Zum Zeichnen in der Unterstufe
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Zum Zeichnen in der Unterstufe
Thor Michael Keller Zum Zeichnen in der Unterstufe Der Klassenlehrer an einer Waldorfschule hat eine schwere, aber auch dankbare Aufgabe. Die Schüler sollen bei ihm Buchstaben und Zahlen kennen und beherrschen lernen, sollen Verständnis und Kenntnisse in Sach-, Heimat-, Menschen-, Tier- und Pflanzenkunde ebenso wie in Geschichte und Erdkunde gewinnen, mittlere Stufen in Deutsch und Mathematik erringen und in die Anfangsgründe der Physik und Chemie eingeführt werden, und zwar auf eine noch mehr anschauliche als begrifflich-abstrahierende Weise. Welche Spannweite an Fachwissen, an didaktischen Überlegungen, methodischen Einfällen und unterrichtlichen Wegen hat der Lehrer da täglich zu bewältigen. Die Freude am Unterrichten, am Erziehen der Kinder und der heranwachsenden jungen Menschen und das nie erlahmende Interesse an der Welt mit all den verschiedenen Facetten ihrer Erscheinungen, Gesetze und Werdestufen helfen ihm, Niederlagen und Rückschläge in seiner täglichen Schularbeit zu überwinden und stets mit neuer Begeisterung ein neues Gebiet, neue Inhalte an die Schüler heranzutragen. Eine große Hilfe ist für den Klassenlehrer auch, daß er sich auf eine Klasse und – jeweils für mehrere Wochen – auf ein Fach konzentrieren kann; sonst wäre die Fülle nicht zu bewältigen. Doch nicht nur die genannten »Wissensfächer« muß der Klassenlehrer unterrichten. Hinzu kommen die künstlerischen Tätigkeiten mit den Kindern. Aber wohl nur wenige Lehrer sind so reich begabt, daß sie Wissenschaften und Künste gleichermaßen beherrschen, daß sie genausogut Singen, Flöten, Rezitieren, Zeichnen, Malen usw. wie z. B. Heimatkunde unterrichten können; oder umgekehrt: man ist künstlerisch begabter als naturwissenschaftlich. Doch mit methodischer Anleitung kann man sich viel erarbeiten, und man macht die Erfahrung, daß nicht das, was man aus einem Spezialistentum schöpft, sondern das frisch eroberte Neuland die Schüler am meisten mitreißt. Auf der oberen Mittelstufe, in der 7./8. Klasse, kann es allerdings angezeigt sein, als Klassenlehrer auf dem einen oder anderen Gebiet zurückzutreten und es dem Fachkollegen zu überlassen. Das wurde und wird auch immer wieder mit Erfolg gehandhabt. Im folgenden soll beschrieben und an Hand von Bildern gezeigt werden, wie auch ein zeichnerisch nicht sehr Begabter die Kinder zu einem befriedigenden malenden Zeichnen, zeichnenden Malen so führen kann, daß im Laufe der Zeit wirklich schöne Bilder entstehen können. Hierbei ist nicht der gesonderte Malunterricht (Aquarellieren) gemeint, auch nicht das »Formen891 zeichnen«, sondern das Zeichnen von Bildern zu den wechselnden Hauptunterrichtsfächern und den Erzählstoffen. Schon in der ersten Unterrichtswoche der ersten Klasse haben wir begonnen, zu dem täglich erzählten Märchen ein Bild zu malen, z. B. das blaue Licht, das Tor der Frau Holle, den Brunnen vom Froschkönig (Abb. 1), das um das Feuer tanzende Rumpelstilzchen, die an der goldenen Gans hängende Menschenkette, und haben aus diesen Bildern dann jeweils am nächsten Tag einen Buchstaben hervortreten lassen. So haben wir die meisten Konsonanten aus einem solchen Märchenbild gewonnen. Als die Buchstaben bekannt waren, haben wir weiterhin täglich, außer in den Formenzeichnen-Epochen, vor dem den Hauptunterricht abschließenden Erzählen ein Bild gemalt bzw. eines vom Vortag beendet. – Wie bin ich dabei und auch schon bei den Märchenbildern methodisch vorgegangen? Um den Kindern Anregungen zur Gestaltung ihres Bildes zu geben, habe ich das Malen geführt. Zur Vorbereitung gehörte es, selber das vorgesehene Bild mit den Wachsstiften auf ein A4-Blatt zu malen. Im Unterricht habe ich dann an der Tafel schrittweise vorgemalt, z. B. den Brunnen, aus dessen Röhre das Wasser in den Trog fließt, die mit dem Ball spielende Königstochter, Sonne und Himmel. Mit Eifer malten die Kinder das so vor ihren Augen entstehende Bild ab, zunächst natürlich noch sehr ungelenk. War ich mit dem Tafelbild fertig, so ging ich durch die Klasse und half hier und da einem Kind weiter, zeigte später, wie man die Striche führen kann, welche Farben gut zusammenpassen, wo das Vorbild ergänzt oder wo noch sorgfältiger gemalt werden könnte usw. Auf diesem Wege verbesserten sich schrittweise die Malfähigkeiten der Kinder in erstaunlicher Weise. Zunächst haben wir mit den Wachsblöcken, spätestens ab den Herbstferien mit den Wachsstiften gemalt. Die Blöcke haben wir dann nur noch beim Formenzeichnen verwendet. Als Papierformat wurde immer Heftgröße, also DIN A4 verwendet. Ein größeres Format hätte die Kinder zunächst überfordert, ein kleineres wäre für die Wachsstifte ungeeignet gewesen. Beobachtet man Kinder im Kindergartenalter beim Malen, so fällt auf, daß sie meistens erst die Umrisse der Gegenstände, z. B. eines Hauses malen und dann das leere weiße Feld ausmalen. In diesem Alter und auch noch in der ersten Klasse brauchen sie noch die Grenze, die Begrenzung, sonst verlieren sie sich. Doch haben Linien immer etwas Festes, nicht mehr Veränderbares. Rudolf Steiner sagte über die Linie zu der Malerin Assja Turgenieff: »Die Linie im Künstlerischen ist nirgends schön.«1 Er empfahl daher als eine Alternative zum linearen Zeichnen, eine Schraffiertechnik von rechts oben nach links 1 Rudolf Steiner: Die Goetheanum-Fenster, GA K 12, Dornach 1996, S. 58; vorangehende Ausgabe: Rudolf Steiners Entwürfe für die Glasfenster, Dornach 1961, S. 48 892 Abb. 1: Aus dem Brunnen des Froschkönigs wird das B entwickelt (1. Klasse) Abb. 2: Die Gnomen erzählen dem Wanderer vom Granit (2. Klasse) 893 unten anzuwenden (bei Linkshändern von links oben nach rechts unten). Diese Technik kann man mit gutem Erfolg auch in der Schule anwenden (siehe z. B. das Lesebuch »Der Sonne Licht« von C. v. Heydebrand [zahlreiche Auflagen], mit vielen auf diese Art gemalten Bildern). So haben wir auch schon gegen Ende der ersten Klasse mit dieser Technik begonnen und immer wieder einmal in ihr gearbeitet (Abb. 2). In der zweiten Klasse haben wir dann Bilder zu den Fabeln und Legenden gemalt (Abb. 3). Und siehe da, plötzlich begannen bei einzelnen Kindern Begabungen in der Strichführung, in der Farbkomposition, in der Anlage des ganzen Bildes aufzublühen, die man nicht erwartet hätte und die durchaus die Fähigkeiten des Lehrers übertrafen. Im Laufe der Zeit wurde dann nicht mehr jedes Tafelbild zu Ende gemalt, sondern nur angelegt, so daß den Kindern der immer schwierige Anfang erleichtert wurde. Dann aber konnten sie frei gestalten. Auch gab es immer wieder Tage, an denen ihnen nur das Thema gesagt wurde und sie ganz selbständig und frei ihr Bild anlegen und gestalten konnten. Der Verfasser hat diesen Weg des Vormalens gewählt, weil die Kinder dabei den Schaffensprozeß miterleben und ihn im eigenen Tun nachvollziehen können. Bei einem am Vortag nachmittags oder abends fertig gemalten Tafelbild finden sie m. E. nur schwer den Einstieg, um so schwerer, je kunstvoller das Bild gemalt worden ist. Sie sehen, daß sie es nicht so gut können, wollen bald fertig werden und malen schnell ein Bild hin, meistens so, daß weder sie noch der Lehrer damit zufrieden sein können – der Lehrer, weil sie es besser könnten, die Kinder, weil sie das Tafelbild nicht auch nur annähernd erreichen. Wenn der Lehrer jedoch mitmalt, können sie ihm nicht davoneilen, sind an sein Tempo gebunden, malen daher sorgfältiger, und am »Vorbild« (Tafelbild) kann sich allmählich die Phantasie für das eigene Gestalten entzünden. – Einen kleinen Nachteil hat der beschriebene Weg: Der an der Tafel malende Lehrer verdeckt das Bild zum großen Teil, hin und wieder muß er daher beiseitetreten. In der dritten Klasse tritt als neues Element die Sachkunde auf. Die Kinder nähern sich dem »Rubikon«2, einzelne überschreiten ihn schon, und die sie umgebende reale irdische Welt, in der man mit den Händen zupackt, gewinnt an Einfluß (Abb. 4 und 5), auch wenn die Kinder noch ganz in die Atmosphäre und die Inhalte des im täglichen Erzählteil dargestellten Alten Testamentes eintauchen. Die Sachkunde, dann in der vierten Klasse Heimat-, Menschen2 So bezeichnete Rudolf Steiner einmal, auf einen schicksalhaften Grenzübergang Cäsars anspielend, den Entwicklungsschritt um das neunte Lebensjahr, bei dem die Kinder in Distanz zur umgebenden Welt treten und die Dinge nun stärker als »Gegenstände« erleben. 894 und Tierkunde sowie in der fünften Klasse Geschichte und Pflanzenkunde (Abb. 6 und 7) bieten reichlich Gelegenheiten, die Kinder mit Hilfe des vom Lehrer vor ihren Augen angelegten, fast nie mehr beendeten Tafelbildes zum sorgfältigen Ermalen von zu den Inhalten passenden und sie illustrierenden Bildern zu führen. Hat der Lehrer das Vormalen in der Sachkunde der dritten Klasse stark zurückgenommen, so wird er in den Naturkundeepochen wieder mehr, auch umfangreicher und nun recht genau Pflanzen und Tiere vormalen, während er in der Geschichte nach dem Anlegen des Tafelbildes die Kinder wieder freier gestalten lassen kann. So wechseln sich Formgebung und freie Phantasie-Entfaltung ab, und die Schüler bilden zunehmend stärker ihren eigenen Stil heraus. In der fünften Klasse, evtl. schon in der vierten, tritt dann das Malen von Landkarten hinzu, und ab der sechsten bzw. siebten Klasse folgen Physik und Chemie. Sind für die Physik genaue Versuchszeichnungen nötig, so können besonders in der ersten Chemie (Verbrennungsprozesse, Feuer) zunächst wieder mehr phantasievolle, farbige Bilder entstehen. Bis Ende der dritten Klasse haben wir nur mit den Wachsstiften gemalt, auch noch in der ersten Menschen- und Tierkunde der vierten Klasse. Dann aber kann es nötig sein, wenn z. B. Muscheln und Schnecken zu malen sind, die Buntstifte zu nehmen. Die Kinder konnten von nun an die Farb- oder Wachsstifte in Anpassung an die zu malenden Bilder frei wählen. Anläßlich einer Hospitation in jüngster Zeit in einer dritten Klasse war der Verfasser von den so sorgfältig gemalten Sachkundebildern überrascht. »Sie haben mir ja letztes Mal das Vormalen an der Tafel empfohlen«, war die Antwort des Klassenlehrers. Vier Wochen waren seitdem vergangen – und ein deutlicher Fortschritt gegenüber den davor gemalten Bildern erreicht! Selbstverständlich wurde auch Wert auf ein den Bildern entsprechendes sorgfältiges Schreiben und Gestalten der Epochenhefte gelegt. Zusammenfassung: Wir haben einen Weg beschrieben, auf dem der zeichnerisch weniger begabte Klassenlehrer in der Unterstufe (Klasse 1 - 4) einen Grund legen kann, auf dem die Schüler in der Mittelstufe (Klasse 5 - 8) aufbauen und immer freier mit ihren erwachten Fähigkeiten und in den geübten Techniken ihre Epochenhefte gestalten können. Als »Nebenprodukte« können schon in der Unterstufe so manche Bilder in herrlicher Farbgestaltung entstehen. Zum Autor: Thor Michael Keller, Jahrgang 1924, nahm am Krieg teil, arbeitete in der Landwirtschaft und Gärtnerei, absolvierte die staatliche Lehrerausbildung und wurde nach halbjährigem Besuch des Stuttgarter Waldorflehrerseminars 1954 Klassenlehrer an der Kasseler Waldorfschule. Von 1974 bis 1979 führte er die Geschäfte eines heilpädagogischen Heims und unterrichtete dann noch 8 Jahre in Braunschweig. Als Rentner, in Freiburg lebend, erstellt er Unterrichtshilfen für Klassenlehrer (im Selbstverlag). 895 Abb. 3: Der Schlangenbiß (Erzählstoff 2. Klasse) Abb. 4: Beim Hufschmied (aus der Handwerker-Epoche der 3. Klasse) Abb. 5 (rechte Seite, oben): Baugrube (aus der Sachkunde einer 4. Klasse) Abb. 6 (rechte Seite, unten links): Regenbogen (aus der Alten Geschichte, 5. Klasse) 896 Abb. 7 (unten rechts): Entwicklung einer Sonnenblume (Pflanzenkunde, 5. Klasse) 897