Amok im Kopf - Wissenschaft Online

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Amok im Kopf - Wissenschaft Online
Vorwort der deutschen Ausgabe
Klaus Hurrelmann
Psychiater und Psychotherapeut und
spezialisiert auf schwere mentale Krankheiten bei Jugendlichen. Er hat das vorliegende Buch, wie er selbst sagt, mit großem innerem Widerstand geschrieben, weil ihn die Beschäftigung mit potenziellen jugendlichen Amokläufern, also mit
möglichen Mördern und Selbstmördern in einer Person, an
die Grenze seines professionellen und menschlichen Fassungsvermögens gebracht hat. Er schreibt das Buch dennoch, weil
er nicht nur seinen Kollegen, sondern auch Pädagogen und Eltern seine Erkenntnisse über die Ursachen dieser Gewalttaten
mitteilen und Vorbeugungsschritte ableiten möchte.
Am Ende seiner Analyse, die sich ohne Weiteres auch auf
die deutschen Geschehnisse von Emsdetten, Erfurt oder zuletzt Winnenden übertragen lässt, weiß der Leser sehr viel über
das völlig gestörte psychische Innenleben von tatsächlichen
und potenziellen Gewalttätern. Es bleibt die Frage, warum
ausgerechnet der Schüler X zu einem bestimmten Zeitpunkt
Y eine unfassliche Tat begeht, die meist viele Menschen und
ihn selbst das Leben kostet, die unzählige körperliche und
psychische Verletzungen bei den Überlebenden zur Folge hat
und eine ganze Gesellschaft traumatisieren kann. Diese Frage
ist für den Einzelfall auch nach jahrelangen Recherchen nur
schwer zu beantworten, denn Ereignisse wie ein Amoklauf mit
P e t e r La n g m a n i s t
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einem Massenmord sind zumindest nach normalen menschlichen Maßstäben nicht erklärlich, wenn auch rekonstruierbar
und deshalb aus ihrer Zufallshaftigkeit herauszuholen. Durch
eine genaue Analyse lassen sich Abläufe und Verzweigungen
der brutalen Handlung Schritt um Schritt nachvollziehen,
und jedem einzelnen Schritt liegt auch eine situative Logik
zugrunde. Aber die Frage nach dem »Warum« des gesamten
Tatablaufs und vor allem nach der Verursachung und Auslösung der eigentlichen Tat und ihrem genauen Zeitpunkt, also
wann sie erfolgt, ist nicht gänzlich aufzuklären. Das ist eine der
Kernaussagen von Peter Langman: Die Taten werden nachvollziehbar, aber es bleibt ein unaufklärbarer Rest, und in genau
diesem Sinne bleiben sie mysteriös.
Im Deutschen arbeiten wir bei affektgeladenen Gewalttaten
mit dem Begriff »Amoklauf«. Obwohl es im Englischen eine
Entsprechung gibt, vermeidet Langman diese Bezeichnung.
Stattdessen schreibt er von »school shooting« und »rampage«
(wüten, randalieren), bleibt aber bei insgesamt vorsichtigen,
nüchternen Deskriptionen. Die Weltgesundheitsorganisation
hat aber inzwischen einiges dafür getan, den Begriff Amok zu
präzisieren, und deshalb ist er durchaus vertretbar. Ein Amoklauf ist demnach eine anscheinend nicht provozierte Episode
mörderischen oder erheblich zerstörerischen Verhaltens, die
eine extreme Gefährdungslage für die Menschen in der Umwelt
und für den Täter mit sich bringt. In seinen kriminologischen
Analysen hat in Deutschland vor allem Robert Harnischmacher herausgearbeitet, welche Elemente zu dieser Episode führen. Er beschreibt den Amoklauf durch Merkmale wie
–– den grundsätzlich allein agierenden Einzeltäter,
–– der anscheinend wahllos und gezielt agiert,
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–– und zwar mittels Waffen, Sprengmitteln, gefährlicher
Werkzeuge oder anderer außergewöhnlicher Gewaltanwendung,
–– der eine zunächst nicht bestimmbare Zahl von Menschen verletzt oder tötet oder
–– durch sein Verhalten zumindest die Verletzung oder Tötung erwartbar macht und
–– auch seine eigene Tötung zumindest vorbereitet.
Der Begriff Amok kommt wahrscheinlich aus der Sprache der
Malaien und beschreibt so etwas wie unkontrollierte Wutausbrüche. Ursprünglich hat man wohl Fälle von plötzlich auftretenden psychischen Störungen mit aggressivem Aktionsdrang
hierunter verstanden und in der Definition auch den Zustand
der äußersten Demütigung und Verwirrung mit einbezogen,
der den Täter zu seiner Wahnsinnstat treibt. Ein Amokläufer
ist also ein meist persönlichkeitsgestörter kranker Täter, der
spontan aus aufgestauter Wut und Frustration, aus einem Affekt heraus, wahllos und blindwütig andere am Tatort anwesende Menschen angreift, verletzt oder tötet.
Langman geht in seiner Analyse fallbezogen vor. Er ist sensibilisiert durch seine Arbeit als Psychologe und Psychotherapeut, der in den letzten Jahren immer wieder zur Behandlung
von potenziellen Amokläufern jugendlichen Alters herangezogen wurde. Er berichtet über Erfahrungen mit seinen Patienten. Zusätzlich aber, und das bildet den Schwerpunkt des
Buches, konzentriert er sich auf eine detaillierte Analyse von
zehn jugendlichen Amokläufern an Schulen, die ihre Taten
tatsächlich vollzogen haben und sich dabei selbst töteten. Anhand dieser zehn Fallanalysen versucht Langman zu verstehen,
in welcher Ausgangssituation sich die Täter befanden. Er weist
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darauf hin, wie unbefriedigend bisherige Erklärungen, auch in
der wissenschaftlichen Fachliteratur, sind, die letztlich nur an
der Oberfläche der Phänomene bleiben konnten, weil nur sehr
wenige in die Tiefe gehenden und wirklich nachhaltigen Analysen vorliegen. Eine solche Analyse existiert nun mit seinem
Buch.
Die zentrale These von Peter Langman ist: Jugendliche
Amokläufer an Schulen sind psychisch krank. In allen von
Langman genau untersuchten Fällen, in denen die entsprechenden Dokumente und Krankenberichte vorlagen, konnte
er starke psychische Störungen und Krankheiten diagnostizieren. Er gruppiert die jugendlichen Täter in drei Krankengruppen: psychopathisch, psychotisch und traumatisch kranke Jugendliche. In fast allen Fällen sind es junge Männer. Aus
seinen Aktenanalysen und Fallrekonstruktionen von zehn
Tätern wird in erschreckender Anschaulichkeit deutlich, wie
zerstört das Innenleben dieser zu Massenmördern gewordenen
jungen Männer war, als sie zur Tat schritten. Sie wurden zu
Tätern, so die zentrale Aussage von Langmans Fallstudien, weil
sie wegen psychischer Krankheiten sich selbst und ihre soziale
Umwelt nicht mehr ertragen konnten. Sie verzweifelten an ihrer eigenen Existenz und konnten mit ihrer sozialen Umwelt
nicht mehr zurechtkommen. Sie wollten sich selbst zerstören,
indem sie andere und die Welt um sich herum zerstörten, und
umgekehrt wollten sie die Umwelt vernichten, um sich selbst
auszulöschen.
Langman ist Psychologe und Psychotherapeut. Da liegt es
nahe, dass er diesen Persönlichkeitsfaktor in seiner Gesamtanalyse besonders stark macht. Bei der Lektüre dieses Buches ist es
aber wichtig, den persönlichkeitsbezogenen, pathologischen
Aspekt immer wieder in seinen Kontext zu stellen. Gleich zu
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Beginn der Analyse tut Langman das selbst, indem er auf zwei
wichtige Faktoren außerhalb der Persönlichkeit der Täter hinweist, die zur Analyse und Erklärung der Tat mit herangezogen
werden müssen, wenn ein vollständiges Bild entstehen soll: auf
das Medium der Tat und auf das Umfeld.
Bei allen bisher bekannt gewordenen Amokläufen auch
in Deutschland spielt die Verfügbarkeit und meist auch die
Gewöhnung an Waffen eine entscheidende Rolle. Bei allen
Amokläufen waren außerdem problematische soziale Umweltbedingungen gegeben. Hierzu gehörten zum Beispiel ein sozial
und psychisch zerrüttetes Elternhaus, die Flucht der Täter in
eine mediale Scheinwelt mit gewalthaltigen Videospielen (Killerspielen), eine verunsicherte Beziehungsgestaltung bis hin
zur sozialen Isolation im Gleichaltrigenkreis, eine langjährige
psychische Zurücksetzung mit starker Störung des Selbstwertgefühls und oft auch ein Mangel an Anerkennung im schulischen Leistungssektor.
Es sind drei zentrale Faktoren, die wir zur Erklärung von
Amokläufen Jugendlicher an Schulen identifizieren müssen,
wenn wir sie analysieren und verstehen wollen. Der erste Faktor ist die Persönlichkeit des Täters. Hierzu wussten wir bisher sehr wenig, und hierauf konzentriert sich die vorliegende
Analyse von Langman. Der zweite Faktor ist die Beschaffenheit
der sozialen Lebenswelt, also vor allem der Umwelt in Familie, Freundeskreis und Schule. Hierzu liegen inzwischen eine
Reihe von erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Untersuchungen vor. Der dritte Faktor ist das Medium, mittels dessen
die Tat ausgeführt wird. Es ist bei den allermeisten Amokläufen in den Schulen eine Waffe, meist eine Schusswaffe, deren
Verfügbarkeit, Existenz und Einsatzmöglichkeit ebenso Vor-
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aussetzung für die Durchführung der Tat ist wie die beiden
anderen Faktoren.
Wir müssen immer das Zusammenspiel der drei Faktoren
Persönlichkeit – Lebenswelt – Tatmedium im Auge haben,
wenn wir eine einigermaßen zufriedenstellende analytische
Erklärung anstreben. Jede Erklärung, die nur auf einen der
Faktoren abstellt, ist unzureichend. Bei allen bisherigen Taten
waren der Zugang, die Verfügbarkeit und die Einsatzmöglichkeit von Waffen im Spiel – diese Bedingungen sind aber tausendfach bei anderen Jugendlichen gegeben, ohne dass sie zu
Amokläufern werden. Das Gleiche gilt für die Faktoren in der
sozialen Lebenswelt. Peter Langman weist im ersten Kapitel
seines Buches darauf hin, dass Schulversagen, Demütigung im
Freundeskreis, Vernachlässigung und Misshandlung in der Familie zwar bei den meisten Amokläufern anzutreffen waren,
aber die gleichen Faktoren treten tausendfach bei anderen Jugendlichen auf, ohne dass sie zu Tätern werden.
Auch für den Faktor Persönlichkeit gilt diese Aussage. Nicht
jeder traumatisierte, psychotische, schizophrene, paranoide,
antisoziale, narzisstische, sadistische oder sonst wie psychopathologische Jugendliche wird zu einem Amokläufer. Es sind
nur einige wenige, denen dieses Schicksal vorgezeichnet ist. Ob
das Ereignis eintritt oder nicht, das hängt nicht alleine vom
Faktor Persönlichkeit ab, sondern davon, wie die Persönlichkeit
in ihrer Lebenswelt aufgenommen wird und sich dort bewegt
und wie sie mit dem Medium der Tat vertraut ist. Erst alle drei
Faktoren zusammen in einem bisher nicht befriedigend zu erklärenden Wechselspiel, in einer verhängnisvollen gegenseitigen Beeinflussung, führen zur Tat.
Wir kennen heute aus jedem der drei Bereiche die wesentlichen Risikofaktoren. Was wir aber nicht wissen ist, welche
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Zusammengehörigkeiten, welche Kombinationen von Merkmalen aus den drei Bereichen gegeben sein müssen, damit es
tatsächlich zur Tat kommt. Warum treffen bei den zehn von
Peter Langman analysierten Tätern die psychische Krankheit,
die zerbrochene soziale Lebenswelt und das Medium Tatwaffe
so zusammen, dass sie tatsächlich den unfassbaren Schritt zur
Tötung anderer Menschen und von sich selbst gehen? Diese
Frage ist nur schwer zu beantworten.
Dennoch lässt sich aus dem bisherigen Erkenntnisstand
sehr vieles über die Vorbeugung, die Prävention von Amokläufen von Jugendlichen an Schulen ableiten. Peter Langmans
Analyse bestätigt, dass ein Amoklauf keine Spontanhandlung
ist, sondern das Ende einer längeren Handlungskette, die in der
Regel über einen Zeitraum nicht nur von Monaten, sondern
meist von Jahren aufgebaut wird. In diesem Sinne erscheint ein
Amoklauf zufällig, er ist es aber nicht. Würden aus dem sozialen Umfeld genügend Aufmerksamkeit und Sensibilität dem
potenziellen Täter entgegengebracht werden, könnte er frühzeitig identifiziert werden.
Peter Langman wendet sich im Schlusskapitel seines Buches
vor allem den Eltern zu und unterbreitet genau abgeleitete
Vorschläge, wie sie bei ihren eigenen Kindern das Risiko von
Gewalttaten identifizieren können. Jeder potenzielle Täter
sendet bewusst, meist aber unbewusst, eindeutige Signale aus,
die auf seine Neigung und auf seine Absichten schließen lassen.
Es ist ein Drama, dass die Eltern aller bisherigen Amokläufer
entweder nicht in der Lage waren, diese Signale zu verstehen,
oder nicht bereit waren, die Signale in einer geeigneten Weise
an Hilfe gebende Personen weiterzuleiten.
Ähnliches gilt für den schulischen Bereich, dort in aller-
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erster Linie für die Gleichaltrigen und Freunde der potenziellen Täter und in einer zweiten Reihe für die Lehrerinnen und
Lehrer. Von großer Bedeutung für die Vorbeugung von Amokläufen an Schulen ist es, dass Gleichaltrige ein Gespür dafür
entwickeln, wann einer ihrer Mitschüler solche Formen von
psychischer und sozialer Abweichung zeigt, dass eine tatsächliche Gefährdung für ihn selbst und für andere gegeben ist. Es
ist für den schulischen Kontext sehr unangenehm, aber die
sorgfältige Diskussion darüber, wie in der Schülergemeinschaft
potenzielle Taten erkannt werden können, gehört heute mit
auf die Tagesordnung. Haben Mitschüler Zugang zu Waffen,
sind sie Opfer von Gewalt durch Mitschüler, gibt es Schüler mit
schweren Verlusterlebnissen, haben Schüler Ankündigungen
einer Tat vorgenommen, sind diese Ankündigungen mehr als
nur diffus und haben ganz konkrete Orte und Zeiten genannt?
Solche und andere Aspekte gehören in den schulischen Kontext und müssen im Bewusstsein von Mitschülerinnen und
Mitschülern verankert sein (Harnischmacher 2007).
Ähnliches gilt für Lehrkräfte, auch wenn sie lange nicht
einen so direkten Zugang zur alltäglichen Lebenswelt ihrer
Schüler haben können. Bei ihnen aber wäre es möglich, über
eine in größeren Abständen aufzufrischende Fortbildung auf
die heute bekannten Warnsignale aufmerksam zu werden, die
potenzielle Täter aussenden. Lehrer wären es dann auch, die
geeignete professionelle Unterstützung und Hilfe heranziehen
könnten.
Für beide Gruppen, also die Schülerinnen und Schüler und
die Lehrerinnen und Lehrer, wäre es von großer Hilfe, wenn
unkompliziert erreichbare Meldestellen existieren würden,
bei denen absolute Anonymität gesichert und gleichzeitig eine
professionelle Reaktion zu erwarten ist. Nur diese professio-
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nellen Helfer können entscheiden, ob es in einem konkreten
Fall zu einem Zusammentreffen von mehreren spezifischen
Hinweisen gekommen ist, die tatsächlich den Tatbestand eines
ernsten Warnsignals ausdrücken. In sehr vielen Fällen sind es
ja nur Verdachtsmomente, die für sich noch keine echte Krisengefährdung ausdrücken. Diese Unterscheidung kann ein
normaler Lehrer und kann ein normaler Schüler so nicht treffen.
Ziel der Analyse von Peter Langman ist es, durch eine Sensibilisierung und tabufreie sachliche Diskussion aller bekannten
Risikofaktoren darauf hinzuwirken, dass im schulischen Kontext potenzielle Täter frühzeitig identifiziert werden können.
Langmans Studie hilft uns, hier konkrete Schritte einzuleiten,
ohne »verdächtige« Jugendliche zu stigmatisieren.
Seine Studie macht nachdrücklich auf ein Phänomen aufmerksam, dem in den nächsten Jahren unbedingt eine größere
Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Auch wenn Mädchen durchaus zu potenziellen Täterinnen werden können,
worauf Langman ausdrücklich hinweist, sind fast alle Täter,
die eine wahnhaft gesteuerte Gewalt an Schulen ausüben,
männlichen Geschlechts. Einer der Hintergründe für diese
Entwicklung scheint darin zu liegen, dass Jungen schon von
Kindheit an erheblich größere Schwierigkeiten bei der Identifizierung mit und in der Gestaltung von ihrer Geschlechtsrolle
haben als Mädchen.
Jungen werden häufiger psychisch krank und sind von den
psychiatrisch identifizierbaren Krankheiten, die nach Peter
Langman mit extremen schulischen Gewalttaten in Verbindung stehen (Psychopathologien, Psychosen und Traumatisierungen), deutlich stärker betroffen als Mädchen. Die Jungen
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haben bei allen zentralen Entwicklungsaufgaben im Jugendalter die größeren Schwierigkeiten der Bewältigung. Sie fallen
im Qualifikationsbereich immer weiter zurück und sind in den
Leistungsbilanzen und Abschlüssen bereits von den Mädchen
überholt worden. Sie haben Probleme im Aufbau von Bindungen, Beziehungen und Kommunikationsabläufen, die sich bis
in die Freundschaftsbeziehung hinein fortsetzen. Sie haben ein
einseitiges und eintöniges Freizeitverhalten, mit dem sie sich
eine vielfältige Entfaltung ihrer Persönlichkeit und eine flexible
Anpassung an veränderten Umwelten verbauen. Sie flüchten
über Medien in Traumwelten und verlernen damit, sich aktiv
mit ihrer realen Welt auseinanderzusetzen.
Wie die Analyse von Langman zeigt, sind es die jungen
Männer, die erheblich größere Schwierigkeiten im Umgang mit
Frustrationen, Zurücksetzungen, Demoralisierungen und Demütigungen haben als junge Frauen. Viele von ihnen reagieren
auf schwere Enttäuschungen mit völliger Fassungslosigkeit und
Irritation, manche von ihnen dann leider auch mit einem Verlust ihrer Persönlichkeitsstruktur. Entsprechend häufen sich
bei jungen Männern Kontrollstörungen, also unflexible und
unproduktive Strategien der Konfliktbewältigung, Wut- und
Racheausbrüche, Existenzängste, aber auch beschämtes Ausdem-Felde-Gehen, beleidigtes Beiseitetreten und resigniertes
In-sich-Hineinfressen.
Das vermeintlich starke Geschlecht zeigt erhebliche Schwächen, mit einer lang gestreckten, offenen und sozial unstrukturierten Jugendphase produktiv umzugehen. Im Unterschied
zu Mädchen und jungen Frauen fehlt es an Flexibilität, strategischer Anpassungsbereitschaft, selbstkritischen Kontrollmöglichkeiten, sensiblen Korrekturen einmal eingeschlagener
Wege, Durchhaltevermögen und Ausdauer bei Rückschlägen.
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Amok im Kopf
Im Unterschied zum weiblichen Geschlecht fehlen den Jungen
und jungen Männern in ihrer Entwicklungsnot heute Unterstützung und Angebote für Auswege aus der Sackgasse, in die
sie sich oft selbst hineinmanövrieren. Die Sackgasse – sie besteht für viele von ihnen eben darin, zu traditionellen, völlig
veralteten Bildern vom Mann Zuflucht zu nehmen und den
Gladiator zu spielen, der mit starker Hand Ordnung nicht nur
in sein eigenes Leben, sondern auch für die ganze Welt bringt.
Ein verhängnisvolles Einfallstor für psychisch überstrapazierte
Persönlichkeiten, um sich durch Gewalttaten als handlungsfähig und mächtig zu stilisieren.
Weil die allermeisten Amokläufer an Schulen junge Männer sind, sollten in den nächsten Jahren dringend spezielle vorbeugende Strategien entwickelt werden, die in eine umfassende pädagogische Jungen- und Männerförderung eingebunden
sind. Alles das, was Peter Langman als Warnsignale und VorabKrisenzeichen identifiziert, sollte in einer geschlechtsspezifischen Akzentuierung beachtet werden. Dazu gehört sicher
auch das Phänomen, dass unter den Opfern von Schul-Amokläufen, wie in Winnenden, überhäufig Mädchen zu finden sind.
Seit dem Amokalarm an einer Schule in Sankt Augustin im
Mai dieses Jahres, stellt sich außerdem die Frage, ob und inwieweit nicht auch Mädchen mit vielleicht ganz anderen Handlungsmustern zu Täterinnen werden können.
Eltern, Pädagogen, Psychologen und Sozialarbeiter benötigen beim Verdacht, dass ein Jugendlicher eine Gewalttat planen könnte, abgesicherte Kriterien. Handelt es sich bei dem
Jungen um einen Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur männlicher Prägung? Liegt eine niedrige
Hemmschwelle von unzureichender Frustrationstoleranz
vor? Sind sozial abweichende Auffälligkeiten im Verhalten des
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Vorwort der deutschen Ausgabe
Jungen ersichtlich? Ist der Junge medienabhängig und flüchtet
stundenlang in Computerspiele gewaltlastigen Inhaltes? Wie
sieht sein Aggressionspotenzial gegenüber anderen aus? Sind
Anzeichen erkennbar, dass sich gewaltsame Übergriffe gesteigert bzw. verbale Drohungen mit einer Gewalttat an Schärfe
und Deutlichkeit zugenommen haben? Ist der Junge sozial
integriert oder nicht? Erfährt er Ausgrenzung, Mobbing oder
emotionale Ablehnung und spiegelt dieses Verhalten eventuell gegenüber anderen? Ist er ein Waffennarr und kennt sich
mit Waffen aus? Hat er unkomplizierten Zugriff zu Waffen? Ist
er ein depressiv geprägter Typ mit Suizidneigung? Hat er eine
komplizierte Geschichte mit seinen Eltern hinter sich und
eventuell erniedrigende und demoralisierende Erfahrungen
mit Vater oder Mutter gemacht? Diese und andere Aspekte
könnten der Kristallisationspunkt für eine Art Risikobewertung von tatverdächtigen Jungen und jungen Männern sein,
die für das Einleiten von Unterstützung und Hilfsmaßnahmen
herangezogen werden kann.
Professor Dr. Klaus Hurrelmann
Fakultät für Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld
und Hertie School of Governance, Berlin
Vorwort
Buch nicht schreiben. Ich habe mich
gegen diesen Gedanken gewehrt und gab mich dem Glauben
hin, dass die Epidemie der Schulmassaker der späten 1990erJahre vorüber sei. Es war eine naive Hoffnung. Die Gespenster
von Columbine sind nach wie vor in den Fluren unserer Schulen unterwegs, und jedes Jahr gibt es Schüler, die Eric Harris
und Dylan Klebold nacheifern wollen. In der Tat sind es die
Anschläge dieser beiden Jungen, die mich zur Beschäftigung
mit dem Problem der Schulmassaker geführt haben.
Am 20. April 1999 überfielen Eric und Dylan die Colum­bine
High School. Sie ermordeten 13 Menschen, verwundeten 23
und töteten sich dann selbst. Am Tag des Überfalls arbeitete
ich als Assistenzarzt in einer psychiatrischen Kinderklinik. Wie
der Rest des Landes war ich schockiert und bestürzt von dem
Massaker, und ich wusste, dass dieses Verbrechen einen Einschnitt in der Geschichte der USA darstellte. Ich konnte aber
nicht voraussehen, welchen Einfluss das Geschehen auf mein
Leben haben würde.
Am 30. April 1999, nur zehn Tage nach dem Überfall in
Columbine, wurde ein Teenager in die psychiatrische Klinik
eingewiesen, an der ich arbeitete, weil der dringende Verdacht
bestand, er könnte »Columbine nachahmen«. Er hatte eine Todesliste auf seiner Website und zeigte weitere beunruhigende
und bedrohliche Verhaltensweisen. Eine Schülerin hatte seine
Ich wol lt e die se s
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Vorwort
Website entdeckt und ihrem Vater gezeigt, der daraufhin die
Schule informierte. So kam dieser Junge zu mir. Ich wurde
gebeten, das Risiko eines Schulmassakers abzuschätzen – eine
durchaus beängstigende Aufgabe. Ich musste herausfinden, ob
ein 16-jähriger Junge das Potenzial zum Massenmörder besaß.
Was die Sache noch vertrackter machte, war, dass es damals
faktisch keine wissenschaftliche Erkenntnis darüber gab, was
in jugendlichen Amokläufern vorgeht.
Seither habe ich pro Jahr einen bis zwei potenzielle Amokläufer begutachtet. Als Psychologe fühlte ich eine ethische
Verpflichtung, so viel wie möglich zu dem Thema zu wissen.
Ich las, was ich finden konnte, um meine Kenntnis über diese
Jugendlichen zu erweitern. Doch je mehr ich las, desto mehr
wurde mir klar, dass wesentliche Aspekte fehlten.
Obgleich ich diese Lücken sah, war ich mir nicht sicher, ob
ich derjenige sein wollte, der sie schließt. Die Aussicht stieß
mich ab, Jahre meines Lebens mit der Erforschung von Massenmorden zu verbringen. Viele Leute mögen Filme, in denen
Gewalt vorkommt, Horrorgeschichten und Bücher über Serienmörder – ich nicht. Dennoch, als ich mich mit den jugendlichen Mördern beschäftigte und die vorhandene Literatur dazu
las, wurde ich von dem Thema und der Fülle von Fragen, die es
aufwirft, fasziniert. Wie konnte jemand so etwas tun? Warum
genau dieser Junge und nicht sein Bruder? Warum diese beiden
Jungen, wenn es doch Kinder gab, die größeren Verletzungen
in ihrer Kindheit und Jugend ausgesetzt waren? Welche Einflüsse trieben sie zu einer so extremen Tat?
In den letzten neun Jahren habe ich, aus meiner Perspektive
eines Psychologen, versucht, diese Fragen zu beantworten. Ich
befasse mich mit Menschen als Individuen, mich interessiert,
was in ihrem Bewusstsein geschieht – ihre Persönlichkeit, ihre
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Amok im Kopf
Gedanken, Gefühle, Hoffnungen: alles, was ihre Identität ausmacht. Das bedeutet nicht, dass ich äußere Faktoren vernachlässige. Interaktionen in der Familie, soziale Umgebung und
Beziehungen zu Gleichaltrigen haben einen profunden Einfluss auf die Identität und Erfahrungswelt der Menschen. Was
ich jedoch verstehen wollte, war: Was genau ging im Bewusstsein von Schul-Amokläufern vor? Wie sahen sie die Welt? Wie
erklärten sie sich ihren mörderischen Drang?
Zwar teile ich hier meine Einsichten, Schlüsse und Spekulationen mit, aber es gibt keine einfache Erklärung für das Phänomen des jugendlichen Amokläufers oder eine Formel, nach
der sich voraussagen ließe, wer zum Massenmörder wird. Am
Ende des Buches gibt es also nichts dergleichen wie: A + B + C
= Schul-Amokläufer. Das Problem ist zu komplex, und es gibt
Vieles, was wir nicht wissen. Gleichwohl glaube ich, dass dieses
Buch Licht auf ein Phänomen werfen wird, das trotz ausgiebiger Behandlung in den Medien rätselhaft geblieben ist. Meine Hoffnung ist, dass wir durch ein größeres Verständnis der
Antriebskräfte von jugendlichen Tätern besser in der Lage sein
werden, frühe Warnzeichen zu erkennen, wirkungsvoll zu intervenieren und damit das Leben von Menschen retten.
Vorbemerkung zum Text
in diesem Buch um äußerste Exaktheit
der Informationen bemüht. Doch obgleich wir im Informationszeitalter leben, waren viele Details entweder nur schwer zu
eruieren, oder die Quellen widersprachen sich. Um Wortmüll
möglichst zu vermeiden, beginne ich Sätze nicht mit »Es wurde
berichtet« oder »Laut diesem oder jenem« oder »Es wird vermutet, dass«. In den meisten Fällen stelle ich die Informationen als
Fakten dar, auch wenn ich Irrtümer nicht ausschließen kann.
Der Leser verzeihe mir also jede Unexaktheit, die das Buch
möglicherweise enthält.
Die Teile über Eric Harris und Dylan Klebold beruhen stark
auf den Materialien des Jefferson County Sheriff’s Office. Dabei handelt es sich um ungefähr 27.000 Seiten, einschließlich
Gesprächsprotokollen, Schulaufsätzen von Eric und Dylan,
Texten im Schuljahrbuch, der Tagebücher der Jungen und diverser anderer Dokumente. Die meisten dieser Seiten wurden
der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, aber circa 5.000 Seiten
blieben unter Verschluss. In den Dokumenten, die zugänglich
sind, sind die Namen anderer Schüler und Schülerinnen
manchmal geschwärzt, um deren Identität zu schützen. Das
zwingt den Recherchierenden, über die Menschen zu spekulieren, die an bestimmten Ereignissen beteiligt waren.
Wenn ich aus den Texten der beiden Jungen selbst zitiere, so
I c h h ab e m i c h
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Amok im Kopf
habe ich stillschweigend die Orthografie und Zeichensetzung
korrigiert, um sie leichter lesbar zu machen.
In Kapitel 7 schreibe ich über potenzielle Amokläufer, mit
denen ich gearbeitet habe. Ihre Namen und andere mögliche
Erkennungsmerkmale wurden abgeändert.