Mittelweg 36 - Hamburger Institut für Sozialforschung

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Mittelweg 36 - Hamburger Institut für Sozialforschung
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Christian Schneider
Trauma und Zeugenschaft
Probleme des erinnernden Umgangs mit Gewaltgeschichte 1
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Die Rede vom Trauma führt uns zwangsläufig aus der sicheren Welt
der Normalerfahrung in eine apokryphe, oft unverständliche und paradoxe Realität, die von Zeugenschaft meist in einen von Weiheformeln
gesättigten Raum – jedenfalls, wenn es sich um die Zeugenschaft des
Holocaust handelt und man sich in Deutschland befindet. Beide Themen und Begriffe verführen, wie der Begriff Holocaust selbst, zu einer
pseudoreligiösen, mythischen, ja manchmal obskurantischen Sprechweise. Was damit zusammenhängt, dass die Shoah in Deutschland – jedenfalls in den offiziellen Tropen des Gedenkens – immer noch wie ein
Heiligtum behandelt wird, und nicht als das, was sie war, nämlich ein
Makroverbrechen.2
Wenn man also über Trauma und Zeugenschaft im genannten Kontext redet, dann tut man gut daran, nicht nur fremde, sondern die eigenen Redeweisen zu hinterfragen, zu entmythologisieren, zu relativieren.
Und man ist, je weiter das historische Ereignis zurückliegt, gehalten, sich
über den eigenen geschichtlichen Ort Rechenschaft zu geben. Mein erster
Annäherungsversuch gilt infolgedessen diesem geschichtlichen Standort.
Ein bedeutender, jüngst verstorbener Historiker schrieb: »In der Erforschung des ›Dritten Reiches‹ vollzieht sich gerade ein schleichender,
aber unwiderrufbarer Wandel. (...) Dieser Wandel hat methodische Konsequenzen. Die Augenzeugen schwinden und selbst die Ohrenzeugen
sterben aus. Mit der aussterbenden Erinnerung wird die Distanz nicht
nur größer, sondern verändert sie ihre Qualität. Bald sprechen nur
noch die Akten, angereichert durch Bilder, Filme, Memoiren. Die Forschungskriterien werden nüchterner, sie sind aber auch – vielleicht –
farbloser, weniger empiriegesättigt, auch wenn sie mehr zu erkennen
1
Vortrag, gehalten am 17. März 2007, im Rahmen der Tagung »Zeugenschaft des Holocaust«
des Fritz Bauer Instituts und der Evangelischen Akademie Arnoldshain, dortselbt. Vorabdruck
aus: Fritz Bauer Institut (Hrsg.): Zeugenschaft des Holocaust. Zwischen Trauma, Tradierung und
Ermittlung, Red.: Michael Elm, Gottfried Kößler, Frankfurt am Main / New York 2007.
2
Ich folge in der Ablehnung jeder metaphysischen oder theologischen Überhöhung des
Holocaust Giorgio Agamben, der sich von allen zeitgenössischen Denkern wohl am entschiedensten gegen eine Sakralisierung des Massenmords – und in diesem Zusammenhang folgerichtig
gegen den Gebrauch des Terminus »Holocaust« – verwahrt: »Dieser Ausdruck schließt nicht nur
einen unannehmbaren Vergleich von Krematorien und Altären ein, sondern auch eine von Anfang an antijüdisch gefärbte Bedeutungsgeschichte.« Agambens Konsequenz, den Terminus
»Holocaust« nicht zu benutzen (»wer ihn weiterhin verwendet, beweist Unwissen oder Mangel
an Sensibilität oder beides«), folge ich hingegen nicht, weil nur dieses problematische Kunstwort die gesamte Konnotationsbreite abdeckt, die den alltagssprachlichen Umgang mit dem
Prozess der Massenvernichtung auszeichnet.
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oder zu objektivieren versprechen. Die moralische Betroffenheit, die
verkappten Schutzfunktionen, die Anklagen und die Schuldverteilungen
der Geschichtsschreibung – all diese Vergangenheitsbewältigungstechniken verlieren ihren politisch-existenziellen Bezug, sie verblassen zugunsten von wissenschaftlicher Einzelforschung und hypothesengesteuerten Analysen.« 3
Ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswertes Statement. Man könnte
z. B. angesichts der aktuellen Flut von Film- und Fernsehdokumentationen, Doku-Dramen und Spielfilmen, Biographien und Erinnerungsbüchern, die allesamt historiographische Dignität beanspruchen, fragen,
ob die historische Forschung wirklich nur immer »farbloser« wird; man
könnte das hier nur implizit angesprochene Verhältnis von Augen- und
Ohrenzeugen problematisieren; man könnte sich schließlich fragen, wie
diese beiden Kategorien sich zum übergreifenden Begriff des »Zeitzeugen« verhalten oder was es mit einer Terminologie auf sich hat, die die
Augenzeugen »verschwinden« und die Ohrenzeugen »aussterben« lässt.
Die entscheidende Frage ergibt sich m. E. jedoch erst, wenn wir den
Zeitpunkt der Veröffentlichung realisieren. Vom Verschwinden der Zeitzeugen zu reden, ist heute Teil eines gängigen – und realitätshaltigen –
Diskurses. Die Äußerung Reinhart Kosellecks über ihr alsbaldiges Verschwinden stammt jedoch aus dem Jahr 1981, sie ist mithin mehr als ein
Vierteljahrhundert alt. Viele der als morituri apostrophierten Zeitzeugen
waren damals noch überaus lebendige und aktiv im Leben stehende
Personen, Zeitgenossen. Etliche von ihnen haben jedenfalls Koselleck
überlebt.
Warum also die seltsam alarmistische Diktion des großen Historikers
zu einem Zeitpunkt, der uns heute als die Phase erscheint, in der die Ära
der Zeitzeugen sowohl in der historischen und sozialwissenschaftlichen
Forschung als auch in der pädagogischen Praxis überhaupt erst begann?
Was bedeutet es, dass der baldige Tod der Zeitzeugen seit Jahrzehnten thematisiert, ja geradezu beschworen wird? So oft und so sehr, dass
jeder psychoanalytisch angekränkelte Verstand die Frage kaum abwehren kann: Steckt dahinter vielleicht – ein Wunsch?
Das eröffnet eine im Wortsinn bedenkliche Perspektive.
Lassen Sie mich die apokryphste, die prononcierteste Hypothese,
die daraus zu gewinnen wäre, an den Beginn meiner Ausführungen
stellen. Warten wir vielleicht auf diesen Tod, dieses Sterben? Wobei zu
klären wäre, wen dieses »Wir« umfasst.
Die Frage, ob wir uns den Tod der Zeitzeugen möglicherweise wünschen, scheint rein rhetorisch. Sie wird mindestens ein automatisiertes
Kopfschütteln hervorrufen, bei vielen mehr: Unverständnis und mora3
Reinhart Koselleck, Nachwort zu Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, Frankfurt
am Main 1981, S. 117.
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lische Empörung. In unserer alltäglichen Existenz ist der Tod tabuisiert,
und Todeswünsche gegen andere sind hochgradig verpönt. Dass es in unserem Unbewussten anders aussieht – darauf hat Freud nachdrücklich
aufmerksam gemacht. In seiner kleinen Schrift »Zeitgemäßes zu Krieg
und Tod« heißt es: »Wir beseitigen in unseren unbewussten Regungen
täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt
und geschädigt haben. ( ...) Ja, unser Unbewusstes mordet selbst für
Kleinigkeiten.« 4
Wenn wir uns für einen Moment diese Betrachtungsweise zu eigen
machen, dann scheint es gerade wegen unserer automatisierten Abwehr
sinnvoll, nach Gründen dafür zu suchen, warum die Frage nach einem
möglichen Todeswunsch gegenüber den Zeitzeugen der NS-Gewalt –
jenseits unseres moralischen Reflexes – doch berechtigt sein könnte.
Gehen wir zu Koselleck zurück und fragen nach der Perspektive,
aus der heraus er seine bemerkenswerte Sentenz geschrieben hat, so bietet sich zunächst die professionelle des zeitgeschichtlichen Fachhistorikers an. Wem fiele nicht dazu das berühmte Bonmot ein, der Zeitzeuge
sei der natürliche Feind des Historikers?
Es enthält eine tiefe Wahrheit, denn der Zeitzeuge steht für die subjektive Perspektive, den persönlichen, den singulären Ausschnitt aus der
Geschichte. Die Sache des Historikers ist dagegen die Sammlung und
Einordnung solcher und anderer Dokumente in einen größeren, objektivierenden Zusammenhang. Sein Berufsethos nötigt ihn zur Relativierung solcher Zeugnisse, während der Zeitzeuge auf der einzigartigen
und exemplarischen Bedeutung dessen besteht, was er zu berichten hat.
Dieses Dilemma durchzieht die Geschichte und die Geschichtswissenschaft seit Herodot, dessen Begriff der istorie »Befragen von Zeugen«
bedeutet. Das Dilemma macht auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs
Geschichte aufmerksam – und auf die Ähnlichkeit von Geschichtsprozess und Gerichtsverfahren.
Bei beiden spielt der Zeuge eine Hauptrolle, denn wer Zeuge sagt,
konnotiert damit automatisch Authentizität und Wahrheit. Es gibt kein
höheres Beweismittel als die Aussage eines glaubwürdigen Tatzeugen, es
sei denn das Geständnis des Täters. So kennen wir es aus der Rechtsprechung – und beides ist falsch. Denn es gibt nicht nur falsche Geständnisse, sondern es gibt kaum etwas weniger Verlässliches als Augenzeugenberichte.
In US-amerikanischen Strafverfahren irrt sich, nach einer aktuellen
Studie des Soziologen Kevin Jon Heller, mehr als die Hälfte der Zeugen,
wenn sie aus einer Reihe von Verdächtigen den Täter herausdeuten soll.
Wenn der tatsächliche Täter gar nicht in dieser Reihe steht, deuten sie
4
Sigmund Freud, Zeitgemäßes zu Krieg und Tod, in: Studienausgabe, Band IX, Frankfurt am
Main 1974, S. 57.
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dennoch in 36 Prozent aller Fälle auf eine Person. Und vier von fünf
solcher falschen Identifikationen werden von der Jury, den Geschworenen, geglaubt.
Das Entscheidende sind die Folgen der vermeintlich authentischen
Berichte: Die Verurteilungswahrscheinlichkeit steigert sich durch das
Einführen eines Augenzeugen von 18 auf 72 Prozent. Dagegen werden
Evidenzen, die den Augenzeugenberichten widersprechen, häufig nicht
berücksichtigt, Indizien werden dramatisch unterschätzt.
Diese Diskrepanz zwischen objektiven und subjektiven Beweismitteln führt Heller darauf zurück, dass sie jeweils andere Möglichkeiten
anbieten, sich den Tathergang vorzustellen.
»Geschworene«, so formuliert ein Rezensent der Hellerschen Studie
ihr wichtigstes Ergebnis, »suchten nach Szenarien, innerhalb derer sie
sich beispielsweise vorstellen können, dass der Angeklagte unschuldig
sei. Das falle ihnen bei Indizien leichter als bei Augenzeugen. Warum?
Weil das Konstruieren einer solchen Geschichte sie selber in die Rolle
eines imaginären Augenzeugen bringt. Augenzeugenschaft ist selber erzählend, Indizien hingegen kommen in Form von Zahlen und technischen Daten.« 5
Das heißt: Der Augenzeuge eröffnet uns den Rahmen einer Erzählung, von der wir uns ein eigenes Szenario, »ein Bild machen können«.
Anders formuliert: Augenzeugenschaft ist gewissermaßen »ansteckend«.
Sie präsentiert Geschichten, die ihrerseits Geschichten stimulieren.
In diesem narrativen Spannungsfeld ist die Gestalt des Zeugen generell anzusiedeln.
Allerdings mit wichtigen Unterschieden in Funktion und Präsentation, je nachdem, ob er im juridischen oder im historischen Feld auftritt.
Im ersten ist er idealtypisch der »beteiligte Unbeteiligte« der testis,
der als Dritter zwischen den Parteien steht. Der historische Zeuge hingegen steht, wenn es sich um Gewaltgeschichte handelt, a priori unter
dem Vorbehalt der »Betroffenheit«: Gilt dies generell für Zeitzeugen
gewaltsamen Handelns, so a fortiori für die Opfer von Gewalt, die über
ihr Leiden berichten: Der superstes ist derjenige, der ein gewaltsames Ereignis überstanden hat, der Überlebende, der infolgedessen nicht aus
der Position der Neutralität urteilt und berichtet. Aus dieser Differenz
der Position ergibt sich der grundlegende Unterschied von einer »Zeugenaussage« zu dem, was wir als »Zeugenschaft« bezeichnen.
Eine weitere wichtige Differenz des juridischen und des historischen Zeugnisses liegt in der Art des Forums, des Auditoriums, vor dem
Zeugnis ablegt wird. Analog zu der klassischen erkenntnistheoretischen
und -psychologischen Frage, die immer dann gestellt wird, wenn es um
5
Jürgen Kaube, »Die Hälfte aller Augenzeugen irrt sich«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 24. 12. 2006.
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die Glaubwürdigkeit einer wie auch immer gearteten Aussage geht, der
Frage: »Wer spricht?«, spielt im Fall der historischen Zeugenschaft, wie
wir gleich genauer sehen werden, die Frage: »Zu wem wird gesprochen?«
eine entscheidende Rolle.
Gleichwohl, das gilt es festzuhalten, unterstehen der juridische und
der historische Zeuge hinsichtlich ihrer performativen Funktion grundsätzlich demselben Prinzip: dem Prinzip, dass in erster Person bezeugte
Geschichten andere Geschichten stimulieren.
»Zeugnis ablegen bedeutet« – so heißt es in einem Definitionsversuch – »die eigene Person für die Wahrheit der Geschichte einzusetzen
und das eigene Wort zum Bezugspunkt einer umstrittenen oder unbekannten Realität zu bestimmen, die man selbst erfahren oder beobachtet hat.« 6 Diese Definition von historischer Zeugenschaft geht in der
Folge unmittelbar auf die angesprochene Differenz des Forums ein:
»Eine Aussage wird erst dadurch zu einem Zeugnis, dass sich der Zeuge
in seiner Erzählung an einen anderen richtet. Die persönlichen Belange
des Zeugen werden erst in der Ansprache an andere überschritten, und
die Aussage des Zeugen steht erst dann, durch diese Ansprache und diesen Anruf um Gehör, für eine universelle Wahrheit ein.« (S. 7)
Auch Zeugenaussagen im juridischen Feld sind, wie die liturgischen
Regeln der Strafprozessordnung zeigen, keine Monologe. Sie sind Teil
eines ritualisierten Austauschs zwischen den Rechtsparteien. Gleichwohl
richten sie sich eben nicht »an einen anderen« im personellen Sinn,
sondern prinzipiell an eine Institution.
Aussagen im Sinne der heutigen Vorstellung von Zeugenschaft des
Holocaust hingegen sind grundsätzlich anders konstituiert: »Zeugen
verlangen von ihrem Publikum eine Antwort«, so Ulrich Baer. Dieser
Begriff der Zeugenschaft übersteigt die juristische Dimension nicht zuletzt hinsichtlich der Form des Zeugnisses, weil es hier nicht nur von
vornherein als interaktives Geschehen, sondern letztlich als Resultat
eines Dialogs verstanden wird: Die »Aufforderung an die Zuhörer eines
Zeugen ( ...) impliziert, zumindest teilweise Verantwortung für die von
ihm bezeugte Wirklichkeit zu übernehmen. Es geht um die Verpflichtung und um die Möglichkeit, ›für den Zeugen zu zeugen‹, indem wir
auf die in jedem Zeugnis erhaltene Aufforderung zum Zuhören und
zur Antwort darauf reagieren, dass wir für die Wahrheit der bezeugten
Erfahrung mitverantwortlich werden.« (S. 7)
Diese Konstruktion einer grundsätzlich dialogisch verfassten Zeugenschaft hängt unmittelbar mit der Natur dessen zusammen, wovon
die Zeugen des Holocaust zu berichten haben: Ereignisse extrem trau6
Ulrich Baer (Hrsg.), Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah,
Frankfurt am Main 2000, Einleitung, S. 7. Alle weiteren, nicht eigens gekennzeichneten Zitate
entstammen diesem Text.
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matischer Qualität. Wir wissen, dass sich das Trauma im Gegensatz zu
anderen Ereignissen gegen das Einspeisen in Erinnerung und Erzählung sperrt; deshalb ist, so die Erkenntnisse, die aus der Arbeit mit Zeugen des Holocaust gewonnen wurden, ein besonderes Setting nötig, um
die traumatische Erinnerung heben zu können. »Damit die Wahrheit
der extrem traumatischen Erfahrungen ans Licht gelangt, benötigen Augenzeugen eine Art der Zuhörerschaft, die sich als sekundäre Zeugenschaft, als Zeugenschaft durch Vorstellungskraft oder als ›Zeugenschaft
der Erinnerung‹ verstehen lässt.« (S. 11)
Klinisch ist diese Forderung unmittelbar einleuchtend, denn das
Besondere des Traumas besteht eben darin, Erfahrung und Erinnerung
im landläufigen Sinn zu verhindern: Das traumatische Ereignis kommt
eben meist nicht vollständig zum Bewusstsein, es ist nicht integral angeeigneter Teil des eigenen Lebens; es bleibt ein Fremdkörper im Erleben.
Deshalb ist ein »aktiver Zuhörer« nötig, der durch seine Präsenz ein
interaktives, ja ein szenisches Setting für die Reaktivierung der traumatischen Erfahrung bereitstellt. Es geht darum, etwas zur Sprache zu verhelfen, das möglicherweise noch nie einen sprachlichen Ausdruck, eine
sprachliche Existenz gefunden hat.
Das Paradox beim Zeugnisablegen über extreme Traumata besteht
darin, wie Dori Laub, einer der Pioniere in Sachen Zeugenschaft, sagt,
dass ein Ereignis bezeugt wird, »das trotz seiner überwältigenden und
zwingenden Realität für das Opfer noch nicht zur Wirklichkeit geworden ist«. 7 Infolgedessen wisse der Zeuge am Anfang seiner Erzählung
oft gar nicht, was er erzählen werde: »Die Erzählung entsteht im Zuhören
und Gehörtwerden.« Damit wird die zuhörende Person explizit zum
Mitproduzenten der Trauma-Erzählung. Aus dieser besonderen Situation folgt eine ganze Reihe von Kautelen, die in erster Linie zum Ziel
haben, die überlebenden Zeugen vor der Gefahr einer Re-Traumatisierung zu schützen, die immer gegeben ist, wenn ein Trauma in den symbolischen Horizont eingeholt, d. h. an- und ausgesprochen wird. »Der
Zuhörer (...) muss wissen, dass diejenigen, die vom Trauma sprechen, es
vorziehen würden, zu schweigen, weil sie sich davor, dass ihnen zugehört wird und dass sie sich selbst zuhören, schützen müssen. Er muss sich
bewusst sein, dass die Erzählenden sich oft ins Schweigen flüchten und
sich dessen Schutz anvertrauen, auch wenn Schweigen für sie eine Niederlage bedeutet.« (S. 69) Nur mit diesem Wissen sei es möglich, »die Überlebenden beim Vordringen in ein unbekanntes Gebiet zu begleiten und
zu führen« (S.70). All dem ist zuzustimmen.Wäre da nur nicht der Satz:
»Die Person, die dem Trauma zuhört, muss sich bewusst sein, dass der
7
Dori Laub, »Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens«, in: Baer, Niemand
zeugt für den Zeugen, S. 68. Alle weiteren mit Seitenzahlen ausgewiesenen Zitate entstammen
demselben Text.
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Überlebende, der Zeugnis ablegt, kein vorheriges Wissen, kein Verständnis und keine Erinnerung an das hat, was geschehen ist.« (S. 69)
Man stutzt. Selbst, nein gerade dann, wenn man das Paradoxe des
traumatischen Erlebens ernst nimmt, ist die Frage nicht abzuweisen:
Was soll diese Aussage eigentlich bedeuten? Warum soll der traumatisierte Zeuge, der Überlebende all das nicht haben? 8 Heißt es nicht ungefähr so viel wie: »Der Zeuge hat nichts gesehen ?« Tatsächlich ist die
Formulierung, die eine Nichtexistenz von Wissen, Verständnis und Erinnerung behauptet, nach allen Erkenntnissen der Traumaforschung in
dieser Form nicht zu halten. Es ist eine Mystifizierung, die sich sprachlich bereits in der seltsam reifizierten Rede von der »Person, die dem
Trauma zuhört« ausdrückt. Das Trauma spricht nicht, es ist immer der
Traumatisierte, der spricht, auch wenn er über Dinge sprechen mag, die
sich tatsächlich seinem Bewusstsein zu Teilen entziehen. Welchen Sinn
hat also die Aussage? Und warum die mystifizierende Rede?
Zunächst folgt daraus, auf dem Hintergrund der anderen – richtigen – Hinweise zum prekären Verhältnis eines Zeugnis ablegenden
Traumatisierten zu einem maieutischen, aktiven Zuhörer eine prinzipielle Verlagerung der Rollen. Der bisher als Mitgestalter aufgefasste
Zuhörer »des Traumas« avanciert unter der Hand zum eigentlichen Zeugen: Der Ohrenzeuge wird zum Erlöser des Augenzeugens, der in der
Laub’schen Version gewissermaßen geblendet ist. Auf dieser problematischen Konstruktion beruht das Konzept der sekundären Zeugenschaft.
Dem sekundären Zeugen wird das Bewusstsein imputiert, der primäre
Zeuge sei gewissermaßen leer und er habe diese Leere zu füllen. Diese
seltsame unio mystica des Erzählers und des Zuhörers wirkt wie die
psychologische Übersetzung jenes Konzepts von Zeugenschaft, das
Giorgio Agamben aus seiner Interpretation des »Levi’schen Paradoxons«
gewonnen hat. Primo Levi, Überlebender mehrerer Konzentrationslager, hat bekanntlich darauf aufmerksam gemacht, dass die »wirklichen«,
die, wie er sie nennt, »vollständigen Zeugen« der Vernichtung ebenjene
gewesen sind, die kein Zeugnis mehr ablegen konnten: die Ermordeten
und die als noch Lebende schon über die Grenze des Lebendigen getriebenen, entmenschten »Muselmänner«. Eben weil sie kein Zeugnis
ablegen können, sprechen – an ihrer Stelle – die Überlebenden als deren
»Bevollmächtigte«. Sie bezeugen, so Agamben, ein »Zeugnis, das fehlt«:
»Wer es übernimmt, für sie Zeugnis abzulegen, weiß, dass er ein Zeugnis ablegen muss von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen.« 9 Damit
8
Der Überlebende mag keine »symbolisierte Erfahrung« seiner traumatischen Erlebnisse
haben, eine gestörte und nicht juristisch belastbare Erinnerung, möglicherweise eine bewusste
Abweisung des Verständnisses dessen, was ihm widerfahren ist, und er mag an einer Blockade
des Wissens leiden, das er besitzt. Aber er hat dieses Wissen und diese Erinnerung. Hätte er es
nicht, wäre alles Reden von Zeugenschaft unsinnig.
9
Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main
2003, S. 39.
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ist eine prinzipiell duale Struktur dieser Art Zeugnis gegeben, »bei der
ein Mangel oder eine Unfähigkeit ergänzt und zur Gültigkeit gebracht
werden« (S. 130): »Wie Vormund und Mündel, wie Schöpfer und Stoff,
so sind Überlebender und Muselmann untrennbar, und einzig ihre Einheit-Differenz konstituiert das Zeugnis. (...) Muselmann und Zeuge,
menschlich und nichtmenschlich sind koextensiv und fallen dennoch
nicht zusammen, sind geschieden und trotzdem untrennbar.« (S. 131f.)
Der Zeuge in diesem eminenten Sinn ist »das Subjekt, das Zeugnis ablegt von einer Entsubjektivierung« (S. 132).
Man kann Dori Laubs Auffassung von sekundärer Zeugenschaft als
eine psychologische Transposition dieses emphatischen Konzepts verstehen, die zugleich versucht, die Konstellation der »Untergegangenen
und der Geretteten« (Primo Levi) samt dem daraus folgenden dualen
Zeugenschaftskonzept generationell fortzuschreiben. So wie bei Levi
und Agamben die Überlebenden für die Untergegangenen sprechen, so
sollen nun die sekundären Zeugen für die Überlebenden das Wort
nehmen. Dieses Konzept einer Fortzeugung der Zeugenschaft basiert
letztlich auf der befremdenden Vorstellung einer Entleerung der wirklichen Zeugen, die mit einer bestimmten Rekonstruktion des Traumas,
des Traumatisierten und seiner Rede zusammenhängt: eine Rekonstruktion, die ihn gewissermaßen zum Muselmann des historischen
Sinns stilisiert. Denn seine »Entleerung« (»kein Wissen, kein Verständnis, keine Erinnerung«) ist es, aus der die Gestalt des sekundären Zeugen hervorgeht, der – im Verhältnis zum Überlebenden analog die Rolle
übernehmend, die dieser in Agambens Modell gegenüber dem Muselmann spielt – die Botschaft der Shoah über die Grenze des kommunikativen Gedächtnisses transportiert.
Der klinische Sinn des von Laub entwickelten Verfahrens sowohl
im therapeutischen Gespräch als auch bei der Anwendung in den
»Video-Testimonies« steht dabei außer Frage. Es ist nach allem, was man
weiß, für die Betroffenen ein genuiner Weg der Traumabearbeitung.
Mir geht es indes um das – offenkundig von Mystifikationen bedrohte – Konzept der »sekundären Zeugenschaft«, insbesondere in seiner transgenerationellen Bedeutung. Ich übergehe dabei jene anderen
Probleme von gemeinsam erarbeiteter Zeugenschaft, die in den letzten
Jahren Stoff für Diskussion, etwa in der false memory-Kontroverse, geliefert haben. Eben aufgrund der paradoxen Verfasstheit traumatischer
Erfahrung hat es, zum Beispiel von Seiten der Historiker, immer wieder Zweifel an der Verlässlichkeit solcher Aussagen gegeben. In einigen
Fällen ist es – wie paradigmatisch der berühmte Fall Wilkomirski zeigt –
nachweislich zu »Biographiefälschungen« gekommen. Mag es also gute
Gründe geben, das alte Dilemma des Augenzeugen noch einmal in
zweiter Potenz aufzulegen, so ist das Konzept der sekundären oder
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»zweiten Zeugenschaft« von weitreichender Bedeutung für die Zukunft
der Erinnerung. Denn in ihm fokussiert sich die eingangs angesprochene Problematik des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis: Das Konzept ist, als transgenerationelles, letztlich
darauf angelegt, diese Schwelle zu verschieben. Denn die sekundären
Zeugen gehören nicht nur aus kontingenten Gründen den jüngeren
Generationen an, sondern zum Konzept der zweiten Zeugenschaft
zählt bewusst der Erfahrungstransfer samt einer spezifischen Generationendynamik. Es geht dabei darum, wie eine bestimmte Botschaft
über die Lebenszeit derer, die sie verbreiten, hinausreichen kann.
In diesem Kontext scheinen mir folgende Fragen zentral:
– Als wer oder was wird der »sekundäre Zeuge« sprechen, wenn es die
wirklichen Zeugen nicht mehr gibt? Was wird seine Sprecherposition
sein?
– Für wen wird er sprechen – und was sind die (möglicherweise unbewussten) Mechanismen, die in seine Sprecherposition eingehen?
– Was ist die Produktionslogik, die hinter diesem Transfer von der
einen auf die andere Generation steckt?
– Schließlich – um an den Anfang zurückzukehren –, welche Wünsche
stecken in diesem Prozess? Gibt es möglicherweise einen Zusammenhang zwischen dem Wunsch nach Filiation, der im Konzept der Zeugenschaft eine Rolle spielt, und dem hypostasierten Wunsch nach dem
Verschwinden der Zeitzeugen?
Zunächst bedarf die Frage der Sprecherposition der kurzen Erläuterung. Generell gilt ja, dass wir, wenn wir historische oder moralische
Urteile abgeben, nie nur für uns, sondern immer für eine Gruppe sprechen. Wer in Deutschland nach 1945, nach Zivilisationsbruch und Massenvernichtung, das Wort in Sachen Politik, Moral, persönlicher oder
kollektiver Selbstverortung im geschichtlichen Kontext ergriff, musste
sich implizit oder explizit, jedenfalls zwangsläufig mit Blick auf das
gerade Vergangene positionieren.
Auffallend ist dabei, dass es einen »Opferdiskurs«, d. h. eine Positionierung der durch den NS am meisten Geschädigten kaum gab – am
wenigsten bei den überlebenden Juden. Eine der frühesten expliziten
Diskurspositionen im Sprechgewirr der Nachkriegszeit stammt von
den erstaunlich früh aus der Emigration nach Deutschland zurückgekehrten Vertretern der Kritischen Theorie.
Zu den bewegendsten Dokumenten der nachkriegsdeutschen Wissenschaftsgeschichte zählen für mich die Briefe, die Max Horkheimer in den
Jahren 1948/49 während und nach seinem ersten Deutschlandbesuch
seit der Emigration an die in den USA verbliebenen Freunde geschrieben hat. Ziel der Reise war, die Möglichkeiten auszuloten, das Frankfurter Institut für Sozialforschung wieder aufzubauen und sich wieder
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als Lehrende an der Universität anzusiedeln. Zugleich ging es darum,
Begründungen dafür zu finden, ins Land der Täter zurückzukehren.
Unmittelbar nach seiner ersten »Erkundigungsreise« schreibt Horkheimer an Marie Jahoda:
»Liebe Mitzi! Längst hätte ich Ihnen geschrieben, wären diese Wochen und Monate nicht Tag und Nacht mit Arbeit ausgefüllt gewesen.
Es war wohl die größte Anstrengung, die ich in meinem Leben unternommen habe. Ich versuchte herauszufinden, ob unter deutschen Menschen, vor allem unter deutschen Studenten, noch einige sind, um die
es sich lohnt.« 10
Die Formulierung »um die es sich noch lohnt« bezieht sich auf
vom NS nicht geprägte und verformte junge Leute, die gewissermaßen
die richtigen Empfänger jener Lehre werden könnten, von der sich
Horkheimer eine nachhaltige Erziehung zum Widerstand verspricht.
»Gerade weil, bei aller äußeren Zugänglichkeit, die Masse der Deutschen unansprechbar und böser zu sein scheint als selbst unter dem
Dritten Reich, haben wir eine noch tiefere Beziehung zu denen, die
Widerstand leisten«, schreibt er an Franz Neumann. »Der Wunsch, mit
ihnen zusammen der neuen faschistischen Verhärtung Trotz zu bieten,
ist stark, auch wenn die Aussichten auf Erfolg gering sind. Die Verlockung, am Kampf teilzunehmen, ist groß.« (S. 1027)
Einem Ministerialbeamten des hessischen Ministeriums für Kultus
und Unterricht teilt er mit, dass ihn mehr als alles »die Erfahrung nach
Deutschland« ziehe, »daß die wenigen Menschen, welche unmittelbar
unter dem Schrecken Hitlers ihm innerlich und äußerlich widerstanden
haben, in der ganzen Welt uns am nächsten stehen. Für sie, die immer
noch isoliert sind, kann das, was wir Ausgewanderten zu sagen haben,
am fruchtbarsten werden. Theoretisch und praktisch bedürfen sie der
Ermutigung.« (S. 1034)
Und schließlich: »Die Überlebenden drüben, die Hitler widerstanden haben, sind wenige an Zahl und versprengt. Aber sie bilden doch
die Gruppe, die in einem sehr entscheidenden Sinn ein Recht auf uns
haben. Um ihretwillen zieht es mich hin, so abscheulich auch die Situation im allgemeinen ist.« (S. 1047)
Erst die Kennzeichnung dieser Gruppierung als die der Überlebenden zeigt an, worum es geht. Die angestrebte pädagogische Praxis einer
Aufklärung und Erziehung zum Widerstand geschieht in deren Namen.
Die Überlebenden sind die Repräsentanten des stummen Kollektivs der
Ermordeten. Horkheimer sieht sich und seine kleine Gruppe der Remigranten als deren Sprecher. Sie sind diejenigen, die eine Erfahrung zu
formulieren haben, die sonst verlorenginge. Horkheimer bezieht defi10
Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Band 17, Frankfurt am Main 1996, S.1008.
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nitiv die Sprecherposition dessen, der, als Teil des Opferkollektivs der
nazistischen Verfolgungspolitik, nur zufällig entronnen ist, es nun als
seine Pflicht begreift, für die Ermordeten zu sprechen. In einem Brief
an seine Frau schreibt er über seine zukünftigen Kollegen, die ihn »süß,
aalglatt und verlogen, ehrenvoll begrüßten«: »Sie wissen noch nicht
genau, sollen sie in mir einen relativ einflußreichen Amerikareisenden
oder den Bruder ihrer Opfer sehen, dessen Gedanke die Erinnerung
ist.« (S. 976) Horkheimers Antwort: »Sie müssen sich fürs letztere entscheiden« ist vielleicht der Programmsatz der Kritischen Theorie nach
1945. Er verpflichtet sie explizit auf die Perspektive der Opfer.
Die Sprecherposition der Kritischen Theorie war unwiderruflich
die, den Ermordeten ihre Stimme zu leihen. Die ganze Spätphilosophie
Adornos ist davon geprägt. Diese Selbstverpflichtung war nicht nur die
wesentliche Legitimation dafür, ins Land der Täter zurückkehren zu
dürfen, sie war das Programm einer Lehre, die wie keine zweite die für
politische Töne empfängliche akademische Jugend der Nachkriegszeit
prägte. Es gehört zu den bis heute noch viel zu wenig verstandenen sozialpsychologischen Besonderheiten Deutschlands, dass ebendiese zum
Widerstand Erzogenen ihre Lehrer in allem kopierten – auch in der
Sprecherposition. Die 68er, also jene Generation, die sich theoretisch
explizit auf ihre jüdischen Lehrer bezog, meinten, auf ihren Schultern,
den schuldigen Eltern den Prozess machen zu sollen – identifiziert mit
den Sprechern der Opfer und über sie identifiziert mit den Opfern. Sie
bezogen die Legitimität ihrer Anklage aus dieser teils bewussten, teils
unbewussten Opfer-Identifizierung. Und sie folgten damit in gewisser
Weise dem Wunsch, dem Auftrag ihrer Lehrer.
Ich kann diesen komplexen Zusammenhang hier nur sehr kursorisch behandeln. 11 Worauf es ankommt, ist das Zusammenspiel von
Wünschen und Identifizierungen, aus denen solche Sprecherpositionen
gewonnen werden. Dem Wunsch der Lehrer nach Schulenbildung und
Filiation entsprach bei ihren Schülern die Identifizierung mit der
Opfer-Genealogie ihrer intellektuellen Vorbilder. Dies war der unbewusste Pakt zwischen den jungen deutschen Studenten der 50er und
60er Jahre und ihren remigrierten Lehrern – und diese Wunsch-Konstellation bezeichnet zugleich den Punkt, an dem es im Umkreis von 68
dann zum Bruch zwischen Horkheimer und Adorno und ihren Schülern kam. Was im Verhältnis der Kritischen Theorie zu ihren Studenten
idealtypisch zu zeigen ist, hat sich mutatis mutandis vielfach, nur weniger
spektakulär im nachkriegsdeutschen Milieu abgespielt. Geblieben ist
eine Generation von Opferidentifizierten, die bis heute die politische
11 Genaueres vgl. bei Christian Schneider, »Der Holocaust als Generationsobjekt. Generationsgeschichtliche Anmerkungen zu einer deutschen Identitätsproblematik, in: Mittelweg 36,
4/ 2004, S. 56–72.
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Kultur der Bundesrepublik bestimmt – im Guten wie im Schlechten.
Zum Schlechten gehört, dass sie die sie kennzeichnende Position der
unbedingten moralischen Überlegenheit aus dieser problematischen
und undurchschauten Identifizierung gewonnen hat – mit überaus seltsamen Konsequenzen, wie die Begründung des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer für den Serbienkrieg zeigt.
Unsere Frage ist, aus welcher Position diejenigen sprechen, die als
»sekundäre Zeugen« qualifiziert werden. Meine Vermutung ist: Sie werden – mit im Einzelnen durchaus besseren Gründen als die 68er – als
»Eingeweihte« sprechen. Schließlich sind sie ja gewissermaßen »offiziell« nicht nur zu den neuen Zeugen erkoren worden, sondern durch
ihren Part im kommunikativen Akt der Zeugenschaft mit einem Wissen ausgestattet, das sie von den bloßen »Experten« unterscheidet.
Der Experte, also etwa der Fachhistoriker oder Sozialwissenschaftler, mag ein noch so großes Wissen über Nationalsozialismus, Massenvernichtung und Verfolgungspolitik angehäuft haben. Aber er spricht
eben »nur« als Fachmann – nicht als einer, der persönlich, in identitärem
Einsatz Anschluss an die Primärzeugen gewonnen hat und dessen Position gewissermaßen beerbt. Der Eingeweihte hat im Gegensatz zum
Experten einen Prozess der Initiation durchlaufen: Er hat nicht kumulativ Wissen angehäuft, sondern in einem Ritus höhere Weihen erfahren.
Wer sich die Konzepte der sekundären Zeugenschaft anschaut,
stößt allenthalben auf den Tatbestand der Initiation, ähnlich wie er für
die Übergangsriten »kalter Kulturen« beschrieben wird. Bei solchen Initiationen geht es bekanntlich um eine Statuspassage, die durch ein
Trauma kenntlich gemacht wird. Um etwa den Wechsel vom Knaben
zum Mann zu vollziehen, wird der Initiand mitunter höchst grausamen
und schmerzvollen Riten unterworfen. Dabei sind diese traumatischen
Erprobungssituationen oft die Abbreviaturen dessen, was ihn – im
Extremfall – in der neuen Statusgruppe (als Krieger oder Jäger etwa) erwarten kann. Initiation ist in diesem Sinne die Übertragung schmerzhafter Erfahrungen auf die Nachgeborenen: eine Form der Einschreibung, der Inskription, die, wie bei einer Schutzimpfung – nur grausamer
– erstmals das spüren lässt, was später werden könnte.
Dori Laub beschreibt sein Konzept der Zeugenschaft exakt gemäß dieser Logik: »Die Person, die dem Trauma zuhört, wird (. . . ) Teilnehmerin
und Teilhaberin des traumatischen Ereignisses: Durch das bloße Zuhören
wird sie zu jemandem, der das Trauma zumindest teilweise in sich selbst
erlebt.« (S. 68) Und, aufs Prinzip gebracht: »Das Bezeugen des Traumas
schließt den Zuhörer mit ein, indem dieser Zuhörer als eine leere Fläche fungiert, auf der das Ereignis zum ersten Mal eingeschrieben wird.«
Wir stoßen hier auf die andere Seite der »Entleerung«, die wir bei
der Positionierung des primären Zeugen studieren konnten. War er –
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mit problematischem Rückgriff auf ein nicht weiter ausgewiesenes Konzept des Traumas – einer Logik der Entleerung unterworfen worden, die
die Funktion des sekundären Zeugen begründete, so wird nun dieser
selbst zur »leeren Fläche« einer Inskriptionspraxis, die vermeintlich
kein Subjekt kennt, sondern nur ein »Ereignis«. Ebendies entspricht
der Logik der Initiation. Das Programm der Erzeugung von »sekundärer Zeugenschaft« folgt ihr definitiv.
In unseren heißen Kulturen sind derart offenkundige Initiationen
selten geworden. Wir haben uns also zu fragen, was die Initiationslogik
des Zeugenschaftskonzepts bedeutet. Der Sinn solcher Praktiken besteht, um es zu wiederholen, darin, den Initianden durch eine schmerzhafte Prägung in eine andere Seinssphäre zu versetzen. Die Einschreibung ist zugleich die Zuschreibung eines neuen Status. Der Initiierte gelangt durch die traumatische Sequenz in der Regel in den Besitz eines
neuen, »höheren« Wissens.
Mircea Eliade unterscheidet drei Grundtypen der Initiation: die zum
Erwachsenen, Initiation als Eintrittsbillett zu einer Geheimgesellschaft,
Bruderschaft oder einem Bund und schließlich – »im Zusammenhang
mit einer mystischen Berufung« – die zum Schamanen. 12
Die schmerzhafte Statuspassage zum »Eingeweihten« ist zugleich
ein kultureller Prozess, der dazu dient, mögliche Konflikte zwischen
verschiedenen Statusgruppen, insbesondere die zwischen den Generationen, einzufrieren. Der Austausch von Schmerz und Wissen schafft
eine spezifische soziale Ökologie, die kalmierend wirkt. Der Schmerz
der Initiation ist der Preis für den Machtzuwachs und Gewinn an Geheimwissen, den der neu erworbene Status verspricht.
Initiationen traumatischer Art gelten nicht umsonst als Kennzeichen
kalter, d.h. nach Maßgabe moderner Gesellschaftsentwürfe »primitiver«
Kulturen: Sie bezeichnen in ihrer Mischung von Gewaltsamkeit und
abruptem Wechsel recht genau das Gegenteil von dem, was wir politisch
und kulturell unter Aufklärung und dem mit ihr verbundenen Konzept der »Entwicklung« verstehen.
Der Initiationsprozess zum sekundären Zeugen ist ein Archaismus,
der in überraschender Weise den Doppelsinn des Wortes aufdeckt:
»Zeugen« meint in seiner basalsten Bedeutung Filiation. Zeugen heißt,
Nachkommen schaffen, eine Genealogie begründen. Eben darum geht
es im Konzept des sekundären Zeugen. Es geht um eine Genealogie, die
in Deutschland nach der Shoah höchst kompliziert ist. Denn es handelt
sich ja beim Prozess der Zeugenschaft des Holocaust um eine Genealogie der Opfer – was zugleich heißt: eine Genealogie der Unschuldigen.
An diesem Punkt wird es wahrhaftig kompliziert. Denn hier geraten wir in einen wahren Irrgarten möglicher Wünsche. Was sind die der
12
Mircea Eliade, Die Sehnsucht nach dem Ursprung, Frankfurt am Main 1976, S. 155.
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Zeugnisgebenden? Was die der zu »Ohrenzeugen« gemachten Initianden? Wie sieht diese Filiation aus der Perspektive der Täternachkommen, wie die aus der Opferperspektive aus?
Der sekundäre Zeuge, der von den Tätern abstammt, tritt mit dem
Modell der zweiten Zeugenschaft in eine andere Genealogie ein. Es ist
dies der größte Wunsch der Nachkommen der Täter. Und es gibt – ich
erinnere an das Beispiel von Horkheimer und Adorno – eine spiegelbildliche Entsprechung auf Seiten der überlebenden Opfer.
Es gibt gute Gründe, über dieses Konzept nachzudenken. Um es
noch einmal zu wiederholen: Das von Dori Laub und anderen entwickelte Konzept der Zeugenschaft, sei es im therapeutischen Setting oder
im quasitherapeutischen Rahmen der Video-Testimonies, macht Sinn –
eben in diesem Rahmen. Schwieriger wird es, wenn dieser Rahmen verlassen wird, ohne dass die Referenten deutlich sind, die für das Gelingen
der Transformation bürgen. Was ist, zum Beispiel, wenn, wie es vielfältige pädagogische Praxis geworden ist, Zeitzeugen in Schulen präsentiert werden?
Um nicht missverstanden zu werden: Nichts spricht gegen Gespräche mit Zeitzeugen. Im Gegenteil. Es kann für die Zeugen von großer
Wichtigkeit sein, ihre Erfahrungen mitzuteilen. Es kann für die Nachgeborenen eine wichtige Erfahrung sein, an diesem Zeugnis teilzuhaben. Es kann jedoch auch eine missbräuchliche Dimension haben: den
Missbrauch der genealogischen Fälschung. Dem Konzept der sekundären Zeugenschaft wohnt diese Gefahr inne, solange in ihm nicht hinreichend die Wünsche verstanden und analysiert sind, die es ganz offenbar unbewusst leiten.
Eine zentrale Schwierigkeit scheint mir in jedem Fall darin zu liegen, wie die zweite Generation das Problem der Zeugenschaft für die
nachfolgenden Generationen aufbereitet. Denn sie ist, als direkt nachgeborene der historischen Akteure – sei es auf der Täter-, sei es auf der
Opferseite –, die Schlüsselgeneration der Vermittlung.
Das Verhältnis der ersten zur zweiten Generation und umgekehrt
ist ein anderes als das zu den späteren. Das Konzept der Zeugenschaft
ist im Kern ein transgenerationelles Konzept, das seine Logik aus dem
Verhältnis der ersten zur zweiten Generation gewinnt. Dies verändert
sich angesichts des Sterbens der Zeitzeugen. Heute stehen wir vor zwei
entscheidenden Fragen:
1. wie vermittelt die zweite Generation die Zeugenschaft der ersten
an die dritte und vierte Generation und
2. als wer oder was wird die zweite Generation nach dem Ende der
Augenzeugen auftreten?
Diese Frage zielt letztlich auf die Identität dieser Generation.
Meine These ist: Wenn sie die Rolle der sekundären Zeugen, der auf die
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Augenzeugen folgenden Ohrenzeugen, so wie Laub sie konstruiert, annimmt, dann hat sie ihre mögliche Rolle als Drehscheibe zwischen den
Generationen verspielt. Denn diese Position ist von Opfer- und Größenphantasien unterfüttert, die nicht auf Erlebtem beruhen, aber eine
vorgegebene Erfahrungsposition imitieren. Die aus sekundärer Zeugenschaft resultierende Position des Initiierten, Eingeweihten ist im
Kern eine priesterliche, eine schamanistische. Priester oder Schamanen
aber vermitteln keine Geschichte, sondern verkünden überhistorische
Wahrheiten. Oder – aus der kritischen Position gesehen – Illusionen,
Wunschphantasien.
Damit sind wir zurück beim Wunsch in der Geschichte. Ich glaube,
Kosellecks seltsam ungeduldiges Warten auf den Tod der Zeitzeugen ist
ein Zeichen der Überforderung – einer Überforderung, die keineswegs
nur Sache der Historiker ist. Sie ist Ausdruck der Unfähigkeit, der überbordenden Destruktivität Herr zu werden, die noch aus der Rede der
Zeugen des Holocaust fließt. Und die sie leiblich, als dem Tod Entronnene, repräsentieren. Zeitzeugen der exzessiven Gewalt, insbesondere
Opfer, die in erster Person von Unrecht, Quälerei, Erniedrigung und
Mord berichten, bringen jeden, der mit ihnen zu tun hat, in ein moralisches Dilemma. Was keiner mag. Deshalb haben wir tatsächlich gute
Gründe, unbewusst ihren Tod zu wünschen. Und noch bessere, darüber
nachzudenken, was das eigentlich für uns angesichts des unaufhaltsamen
Verschwindens der Zeitzeugen heißt. Die künftige Geschichtsschreibung
des Nationalsozialismus und der Vernichtungspolitik wird ebenso wie
die pädagogischen Versuche, diese Vergangenheit nachfolgenden Generationen zu vermitteln, davon abhängen, wie wir mit dem Tod der Zeitzeugen umgehen: Ob wir fähig sind, ihn als unvermeidliches biologisches Faktum in unser Geschichtsbild zu integrieren. Oder ob wir zu
quasianimistischen Konzepten greifen, die – aus welchen Motiven auch
immer – versuchen, Vergangenheit in einen Kosmos der Überlieferung
als Filiation und persönliche Repräsentation zu überführen, der unter
der Prätention, sie zu retten, Geschichte letztlich enthistorisiert. Denn
dies ist die unwiderrufliche Konsequenz des Übergangs vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis: Wir können Geschichte nicht
mehr so betrachten, als gehöre sie, aufgrund persönlicher Beweisgründe, einem auch persönlich zu. Insbesondere die zweite Generation
nach dem Holocaust hat sich stark für den Gedanken gemacht, dass
manche Vergangenheiten – und damit war expressis verbis die Gewaltgeschichte des NS gemeint – eben nicht vergehen wollen. Es war dies
keine akademische Einsicht, sondern Ausdruck einer tiefgehenden und
oft genug bitteren Erfahrung in Elternhaus, Schule und Berufsleben. Es
ist nun an der Zeit, die andere, nicht weniger bittere Lektion zu lernen:
die Lektion, dass Geschichte wirklich Geschichte ist, was soviel heißt:
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Sie hat sich ereignet. Sie entzieht sich, als vergangene, unserem Zugriff.
Und damit unseren Omnipotenzwünschen. Wir tun gut daran, ihre Erinnerung zu bewahren. Aber wir sollten uns hüten, sie – analog zu den
nicht enden wollenden Produktionen der Film- und TV-Industrie – als
Historienstücke mit live-Appeal neu aufzulegen. Auch wenn es dem
moralischen Nerv einer ganzen Generation zuwider sein mag: Die
Toten sind tot. Weder werden sie dadurch lebendig, dass wir ihre
Gegenwart beschwören, noch nützt es irgendjemandem, Mysterienspiele der projektiven Reinkarnation unter dem Namen der »Zeugenschaft« aufzuführen. Worauf es ankäme, wäre, aus der Perspektive der
Nachgeborenen, das Bild und die Wirklichkeit des Zeugen zu historisieren: nicht eine phantasmatische Verlängerung der Geschichte durch
ein problematisches Konzept »zweiter Zeugenschaft« anzustreben, sondern das Bewusstsein zu schärfen, dass noch die schrecklichsten Erfahrungen von Vergänglichkeit geschlagen sind. »Zweite Zeugenschaft«
nach dem Ende der Zeitzeugen könnte bedeuten, die Erfahrungen
jener Generation lebendig zu halten, die als erste »unschuldige« sich
mit ihrer genealogischen Befangenheit und der zwiespältigen Überlieferung ihrer Eltern auseinanderzusetzen hatte. Dies mag, gemessen an
der Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts, deren Erbe diese Generation
antrat, ein schwaches Konzept sein. Es ist jedoch zumindest eins, das
den Mystifikationen abschwört, die sich in die Generationengeschichte
nach dem Holocaust eingeschlichen haben.
Für Marion Oliner
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Summary
Given the advanced age of those Holocaust survivors still alive today, the
significance of »first-person« testimony about the traumatic violence perpetrated
by Nazi Germany’s apparatus of extermination is an issue that warrants
reconsideration. Beginning with a discussion of the term »witness«, this contribution demonstrates that concepts such as that of the »secondary witness«
are problematic in so far as they attempt to conjure away the unavoidable
transition from communicative memory to cultural memory. In keeping with
the logic of initiation processes prevalent in »cold cultures«, members of subsequent generations become secondary witnesses and, as »insiders«,are expected
to perpetuate the victims’ moral message. Historicization of Nazi Germany’s
violent regime is replaced by a process in which testimony and witnessing are
mysticized as a genealogy of the victims; this tendency threatens the future of
remembrance.
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