So bin ich unter die Deutschen gekommen
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So bin ich unter die Deutschen gekommen
„So bin ich unter die Deutschen gekommen...“* Wir – die Anderen – das Fremde 1. Einführung In und an Anderen eigene dunkle Seiten zu erkennen, ist befremdlich. Und was uns fremd ist und fremd macht, erschreckt, bisweilen und in geringer Dosierung mag es auch faszinierend sein. Das Fremde ist wortgeschichtlich mit der Ferne verwandt: Was fern ist oder aus der Ferne kommt, ist demnach das Fremde. In seiner Faszination und in seinem Schrecken teilt das Fremde die Eigenschaften des Numinosen, der Transzendenz, der nach Rudolf Otto ebenfalls die Kategorien des Tremendum et Fascinosum zukommen. Das Evangelium identifiziert bekanntlich Gottes- und Anderenliebe, Meister Eckhart möchte Gott, also den ganz Anderen, in die eigene Seele hinein „enthöhen“, um ihn so zu erkennen und lieben zu können. Beide Beschreibungen definieren einen integrativen Ansatz: Menschwerdung ist die Integration des Anderen. Und da wir Menschen immer in Bezugssystemen mit anderen Menschen leben und uns so erst entwickeln, begegnen wir unserm eigenen Anderen im Umgang mit den fremden Anderen. Fremd ist mit jeder andere Mensch, insofern er aus der Ferne einer anderen Familie, einer anderen Stadt, Landschaft, Weltgegend kommt. Am fremdesten und zugleich am faszinierendsten sind vielen jene Menschen des anderen Geschlechts. Und gerade zwischen ihnen gibt es auch die intensivsten Formen von Beziehung. Das Andere, die oder der Andere – begehrenswert sind sie. Was ich jedoch begehre und nicht erreiche, wird mir bisweilen zum Gegenstand des Hasses. Wenn das Begehrte nun über Macht verfügt, dann werde ich meinen Hass oder meinen Unwillen umlenken. René Girard1 beschreibt dieses Verfahren als Etikettierungsverfahren: Die Ersatzperson (engruppe) muss als anders, also als unterschieden kenntlich sein, sie darf nicht über Macht verfügen, sie wird definitiv als anders bzw. fremd etikettiert, ihr wird zunehmend Menschlichkeit im eigenen Sinne abgesprochen (ethische Minderwertigkeit beispielsweise) und damit beginnt häufig auch ein unmenschlicher Umgang mit ihr. Mord, Tötung, Ausrottung sind in der Folge möglich und geschichtlich nachweisbar. Auch dem Anderen an uns selbst widerfährt oft genug dieses Schicksal: Männer rotten das Weibliche an sich aus, Analytiker verzichten völlig auf ihre emotionalen Anteile, gefühlsorientierte Menschen erklären den Kopf zum Feind und singen ein Loblied des Bauches, die Anhänger von Religionen verfluchen den Zweifel, und die Zweifler verdammen die Religion, Strukturmenschen verachten die Möglichkeiten als Hindernis des Abschlusses, und Möglichkeitsmenschen nennen Strukturen kleinkariert. * 1 Hölderlin, Hyperion René Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988; Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt 1992 Das ist das Gegenteil eines integrativen Ansatzes, und es ist das Gegenteil dessen, was das Wort Menschwerdung meint, die Versöhnung nämlich des Eigenen mit dem Anderen und vielleicht sogar mit dem ganz Anderen, die Aneignung von Unbewusstem und die Auseinandersetzung mit unseren inferioren Anteilen mit dem Ziel des „Ganz-Werdens“. Die Erwachsenenbildung in der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat sich seit ihren Anfängen zum zentralen Ziel gesetzt, Menschen auf dem Weg der Ich-, der Menschwerdung zu begleiten. Als für die Erwachsenenbildung paradigmatische Geschichte hat sich dabei die biblische Emmaus-Geschichte erwiesen: Zwei sind unterwegs, und sie sind dabei, ihr ganzes Hoffnungspotential abzutöten, weil es zur Realität nicht zu passen scheint. Die Deutungsmuster die sie in den letzten Jahren für sich und ihr Leben entwickelt haben, sind kritisch geworden. Und dann kommt ein Anderer hinzu, ein Fremder. Der bring sie dazu, zu erzählen, was geschehen ist. Und dem gelingt es jene Erzählungen mit den älteren Erzählungen der eigenen Tradition, mit den Hoffnungserzählungen der Bibel zusammenzuführen. Und plötzlich ist die Geste des Brotbrechens, des sinnstiftenden Teilens wieder gegenwärtig und damit kommt erneut Zukunft und mit der Zukunft Hoffnung ins Spiel. So möchte Erwachsenenbildung mit Menschen arbeiten. Das Thema „Umgang mit Fremden“ ist dann nur ein Thema in einem breiten Spektrum von Inhalten und Formen, die dieses Ziel verfolgen – es ist allerdings ein zentrales Thema. Ein Beispiel für einen Gesprächsabend in einer Kirchengemeinde ist der folgende Veranstaltungsverlauf: „Fremd daheim“ oder: „So bin ich unter die Deutschen gekommen“ Ein literarischer Gesprächsabend Ziel der Veranstaltung ü Literarische Aussagen zum Thema Fremde / Fremdsein kennenlernen ü Miteinander über das Thema „Umgang mit Anderen/Fremden“ ins Gespräch kommen ü Sich für das eigene Sprechen über „Fremde“ sensibilisieren Zielgruppe: offen, keine Vorkenntnisse erforderlich Ablauf: & Begrüßung & Einstieg in Paargruppen zu einzelnen Sätzen (s. Material) 10 min & Ergebnisse der Paargespräche einsammeln (unkommentiert) 10 min & Kleine Einführung ins Thema (s. Materialien) 05 min & Einladung zum Textgespräch in drei arbeitsteiligen Gruppen 30 min – Gruppe a) Hölderlin – Gruppe b) Laub und Söllner – Gruppe c) Dikmen (Texte und Fragen zu den Texten in den Materialien) & Plenumsgespräch 30 min unter den Stichworten – Kurze Inhaltsangabe – Was war mir wichtig an dem Text? – Was hat mich daran geärgert / gefreut? – Was bedeutet auf dem Hintergrund der Texte für mich „Anderssein“ / „Fremdsein“ & Input „Etikettierung“ 05 min (s. Materialien) & Abschlussgespräch unter dem Stichwort „Ich sehe nicht, was ist. Ich sehe, wie ich bin.“ (Chass. Weisheit) 15 min (Gesamtzeit ca. 90 bis 120 min) Materialien a) Sätze für den Einstieg (bitte auf DinA 4-Blätter schreiben und zur Auswahl im Raum auslegen - Fremd ist der Fremde nur in der Fremde. - Erfahrungen machen. Aber wohin führt das? - Elend ist das alte Wort für „Ausland“. - „In diesem Lande leben wir als Fremdlinge im eignen Haus“ Biermann/Hölderlin - „Boshaft wie goldene Rede beginnt diese Nacht. Wir essen die Äpfel der Stummen“ Celan - Im traurigen Monat November war’s / Die Tage wurden trüber/Der Wind riss von den Bäumen das Laub / Da reist‘ ich nach Deutschland hinüber. Heine - „Du sei wie Du, immer.“ Celan - „Die Vaterlandsliebe wird schon dadurch beeinträchtigt, dass man überhaupt keine Auswahl hat.“ Brecht - „Es ist doch ganz normal ‚Neger‘ zu sagen.“ Riepe - „Deutschland ist ein Schmelztiegel der Menschheit. Seine kulturellen Wurzeln sind die Europas.“ Urban, SZ - „Die Leitkultur ist eine moderne Variante des Rassismus.“ Rafik Shami - „Vorurteile lassen den Tausendfüßler funktionieren./ Nachteile hätte er vom Zweifel.“ Jansen - Was uns trennt, ist nicht die Hautfarbe, sondern der Wunsch, andere zu beherrschen. Reg. Indianerrat, Cauca - Die Ablehnung des Fremden liegt in der Natur des Menschen. b) Kleine Einführung ins Thema (für den Gesprächskreisleiter /die Leiterin) Die Fremde und das Elend Unsere Sprache gibt uns Auskunft über Erfahrungen des Fremdseins und des Anderen, aus der Position des Fremden wie des eigenen Erlebens: Der Fremde ist etymologisch jener, der aus der Ferne kommt und der fern von dem ist2, was ihn ausmacht: Heimat. Heimat ist der Boden, von dem ich bin, der Ort, zu dem ich gehöre. Der andere hingegen ist einfach der zweite, der nicht-eine, der ich bin, somit das Gegenüber, das ich habe, im doppelten möglichen Sinn des Gegners wie des Spiegelbilds (vgl. das Bild von Penck). Nun ist alles Leben mit Erfahrungen verbunden. Erfahrungen sind „Reise-Erkundungen“. Wer reist, bewegt sich allerdings fort von dem, was Heimat ist, er gerät in die Fremde. In der Fremde ist er immer der Andere, die Projektionsfläche für die Anderheit der dortigen und häufig auch Feind. Die Fremde, das ist das nicht-eigene Land, das Ausland. Und wer dort als Fremder zu leben hat, der ist oft auch im übertragenen Sinne im Elend, das nichts anderes als die mittelhochdeutsche Form des Auslandes ist. Jenseits dieser schlichten Definitionen in den Wörtern wohnen ihnen aber auch Geschichten inne. Und diese Geschichten in der Definition des anderen und Fremden, der Ferne und der Nähe, prägen bis heute unsere Wahrnehmung des Anderen und geben ihr Ausdruck: Wer aus der Fremde kommt, von weit her also, hat offensichtlich Erfahrungen gemacht, die ich als Ortsansässiger nicht habe. Er wird mir darum zum Objekt des Begehrens, aber auch der Angst. Denn er könnt mit diesen Erfahrungen mir überlegen sein. Andererseits ist es meist ein einzelner, oder es sind nur wenige, eine kleine unterscheidbare Gruppe, die aus der Fremde kommt. Diese Fremden haben im allgemeinen keine Macht, fordern aber als deutlich Unterschiedene die Gruppe der Heimischen heraus. Während ich im Ununterschiedenen der Heimat mir keine Gedanken machen muss über meine Identität − sie ist ja nicht infrage gestellt −, wird diese Frage in der Fremde umso lauter: Was macht mich zu dem, der ich bin. Weil diese Frage immer mit Heimatlosigkeit zu tun hat, ist sie bedrohlich und angsterzeugend: Mit meiner Identität steht meine Existenz auf dem Spiel. Wir können heute davon ausgehen, dass es kaum noch selbstverständliche Heimat, d.h. auch selbstverständliche Identität gibt. Das bedeutet, dass alle Identität mehr oder minder mühsam erworbene Identität ist. Wo Identität erworben wird, ist immer schon anderes mit im Spiel, weil ohne diesen Spiegel Identität nicht möglich ist. Die Frage „Wer bin ich?“ meint immer auch ein Verhältnis: „im Gegensatz zu dir“. Du ist immer anders und immer fremd. Ich habe zwei Möglichkeiten auf dieses 2 Das engl. „From“ ist mit „Fremde“ verwandt. vgl. Kluge, Etym. Wörterbuch, Stichworte Ferne, Fremd, Heimat, fahren, führen, Elend. andere Du zu reagieren: Ich bin mit mir, meiner eigenen Besonderheit und Individualität zufrieden und aus dieser Position heraus kann ich den Anderen mögen in seiner Besonderheit. Oder aber der andere in seiner Besonderheit bedroht mich, weil ich mir meiner eben nicht gewiss bin. Dann werde ich ihn hassen, weil er mir Furcht macht. Andererseits ist der fremde Andere immer jemand, der einen Verlust erlitten hat: Ihm ist seine Heimat und damit sein Ursprung abhanden gekommen. Oftmals wird dieser Verlust verleugnet, weil er ja auch ein Verlust an Identität darstellt. Zugleich wird der Ursprungsort, und zwar je unerreichbarer er ist, umso mehr, verklärt: Er wird zur Utopie: Kein Ort, nirgends. Paradies, manchmal Jenseits. Die so erlebte und gelebte Besonderheit des Fremden hebt ihn tatsächlich von der Position seiner Gastgeber ab. Diese scheinen ihm in ihrer unbefragten Heimatlichkeit engstirnig und unoffen, weil wenig von sich selbst distanziert: So erlebt er seine Etikettierung als anderer, als Unterschiedener, die ihn allerdings wiederum gefährdet: Denn wer unterschieden und unterscheidbar ist, ist auch ausgrenzbar. (vgl. Ödipus) Auf diese Weise entsteht zumindest Einsamkeit. Die wiederum bedroht die Identität des Fremden noch einmal mehr. Er wird sich Orte suchen müssen, die eine Art Heimatersatz darstellen. Auch so ist der zunehmende Fundamentalismus unter den Fremden zu verstehen: Als Vereinigung von Fremden unter einer Ideologie. Andererseits sind Fremde aus verschiedenen Kulturen auch untereinander immer Fremde. Also verdoppelt sich ihre Fremdheit im fremden Land. Sie werden zwar von den Ortsansässigen als Fremde benannt. Untereinander sind sie aber dennoch keine geschlossene Gruppe. Jeder einzelne Fremde ist eben im Elend. Und dieses Elend hat Bedeutung auch für die Selbstdeutung der Fremden. „Ein Zeichen sind wir, deutungslos, Schmerzlos sind wir und haben fast Die Sprache in der Fremde verloren“3 Der Verlust der eigenen Sprache in der Fremde bzw. die Erfahrung ihrer Nicht-Bedeutsamkeit (die Worte deuten und bedeuten nichts mehr), ist ein anderer Schnitt, der die Fremden in einer Gesellschaft betrifft: Sprache stellt die Deutungsmuster für die Wirklichkeit bereit; sie macht uns heimisch in der Welt, selbst dort, wo Heimat nicht das materielle Zuhause ist, sondern ein Zuhause der Zeichen. Wenn Hölderlin sagt, wir seien ein Zeichen, dann eben in dem Sinne, dass wir Bedeutetes sind ohne Deutung, dass diese Deutung immer wieder neu ihre Aktualisierung in Sprache erfahren muss. Und in eben dem Sinn bleiben Fremde für sich selbst (be-)deutungslos. Das Elend ist eben oftmals kein materielles, sondern ein in erster Linie existentielles Elend. Und genau das macht das Fremdsein zur Katastrophe. Andererseits wird der Fremde dadurch zur Metapher: Wenn Heidegger von Ek-Sistenz schreibt und damit das „Hinausgehaltensein ins Nichts“ meint, das jedem Menschen blüht, der seiner selbst gewiss werden will, dann haben die Fremden gerade durch den Schnitt, den sie sprachlich erleben, durch die „Erfahrungen“ die sie machen mussten, den Ortsansässigen etwas voraus. Und dieses Voraushaben ängstigt tatsächlich: Aber warum? 3 F. Hölderlin, Mnemosyne, Zweite Fassung Werke I,199 c) Texte mit Einführung und Fragen (Für die Tn kopieren) – F. Hölderlin, Aus dem Hyperion Der Hyperion ist ein Briefroman. Hyperion, ein griechischer Freiheitskämpfer, (erzählte Zeit ca. 1770) schreibt an seinen Freund Bellarmin (der schon vom Namen her auf „Deutschland“ [Arminius] verweist. Im Zentrum des Romans steht u.a. die Liebesbeziehung Hyperions zu Diotima, in der sich Hölderlins Beziehung zur Frankfurter Susette Gontard spiegelt. Nach misslungenem Kampf und dem Tod der Diotima verlässt Hyperion Griechenland und geht ins Exil, zunächst nach Italien und dann weiter nach Deutschland. „So kam ich unter die Deutschen. Ich forderte nicht viel und war gefasst, noch weniger zu finden. Demütig kam ich, wie der heimatlose blinde Oedipus zum Tore von Athen, wo ihn der Götterhain empfing; und schöne Seelen ihm begegneten Wie anders ging es mir! Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Gefühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutgeartete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen Gefäßes - das, mein Bellarmin! waren meine Tröster. Es ist ein hartes Wort und dennoch sag ichs, weil es Wahrheit ist: ich kann kein Volk mir denken, das zerrissner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossne Lebensblut im Sande zerrinnt? ... Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht wie der Dulder Ulyß, da er in Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht? Voll Lieb und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt, sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, dass er nimmer einen Grashalm treibt; und wenn sie sprechen, wehe, dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft, wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.“ Fragen zum Text: Dieser Hölderlin-Text ist ungefähr 200 Jahre alt. ♦ Wie wirkt er auf Sie in der heutigen Zeit? ♦ Was hat er für Sie mit dem Thema „Fremde“ zu tun? ♦ Zu Hölderlins Zeiten war ein Württemberger schon in Hessen im Ausland. Trotzdem schreibt Hölderlin von den Deutschen. Erkennen Sie sich in dem Bild wieder? ♦ Hölderlin schreibt auch über die Stellung des Künstlers / Schriftstellers. Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach heute ein Schriftsteller / Künstler? - Werner Söllner, Was bleibt. Werner Söllner ist ein deutschsprachiger Lyriker, der aus Rumänien stammt. Seine Eltern kommen aus dem Banat und aus Siebenbürgen. Seit 1988 lebt er in Deutschland. Seine Gedichte beziehen sich auf Erfahrungen als Deutschsprachiger in Rumänien und als „Rumäne“ in Deutschland. Gleichzeitig steht er als Lyriker in der Tradition der lyrischen Sprache, die ja in jeder Sprache immer ein Eigenleben führt. Das lyrische Sprechen stellt ein Netzwerk von Motiven und Zitaten her, das weit in die Literaturgeschichte zurück reicht – z.B. wie in dem vorliegenden Gedicht bis zu Hölderlin („Was bleibt, aber stiften die Dichter.“ und „Brot und Wein“). Was bleibt Das Haus der Welt ist schlecht gebaut, ich sitze krumm und schief darin. Ach Sprache meine stumme Braut, sag mir, wo ich zuhause bin. Da steht ein Bett, ein Stuhl ein Tisch, da ist noch Brot und dort ist Wein. Was bleibt? Versteinertes Gemisch aus Sätzen vom Lebendigsein. Der Sinn der Wörter ist die Haut, die langsam auseinanderfällt. Ach Sprache, meine stumme Braut Das Aug weint, was die Silbe hält. Aus: Der Schlaf des Trommlers Fragen zum Text: ♦ ♦ ♦ ♦ Wie wirkt das Gedicht auf Sie? Was sagt es Ihnen? Was bedeutet es für Sie, wenn er Sprache „stumme Braut“ nennt? Welche Weise von „Fremdsein“ thematisiert das Gedicht? Kennen Sie solche Fremdheitserfahrungen? Fremde sind Leute, die später gekommen sind als wir; in unser Haus, in unseren Betrieb, in unsere Straße, unsere Stadt, unser Land. Die Fremden sind frech: die einen wollen so leben wie wir, die anderen wollen nicht so leben wie wir. Beides ist natürlich widerlich. Alle erheben dabei Ansprüche auf Arbeit, auf Wohnungen und so weiter, als wären sie normale Einheimische. Manche wollen unsere Töchter heiraten, und manche wollen sie sogar nicht heiraten, was noch schlimmer ist. Fremdsein ist ein Verbrechen, das man nie wieder gutmachen kann. Gabriel Laub aus: Riepe, Fremd ist der Fremde nur in der Fremde (Lamuv, 2001) Fragen zum Text: ♦ Kennen Sie solche Sätze, wie sie in dem Text stehen? ♦ Finden Sie den Text zutreffend? ♦ Kennen Sie andere Sätze über Fremde, die Sie als zutreffend oder als Vorurteil beschreiben können? ♦ Ist der Text für Sie eher ärgerlich oder eher erfreulich. Sinas Dikmen Kein Geburtstag, keine Integration Ein junger Türke beschreibt Erfahrungen, die er hier in Deutschland mit seinen deutschen Altersgenossen macht. Der folgende Text ist der Anfang aus einer längeren Erzählung, die endet: "Trotz all meiner Bemühungen ist es mir nicht gelungen, herauszubekommen, wann ich geboren bin. Ich wurde wie die Deutschen von einer Mutter geboren. Feiern, wie die Deutschen das tun, habe ich sowieso nie gemocht.“ Nach jeder Geburtstagsfeier in Deutschland, zu der ich eingeladen wurde, gibt es das gleiche Theater. Seit einiger Zeit nehme ich Geburtstagseinladungen überhaupt nicht mehr an, weil ich ganz genau weiß, daß der bekannte Fragesturm mich wieder schüttelt, wenn ich hingehe. - Warum feierst du denn deinen Geburtstag nicht? - Soviel brauchst du wirklich nicht zu sparen. - Willst du in kürzester Zeit in die Türkei zurückkehren? - Wird in der Türkei kein Geburtstag gefeiert? Warum nicht? Ich habe jedesmal andere Antworten gegeben. »Ich mag nicht«, habe ich gesagt, »daß wir uns nur wegen des Geburtstages treffen.« Ich habe gesagt: » Geburtstagfeiern ist eine Erfindung der Konsumgesellschaft; wenn wir uns treffen wollen, brauchen wir doch nicht unbedingt einen Grund. « Es hat alles nichts genützt. Ich weiß schon, daß meine deutschen Bekannten mich in ihre Gesellschaft voll integriert sehen wollen. Solange ich aber keinen Geburtstag feiere, scheitert dieser Integrationsversuch. Es fehlt mir nur dieser beschissene Geburtstag. Ich kann meinen deutschen Bekannten die Wahrheit nicht sagen, weil sie nur Bekannte sind, und keine Freunde. Bevor ich nach Deutschland kam, habe ich nicht gewußt, daß dieser blöde Tag im Leben eines Menschen so wichtig ist. Meine Zukunft in Deutschland hängt davon ab. Aber; soviel ich weiß, habe ich keinen Geburtstag. In meinem Reisepaß steht zwar ein Datum, aber das wurde nur eingetragen, damit die Deutschen nicht meinen, daß ich noch nicht geboren bin. Wenn ich meinen Geburtstag feiere, will ich auch Spaß daran haben. Wie kann ich denn Spaß haben, wenn ich meinen Geburtstag an dem Tag feiere, an dem ich höchstwahrscheinlich nicht geboren bin? Um meinen Geburtstag herauszubekommen, bin ich im letzten Urlaub in die Türkei gefahren. Wo sollte ich bloß anfangen? Mit dem Einwohnermeldeamt? Da kann man ja nur das offizielle Geburtsdatum erfahren. Mein offizielles Geburtsdatum habe ich. »Das kannst du vergessen, ~inasi«, habe ich mir gesagt; »lieber fragst du deine engsten Verwandten. Mutter, Schwester, Onkel, Tante, Schwager.« So habe ich mit meinerMutter angefangen. Meine Mutter ist wie alle anderen türkischen Mütter lieb wie die Rose, geduldig wie die Erde. Sie kann weder lesen noch schreiben. Sie hat sechzehn Geburten hinter sich. Fünf Kinder leben noch. Sie hat gearbeitet und Kinder geboren, einen von uns im Wald, einen auf dem Feld, einen anderen auf der Treppe beim Wassertragen, jedenfalls keinen von uns im Krankenhaus, im gemütlichen, weichen Bett, umringt von Krankenschwestern und Hebammen. Sie ist eine von den türkischen Frauen, die alles machen, was ihre Männer wollen. Sofort, nachdem ich die schwieligen Hände meiner Mutter geküßt hatte, habe ich sie gefragt: - Sag mal, Mutter; erinnerst du dich daran, wann ich geboren bin? - Mein lieber Sinasi, hat mir meine liebe Mutter gesagt, ist es so lebenswichtig, daß du mir gleich diese blöde Frage stellst? Willst du nicht zuerst essen? Du bist von weither gekommen. Ich habe Sarma mit Knoblauch für dich gekocht, das hast du in Alemanien bestimmt nicht gegessen. - Nein, Mutter; habe ich gesagt, essen kann ich nachher. Ich möchte wissen, wann ich geboren bin. - Nicht so stürmisch, Sinasi, haben die Alemanen dich so kaputtgemacht, daß du nicht mal an deine Lieblingsspeise denken kannst? Ich habe gehört, daß die Alemanen nur an die Arbeit denken, ist das wahr? Sind sie denn so fleißig, daß sie ohne Arbeit nicht leben können, oder sind sie so ungeschickt, daß sie mit der Arbeit nie fertig werden? - Mutter; die Alemanen denken nicht nur an die Arbeit. Die junge Generation denkt ans Saufen und ans Fernsehen, die alte denkt an die alten Zeiten und an Autos. - Was, ans Saufen? Das ist schlimm, das ist schlimm, Sinasi, Gott bewahre dich vor solchen Leuten. Du trinkst doch nicht etwa? Nein? Dein Vater hat auch nicht getrunken. Mein lieber Sohn aus Alemanien, wer nur an seine Arbeit denkt, der ist ein Besessener; wer besessen ist, der ist kein Mensch. Um Mensch zu sein und zu bleiben, muß man auch an die anderen Dinge denken können, an die Blumen, an das Feld, an die nächsten Nachbarn, an die Kühe, an die Bäume, an die Eltern und an den lieben Gott. Ich habe wieder viel gesprochen. Also, wann ich dich geboren habe?... Laß mich mal gut überlegen. aus: Döner in Walhalla (hrsg.: Ilija Trojanow) Fragen zum Text ♦ ♦ ♦ ♦ ♦ Wie wirken diese Erfahrungen eines jungen türkischen Mannes auf Sie? Was bedeutet für Sie das Wort „Integration“? Was glauben Sie, warum der junge Türke seinen Geburtstag nicht kennt? Woran erkennen Sie, dass jemand „deutsch“ ist? Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen den Wörtern „fremd“ und „anders“? d) Etikettierung (Input) (Für die Gesprächskreisleiterin / den Leiter) Begehrtes und gefürchtetes Anderes In ihrem Roman „Medea“ erzählt Christa Wolf von dieser mythischen Frauengestalt auf dem Hintergrund der Forschungen Rene Girards. Diese Frau Medea, begehrt und zugleich Schrecken erregend, aufgrund ihrer Fähigkeiten als Priesterin, ist für Iason und seine „Argonauten“ die Personifizierung des Anderen wie auch des Heiligen. So wirbt Iason um sie und gewinnt sie. Und an dieser Stelle erlischt das Begehren. Im heimatlichen Korinth wird Medea zur Außenseiterin, zur definitiv anderen. Als solche wird sie zur Projektionswand aller Ängste der einheimischen Bevölkerung, selbst da noch, wo sie mit ihren heilenden Fähigkeiten ihnen Gutes tut. Und Christa Wolfs Roman endet anders als der Mythos: Die korinthische Bevölkerung rächt sich an der Anderen für ihr Anderssein, indem sie die Kinder der Medea tötet, nachdem sie ihrer selbst nicht habhaft werden kann. In dieser Erzählung ist ein typischer Umgang mit dem anderen zum Ausdruck gebracht: Rene Girard beschreibt dies in seinem Werk „Sündenböcke“ und „Das Heilige und die Gewalt“: Es gibt eine Art Code in der Darstellung des Umgangs mit dem anderen, der sich schon in den künstlerischen Darstellungen der Steinzeit findet: Da steht eine Gruppe von Menschen, die offensichtlich in der Übermacht ist einem einzelnen oder einer kleineren Gruppe von Menschen gegenüber, und es wird deutlich, dass es jeden Augenblick zur Vernichtung der unterlegenen Gruppe kommen wird.4 Auch die kleine Skizze von A.R.Penck zeigt mit den Mitteln steinzeitlicher Technik einen solchen Vorgang. Zwei ungleiche Personen stehen sich gegenüber: Der eine in der Machtposition des Bewaffneten, der andere, kleiner dargestellt, zugleich auch in gefährdeter Position am Rande eines Abgrunds stehend. 4 vgl. Jürgen Wertheimer, Ästhetik der Gewalt. Dort findet sich auch eine entsprechende Darstellung aus dem Mesolithikum. vgl. auch Michael Krämer, Gewalt in der Gesellschaft. Oder die naive Etikettierung von Sündenböcken angesichts fortgeschrittener Möglichkeiten ihrer Opferung. Allerdings zeigt diese Zeichnung noch ein weiteres Motiv: Der Angreifer erkennt sich gespiegelt in der Person des Angegriffenen wieder. In der Begegnung mit dem Anderen erscheint das Andere / der Andere zunächst häufig begehrenswert. Allein die Tatsache der Differenz, also seine Anderheit führt dazu, weil sie mir die Gelegenheit gibt, mich darin zu spiegeln, mich mir selber ansichtig zu machen. Gleichzeitig entsteht aber auch eine Dynamik, die darauf hinausläuft, das andere, das Begehrte mir anzueignen, es mir einzuverleiben, Differenz also aufzuheben. Dass es Differenz gibt und diese Differenz nicht nur zwischen Ich und Du, zwischen Einem und Anderem besteht, sondern im Innewerden dieser Differenz auch das Differente in mir zum Ausdruck kommt, ist etwas, das mir Angst macht. So ist die archaische Form der Begegnung von einem und anderem beschrieben. Und sie wird beispielsweise in der Bibel in der Kain-und-Abel-Geschichte sehr genau erzählt: Kain bewundert seinen Bruder Abel, weil er, der sanftere, etwas hat, das ihm abgeht: die Zuwendung des ganz Anderen. Im anderen Abel erscheint für Kain eine Gestalt der Nähe des ganz Anderen. Und diese jetzt unendlich gewordene Differenz ist für Kain so unerträglich, dass er sie gewaltsam zu beseitigen versucht: Er tötet bekanntlich seinen Bruder Abel. Allerdings wird in dieser mythischen Erzählung zugleich deutlich, dass ein solcher Mord keine Lösung ist, weil sie nicht wirklich eine Aufhebung der Differenz ist, sondern diese sich nun noch verschärft. Während es sich in der Kain-und-Abel-Geschichte anscheinend um die Beziehung zwischen zwei Individuen handelt5, machen andere mythische Erzählungen deutlich (vgl auch Medea s.o.), wie es mit Fremdlingen in einer Gesellschaft geht. Ein sehr schönes Beispiel ist der Mythos von Oidipous (Ödipus). Ödipus wird aufgrund eines Orakels (das ihn als Vatermörder und Mutterschänder benennt) ausgesetzt. Er wird aufgefunden und im fremden Land aufgezogen. Später hört er von dem Orakel, und da er seine Pflegeeltern für seine richtigen Eltern hält und diese nicht beschädigen will, verlässt er sein Heimat. Unterwegs begegnet ihm sein richtiger Vater, den er jedoch nicht erkennt, mit dem es zu einem Streit kommt und den er daraufhin erschlägt. Anschließend rettet er seine wirkliche Heimatstadt von einem Ungeheuer, das diese bedroht. Zum Lohn dafür wird er mit der Königin (also seiner wirklichen Mutter) verheiratet und selbst König. Nachdem nun die Pest in diese Stadt kommt, machen die Bürger der Stadt Ödipus zum Schuldigen an der Pest. Er wird geblendet und aus der Stadt verstoßen. Soweit der Mythos in Kurzform. Wenn man diese Erzählung systematisiert, lassen sich auch hier einige typische Momente im Umgang mit dem anderen, dem Fremden zeigen: 1. Ödipus ist der Fremde, der über die Macht verfügt, die Stadt zu retten. Er tut dies auch und verpflichtet dadurch die Bürger der Stadt zu Dank. 2. Der Fremde wird daraufhin zum mächtigen Anderen. Allerdings löst diese Macht des Fremden bei den Bewohnern der Stadt Missgunst aus. Diese bleibt solange unterschwellig, bis eine Krise das Gemeinwesen bedroht. 3. Der Fremde ist als anderer kenntlich: Schon sein Name weist ihn als mit einer Besonderheit versehen aus: Schwellfuß. Dieses Anderssein wird jetzt in der Krise weiter verschärft, indem ihm ethische Etikettierungen aufgelegt werden: Vatermord und Inzest mit der Mutter. 4. Diese ethische Etikettierung führt zum Ausstoßen aus der Gemeinschaft: Der fremde andere wird vernichtet, damit die Differenz, die dieser Gesellschaft unerträglich scheint, aufgehoben wird. 5. Damit ist die Krise im Gemeinwesen behoben, die Differenz gelöscht und die Bürger der Stadt haben im gemeinsamen Kampf gegen das böse Andere neue Identität gewonnen: „Die Pest verlässt die Stadt.“ Die Etikettierung des anderen als moralisch verkommen ist eine typische Umgehensweise mit jenem anderen, das Angst macht. Und gerade die (Vater-)Mord- und Inzestetikettierungen haben in der Geschichte eine reiche Tradition: Den Christen wurde zu Zeiten der sog. Christenverfolgungen eben jene Etikettierungen zugewiesen. Den Juden im Mittelalter ging es ebenso. Als dritte 5 Das stimmt natürlich nicht, sondern es geht in dieser Erzählung um die Bestimmung des Verhältnisses von Ackerbauern und Nomaden, also um zwei Gruppen von Menschen Etikettierungsmaßnahme galt noch das „Brunnenvergiften“, das ja inzwischen bei uns eine fast sprichwörtliche Bedeutung gewonnen hat und im allgemeinen mit Mobbing gleichzusetzen ist. Weitere Texte und Methoden sind beim Bildungswerk der Diözese RottenburgStuttgart e.V. abrufbar. Tel.: 0711 / 97 91-207 oder email [email protected] Michael Krämer