlage aus, und im 20.Jahrhundert wurde daraus eine weitverzweigte Trutzburg mit Schützenturm, Kaserne, Bunkern, Kavernen und Panzersperren. Während Generationen haben auf der St.Luzisteig Schweizer Wehrmänner den Ernstfall geübt. Ihr Blick war stets nach Norden und Osten gerichtet, wo man den Feind vermutete. Heute ist die Übungsanlage eine andere, es wird nicht länger ein Grossangriff deutscher oder russischer Truppen erwartet. Aber die Topographie des Geländes – ein sanft abfallendes, von schroffen Felswänden gesäumtes Tal – sorgt dafür, dass die St.Luzisteig ein idealer Ort für Manöver der Schweizer Armee ist. Es ist der zweite Tag der DHU, der Durchhalteübung der InfanterieRS 11. Die Sonne scheint, ein lauer Föhnwind weht über den Pass. Hauptadjutant Hösli hat vor der Kaserne auf der St.Luzisteig eine Kaffeemaschine installieren lassen, an der sich die Offiziere und Unteroffiziere stärken können. Sie haben letzte Nacht wie die Soldaten kaum ein Auge zugetan. Die gestrige Übung in Flums zog sich bis in die Morgenstunden, die randalierenden Demonstranten, die mit Wassersäcken und mit Mehl gefüllten PET-Flaschen um sich warfen, leisteten hartnäckigen Widerstand. Bei der heutigen Übung, erklärt Adjutant-Unteroffizier Grujcic, gehe es darum, verschiedene Zellen von Widerstandkämpfern zu isolieren, die sich nordostwärts im Tal eingenistet hätten – die Übungsanlage ist inspiriert vom Auftrag der Nato-Truppen in Afghanistan. Kompanie 2 hat den Auftrag, einen knappen Kilometer unterhalb der Festung das Tal abzuriegeln, um die Gegner einzukesseln, die sich im Tal versteckt haben. Dort, wo abgeriegelt werden soll, radeln noch zwei schwitzende Mountainbiker von Balzers herauf, nicht ahnend, dass sie sich in militärischem Sperrgebiet befinden. Sie werden von Adjutant Grujcic vom Feldweg auf die Passstrasse beordert. Dann donnern, mächtig Staub aufwirbelnd, zwei Schützenpanzer heran. Stacheldraht wird entrollt. Einer holt aus dem Bauch des Panzers eine Packung Chips. Ein anderer telefoniert mit dem Handy, weil sein Funkgerät nicht funktioniert. Dann verteilen sich die Soldaten im Gelände und blinzeln in die Sonne. Sie schwitzen in ihrer Kampfmontur. Nach über einer Stunde nähert sich auf dem Feldweg eine Gruppe junger Männer in Freizeitkleidern. Sind es Wanderer? Sie steuern auf die untersten Wachposten zu, die Soldaten Egger und Roos. Einer ruft: «Unten im Dorf hat es Bewaffnete. Sie haben unsere Frauen und Kinder entführt.» Er meint das von der Schweizer Armee FolIo 3 / 2013 Geld macht glücklich, wenn man einen Partner zur Seite hat, der zu jedem Lebensabschnitt die persönliche Vorsorgelösung bereit hat. Der Kundenberater Ihrer Kantonalbank lädt Sie gerne zu einem Beratungsgespräch ein. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TW0MDU0twAA55u5lw8AAAA=</wm> <wm>10CFWMoQ7DMAwFv8jRe07c2DOcyqqCqtxkGt7_oyljA8fu7jjSGn489_PeryQwTOjG6akx29Zn-mBzj4RSFewPhIVa9_HnCxibArUcgQq1EGIuYxSJYl-HWjW0fV7vLxzBHmmAAAAA</wm> Aktuelle Analysen und Meinungen jetzt auf unserem Blog. 56 In der rS errichtete Modelldorf etwas weiter unten im Tal. Soldat Egger entgegnet kühl: «Haben Sie einen Ausweis?» Der Anführer der Gruppe erwidert wütend: «Man hat unsere Frauen und Kinder entführt, und Sie wollen unseren Ausweis sehen! Was soll das?» Er zeigt schauspielerisches Talent, wirft verzweifelt die Hände in die Luft: «Unser Dorf wurde überfallen. Unternehmen Sie etwas!» Egger und Roos entscheiden sich für eine Meldung an ihren Vorgesetzten. Der lässt über Funk mitteilen, dass sie das Gepäck der jungen Männer durchsuchen sollen. Als sich Egger über die Rucksäcke beugt, beginnt es bei Roos zu pfeifen, kurz darauf auch bei Egger. Die beiden sind von Scharfschützen getroffen worden: Roos am Kopf, Egger an der Schulter. Sie sind in eine Falle getappt, die angeblichen Flüchtlinge haben sie aus der Deckung gelockt. Ihre Kameraden eilen ihnen zu Hilfe. Die einen verarzten die Verwundeten, die anderen nehmen die jungen Männer in Freizeitkleidern fest, fesseln sie und führen sie ab. Am Himmel sind die Rotoren eines Helikopters zu hören. Doch es ist nicht ein Rettungshelikopter, so weit wird die Übung nicht getrieben. Korpskommandant Andrey, Chef Heer, fliegt ein. Er besucht die Infanterie-Rekrutenschule 11 und will sich ein Bild von der praktischen Arbeit im Feld machen. Am nächsten Tag will die Truppe zurückschlagen und das Widerstandnest im Modelldorf ausheben. Frühmorgens sitzt Oberleutnant Dubois-dit-Bonclaude in der Kommandozentrale und brütet über seinen Karten, derweil die Soldaten herumsitzen, auf Panzern, im Gestrüpp, am Waldrand. Sie warten auf den Befehl, der einfach nicht kommt, gopfertami. Eine Stunde vergeht und noch eine. Das Schwierigste ist, die Leere auszuhalten. Stundenlang im und auf dem Panzer zu sitzen und zu warten. Zwischendurch eine Zigarette Obergefreiter Guci: Der Geduldige. rauchen, einen verrauschten Lagebericht über Funk empfangen. Endlich der Befehl, sich durch den Wald ans Modelldorf anzupirschen. Die Soldaten werfen ihre Zigaretten weg, verschwinden zwischen Büschen und Bäumen. Als das Dorf in Sichtweite kommt, bleiben sie am Waldrand stehen; einige wagen sich vor. Geräusche wie von Knallfröschen schallen durchs Dorf. Zwischendurch pfeift es: Einer der Soldaten ist getroffen worden. Er trottet zum Waldrand zurück, setzt sich hin, zündet sich eine Zigarette an, lehnt sich zurück und nimmt einen tiefen Zug. Er ist jetzt «tot». Eine Viertelstunde später sind die meisten «tot», die Operation ist gescheitert. Das Haus, dessen Insassen sie hätten ausschalten sollen, vermochten sie nicht zu stürmen. Ein Adjutant steht missmutig vor dem Modelldorf und sagt grimmig: «Diese Typen wären nicht mal zu einer Schneeballschlacht fähig.» Die Durchhalteübung wird noch zwei Tage dauern, doch am Urteil wird sich wenig ändern: Die Führung hat versagt. Was lernen die Rekruten eigentlich während der 21 Wochen? Die Antwort von ganz oben gibt Korpskommandant Andrey, der in einem Aufsatz mit dem Titel «Die aktuelle Armee leben!» schreibt: «Nur wenn Leerzeiten und Leerläufe eliminiert sind, nur wenn jeder nach jedem Dienst das Gefühl hat, seine Zeit nicht vergeudet zu haben, nur dann leisten wir sinnvolle Arbeit.» Diese Arbeit umzusetzen obliegt in der Infanterie Brigadier Caduff, Kommandant des Lehrverbandes Infanterie. Der energische Bündner will, dass in seinen Rekrutenschulen informiert wird über den Staat und seine Werte. «Tradition ist nicht das Bewahren der Asche», zitiert er den englischen Politiker und Autor Thomas Morus, «sondern das Weitergeben des Feuers.» Und er betont, dass die Infanterie die Truppengattung sei, die in den letzten zehn Jahren den grössten Wandel erlebt habe: Sie setze weniger auf grosse, schwere Waffen, die im Zweifrontenkrieg zum Einsatz kämen, sie sei agiler geworden, habe sich der veränderten «Bedrohungswahrnehmung» angepasst. Anders als früher steht heute nicht die Bewältigung von militärischen, sondern von «diffusen» Bedrohungen im Vordergrund. Brigadier Caduff hat seinen Münkler gelesen. Herfried Münkler, Politologe an der Berliner Humboldt-Universität, hat in seinem Buch «Die neuen Kriege» Begriffe wie den der «postheroischen Gesellschaft» geprägt, auf den sich auch Caduff gern bezieht. Als Beispiel nennt Münkler den Eingriff der Amerikaner in Somalia, als sie vor zwanzig Jahren versuchten, den Warlord Aidid zu ergreifen: «Die Bilder von einem durch die Strassen geschleiften amerikanischen Soldaten führten dazu, dass die USA ihre Truppen überstürzt zurückzogen und für alle Welt erkennbar in ihrem Willen resignierten. Der Mogadischu-Effekt bewirkte, dass militärische Drohungen der Amerikaner an Glaubwürdigkeit verloren und die USA sich mit dem Verdacht und der darin zum Ausdruck gebrachten Verachtung konfrontiert sahen, der postheroischen Mentalität einer Konsumund Luxusgesellschaft erlegen zu sein.» Münkler nennt Kriege, in denen traditionelle Heere zum Einsatz kommen, ein Auslaufmodell. Staaten haben als Monopolisten des Krieges ausgedient. Es gibt immer mehr parastaatliche, immer mehr private Kriegsunternehmer. Die Fronten, schreibt Münkler, seien verschwunden. Deshalb komme es heute so selten zu Gefechten und fast nie zu Schlachten. Stattdessen würden sich die militärischen Kräfte gegenseitig schonen und die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung richten. FolIo 3 / 2013 Landschaft mit Wehrmännern: Marschieren ist Kopfsache. 58 In der rS Am Rand des Zusammenbruchs: Die Soldaten auf dem 50-Kilometer-Marsch. Wie die Schweizer Armee einen Ernstfall bestehen würde, weiss niemand. Sie ist eine Ausbildungsarmee ohne Kriegserfahrung. Den Umgang mit Zerstörung, Tod, Ungewissheit und Angst kann man den Soldaten nicht beibringen. Wie schwierig es ist, sie nur schon an die Grenzen ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit heranzuführen, zeigt sich in dieser RS beim 50-Kilometer-Marsch, der eine Woche nach der Durchhalteübung angesetzt ist. 50-Kilometer-Marsch – unter allem Hund! (W 20) Am Anfang werden sie gehetzt, die 130 Soldaten der 2.Kompanie auf ihrem langen Marsch. Ein paar fallen zurück, doch viele sind es nicht, mal einer mit Stechschmerzen in der Leiste, mal einer, der erst vor ein paar Wochen zur Infanterie gewechselt hat und den schnellen Schritt nicht gewohnt ist. Den Rest treiben die Unteroffiziere wie Furien an, damit keine Löcher zwischen den Zügen entstehen, damit sie die fünfzig Kilometer in vierzehn Stunden schaffen – ein anspruchsvolles Ziel. Bei Kilometer 20 beginnen sich die Gesichter zu röten, die Sonne knallt vom wolkenlosen Himmel, es geht kaum ein Wind, im Schatten beträgt die Temperatur 29 Grad. Bei Kilometer 25 liegt Pasta in den Töpfen der Feldküche bereit, daneben eine Ladung Kägifret, Erdnüsschen, Guetsli. Rasch gehen die Soldaten weiter, und immer wieder schütten sie sich eine Handvoll M & M’s in den Mund, die sie später am Wegrand erbrechen werden. Nach Kilometer 30 kommen sie in hügeliges Terrain, die klobigen Kampfstiefel drücken, die Füsse sind wund und heiss. Ein Soldat mit schweissüberströmtem Gesicht ächzt: «Ich spüre den Puls in den Füssen.» Leutnant Brügger, der lange das Schlusslicht war und die Langsamsten anfeuerte, hält die Bummelei nicht mehr aus und marschiert durch, bis er an der Spitze anlangt und als Erster ins Ziel läuft. Leutnant Giovanoli, obwohl mit federndem Schritt und einem Lächeln unterwegs, steht kurz vor der Verzweiflung, weil immer mehr Soldaten – und immer mehr Wachtmeister – schwächeln und aufgeben. Mal schiebt er einen mit Knieschmerzen vor sich her, mal stützt er einen Humpelnden. Wer nicht ins Ziel komme, sagt er, schaffe es nur deswegen nicht, weil er es nicht fest genug wolle. 33 steigen vorzeitig aus. Oberst Drexel wird das in seiner Analyse vernichtend kommentieren: «Eine Katastrophe! Unter allem Hund!» Den Rekruten gibt er keine Schuld. 33 Ausfälle seien ein Führungsfehler – eine andere Kompanie hatte nur deren 3. In der Kompanie 2 fehlte es an der Motivation, und das Anfangstempo war viel zu hoch. Natürlich habe auch eine Rolle gespielt, dass der Kompaniekommandant, Oberleutnant Dubois-dit-Bonclaude, am Wochenende zuvor mit dem Motorrad verunfallt war und nicht mitmarschieren konnte. Aber die Führung war in der 2.Kompanie generell ein Schwachpunkt, an der Vorbildfunktion der Vorgesetzten mangelte es, sagt Oberst Drexel. Offizierslehrgang in Bern – ich will! 166 von 245 Stunden theoretische Führungsausbildung hat Aspirant Zehnder hinter sich, nun muss er zeigen, dass er befehlen kann. In der vierten und letzten Woche des Offizierslehrgangs in Bern steht die Schlussprüfung auf dem Programm. Auf dem Boden des Klassenzimmers in der Berner Kaserne steht ein Geländemodell: Ein Militärmantel wölbt sich als Hügel Grauholz, ein Klebeband durchschneidet die Miniaturlandschaft wie die A 1, ein Stück Sty- FolIo 3 / 2013 59 In der rS Powernap vor dem nächsten Angriff. ropor und ein Würfel spielen Parkplatz und Forsthaus. «Ich will», sagt Aspirant Zehnder mit Bestimmtheit in der Stimme zu seinen Klassenkameraden und zeigt mit einem Stab auf den Parkplatz, «ich will mit zwei Gruppen eine Sperre errichten!» Was in den letzten 36 Stunden passiert ist: Die internationalen Beziehungen der Schweiz haben sich rapide verschlechtert. Feindseligkeiten sind möglich. Verteidigungsbereitschaft muss erstellt werden. Diese Aufgabe wur de von der höchsten Hierarchieebene hinunter in immer kleinere Aufgaben zerlegt, und bei Aspirant Zehnder und seinem Zug ist schliesslich der Auftrag gelandet: Grauholzstrasse auf Höhe 6.14 sperren. Rund 1700 junge Männer durchlaufen in Bern jährlich die Füh rungsschule Einheit. Man wolle eine Art Militärakademie sein, sagt ihr Kommandant, Oberst im Generalstab Daniel Escher, ein Ort, wo die intellektuellen Fähigkeiten gefördert und beurteilt werden. «Wir sind keine Schiessschule!» Deshalb geht es hier auch immer um Sicherheitspolitik und Bedrohungsszenarien. Die angehenden Kader bekommen jeden Morgen eine Tagesschau mit möglichen Szenarien zu sehen, die extra für die Einheitsschule produziert wird: Da verkünden die Moderatoren Grossbrände in der Berner Altstadt, Überschwemmungen in Zürich oder Angriffe unserer Nachbarlän der Tarlandia und Rovinien. Aspirant Zehnder hat gut zwei Stunden Zeit gehabt, um seinen Aktionsplan auszufeilen und ein doppelseitiges Formular in A3 aus zufüllen, das dem international verwendeten Operational Planning Process (OPP) entspricht. Zehnder hat seinen Auftrag in die drei Teilprobleme Hinkommen, Einrichten, Betreiben aufgeteilt, er hat einen Zeitplan erstellt und Varianten gezeichnet. Dann erst hat er den Entschluss gefasst und seine Absicht formuliert. Sie muss mit einem «Ich will!» beginnen, sonst gibt es Punkteabzug. «Ich will», sagt er also, «Flankenschutz erstellen!» Theoretisch könnte Aspirant Zehnder die so erlernten Führungs kompetenzen später einer Bewerbung beilegen. Wer nämlich die se Ausbildung durchläuft, also 9 Wochen Unteroffiziersschule, 4 Wochen Offizierslehrgang, 10 Wochen Offiziersschule, 21 Wochen Abverdienen, kann sich danach in fünf Modulen prüfen lassen: Selbstkenntnis, persönliche Arbeitstechnik, Kommunikation und Information, Konfliktmanagement und Führen der Gruppe. Wird alles bestanden, gibt es das Zertifikat «Leadership 1», das in der Pri vatwirtschaft anerkannt ist. Das Problem ist, dass bis jetzt erst eine sehr kleine Minderheit der jungen Militärkader diese Prüfungen ablegen mag. Befördert eine Karriere in der Armee heute noch jene im Beruf? Die Bevölkerung glaubt daran wieder stärker als auch schon. 69 Prozent der Schweizer sagen in der Studie «Sicherheit 2011», mili tärische Führungserfahrung bringe berufliche Vorteile, zehn Jahre zuvor waren nur 60 Prozent dieser Meinung. Die Spitzenwerte von 1983, dem Jahr der ersten Befragung, wird man allerdings kaum mehr erreichen: Damals stimmten 80 Prozent der Aussage zu. Weil es aber nicht nur darum geht, die Bevölkerung zu überzeugen, dass Militärkader auch gute Chefs abgeben, sondern auch die Wirtschaft, veranstaltet die Führungsschule Einheit regelmässig Arbeitgeber tage mit bunten PowerpointPräsentationen. «Ich will», formuliert Aspirant Zehnder nun den dritten Teil seiner Absicht, «den Gegner vor der Sperre vernichten», dann erteilt er die Aufträge an die Gruppenführer. Zehnder ist ein bisschen müde, ob FolIo 3 / 2013 60 In der rS Wie sagte der Oberst am ersten Tag: «An dieser Waffe werden wir Sie drillen!» schon er findet, der Offizierslehrgang sei im Vergleich zu allem anderen ein Zuckerschlecken: Ausflüge ins Bundeshaus, Besichtigung des Militärflugplatzes, genug Schlaf, wunderbares Essen. In dieser Nacht allerdings wurden die Aspiranten um 2 Uhr 30 geweckt, um im Grauholz verschiedene Posten zu absolvieren, auch das ein Teil der 36 Stunden dauernden Schlussprüfung. Vielleicht, sagt Zehnder, sei es gar nicht schlecht, wieder einmal ein bisschen gefordert zu werden, schliesslich liegen 10 Wochen Offiziersschule vor ihm, knallharte Durchhalteübungen und der legendäre 100-KilometerMarsch. Für seine Befehlsausgabe bekommt Aspirant Zehnder sofort ein Feedback vom Klassenlehrer: Die gegnerischen Möglichkeiten hätte er etwas sauberer ausarbeiten, die Aufträge ein bisschen exakter formulieren können, aber sonst: strukturiert, überlegt, selbstsicher, tipptopp. Zehnder wird in der Gesamtwertung 83,6 Prozent der möglichen Punkte erreichen und damit auf dem 23. von 286 Rängen landen. Er gehört, wie immer, zu den Besten. Auch wenn es ihm immer noch nicht besonders viel Spass macht: «Aber inzwischen», sagt er, «bin ich so weit vom Zivilleben entfernt, dass ich mir gar nicht mehr vorstellen kann, nicht im Militär zu sein.» Kompanieabend – Würste, Bier und Müdigkeit (W20) Hauptfeldweibel Ghidotti hätte den Männern der 2.Kompanie gern das Paxmal in der Nähe der Kaserne Walenstadt gezeigt, das Friedensdenkmal, das der Künstler Karl Bickel während 25 Jahren schuf. Doch am Nachmittag ging ein Regen nieder, der die Strasse unpassierbar machte. Ausser dem Feldweibel hatte sich niemand berufen gefühlt, etwas auf die Beine zu stellen für den Kompanie- abend; er findet am Tag nach dem langen Marsch statt, eine Woche vor dem letzten Abtreten. Gewöhnlich geht es da ausgelassen zu. Ein Soldat lässt auf einem Laptop ein paar abenteuerlich geschnittene Clips laufen, seine Highlights aus zwanzig Wochen Rekrutenschule: Soldaten, die durch den Dreck stiefeln. Handgranaten, die Erde aufwirbeln. Panzer, die durch die Landschaft fräsen. Ausser Wachtmeister Zumbach, der sich ab und zu auf den Schenkel klopft, und drei Soldaten, die in ihren Stühlen hängen, schaut kaum einer hin. Die meisten essen müde ihre Schweinsbratwürste und trinken Bier dazu. Dass keine Stimmung aufkommt, mag daran liegen, dass die Männer noch an den Nachwehen des Marsches leiden, bei dem die 2.Kompanie so kläglich abgeschnitten hat. Soldat Alija ist auf unsicheren Beinen in den Speisesaal gehumpelt, im Gesicht ein gequältes Lächeln. Jetzt sitzt er in Badelatschen an seinem Tisch und zeigt allen, die sie sehen wollen, seine zerschundenen Füsse. Wachtmeister Ramadani schwingt sich an Krücken durch den Saal, Gel im Haar, umweht von einer Ladung Aftershave. Er ist bei Kilometer 30 ausgestiegen, «die Achillessehne». Zugführer Giovanoli sitzt nachdenklich vor seinen Würsten. So ein Marsch, sagt er, sei nichts als Kopfsache. Alle, alle hätten sie auch hundert Kilometer geschafft, wenn sie nur nicht so schnell aufgegeben hätten. «Ich bin enttäuscht.» Soldat Parisi hat sich ins Freie begeben, lehnt mit halb geschlossenen Augen an der Hausmauer und raucht eine Zigarette. Er hat eigentlich wenig an der Armee auszusetzen. Sie habe ihm den Auszug von zu Hause erleichtert, sagt er. «Dank der RS hatte ich weniger Heimweh nach meinen Eltern.» In der RS habe er viel Zeit gehabt, um nachzudenken. Er erwäge jetzt eine Weiterbildung, weil ihm der Job als Verkäufer im Supermarkt auf Dauer nicht die Zufriedenheit FolIo 3 / 2013 61 In der rS Obergefreiter Brasch: Erst null Hoffnungen fürs Militär, jetzt Chef. bringe, die er sich wünsche. Nun freut er sich auf die Wohnung, die er mit seiner Freundin zusammen gefunden hat, hundert Quadratmeter, dreieinhalb Zimmer. Und auf seine Clique, die er oft vermisst hat in letzter Zeit. «War schon okay, die RS.» Parisi zerknüllt seine Zigarettenschachtel und wirft sie in den Müll. Es ist neun Uhr, manche verziehen sich bereits in ihr Zimmer. Sie sind geschafft. Heute morgen, am Tag nach dem 50-KilometerMarsch, mussten sie noch eine Stunde joggen – «um die Muskeln zu lockern», äfft einer der Soldaten einen Vorgesetzten nach. Der Saal leert sich langsam. Einige spielen Karten oder türmen EnergyDrink-Dosen aufeinander. Soldat Gassmann zieht Bilanz: «Es war ein Scheiss, aber ich habe Freunde gefunden.» Soldat Roos und Soldat Egger überlegen, wo sie ihre Armeewaffe daheim verstauen werden, und auch Gassmann wird seine Waffe mit nach Hause nehmen, obwohl er «niemals auf einen Menschen schiessen würde». Am Tisch ist man sich einig: RS und Ernstfall passen nicht zusammen. Das war alles zu wenig effizient. Nicken, Schweigen, dann ruft einer in die Runde: «Immerhin können wir jetzt schiessen!» Kennen Sie Ihre Hypozinsen von 2015? Wir schon. <wm>10CAsNsjY0MDQx0TU2NDE3MwQAD6H_KA8AAAA=</wm> <wm>10CFWMqw4CQRAEv2g20z0vjpHk3AVB8GsImv9X7OEQLapS6ePoGPrbbb8_90dD4S4Gr0RHxIgNTeaoYisIKuyK9LKk8q8XxbakzrNZIMREiofQJvMyYefDcp5a4_N6fwH-6vSmgAAAAA==</wm> Nutzen Sie den historischen Tiefstand der Hypothekarzinsen mit der Termin-Fix-Hypothek der Credit Suisse. Ihre Hypothek läuft noch, aber Sie würden gerne von den aktuell niedrigen Zinsen profitieren? Fixieren Sie Ihren Hypothekarzinssatz bis zu zwei Jahre vor Auszahlung einer neuen oder Verlängerung einer bestehenden Hypothek. Informieren Sie sich über unsere Termin-Fix-Hypothek, wir beraten Sie gerne. Telefon 0800 802 024. credit-suisse.com/hypotheken FolIo 3 / 2013 o n a te zu 24 M . Je tz t b is a b s c h li e s s e n us im Vo ra 62 In der rS Abtreten – was bleibt? (W 21) Trügen die jungen Männer nicht alle Uniform, könnte das auch das Ende eines Klassenlagers sein. Beim Unterstand neben den Schlafräumen lümmeln sie herum, viele sind am Handy, ein paar sitzen am Boden und jassen, einige schieben sich einen Ball zu, andere essen ein Sandwich. Die Zimmer sind geputzt und abgeschlossen, nur das Kompaniebüro muss noch einmal feucht aufgenommen werden, befiehlt der Abwart von der Ruag, die den Waffenplatz betreibt. Im Treppenhaus hat einer sein Handy an einen Lautsprecher angeschlossen und sorgt für Sound. Die gehässige Stimmung vom Vortag ist verflogen. Da standen sie genervt auf dem Kasernenplatz und liessen die Kontrolle der persönlichen Ausrüstung über sich ergehen. «Scheisse» war das häufigste Wort, das man hörte, «gopfertami» das zweithäufigste. Wer etwas verloren hatte, wurde gleich zur Kasse gebeten: Handschuhe, 40 Franken; Magazin, 26 Franken; Sonnenbrille, 70 Franken. Dann baute sich ein Vorgesetzter vor den Soldaten auf und schrie mit rotem Kopf: «Eine Splitterschutzweste fehlt. 600 Franken!» Gelächter. «Es wird nicht gelacht! Das ist nicht lustig! Es ist eine verdammte Sauerei!» Die Kosten für verlorenes Armeematerial werden unter den Soldaten der Kompanie aufgeteilt und vom Sold abgezogen. Soldat Parisi blickte gelangweilt auf den Countdown, der auf seinem Handy lief, noch 18 Stunden und 9 Minuten. «Ich war ein ungeduldiger Mensch», sagte er, «hier habe ich Geduld gelernt.» Stundenlang warteten die Soldaten in der stechenden Sonne, während hinter dem Zaun Zivilisten in Badehosen und Bikinis vorbeigingen. Ab und zu rafften sie sich zu Protestgejohle auf, pfiffen und skandierten: «Splischu, Splischu!» Aber die Splitterschutzweste tauchte nicht auf. Um 8 Uhr 35 ist Besammlung auf dem Kasernenplatz. Nach zehn Minuten beginnen die Soldaten rhythmisch zu klatschen. Oberleutnant Dubois-dit-Bonclaude steht mit stoischer Miene vor seiner Kompanie, die Hand mit dem gebrochenen Daumen immer noch im Gips. Um 8 Uhr 50 tritt Oberst Drexel vor seine «Manne»: «Ich will Adieu sagen.» Seine Abschiedsrede beschönigt nichts. «In der RS sieht man vor allem das Negative, aber das vergisst man», sagt er. «Redet man später über das Militär, hört man nur das Positive.» Hinter Oberst Drexel am Rand des Kasernenplatzes liegen die Sachen, die bei der letzten Zimmerkontrolle noch gefunden wurden: 5 Frottiertücher, 1 Ladegerät, 1 Mehrfachstecker, 4 Boxershorts, 1 Slip, 1 Paar Militärschuhe, 1 DVD «Söldner, gesetzlos und gefürchtet». Nach dem letzten «Achtung!» und «Ruhn!» werfen die Soldaten ihre Bérets in die Luft, umarmen sich, klopfen sich zum Abschied auf die Schulter und ziehen erlöst ihre Rollkoffer Richtung Parkplatz. Hoch über ihren Köpfen dreht ein Gleitschirmflieger gemächlich seine Runden. Die Unteroffiziere stehen noch auf dem Kasernenplatz zusammen, als Ivo Zimmermann auftaucht, der Betriebsleiter der Kaserne Walenstadt, und Formulare verteilt. «Jetzt geht’s noch darum, die Kundenzufriedenheit auszufüllen.» Die Dienstleistungsgesellschaft macht auch vor der Armee nicht Halt. FolIo 3 / 2013 Vor 17 Wochen rückte er als Rekrut Künzi ein. Jetzt empfängt er die Neuen mit dem bösen Blick des Obergefreiten. 64 In der rS Epilog Nach 21 Wochen nicht nach Hause: Zwei, die weitermachen. Der Gruppenführer – den Bart wachsen lassen Im coupierten Gelände des Waffenplatzes Chur liegen fünf Männer der Infanterie-RS 12 hinter einem Erdwall platt auf dem Bauch hinter ihren Sturmgewehren. Die Gefechtsübung heisst Feuersturm, aber niemand feuert, und die sinkende Nebeldecke lässt die Kälte in die Kampfanzüge kriechen. Einer erhält Instruktionen über Funk, quittiert mit «Verstanden!», richtet sich auf und erteilt den vier anderen mit lauter, fester Stimme den Befehl zum Rückzug. Es ist der Obergefreite Sanchez. Weil es in seiner Kompanie zu viele Gruppenführer gab, ist er stellvertretender Gruppenführer geworden. Er legt sich mit Eifer ins Zeug – er will den Rekruten ein Vorbild sein. Und menschlich mit ihnen umgehen. «Jeder Rekrut verdient Respekt», sagt er. Erst einmal hat ihn einer reingelegt; er konnte angeblich nicht mehr rennen – aber als es ans Fassen des Mittagessens ging, war er plötzlich flink auf den Beinen wie ein Wiesel. Der Obergefreite Sanchez geht jetzt auch mit den Kameraden in den Ausgang, ins «Mephisto», in die «Felsenburg», in die «Beach Lounge». Und endlich, in der ersten Woche nach der Unteroffiziersschule, hat er es geschafft, sich einen Bart stehen zu lassen. Stoppeln werden nämlich nicht geduldet, sogar beim Biwakieren werden glatte Wangen verlangt. Wer keinen Spiegel hat, muss sich mit der Handykamera behelfen. Der wichtigste Tip des Obergefreiten Sanchez für angehende Rekruten ist darum: Vor dem Einrücken den Bart wachsen lassen, so kann man morgens zwei Minuten länger liegen bleiben. Der Zugführer – 101 Kilometer in den Knochen Oberwachtmeister Zehnder steht derweil auf dem Schiessplatz Breitfeld in Neuchlen vor seinen Rekruten und ruft: «Zugvorwärtsmarsch!» Hinter ihm liegen harte Wochen: Die Offiziersschule endete mit einer Durchhalteübung, die 55 Stunden dauerte. Und dann der Marsch: 101 Kilometer, rechnet man die Steigungen ein, waren es 130 Leistungskilometer, es regnete ohne Unterbruch, es gab Blasen an den Füssen, Muskelkrämpfe, Tränen, und auf den letzten Kilometern wollte jeder nur noch nach Hause oder sterben oder beides. Natürlich war Zehnder unter den Schnellsten, 23 Stunden und 40 Minuten, aber Rückenweh hat er immer noch. Während dieser langen Wochen hatte sich Zehnder darauf gefreut, zu Beginn der RS einen Zug zu übernehmen. Aber als die neuen Rekruten anreisten, sass er in der Ausbildung. Man hatte ihm die Fahrer zugeteilt, einen unbeliebten Zug, der erst in der dritten Woche gebildet wird und in der neunten schon wieder auseinanderbricht. Ausserdem sind seine Rekruten nicht in der komfortablen Kaserne Neuchlen stationiert, sondern in einer Armeeunterkunft in Waldstatt, in die man nicht einmal Asylbewerber einquartieren durfte: ein Massenschlag mit sieben Duschen für hundert Leute. An diesem kühlen Herbstmorgen im November ist Oberst Drexel zur Inspektion der Züge da. Es läuft katastrophal, die ersten beiden Züge sind glatt durchgefallen. Dabei konnten die Zugführer zwei Wochen lang mit ihren Rekruten üben, während Zehnder seine Leute erst vor zwei Tagen übernommen hat. Wird es ihm besser ergehen? Unter dem strengen Blick des Obersten lässt er sie in Viererreihe der Schiessanlage entlangmarschieren, da passiert es: «Richtung: rechts!» brüllt Zehnder, der Zug zögert für den Bruchteil einer Sekunde und biegt dann links ab. Rechts ist die Wand. Acht Monate ist Zehnder nun bei der Armee, und vor der Inspektion hat er aufgezählt, was er in dieser Zeit gelernt hat: unter vielen Leuten zu leben, an die eigenen Grenzen zu kommen, auch bei miesem Wetter draussen zu sein, Kameradschaft, ausserdem freut sich seine Mutter, dass zu Hause sein Bett perfekt gemacht ist und die Schuhe nicht nur geputzt, sondern sogar gefettet sind. Einzig bei den beiden Schwestern muss sich Zehnder zusammennehmen – es ist nicht leicht, am Wochenende den Befehlston abzulegen. Dann lacht er verlegen, es sei ihm etwas peinlich, das zu sagen, weil es ein Klischee sei: «Es ist schon eine Erfahrung, in meinem Alter vor fünfzig Leuten zu stehen und ihnen zu befehlen, was gemacht wird.» Nach der Zugschule ruft Oberst Drexel den Zugführer zu sich: Das mit der falschen Richtung sollte natürlich nicht passieren, sagt er, und es wäre besser, langsamer zu kommandieren, also nicht: Zugvorwärtsmarsch! Sondern: Zug! Vorwärts! Marsch! Aber insgesamt ist er zufrieden, in der Beurteilung bekommt Zehnder ein Gut. «Ich wusste es schon immer», sagt der Oberst, als der Oberwachtmeister ausser Hörweite ist, «das ist ein Topmann!» Würde Levi Zehnder, der nicht weitermachen wollte, einem Freund diesen Weg empfehlen? Der junge Mann zögert für einen Augenblick, weicht aus, sagt, dass er die Frage vielleicht im Februar beantworten könne, wenn alles vorbei sei. «Auf jeden Fall aber ist es gut», sagt er, «dass man beim Einrücken nicht weiss, was kommt.» FolIo 3 / 2013 73 Folio Folies Folio 3 / 2013