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Ab Au st ie fs gS tie er g ie ≫freitag.de Steuersenkung für die Mittelschicht Arm & Reich Unsere Sommerserie über soziale Ungleichheit. Folge drei: „Die neuen Diener“ Politik S. 3 Diyarbakır Der Kampf zwischen Armee und PKK hat die Stadt schwer erschüttert Politik S. 10 Rio An der südafrikanischen Läuferin Caster Semenya zeigt sich die ganze Problematik von Geschlechtstests Alltag S. 21 Partner des Guardian 11. August 2016 Ausgabe 32 Deutschland 3,80 € Ausland 4,10 € „Schützt die Willkommenskultur uns vor Terror?“ Magda Politik Die Community diskutiert über die Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Angela Merkel ≫freitag.de/community Das Meinungsmedium M O N TA G E : D E R F R E I TA G , M AT E R I A L : S I LV E R S C R E E N C O L L E C T I O N / G E T T Y I M A G E S , F O T O L I A Sie sehen ja übel aus! Wie die Pharmaindustrie Krankheiten erfindet, um Milliarden zu verdienen S. 6 / 7 Trügerische Fassaden Arabien Nicht nur die Regierungskrise in Tunesien zeigt: Der islamischen Welt ist mit der Demokratie des Westens oft nicht geholfen QSabine Kebir E r wurde als demokratischer Aufbruch gefeiert – doch für viele ist der Arabische Frühling längst gescheitert. Als sichtbare Zeichen gelten der Syrien-Krieg und Ägyptens regierende Obristen um Präsident Abd al-Fattah as-Sisi. Auch Tunesien, Mutterland der Arabellion von 2011, gelingt es kaum, eine stabile Regierung zu bilden, die den sozialen Hoffnungen, wie sie die „Revolution“ vor fünf Jahren geweckt hat, gerecht wird. Und sind die Massenverhaftungen in der Türkei, die seit dem Putschversuch nicht abreißen, kein Zeichen dafür, dass der lange mit Wohlwollen bedachte demokratische Fortschritt in diesem Land eine Chimäre war? Sollte also doch etwas dran sein am Verdacht, dass der Islam – jedenfalls in seinen derzeitigen Ausprägungen – demokratieunfähig ist? Wenn wir uns eingestehen, dass Frankreichs Front National, die Freiheitlichen in Österreich und Pegida in Deutschland ebenfalls die Demokratie bedrohen, drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass ein heftig rumorender antidemokratischer Geist auch die westliche Demokratie heimsucht. Dabei wollten wir sie doch in den Nahen Osten exportieren! Ohne die evidenten Realitäten in der islamischen Welt zu verharmlosen, müssen wir uns fragen, ob der Begriff von Demokratie, der seit Jahrzehnten von westlichen Regierungen und Medien kreiert wird, ausreicht, jene Welt zum Positiven zu verändern. Besagtes Demokratiemodell besteht aus einem starren, nur wenige Koordinaten umfassendem Regelwerk von good governance. Demokratie ist demnach herzustellen, wenn sich die Bürger eines Landes frei in Parteien und Vereinen zusammenschließen und von Zeit zu Zeit ihre Favoriten frei und geheim wählen, wenn Exekutive und Judikative unabhängig sind und eine vom Staat nicht gegängelte private Medienlandschaft dominiert. Die ökonomische Seite dieses Reglements heißt schlicht: Anschluss an einen neoliberal grundierten Weltmarkt, der den freien Verkehr von Personen und Waren durchsetzt. Dass dieses Demokratiemodell über keine sozialen Koordinaten verfügt, ist sein großer Mangel. Es bleibt emanzipatorische Versprechen schuldig. Wo auch immer – seit Jahrhunderten – auf der Welt um Demokratie gekämpft wurde, erhofften sich die Menschen, nicht nur hin und wieder ihre Wählerstimmen abgeben zu dürfen, sondern ihre Lebensperspektiven verbessert zu finden. So hat sich des westliche Demokratiemuster auch nur in Gesellschaften etabliert, in denen es gelang, einem Sozialstaat Geltung zu verschaffen. Wird der beschnitten, nimmt das Interesse ab, die formalen demokratischen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Sie erscheinen den Menschen dann inhaltsleer. Demokratie ist kein CarePaket, das man überall gern auspackt In Gesellschaften wie den arabischen, in denen noch nie ein demokratisches System in Verbindung mit einem zuverlässigen Sozialstaat existiert hat, erlischt die Begeisterung für eine formale Demokratie besonders schnell, weil man begreift, dass man sich in sozialen Fragen weiter an die traditionell dafür zuständigen Mächte wenden muss: die Instanzen der Religion. Das gilt übrigens auch für christliche Staaten Afrikas. Die Ablehnung des formalistisch eingeengten Demokratiemodells kann dort wie in Arabien so weit gehen, dass sich die Menschen mit diktatorischen Systemen abfinden. Diese garantieren meist ein materielles Minimum. Dass die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt sind, gilt als zweitrangig. Neben ausgesparter Sozialstaatlichkeit weist das beschriebene Demokratiemuster weitere Lücken auf. So verzichtet es auf die positive Wertung von laizistischen Errungenschaften, die sich in der islamischen Welt in verschieden starken Ausformungen historisch früh etablieren konnten, aber vom Islamismus negiert und bekämpft werden. Umso mehr müssen wir uns von der Idee verabschieden, dass Demokratie ein fest geschnürtes Care-Paket ist, dessen standardisierter Inhalt überall auf der Welt von einem Tag auf den anderen konsumiert werden kann. Ein Prozess oft langer gesellschaftlicher Kämpfe ist nötig, um Demokratie zu erringen. Oft gibt es Teilerfolge, oft Rückschritte. Natürlich müssen Mehrheitsvoten bei freien Wahlen anerkannt werden, jedenfalls soweit sie keine Aggression gegen andere Staaten zur Folge haben. Aber ein gravierender Fehler ist es, Wahlergebnisse in islamisch-arabischen Ländern auch dann als „demokratisch“ anzuerkennen, wenn die mehrheitlich gewählte Partei nicht einmal Grundelemente von good governance zu verwirklichen gedenkt. Oder wenn sie einen existierenden demokratischen Besitzstand – wie die Laizität – abschaffen will. Da oft dennoch Anerkennung durch den Westen winkt, haben sich islamistische Parteien eine formaldemokratische Fassade zugelegt, die nur dazu dient, an die Macht zu kommen und ohne demokratische Teilhabe zu regieren, wie das in der Türkei der Fall ist. Rachid Ghannouchi, Führer der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien, die demnächst Teil einer Exekutive der „Nationalen Einheit“ werden soll, hat jüngst auf einem Parteitag erklärt, künftig Politik und Religion trennen zu wollen. Prompt erntete er dafür das Lob der Konrad-Adenauer-Stiftung. Große Teile der tunesischen Laizisten halten Ghannouchis neue Linie stattdessen für reine Demagogie, denn er hat ausdrücklich Recep Tayyip Erdoğan zum politischen Vorbild erklärt. Christoph Kappes über Sein oder Nichtsein im Netz Und raus bist du! Wer seine digitale Existenz Fremden anvertraut, sollte die AGB gut lesen G oogle ließ im digitalen Wunderland gerade einen Schriftsteller verschwinden. Mit einem Schlag löschte die Google-Tochter Blogspot den literarischen Blog von Dennis Cooper. Kein Inhalt war mehr zugänglich, auch nicht Coopers Romanprojekt Zac’s Freight Elevator. Selbst sein E-Mail-Konto wurde ausgeknipst. „Es tut uns leid, das Blog wurde entfernt“ – so karg wurde die Löschung verkündet. Und raus bist du! Coopers Literatur ist als grenzgängerisch bekannt. In seinem Buch Frisk finden Lustmorde an jungen Männern statt. Für die queere Internet-Enzyklopädie glbtq.com ist er einer der kontroversesten Autoren der Gegenwart. Cooper selbst hatte seinen Blog mit einem „NSFW“-Hinweis versehen, auf Deutsch: für unter 18-Jährige nicht geeignet. Die schlichteste und zugleich marktwirtschaftliche Antwort auf den Fall des Dennis Cooper lautet: „Lies! Deine! Allgemeinen Geschäftsbedingungen!“ Jeder Nutzer unterwirft sich qua Zustimmung diesen Regeln – auch wenn er sie weder verstanden hat noch deren Eintreten für wahrscheinlich hält. Solange Wettbewerb besteht, hat der Blogger, Foto- und/ oder Film-Hochlader immerhin die Wahl: Er kann seinen Blog auch auf einem bezahlten Server betreiben, unter einer eigenen Web-Adresse. Der simpelste Tipp: jeden Blogeintrag präventiv abzuspeichern. Woher eigentlich rührte Coopers Vertrauen, sein Werk in die Hände eines Konzerns zu legen – und keine Sicherheitskopie zu behalten? Freilich ist Coopers Problem kein privates: Online-Kommunikation ist, so schändlich sie im Einzelfall erscheinen mag, Teilhabe an politischer Öffentlichkeit. Der Schaden, der bei Löschungen entsteht, ist nicht nur der Verlust an Daten, sondern der an Aufmerksamkeit. Sie zu garantieren, sollte eine generelle öffentliche Aufgabe werden. Das heißt, es muss Auftrag öffentlich-rechtlicher Medien sein, Chancen auf Aufmerksam- keit herzustellen – diskriminierungsfrei. Bei dem laxen Umgang mit Konflikten, die Online-Plattformen durch Löschen auslösen, kann es nicht bleiben. Derzeit sprechen Google & Co Recht in eigener Sache. Viele Eingriffe der Plattformbetreiber – Löschen, Sperren, AusDer-Suchmaschine-Nehmen – sind ja politisch gewollt, etwa bei Verletzungen des Urheberrechts oder bei MissbrauchsAbbildungen. Für Nutzer ist der Eingriff trotzdem schlecht vorhersehbar, der Prozess ist nicht transparent, und Rechtsmittel sind faktisch ausgeschlossen. Die Lösung kann nur lauten, sich wieder formeller an Rechtsfragen zu orientieren. Erstens Nutzungsbestimmungen zu vereinheitlichen, zu erläutern und mit Entscheidungsdokumentationen anzureichern. Zweitens strittigen Fällen Gehör zu verschaffen – hier ist auch die Politik gefragt. Drittens muss eine Instanz geschaffen werden, die über alle Anbieter hinweg das Sperren von Publikationen und Konten überprüft, etwa ein ZensurOmbudsmann. Die Auslöschung des Cooper-Blogs wirft die grundsätzliche Frage auf: Wer sind wir, wenn wir uns im Wunderland Internet mit Texten, Bildern und Kommunikation verwirklichen? Eingeborene, Künstler, Kopierer – oder vielleicht doch nur Mieter, Gäste und Kunden, über deren Sein oder Nichtsein im virtuellen Reich der Kollaboration andere jederzeit willkürlich verfügen können? Was der Fall lehrt, ist, Blogger und Surfer nachdrücklich an die virtuellen Eigentumsverhältnisse zu erinnern: „Die Cloud“, das ist ein Synonym für „fremder Leute Computer“. Christoph Kappes ist Netztheoretiker, Internetunternehmer und Autor 32 4 198389 803803 Hegelplatz 1 10117 Berlin PVStk. A04188 Entgelt bezahlt Tagebuch 02 Seite 2 Inhalt der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Indiens eiserne Lady Irom Chanu Sharmila will nach 16 Jahren Hungerstreik gegen staatliche Willkür jetzt in die Politik gehen Wochenthema Sie sehen ja übel aus! S. 6/7 Wie die Pharmaindustrie Krankheiten erfindet, um Milliarden zu verdienen, und uns alle zu Patienten machen will Politik Mecklenburg-Vorpommern S. 4 Die Landesregierung verpasst es, der rechten Opposition im Wahlkampf mit starken Inhalten entgegenzutreten Stephan Hebel Syrien S. 8 Die Schlacht um Aleppo: Wer alles mitmischt und warum die Kämpfe zum Finale des Bürgerkriegs werden könnten Martin Chulov Argentinien S. 9 Über die Verwobenheit von Politik, Familiengeschichten und Konzernen am Beispiel des Präsidenten Franco Macri Marta Platía Kultur Kunst S. 14 Die Musikerin Anohni gibt jetzt mit eigenen und fremden Kunstwerken einen Einblick in queere Weltsichten Cara Wuchold Theater S. 15 Geflüchtete auf der Bühne: Wie sie ihre Geschichten erzählen können, ohne retraumatisiert zu werden Ann Esswein Literatur S. 16 Die Liebe zum gesprochenen Wort: Wie Eduard Engels Deutsche Stilkunst noch heute die Leserschaft begeistert Gert Ueding Film S. 18 Die feministische Filmtheoretikerin Laura Mulvey beschäftigt sich mit der Diskriminierung von Frauen im Kino Isabella Reicher Alltag Nicht in Berlin S. 22 Mit neuen historischen Museen will Sachsen-Anhalt für Touristen attraktiver werden, vergisst aber die Infrastruktur Tobias Prüwer Porträt S. 23 Die südafrikanische Läuferin Caster Semenya geht jetzt trotz jahrelanger Anfeindungen in Rio an den Start Donald McRae A – Z Wahlwerbung S. 24 Von Plakaten, Stickern und Kondomen Leserbriefe, Impressum S. 20 QVidhi Doshi F ast 16 Jahre nachdem sie in einen unbegrenzten Hungerstreik trat, hat Irom Chanu Sharmila zu Beginn der Woche erstmals wieder etwas gegessen. Die 44-jährige indische Menschenrechtlerin wurde künstlich ernährt, unter polizeilicher Aufsicht, und kam für ihre Nahrungsverweigerung in Haft, da versuchter Selbstmord in Indien bisher unter Strafe stand. Sie ist ein Symbol des Widerstandes gegen behördliche Gewalt im nordöstlichen Staat Manipur. Nun ist sie wieder auf freiem Fuß, Suizidversuche werden inzwischen nicht mehr geahndet. Vorerst liegt Sharmila wegen ihres angegriffenen Gesundheitszustandes noch im Krankenhaus. Bisher musste sie im Zwei-Wochen-Rhythmus vor Gericht erscheinen, wohin sie von ihren Pflegern gebracht wurde. Bei der letzten Anhörung teilte sie mit, es sei an der Zeit, auf andere Weise gegen den Armed Forces Special Powers Act (AFSPA) zu protestieren. Ihr Hungerstreik habe zu wenig bewirkt. Das von ihr kritisierte Gesetz erlaubt Hausdurchsuchungen, Arrest, physische Gewalt bei Verhören und den Gebrauch der Schusswaffe, ohne dass dafür richterliche Beschlüsse nötig sind. Es reicht, dass die Behörden von Manipur befinden, es bestehe akute Terrorgefahr, oder dass Unruhen die innere Ordnung erschüttern. Als Sharmila am 2. November 2000 mit ihrem Hungerstreik begann, hatte es gerade ein Massaker im Dorf Malon unweit der Regionalhauptstadt Imphal gegeben. Zehn Menschen wurden von den der Regierung unterstellten paramilitärischen Assam Rifles getötet. Sharmila erklärte sofort, sie wolle die Behörden zwingen, auf das Ermächtigungsgesetz zu verzichten. Mehrere NGOs solidarisierten sich mit ihr. Der Tenor: Die Bevölkerung dürfe nicht länger wie Freiwild behandelt werden. Nun hat Sharmila eine neue Taktik für ihren Protest: Sie will demnächst bei den Regionalwahlen antreten. „Manche halten es sicher für befremdlich, dass ich in die Politik gehen will. Sie sagen, Politik sei ein schmutziges Geschäft, aber das ist die Gesellschaft auch. Ich will sie durch mein Engagement herausfordern.“ Mit ihrem Entschluss wird die Aktivistin von Sympathisanten in die Nähe von Aung San Suu Kyi oder Nelson Mandela gerückt. So fällt denn auch das Ende ihres Hungerstreiks mit dem 74. Jahrestag der Quit-India-Bewegung zusammen, die sich seit August 1942 als Avantgarde Als Sharmila mit ihrem Hungerstreik begann, erhielt sie sehr viel Unterstützung. Der Tenor: Die Bevölkerung darf nicht länger Freiwild sein F O T O : B I J U B O R O /A F P/ G E T T Y I M A G E S Liebe Leserinnen und Leser, das Auffallende am weltweiten Vormarsch rechtspopulistischer Parteien ist, dass sie gerade bei den unteren Einkommensschichten besonders großen Zuspruch finden. Das zeigen Umfragen zu Donald Trump, zum Front National und zur AfD. Umgekehrt bedeutet das: Linke Parteien verlieren immer stärker den Kontakt zur Arbeiterschaft. Aber warum? Zwei aktuelle Bücher versuchen, darauf Antworten zu geben. Das eine stammt von dem französischen Philosophen Didier Eribon. Dieser kommt selbst aus einer Arbeiterfamilie und analysiert in seiner autobiografischen Studie Rückkehr nach Reims, wie die eigenen Verwandten von Anhängern der Kommunistischen Partei zu Wählern des Front National wurden. Seine Ursachenforschung kreist dabei um die Frage nach Identität. Genauer gesagt: um das Verschwinden dessen, was einst Klassenbewusstsein hieß. Der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli macht hingegen noch ein anderes Argument auf. In seinem Essay Die Opferfalle kritisiert er, dass die Linke keine positive Idee des Guten mehr habe. Wenn Sie wissen möchten, was das genau bedeutet, lesen Sie den Beitrag auf Seite 13. Ihr Nils Markwardt des zivilen Ungehorsams um den Kampf für Indiens Unabhängigkeit verdient gemacht hat. Dass sich Sharmila gerade diesen Anlass ausgesucht hat, wird allgemein als Zeichen für ihre Ernüchterung über Indiens politische Kultur und über die Missachtung des Erbes von Mahatma Gandhi gedeutet. Beobachter ihres Protests gehen davon aus, dass der Verzicht auf den Hungerstreik von ihrem britisch-indischen Freund, Desmond Coutinho, beeinflusst wurde. Obwohl man ihr während der Haft sporadische Freigänge gewährte, waren Kontakte nur zu einer Handvoll Menschen gestattet – Coutinho gehörte dazu. „Ich habe mindestens 60 bis 70 Anrufe von Journalisten erhalten“, sagte jetzt Sharmilas Bruder Irom Singhjit Singh. „Auch TV-Sender waren hier. Ich habe ihnen allen das Gleiche gesagt – sie müssen mit Sharmila sprechen, ich bin Bauer, kein Menschenrechtsaktivist.“ Wird die Aktivistin nach Hause zurückkehren? Sharmilas 84-jährige Mutter erklärte vor Jour- nalisten, ihre Tochter sei entschlossen, „erst dann wieder in der Familie zu sein, wenn der Special Powers Act aufgehoben wird. Ich gebe ihr meinen Segen.“ Sharmilas Ankündigung, in die Politik zu gehen, hat schon das Interesse einiger Oppositionsparteien im Staat Manipur geweckt. Der lange Hungerstreik wurde zur Ermutigung für eine Widerstandsbewegung, deren Protagonisten davon überzeugt sind, dass Sharmila gute Chancen hat, ins Regionalparlament gewählt zu werden. Nicht nur Babloo Loitongbam, Vorsitzender der Gruppe Human Rights Alert, wirbt für ihre Pläne. Auch die Aam Aadmi Party (AAP, übersetzt: Partei des einfachen Mannes), die Ende 2012 aus der Antikorruptionsbewegung hervorging, und die Bharatiya Janata Party seien an ihr interessiert, hieß es. Die radikale Alliance for Social Unity schickte Sharmila hingegen eine Nachricht, die sie aufforderte, ihren Streik doch bitte fortzusetzen und lieber einen Einheimischen zu heiraten. Diese Nachricht erinnerte Sharmila nach eigener Aussage daran, dass schon „einige revolutionäre Anführer ermordet wurden, wenn sie sich als Politiker versucht haben“. Das Dorf Tulihal, aus dem fünf der Männer stammten, die einst bei dem Massaker in Malon getötet wurden, ist über ihre Entscheidung für die Politik gespalten. Tokpam Somorendra, der seinen Sohn Shantikumar in Malon verlor, meint: „Ich will nicht sagen, dass ihre Entscheidung falsch ist. Sie hat in diesen 16 Jahren so viel geopfert und verdient jeden Respekt, weil sie nicht für sich selbst gekämpft hat, sondern für uns alle, die wir vom Staat nicht länger gedemütigt werden wollen. Ihr Kampf war unser Kampf. Aber warum hat sie so schnell gehandelt, ohne uns etwas zu sagen?“ Sharmila habe so viele treue Unterstützer – und es sei schade, dass diese bei ihrem Fastenbrechen nun nicht live dabei sein konnten. Ein paar Häuser weiter, in der Familie von Chandramani Sinan, die ebenfalls Opfer des Massakers zu beklagen hat, finden Sharmilas Ambitionen indes mehr Anklang. „Sie hat 16 Jahre lang nichts gegessen und kam ihrem Traum nicht näher, dieses fürchterliche Gesetz fallen zu sehen“, sagt die Mutter der Familie. „Für uns steht fest, dass wir Sharmila weiter beistehen müssen. Wenn sie sich zur Wahl stellt, kann sie mit unserer Stimme rechnen. Das ist sicher.“ Vidhi Doshi ist Freelancerin des Guardian in Indien und Pakistan Übersetzung: Holger Hutt Michael Krätke über den Warnschuss der Bank of England Ulrike Baureithel über den Grünen Boris Palmer Teuer erkaufter Spielraum An der rechten Abbruchkante M ark Carney, erster Ausländer auf dem Chefsessel der britischen Zentralbank, ist ein mutiger Mann. Der Oxford-Ökonom aus Kanada hat lange Jahre für Goldman Sachs gearbeitet, bevor er die Zentralbank Kanadas führte. Dieses Land kam auch dank seiner proaktiven und expansiven Geldpolitik am besten von allen G 7-Ländern durch die Weltfinanzkrise vor acht Jahren. Seit 2013 präsidiert Carney der britische Notenbank und machte sich besonders viele Feinde, als der Brexit-Wahn erblühte. Statt das ökonomische Schwadronieren landauf, landab mit Neutralität zu bedenken, tat er seine Pflicht und warnte mehrfach vor den desaströsen Folgen eines EU-Ausstiegs. Die lassen sich inzwischen als Anzeichen einer Rezession deuten. Folglich hat die Bank of England ihre Wachstumsprognose drastisch nach unten korrigiert. Sie erwartet, dass die Wirtschaft im dritten Quartal um mindestens 0,4 Prozent schrumpft. Der Beschäftigungseinbruch ist schon unterwegs, wenn derzeit vorzugsweise Vollzeitstellen prekarisiert werden, Schlüsselbranchen wie die Bauindustrie rascher als in den Krisenjahren 2008/09 einen Rückgang der Aufträge verbuchen und die Umsätze im Dienstleistungssektor bedenklich nachgeben. Britischen Unternehmern, großen wie kleinen, scheint der Schrecken in die Glieder gefahren zu sein, wenn Investitionen entweder aufgeschoben oder abgeblasen werden. Den Wertverlust beim Pfund spüren die Briten bei steigenden Preisen für Lebensmittel. Sollten sich die Anzeichen zu Tatsachen verdichten, stehen einige hunderttausend Jobs auf dem Spiel. Deshalb wohl wollte das Direktorium der Zentralbank nicht länger warten und umgehend mit energischen Maßnahmen reagieren. Seit März 2009 stand ihr Leitzins bereits auf dem unerhört niedrigen Niveau von 0,5 Prozent, jetzt wurde er auf 0,25 gesenkt, tiefer als je zuvor in der langen Geschichte des Geldinstituts. Zugleich sollen mehr Staatsanleihen aufgekauft werden, wenn das laufende Programm um 60 Milliarden auf dann 435 Milliarden Pfund aufgestockt wird. Dieses Vorgehen erfasst auch Unternehmensanleihen in einer Größenordnung von zehn Milliarden Pfund. Dass die Kreditvergabe von Privatbanken an ihr Publikum gefördert werden soll, versteht sich. Es gäbe keinen Grund für die Geldhäuser auf der Insel, das Zinsminus von 0,25 Prozent nicht an ihre Kunden weiterzugeben, betont Mark Carney. Doch mit Geldpolitik allein lässt sich eine Konjunkturflaute nicht aufhalten. Ohne adäquate Aktivitäten des britischen Staates, ohne Konjunktur- und Investitionshilfen, verpufft der Effekt von Minimalzinsen. Und viel Munition hat Carney nicht mehr, sollte es in den Wintermonaten ernster werden. Nullund Negativzinsen helfen auf Dauer wenig, das hat die weithin erfolglose Politik der EZB zur Genüge gezeigt. Fürs Erste kann Carney zumindest eines als Erfolg werten: Er hat dem neuen britischen Finanzminister Philip Hammond, ebenfalls bekennender BrexitGegner, Zeit zum Handeln verschafft. Gekaufte Zeit muss man nutzen, nicht verplempern. Angela Merkel hat stattdessen immer wieder vorgeführt, wie man mit teuer erkaufter Zeit das Desaster nur noch größer macht. Ein Beispiel, dem die Briten nicht folgen sollten. Was ihr Land jetzt braucht, ist Klarheit über den Brexit-Kurs. Der Zentralbankchef und der Schatzkanzler sind sich da einig. Die Bank of England hat einen Warnschuss abgefeuert, den auch Premierministerin Theresa May gehört haben dürfte. D as Querulantige hat er wohl von seinem Vater, Helmut Palmer. Der „Remstal-Rebell“ war in BadenWürttemberg schon eine Legende, als sein Sohn Boris noch gar nicht geboren war. Immer wieder ließ er sich bei Wahlen gegen die Freidemokraten aufstellen, ein parteiloser Wüterich mit fast göttlicher Mission und dicker Akte beim Staatsanwalt. Die hat sein Sohn Boris Palmer nicht, aber ein Stänkerer ist er doch. Ob als Verteidiger des Kohlekraftwerks Brunsbüttel, an dem die Tübinger Stadtwerke beteiligt sind, ob als früher Verfechter von Schwarz-Grün oder als grüner Hardliner in der Flüchtlingspolitik: Es gibt vieles, worüber sich der seit zehn Jahren amtierende Tübinger Rathauschef mit seinen grünen Parteifreunden zofft. Gerade hat er in der Stuttgarter Zeitung verlauten lassen, dass man straffällig gewordene Flüchtlinge auch in ihre Herkunftsländer, beispielsweise nach Syrien, zurückschicken könne. Mit gewissen Verhaltensweisen verwirke man sein Aufenthaltsrecht, und wer sich nicht an elementare Regeln halte, für den greife das Asylrecht nicht mehr. Das ähnelt in manchem der Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht, und auch bei den Grünen sorgen solche Äußerungen für Ärger. Die eher bedächtige Parlamentarische Geschäftsführerin Britta Haßelmann bezeichnete Palmers Vorschlag als „zynisch“, und Parteichefin Simone Peter sprach von „klassischem Palmer-Nonsens“. Er sei „Realpolitiker“, konterte Palmer, und würde nur auf die geltende Rechtslage verweisen. Doch seine wiederholten Äußerungen zur Flüchtlingspolitik haben System und sind nicht zufällig an der politischen Abbruchkante zur AfD angesiedelt. Dabei hat Palmer, wie er erklärt, keine politischen Ambitionen mehr, lieber würde er „in der Wirtschaft etwas bewegen“. Im Moment bewegt er allerdings nur die Bundespartei. Wie viel Palmer ist goutierbar, wie viel darf man ihm durchgehen lassen, um noch den konservativsten Schwaben einzusammeln und aus dem Strom der AfD zu den Grünen zu lenken? Vielleicht ist Palmer aber auch nur die grüne Vorhut. Sein Vorschlag fügt sich jedenfalls nahtlos in die neuesten geplanten Asylrechtsverschärfungen der Union ein, die Flüchtlinge endgültig zu Menschen zweiter Klasse machen. Es ist sozusagen eine Übung auf dem schwarz-grünen Feld. Politik 03 Ab st ie Au fs gS ti er eg ie der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Der Hofstaat der Mitte Ungleichheit Ohne die Hilfe einer neuen Diener-Klasse kämen viele selbsternannte Leistungsträger kaum zurecht und alte Leute betreuen, oder die als „Kontraktoren“ von Firmen wie Alfred oder TaskRabbit „zeitnah“ und „on demand“ Bequemlichkeitswünsche von gestressten Kunden erfüllen. Nur ein Bruchteil dieser Dienstleister ist statistisch erfasst, nur ein Bruchteil würde angeben, „von Beruf“ etwa als Online-Butler zu arbeiten. Die Dunkelziffer der heutigen Haushaltshelfer übertrifft die offiziellen Zahlen um ein Vielfaches. Wer studiert, kann sich als Nannie oder Teilzeit-Kaninchen leicht etwas dazuverdienen; schwieriger wird es, wenn man mit 50 oder 60 allen Ambitionen abgeschworen hat und allein aus Geldnot immer noch putzen geht. Ein domestic worker zu sein ist für die meisten eine Falle, aus der man sich irgendwann nicht mehr befreien kann. Warum aber tappt man überhaupt in die Falle? Weil diese Jobs immer noch attraktiver sind als schwere körperliche Arbeit. Weil man in der Regel keine Ausbildung für sie braucht. Und weil es eben leicht ist, einen solchen Job zu finden. Der Arbeitsmarkt für Diener bemisst sich am Bedienungshunger der Kunden, und dieser ist größer denn je. QChristoph Bartmann W e do chores, You live life“, wir machen die Hausarbeit, du lebst dein Leben: So wirbt die Service-Plattform TaskRabbit überall in New York für ihre Dienste. Heute New York, morgen 19 weitere Städte in den USA, übermorgen die halbe Welt, die Markteroberung muss schnell passieren, denn die Konkurrenz schläft nicht. Auch hierzulande nicht. Warum soll man sein Essen nur bei Lieferando bestellen, wenn es doch auch die Dienste dinnery und apetito gibt, nicht zu vergessen foodora oder deliveroo? Es sieht so aus, als wollten diese neuen Bequemlichkeitsanbieter ihre Alleinstellung durch besonders blöde Namen untermauern – was nicht funktioniert, wenn sich alle blöde Namen geben. TaskRabbit leistet sich den Spaß, seine Mitarbeiter als Rabbits, als Aufgaben-Kaninchen zu bezeichnen. Den Erfolg des Unternehmens behindert das einstweilen nicht. Zu attraktiv erscheint die Option, sich mit der App von lästigen Hausaufgaben ganz einfach freizukaufen. Auf der Homepage des Unternehmens wird der Unterschied zwischen häuslichen Arbeiten und Leben genauer erläutert. Während jemand deine Regale montiert, hängst du mit deinen Kindern ab. Während jemand deine Einkäufe macht, läufst du im Park. Während jemand die Wände deiner Wohnung streicht, malst du ein Meisterwerk. Und während jemand deinen Müll einsammelt, widmest du dich deinem neuen Hobby. Das schöne Leben, das solche Angebote verheißen, passiert immer dann, wenn die Arbeit am häuslichen Krisenherd anderweitig erledigt wird. F O T O S : ( V O N O B E N I M U Z G ) M I C H A E L G O T T S C H A L K / G E T T Y I M A G E S , P E T E R B O H L E R / L A I F, G R E G O R F I S C H E R / D PA Grauzone der Bequemlichkeit Ein „Alfred“ kostet 32 Dollar Wem die Heinzelmännchen von TaskRabbit noch nicht genug Bequemlichkeit spenden, der kann sich, jedenfalls in New York, auch an Alfred wenden. Alfred „ist ein automatischer Hands-off-Dienst, der ganz leise im Hintergrund deines Lebens summt – und dir erlaubt, es zu leben“. Schon ab 32 Dollar pro Woche kann man seinen persönlichen Alfred buchen. Der klassische Butlername Alfred suggeriert einen Hauch von alter Dienerherrlichkeit. Für 32 Dollar kommt also ein Alfred in unser Haus und arbeitet unsere „To-do-Liste“ ab, Dinge, zu denen wir, warum auch immer, selbst nicht kommen. Als Kunde wird man Alfred selten oder gar nicht zu Gesicht bekommen. Alfred hat unseren Schlüssel und wir vertrauen ihm, weil seine Firma ihn von Grund auf durchleuchtet hat. Überhaupt nur drei Prozent der Bewerberinnen und Bewerber bestünden diesen Check, wird mitgeteilt. Man hat sich diesen neuen Typus von haushaltsnahem Dienstleister somit als Elite vorzustellen, leistungsfreudig, zuverlässig, ja getrieben von Idealismus und dem glühenden Wunsch, anderen das Leben zu erleichtern. „Meet the Alfreds“: Auf den Alfred-Seiten lernen wir etwa Eeva Marja aus Finnland kennen, die jetzt in Brooklyn wohnt. Sie hat einen Masterabschluss in Psychologie, arbeitet jetzt aber eben als Alfred und bezieht aus ihrem Job „die Befriedigung, den Alltag anderer Leute besser zu machen“. Wenn man der Werbung glaubt, sind die neuen Butler fast schon eine Art Sozialarbeiter. Der Sozialfall sind hier Menschen mit hohem Einkommen und Leistungsidealen, die freilich das Hinaustragen des Mülls aus der eigenen Wohnung nicht einschließen. Auf den Seiten von Alfred berichten Kunden von ihrer „Alfred experience“. Die Berufe sprechen Bände: James arbeitet in der Sparte „Real Estate Finance“, Christina in einer Anwaltsfirma, Angelica ist „Capital Markets Associate“, und so fort. Alle haben sie sich für eine Art Hotelwohnen entschieden. Es ist diese leistungsfrohe, überstundenhungrige Klasse von jungen, ungebundenen Professionellen, die das neue Service-Wesen befördert. Nicht dass doppelverdienende Eltern mit Kindern keine Servicewünsche hätten, im Gegenteil. Aber diese Wünsche sind, vor allem wenn es um die Kin- Unterbezahlte Hilfskräfte werden heute „helpling“ genannt oder „taskrabbit“ Butler, Köche, Nannies und Putzhilfen sind eine Art Sozialarbeiter für Manager und andere Gestresste der geht, komplexer: Da geht es noch einmal ganz anders um Vertrauen und persönliche Beziehungen. Noch buchen wir den Babysitter nicht über eine App, aber der Tag ist vielleicht nicht fern. Der Trumpf der neuen digitalen Entlastungsindustrie besteht nicht nur in der Entlastung von der Arbeit selbst – sondern in der Entlastung auch noch von der Anbahnung dieser Arbeit. Anders als in der Vorzeit, wo man sich mit dem Hauspersonal immer auch den Konflikt mit dem Hauspersonal mit ins Haus holte, ist hier alles vorab geklärt, vom Vertrauens-Check über die Qualifizierung bis zur Bezahlung. Eine wie auch immer geartete Nähe zwischen Kunden und Dienstleistern baut sich unter diesen Umständen nicht mehr auf und ist auch nicht erwünscht. Die neuen Dienstleisterinnen und Dienstleister sind Hausgeister geworden, die, für uns unsichtbar, in unseren Räumen nach unseren Wünschen unsere Arbeit tun. Es müsste Politik und Gesellschaft erschrecken, dass haushaltsnahe Dienstleistungen, sowohl die herkömmlichen wie die neuen, plattformgetriebenen, eine der wenigen wirklichen Zukunftsbranchen unserer Tage sind. Wenn in Deutschland neue Jobs entstehen, dann bewegen diese sich zu 80 Prozent im Niedriglohnsektor, und davon wiederum ein großer Teil im haushaltsnahen Bereich. Das sind der polnische Pflegehelfer, die Putzfrau aus Bosnien, das Kindermädchen von den Philippinen, aber eben auch der Pizzafahrer aus Deutschland. Warten, Pflegen, Liefern, das ist ein Arbeitsmarkt mit goldener Zukunft. Meist schlecht bezahlt, oft unversichert, mal scheinselbstständig, mal als Minijob, frei von Aufstiegschancen und oft sogar vom Wunsch danach: Sehr viele Leute richten sich, offenbar mangels besserer Alternativen, in solchen Arbeitsverhältnissen dauerhaft ein, ohne Gewerkschaften und Tarifverträge. Und die Gewerkschaften tun sich schwer, in diesem wachsenden Segment Fuß zu fassen. Viele der Dienstleister legen wenig Wert darauf, abhängig Beschäftigte zu werden. Die klassischen Arbeitnehmerrechte und –pflichten passen kaum zu einem mobilen Lebensstil, bei dem „Migration“ sich zunehmend in „Zirkulation“ verwandelt und kein Land mehr eine feste Basis bildet, von der aus bürgerliche und Arbeitnehmerrechte geltend gemacht werden. Jobs als Kaninchen gibt es viele Folgt man den Untersuchungen der International Labour Organization (ILO) der Vereinten Nationen, lässt sich ein Anstieg in der Zahl häuslicher Dienstleisterinnen und Dienstleister weltweit verzeichnen. Domestic workers: Das sind Männer und Frauen, von denen manche sogar in den Haushalten ihrer Auftraggeber leben, nach dem Live-in-Prinzip, andere nicht. Menschen, die als Butler, Köche oder Gärtner den Hofstaat von Oligarchen oder Popstars bevölkern, die als Nannies, Haushälterinnen und Pflegerinnen Kinder Man kann sich über all diese Tatsachen nicht genug wundern. Sind nicht Diener ein Phänomen aus der Vergangenheit, jedenfalls in den westlichen Ländern? Das Wort weckt nostalgische Empfindungen, wie sie heute von TV-Serien wie Downton Abbey bedient werden. Tatsächlich stand in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Ländern das Dienerwesen vor dem Aussterben, wie Statistiken zeigen. Der bürgerliche Haushalt, ob in seiner klein- oder seiner gutbürgerlichen Variante, kam weithin ohne Diener aus. Neuartige Haushaltsgeräte machten es der sogenannten Hausfrau möglich, den dienerlosen Haushalt selbst zu bewältigen und in manchen Fällen sogar lieben zu lernen. Die Freude am Selbermachen (Backen, Stricken, Putzen) begann zu dominieren. Die Geräte spendeten Entlastung, freilich ohne dass deshalb die Arbeit unbedingt weniger wurde. Familienpolitisch jedoch war die unbezahlte Vollzeitarbeit von Frauen im eigenen Haushalt irgendwann nicht mehr zu halten. Um 1960 herum begann die neue Ära der (mit) verdienenden, aber weiterhin dienerlosen Frau und Mutter, die auf diese Weise erste Erfahrungen im Vereinbarkeits-Management von Beruf und Familie sammelte. Schon gab es ein Vereinbarkeitsproblem – aber noch niemanden, auf dessen Rücken man es hätte lösen können. Erst die massenhafte Ankunft von Arbeitsmigrantinnen in Deutschland und anderswo hat zu Lösungen geführt, wenn auch regelmäßig zu Lasten anderer. Das heute nicht nur bei Familien mit Kindern vorherrschende Gefühl, Stress zu haben und deshalb Dinge besser einfach zu delegieren, siedelt in der Grauzone zwischen Bequemlichkeit und Bedürftigkeit. Haushaltsnahe Dienstleistungen halten für beides Angebote bereit. Wer sich über Lieferando Chips und Bier für einen netten Fußballabend nach Hause kommen lässt, gehört eher in die Bequemlichkeitsklasse als einer, der nach einer Pflegekraft für die alternden Eltern sucht, die nicht ins Heim wollen. In beiden Fällen aber werden Leistungen in Anspruch genommen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit schlecht bezahlt sind und die zudem von Leuten erbracht werden, die, eben weil sie solche Dienstleistungen verrichten, niemals ein eigenes bequemes Leben haben werden. Es ist die Mittelklasse mit ihren von der Politik umworbenen „Leistungsträgern“, die heute das häusliche Service-Wesen befeuert. Familien, Singles, wer auch immer, nie fiel es ihnen leichter und nie war es vom Anbahnungsaufwand her unkomplizierter, Serviceleistungen zu buchen – und das fast ohne schlechtes Gewissen: Man hält sich ja nur ein bisschen „den Rücken frei“. Christoph Bartmann ist für das Goethe-Institut in New York tätig. Kommende Woche erscheint sein Buch Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum und sein Personal (Hanser 2016, 288 S., 22 €) 04 Politik der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Unter der Woche Jürgen Busche An der Spitze des FC Bayern lauern viele Gefahren F O T O : J E N S B Ü T T N E R / D PA U li Hoeneß kommt also wieder. Wer wollte sagen, er hätte etwas anderes erwartet? Wer wollte sagen, das sei nicht wünschenswert? Der nach Verbüßung seiner Haftstrafe – der Hälfte der zudiktierten Strafe – auf Bewährung entlassene Steuerhinterzieher wird wieder Präsident des FC Bayern München, eines der reichsten, wenn auch nicht erfolgreichsten Fußballvereine Europas. Niemand meckert. Manche mögen eine satte Portion Neid verspüren. Politiker zum Beispiel. Die Wahl von Hoeneß durch die Bayern wird erst im November stattfinden. Schon jetzt ist klar, dass er sie gewinnen wird. Er hat keinen Gegenkandidaten. Sein derzeit noch amtierender Vorgänger war erkennbar nur ein Strohmann. So etwas konnte sich bisher nur Wladimir Putin leisten, der, als die russische Verfassung seine Wiederwahl zum Präsidenten verbot, einfach seinen Ministerpräsidenten vorschob, selbst dessen Posten übernahm und, als die Amtsperiode abgelaufen war, wieder verfassungskonform in das Präsidentenamt zurückkehrte. Schön, wenn so etwas klappt. Demokratie kann etwas Feines sein, wenn man sie im Griff hat. In Bayern sagt man dazu dann: Mia san mia. Hochdeutsch: Wir sind wir. Das reicht. Dass nun ein Vorbestrafter, einer, der im Knast gesessen hat, Präsident eines großen Vereins wird, kann im Ernst niemand anstößig finden. Wir wollen ja nicht die düstere Prognose aktualisieren, die Hans Fallada mit seinem Roman und Romantitel ausgegeben hat: „Wer einmal aus dem Blechnapf aß …“ Strafen im Rechtsstaat sind – wenn im Urteil nicht anders vorgesehen – begrenzt. Und dann gilt: Vorbei ist vorbei. Jeder darf sich dazu seinen Teil denken. Aber für die Rechte des Einzelnen im öffentlichen Leben, auch des straffällig Gewordenen, darf das keine Rolle spielen. Unser Strafen hat das Ziel einer Resozialisierung im Blickfeld. Der aus der Haft Entlassene soll wieder in die Gesellschaft eingefügt werden. Das ist bei Hoeneß kein Problem. Es gibt da allerdings einen Punkt, der bei der Beachtung der Bewährungsfrist ins Auge fällt. Der Entlassene, der sich wieder ins tätige Leben einklinkt, sollte die Nähe von Leuten vermeiden, die ihn wieder ins alte Milieu der Tunichtgute hineinziehen. Präsident Hoeneß wird beim FC Bayern wieder auf Aufsichtsratsmitglied Martin Winterkorn treffen, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt und der möglicherweise demnächst Hoeneß’ bittere Erfahrungen besser kennenlernen wird, als ihm lieb ist. Steuerhinterziehung ist nicht alles, was verboten ist. An der Spitze des FC Bayern lauern noch mehr Gefahren. Also: Uli, pass auf! Ministerpräsident Erwin Sellering ist bei den Bürgern sehr beliebt, seine SPD weniger Stimmungsmache überall Mecklenburg-Vorpommern Rechte schüren Angst, die anderen verbreiten Zuversicht. Nur politische Ideen fehlen QStephan Hebel A uch wenn es nicht besonders auffällt: Mecklenburg-Vorpommern befindet sich im Wahlkampf. Selbst bei vielen Bürgern des nordöstlichen Bundeslandes dürfte diese Nachricht noch nicht angekommen sein, denn sie befinden sich im Urlaub. Der sechswöchige Endspurt zur Wahl begann am vorletzten JuliWochenende – genau wie die Sommerferien. Und gewählt wird am 4. September, exakt am letzten Tag, bevor die Schule wieder beginnt. So dürften die Plakatbotschaften, die sich zwischen Müritz und Ostsee breitgemacht haben, an manchen Orten mehr Touristen erreichen als Wahlberechtigte. Womit sich die Terminierung dieser Landtagswahl als erstaunlicher Widerspruch zum allerorten ausgerufenen Ziel erweist, die Menschen in einer Zeit der Wut, der Sorge und des Zweifels wieder von den Vorzügen der parlamentarischen Demokratie zu überzeugen. ANZEIGE PapyRossa Verlag | Luxemburger Str. 202 | 50937 Köln CONRAD SCHUHLER: DIE GROSSE FLUCHT 8UVDFKHQ+LQWHUJUQGH.RQVHTXHQ]HQ Die Verantwortung für die Große Flucht wird ebenso verdrängt wie deren Ursachen. In den Blick geraten Kriege des Westens sowie weltweite Verelendung, durch eine ›Wirtschaft, die tötet‹, so Papst Franziskus. Was sind die Alternativen zu Rassismus, Nationalismus und zur Festung Europa? ISBN 978-3-89438-601-6 | 131 Seiten | € 12,90 WERNER RUF: ISLAMISCHER STAAT & CO. 3URÀW5HOLJLRQXQGJOREDOLVLHUWHU7HUURU Geostrategische Interessen, Kontrolle von Öl und Gas, globale XQGUHJLRQDOH+HJHPRQLDOSROLWLN$XVJHWUDJHQZHUGHQGLH.RQÀLNWH mittels Akteuren wie dem »IS«. Kriminelle Ökonomien paaren sich mit religiös verbrämtem Fanatismus zu einer kaum noch kontrollier- baren Eigendynamik. Sie zu stoppen, bedingt die Austrocknung ihrer wirtschaftlichen Basis. ISBN 978-3-89438-618-4 | 156 Seiten | € 13,90 Tel. (02 21) 44 85 45 | [email protected] | w w w . p a p y r o s s a . d e Ob das allerdings gelingen würde, wenn der Wahlkampf nicht vor halbleeren Rängen stattfände, muss bezweifelt werden. Was man aus Mecklenburg-Vorpommern hört, spricht eher für die inhaltliche Entleerung der politischen Auseinandersetzung, die wir auch andernorts erleben. Niemand traut sich zu, in demokratischer Sprache Tacheles zu reden. Stattdessen machen alle, Rechtspopulisten wie Demokraten, lieber Stimmung. Angstparolen und nationalistische Ausgrenzungsfantasien stoßen auf weitgehend leere Beschwichtigungsformeln und liberale Lippenbekenntnisse ohne Mut zur Eindeutigkeit. Kein gutes Omen für die Zeit bis zur Bundestagswahl in einem Jahr. Als Spezialist für Beschwichtigung tritt Erwin Sellering von der SPD an, seit acht Jahren Ministerpräsident im Bündnis mit der CDU. Wie es aussieht, ist er dabei, seine Partei in eine Niederlage zu führen und dabei exemplarisch zu zeigen, wie man den Angstmachern und Angstprofiteuren von rechts gerade nicht begegnen sollte. Es ist zwar nicht so, dass der in den Osten verschlagene Westfale die Leute anlügen würde, wenn er sagt: „Unsere wunderschöne Heimat Mecklenburg-Vorpommern hat sich in den letzten Jahren wirklich gut entwickelt.“ Tatsächlich ist die offizielle Arbeitslosigkeit seit 2005 um die Hälfte auf (immer noch überdurchschnittliche) neun Prozent gesunken, 50.000 zusätzliche Jobs sind neu entstanden. Der Rostocker Hafen hat gerade ein paar schöne Zahlen zum Güterumschlag vermeldet, die Windkraftindustrie schafft Arbeit, der Tourismus funktioniert. Gespaltene Bevölkerung Aber natürlich weiß auch Sellering, dass er nur die halbe Wahrheit erzählt, wenn er diese Erfolgsbilanz herunterbetet. Denn erstens sind Abwanderung, Tarifflucht, prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und vor allem die Furcht davor keineswegs Vergangenheit. Und zweitens: Die Stimmung ist schlecht, weit über die AfD-Klientel hinaus. Die jüngste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap hat ergeben, dass die Bevölkerung des Küstenlandes zwischen Zuversicht und Zukunftsangst gespalten ist: „Finden Sie, dass die Verhältnisse derzeit in Mecklenburg-Vorpommern eher Anlass zur Zuversicht oder eher Anlass zur Beunruhigung geben?“, fragten die Demoskopen. Genau die Hälfte zeigte sich zuversichtlich – aber 44 Prozent sahen eher Grund zur Beunruhigung. Und so irreal das in einem so dünn besiedelten Landstrich auch ist: An nichts macht sich hier so viel Panik fest wie an der Zuwanderung. Absurd, aber wahr: 59 Prozent fürchten einen „zu starken“ Einfluss des Islam und 51 Prozent eine Beeinträchtigung heimischer „Lebensart“. Diese Reaktionen, von der etablierten Politik teils geduldet und teils noch befeuert, haben längst eine politische Sprengkraft entwickelt, die das ganze Parteiensystem ins Wanken bringt. Zwar werden nicht alle Beunruhigten auf die nationalistischen Parolen der AfD hereinfallen. Aber Infratest dimap maß die Zustimmung für die Neurechten Ende Juni immerhin mit 19 Prozent. Die SPD kam auf gerade mal 22 und die CDU auf 25 Prozent. Damit wäre die AfD drittstärkste Kraft in MecklenburgVorpommern, noch vor der Linkspartei mit 17 Prozent. Sozialdemokrat Sellering redet jedoch an den Angstthemen meistens gezielt vorbei, statt sie den Rechten aus der Hand zu nehmen. Er scheint sich in eine Art Stimmungswettkampf begeben zu haben: Die einen arbeiten mit der Angst, die anderen mit der Zuversicht. Nur demokratische, freiheitliche und soziale Antworten auf Angst und Verunsicherung gibt niemand. Das ist vielleicht der größte Erfolg der AfD: dass Ideen für eine wirklich liberale Flüchtlingspolitik, verbunden mit einem sozialen Schutzversprechen für Alteingesessene wie Zugewanderte, überhaupt nicht mehr im Angebot sind. Da sieht es in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders aus als im Bund. Die SPD im Nordosten hat offenbar bei der Wahlkampfplanung geglaubt, das Thema hinter ihren Erfolgsparolen verschwinden lassen zu können. Und wenn der Ministerpräsident doch einmal redet, fällt Eine liberale Asylpolitik ist gar nicht mehr im Angebot, ein Erfolg der Rechten ihm nichts Besseres ein, als die Abwehrreflexe gegen Fremde in geradezu Seehofer’scher Manier auch noch selbst zu bedienen: „Es war ein großer Fehler, die Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn im September nicht zu einer Ausnahme zu erklären. Stattdessen wurde monatelang der Eindruck erweckt, als sei die unbegrenzte und unkontrollierte Aufnahme von Flüchtlingen alternativlos“, verkündete er jetzt im Tagesspiegel. Bonus des Landesvaters So schwankt also die SPD im Land wie im Bund zwischen Beruhigungsrhetorik und Anleihen beim Populismus, als wüsste sie nicht, dass sie die Zweifler und die Hasser weder mit dem einen noch mit dem anderen erreichen wird. Sellerings Stimmungspolitik verzichtet fast vollständig auf Konfrontation und alternative Konzepte – als wären sie nicht das einzige Gegenmittel zu den aus Abwehr und Abgrenzung gezimmerten Scheinlösungen von rechts. Da ist der Kandidat von der Küste nicht anders als sein Parteivorsitzender Sigmar Gabriel. Wohlgemerkt: Der Schweriner Ministerpräsident steht hier nur stellvertretend für alle etablierten Parteien, die sich – mit unterschiedlichen Akzenten – nicht viel anders verhalten. Sellering selbst mag sich damit trösten, dass die Bürger im Nordosten ihn am liebsten als Ministerpräsidenten behalten wollten: 57 Prozent würden sich bei einer Direktwahl für ihn entscheiden. Aber mit seiner Partei und deren Inhalten hat das offenbar weniger zu tun als mit dem Bonus eines Landesvaters: Die 22 Prozent der SPD liegen unter der Prognose für die Rechts-außen-Parteien, rechnet man zu den 19 Prozent der AfD noch die 4 Prozent für die NPD hinzu (die sogar Chancen hat, die Fünfprozenthürde noch zu knacken). Bei der AfD gibt es ein Plakatmotiv, bei dem unter dem Slogan „Für unser Land und unsere Kinder“ in riesigen Buchstaben nur ein einziges Wort zu lesen ist: „Volkspartei“. Natürlich gilt der Anspruch nicht für alle Bewohner dieses Landes, sondern ausdrücklich nur „für das eigene Volk“, wie es auf einem anderen AfD-Plakat heißt. Aber tatsächlich fehlt nicht viel, und die neurechte Sammelbewegung schließt zu den alten Volksparteien auf. Es sei denn, die merken noch, dass den rechten Stimmungspolitikern mit Stimmungspolitik nicht beizukommen ist. Politik 05 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Wenig Zeit für die Wahrheit Justiz Ein Richter erledigt weniger Streitfälle als seine Kollegen und wird ermahnt. Muss er jetzt schneller und oberflächlicher arbeiten? Kernelemente unseres Rechtsstaates sind die Gewaltenteilung und die richterliche Unabhängigkeit. Wenn eine Gerichtspräsidentin eine Ermahnung ausspricht, wird sie unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung nicht als Richterin, sondern als Teil der Exekutive tätig. Verfassungsrechtlich wird diese Maßnahme dem Justizministerium zugerechnet. Damit wird deutlich, dass die politische Verantwortung für Hügels Verhalten beim zuständigen Justizminister liegt. Er ist Herr des Verfahrens und kann jederzeit die dienstrechtlichen Maßnahmen zurücknehmen. Das gilt selbst noch nach Ausschöpfung des Rechtsweges. Deswegen richten sich auch die politischen Vorwürfe nicht nur gegen Hügel, sondern ebenfalls gegen den früheren Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) und seine damalige Amtschefin Bettina Limperg (heute Präsidentin des Bundesgerichtshofs) sowie gegen seinen Nachfolger Guido Wolf (CDU). QWolfgang Nešković Verweigerte Realität Schulte-Kellinghaus wehrte sich, beschritt den Rechtsweg gegen die dienstrechtliche Maßnahme. Es war der Beginn einer bislang einzigartigen Auseinandersetzung zwischen einer Justizverwaltung und einem hartnäckig und unerschrocken um seine Unabhängigkeit kämpfenden Richter. Leider haben die zuständigen Richterdienstgerichte in erster und zweiter Instanz die Klage abgewiesen. Sie haben sich vor allem darauf berufen, dass die pauschale Aufforderung, durchschnittliche Erledigungszahlen zu erbringen, nicht in die Rechtsanwendung ein- FOTO: U L R I C H BAUM GA RT E N/G E T T Y I M AG E S D ie Strafanzeige, die der Rechtsanwalt Gerhard Strate dieser Tage bei der Freiburger Staatsanwaltschaft erstattet hat, ist eine äußerst ungewöhnliche. Der Vorwurf: versuchte Nötigung in einem besonders schweren Fall. Die Beschuldigte: Christine Hügel, bis zum vergangenen Jahr Präsidentin des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Beim Stuttgarter Justizministerium gingen zudem mehrere Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Hügel ein. Auf den ersten Blick geht es bloß um eine „Ermahnung“. Hügel hat im Jahr 2012 bemängelt, dass der Richter Thomas SchulteKellinghaus rund ein Drittel weniger Fälle als seine Kollegen erledigt hatte. In Wirklichkeit geht es in diesem Fall aber um viel mehr: um einen Eingriff in die Unabhängigkeit von Richtern. Um weniger Zeit für die Suche nach der Wahrheit. Und um die Gefährdung des Rechtsstaats. Nach dem Grundgesetz sind Richter unabhängig, nicht weisungsgebunden und allein dem Gesetz unterworfen. SchulteKellinghaus ist der Meinung, dass die Ermahnung darauf abzielte, ihn zu zwingen, seine Rechtsanwendung zu ändern: weniger rechtliches Gehör, weniger Sachverhaltsaufklärung durch Beweisaufnahmen, mehr Verfahrensverkürzungen durch die Annahme von Verjährung oder durch Vergleiche statt Urteile. Das Aktenstudium kann erhellend sein greife. Die Gerichtspräsidentin habe schließlich keine konkreten Vorgaben gemacht. Der Strafverteidiger Strate hat hierzu in der eingangs erwähnten Strafanzeige angemerkt: „Eine Präsidentin, die einen Richter unter ‚Zahlendruck‘ setzt, übt Druck auf eine andere (zeitsparende) Rechtsanwendung aus. Wer diesen Zusammenhang leugnet, verweigert sich der Realität.“ Ähnlich sieht das auch der an der Universität Münster zur Justizorganisation forschende Professor Fabian Wittreck. Unstreitig verfassungswidrig wäre es, erläutert er, wenn die Oberlandesgerichts-Präsidentin den Richter angewiesen hätte, zur Zeitersparnis beispielsweise weniger Beweisaufnahmen oder mündliche Verhandlungstermine durchzuführen. Da niemand – auch Hügel selbst nicht – behaupte, der Richter Schulte-Kellinghaus arbeite zu wenig oder sei seinem Amt nicht gewachsen, könne dieser seine Erledigungszahlen nur durch eine Gelegentlich kommt es zu Deals: kurzer Prozess gegen geringe Strafe oberflächlichere Arbeitsweise steigern – also durch das, was die Präsidentin nicht von ihm verlangen dürfe. Wittreck nennt ihre Maßnahme „perfide“, weil sie in die Unabhängigkeit eingreife, ohne das zuzugeben. Christine Hügel konnte im laufenden Rechtsstreit auch nicht darlegen, wie Schulte-Kellinghaus mehr Fälle erledigen soll, ohne seine Rechtsanwendung zu ändern. Stattdessen präsentierte sie den Dienstgerichten ihre Denkweise auf dem Silbertab- lett. In einem von ihr unterzeichneten Schriftsatz heißt es: „Durch die gesetzliche Vorgabe der Personalausstattung und das tatsächliche Fallaufkommen wird aber der – auch für den Berufungsführer (Herrn Schulte-Kellinghaus) – verbindliche Maßstab aufgestellt, wie viel der einzelne Richter in seiner jeweiligen Funktion insgesamt zu erledigen hat.“ Der Satz hat es in sich. Für Richter soll nach Auffassung von Hügel nicht die am Gesetz orientierte individuelle Überzeugung handlungsleitend sein, sondern die Finanzplanung des Landes. Im Rechtsstaat darf ein Richter jedoch keinesfalls das Recht entgegen seiner Überzeugung anwenden. So sieht es der Richtereid vor. Der Richter ist nicht Diener haushaltspolitischer Vorgaben, sondern des Rechts. Sein Herr ist das Gesetz und nicht das Justizministerium. Wer das nicht akzeptiert, rüttelt an den Grundfesten des Rechtsstaats. Zum Vergleich gedrängt Es geht auch um Glaubwürdigkeit. Richter, die dem Verdacht ausgesetzt sind, sie suchten einen Weg, der zeitaufwendige Beweisaufnahmen und rechtliche Recherchen erspart, gefährden das Vertrauen in die Justiz. Wer einen Prozess führt, weiß, dass die Zeit die Mutter der Wahrheit und Gerechtigkeit ist. Ein Richter ohne Zeit ist wie ein Maurer ohne Kelle. Wenn Richter in Strafprozessen dealen, dann wird das Strafgesetzbuch zum Handelsgesetzbuch. Die Wahrheit wird nicht mehr erforscht, sondern vereinbart. Insbesondere Wirtschaftskriminelle nutzen die Zeitnot, die die Politik wegen der zu geringen Zahl an Richterstellen zu verantworten hat, für einen Deal mit Strafrabatt. Frei nach dem Motto: Kurzer Prozess gegen geringe Strafe. In Zivilprozessen machen viele Bürger die Erfahrung, dass sie mit unterschiedlichen Druckmitteln zu einem Vergleich gedrängt werden. Der Vergleich erspart dem Richter die meist zeitaufwendige Begründung einer Entscheidung. Geht Geschwindigkeit vor Gerechtigkeit? Der mutige Kampf des Richters SchulteKellinghaus zielt im Ergebnis darauf ab, die Justiz aus dem Zeitgefängnis der Verwaltung zu befreien. Wenn er am Ende gewinnt, wäre das ein starkes Signal. Wolfgang Nešković war Richter am Bundesgerichtshof und saß als Parteiloser für die Linke im Bundestag ANZEIGE Uranfabriken unter Druck Atomkraft Deutschland beliefert ausländische Reaktoren mit Brennstoff. Wie lange noch? QAnika Limbach S ie liefern Brennstoff für Atomkraftwerke in aller Welt und dürfen nach derzeitiger Gesetzeslage weiterlaufen bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag: die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau und die Brennelementefabrik im niedersächsischen Lingen. Offiziell hat Deutschland den Atomausstieg beschlossen, aber nach dem Abschalten des letzten Reaktors dürfen diese beiden Uranfabriken immer noch produzieren, sie besitzen eine unbefristete Betriebsgenehmigung. Doch das könnte sich bald ändern. Die rot-grünen Landesregierungen in Hannover und Düsseldorf machen Druck, und Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) zeigt sich offen für eine Diskussion über eine Schließung der Anlage in Gronau. Bisher wurden die zwei Uranfabriken von der Politik weitgehend ignoriert. Im rot-grünen Atomausstieg kamen sie nicht vor, der Atomausstieg von Merkel im Jahr 2011 beschränkte sich ebenfalls auf die kommerziellen Reaktoren. Die damalige Empfehlung des Bundesrats, auch die Laufzeit der beiden Uranfabriken zu begrenzen, versickerte schnell im Sande. Und auch die Atomaufsichtsbehörden von NordrheinWestfalen und Niedersachsen kamen den Betreibern Urenco und ANF in den vergangenen Jahren nicht ins Gehege – trotz der kritischen Haltung der Umweltminister. Erst mit den Pannen und den Protesten gegen die Uralt-Reaktoren in Belgien und Frankreich gerieten die beiden deutschen Anlagen wieder stärker in den Blickpunkt von Öffentlichkeit und Politik. So wurde bekannt, dass die Lingener Fabrik das störanfällige AKW im belgischen Doel und französische Risikoreaktoren in Fessenheim und Cattenom mit Brennstäben versorgt. Bereits Ende vergangenen Jahres hatten Atomkraftgegner einen Exportstopp für den Brennstoff gefordert. Dafür gäbe es keine rechtliche Handhabe, hieß es später aus dem Bundesumweltministerium. Dem widerspricht jedoch ein Rechtsgutachten, das die atomkraftkritische Ärzteorganisation IPPNW kürzlich vorgestellt hat. Die „weitere Belieferung der Atomkraftwerke in Doel, Fessenheim und Cattenom mit in Deutschland hergestellten Brennelementen“ sei „nicht nur in hohem Maße widersprüchlich. Sie ist auch mit dem geltenden Recht nicht vereinbar.“ Die Juristin Cornelia Ziehm beruft sich dabei auf den Paragrafen 3 des Atomgesetzes, wonach die Kernbrennstoffe nur dann eine Ausfuhrgenehmigung erhalten dürfen, wenn sie „nicht in einer die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdenden Weise verwendet werden“. Nach derzeitiger Gesetzeslage dürfen die Anlagen ewig weiterlaufen Laut Gutachten dürften die Anlagen in Doel, Fessenheim und Cattenom nach dem deutschen Atomgesetz nicht mehr betrieben werden. Das zuständige Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle müsse daher Brennstabexporte zu diesen Kraftwerken unterbinden und notfalls Genehmigungen widerrufen. Die Aufsicht darüber hat die Bundesumweltministerin. Hendricks hat öfters Sicherheitsbedenken gegenüber den belgischen Reaktoren geäußert, im April sogar die belgische Regierung gebeten, zwei Blöcke „bis zur Klärung offener Sicherheitsfragen“ herunterzufahren. Trotzdem hat das Ausfuhramt im Frühjahr neue Exportgenehmigungen erteilt. Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen ist alarmiert. „Mit der Lieferung ermöglicht Hendricks den Weiterbetrieb eines Reaktorkomplexes, den sie selbst öffentlich kritisiert. Sie muss das Bundesamt schnellstens anweisen, diese Genehmigung zu widerrufen.“ Auf Dauer, so seine Einschätzung, werde Hendricks ihr widersprüchliches Handeln nicht aufrechterhalten können. Es gibt Zeichen der Hoffnung: Im Juni hatten die Umweltminister der Länder gefordert, die Uranfabriken in den Atomausstieg einzubeziehen, worauf Hendricks zunächst ablehnend reagierte. Vor kurzem jedoch zeigte sie in einem Brief an Nordrhein-Westfalens Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) ihre Bereitschaft, über eine Schließung der Urananreicherungsanlage Gronau zu verhandeln. Vielleicht klappt es eines Tages doch noch mit dem vollständigen Atomausstieg. " & $%# ! $ &%(!'")'+&'(.&(''!'(*##&)#&$(& *##'(+('($&( $#&"& #'## # ('#()"&$*&"&& ($&"&(( &)#'$#&#*&*!%!&!#'(+(##& (&!# '#'!!'(('%!#*''/&)()#&-!( ,(#,)##,0, 06 Wochenthema der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Wochenthema 07 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Sie sehen ja übel aus! Wie die Pharmaindustrie Krankheiten erfindet, um Milliarden zu verdienen „Wir müssen uns von Suggestionen befreien“ Erst Ängste schüren, dann abkassieren Medizin Gisela Schott über Medizin und Marketing Gesundheit Pharmakonzerne und Ärzte geben sich alle Mühe, neue Krankheitsbilder zu kreieren. Der Selbstoptimierungsdruck macht etliche Menschen zu willigen Patienten E in schon etwas älteres Paar sitzt zusammen im Bett. Auf dem Nachttisch des Mannes liegt gut sichtbar Viagra, auf dem der Frau eine Packung Addyi. „Wie lange wirkt denn deine?“, fragt der verunsicherte Mann seine Partnerin. Diese Cartoon-Szene nimmt die vergangenes Jahr von der amerikanischen Gesundheitsaufsicht FDA zugelassene Potenzpille Addyi auf die Schippe, die abflauender weiblicher Lust auf die Sprünge helfen soll. Auch auf dem Gebiet des pharmakologisch erzeugten Sex ist jetzt Gleichberechtigung angesagt: Flibanserin, eigentlich ein Mittel gegen Depression, ist im Gegensatz zu Viagra nicht blau, sondern rosa und greift in den Stoffwechsel des weiblichen Gehirns ein. Es wird nun, nachdem Boehringer Ingelheim das Handtuch geworfen hat, von einem amerikanischen Konzern großflächig vermarktet. Even the Score, eine US-amerikanische Organisation, in der auch Feministinnen aktiv sind, feierte die Zulassung tatsächlich überschwänglich als Akt der Gleichberechtigung – obwohl die Pille nicht mehr verspricht als gerade einmal mehr genussvollen Sex im Monat. Die Gruppe wurde als Patientenorganisation übrigens vom Hersteller Sprout unterstützt. Wechseljahre der Männer „Sexuelle Dysfunktion“ bei der Frau ist eine inzwischen zur Krankheit erhobene Störung. Kriterien, die diese genauer definieren, gibt es zwar nicht, dennoch liefert die „Krankheit“ den Stoff für zahlreiche Vorträge und Artikel. Gesponsert werden solche Kampagnen von Pharmaunternehmen mit dem Ziel, medikamentös zu intervenieren, wie bei der „erektilen Dysfunktion des Mannes“. Dass es sich oft nur um einen psychologisch oder sozial grundierten Mangel an sexuellem Verlangen handelt, interessiert die Campaigner nicht. Wo Unbehagen ist, soll Krankheit werden – so das Motto. Und für alle gibt es Abhilfe – so das Versprechen. Wo Frauen jahrzehntelang mit Hormonersatztherapien angeblich über die Wechseljahre gebracht wurden oder ihnen routinemäßig die dann „unnütze“ Gebärmutter entfernt wurde, dürfen Männer nun nicht mehr nachstehen. Die „Wechseljahre des Mannes“, eigentlich ein Karnevalsschlager, sind in den Olymp des Behandlungswürdigen aufgerückt: Männer sind mürrisch, schlafen schlecht, und wenn sie wollen, können sie nicht. HSDD (Hypoactive Sexual Desire Disorder), also sexuelles Desinteresse, gilt inzwischen ebenfalls als behandlungsbedürftig. „Haben Sie zu wenig Energie?“, werden Männer in Zeitungsanzeigen zum Selbst-Test animiert. „Sind Sie traurig? Empfinden Sie Ihre Erektion als zu gering?“ Zehn Fragen nur, und Mann weiß, wie es um sein Lustlevel bestellt ist. Bei drei JaAntworten wird ihm geraten, den Arzt aufzusuchen, um den Testosteronspiegel abklären zu lassen und das Männlichkeitshormon gegebenenfalls zu substituieren. Mangelnde Lust? Depressive Verstimmung? Gar ein Burn-out? Unruhige Beine? Motivationsmangel, Aufmerksamkeitsstörung, Haarausfall oder Faltenbildung? Der Katalog von Befindlichkeitsstörungen und Alterungserscheinungen ist lang. Und wo Gott oder das Schicksal im Leben der Menschen kein Regiment mehr führt und jede Normabweichung Ängste auslöst, springen die Machbarkeitspriester gern ein, auch dort, wo eigentlich gar nichts ist. „Disease Mongering“ nannte die Journalistin Lynn Payer schon 1992 dieses Phänomen, was sich ins Deutsche nicht wirk- lich gut übersetzen lässt. Gemeint ist eine Kombination aus dem Erfinden von Krankheiten und dem Vermarkten. Oder, wie es Gisela Schott nennt (siehe Interview), der Handel mit Krankheiten („selling sickness“). Wie bei jedem anderen industriellen Produkt wird zunächst ein neuer Markt mit neuen Abnehmern erzeugt. Akteure sind neben der Pharmaindustrie Ärzte und Angehörige von Gesundheitsberufen, aber auch sogenannte Multiplikatoren wie Lehrer oder Journalisten, die entweder in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt oder damit befasst sind, Geschichten über angebliche Krankheitsbedrohungen zu verbreiten. Beim Disease Mongering werde Krankheit zu einem Industrieprodukt, erklärte der Medizinjournalist Jörg Blech vergangenes Jahr bei einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrats. Zunächst werde Werbung für eine neue Krankheit gemacht – dann für das sie bekämpfende Medizinprodukt. Auf dem explodierenden Gesundheitsmarkt treffen viele unterschiedliche ökonomische Interessen zusammen, die alle um die vorhandenen Ressourcen buhlen. Andererseits sind auch die „mündigen Patienten“ als Aufmerksamkeitslenker an Viele Mädchen nehmen die Pille nicht zur Verhütung, sondern für bessere Haut diesem Prozess beteiligt. Akribisch beobachten viele heute sich selbst, machen sich Sorgen über völlig normale Lebensprozesse und nehmen dankbar jedes Angebot wahr, um auf mutmaßliche Risiken zu reagieren. Damit tragen sie, meist unbewusst, kräftig zur Medikalisierung des Alltags bei. Interessanterweise setzt das Geschäft mit realen oder erfundenen Krankheiten – nicht nur im oben vorgestellten Zusammenhang des „Sex sells“ – vor allem an geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen und Gesundheitsbedürfnissen an. Männer erscheinen auf dem Gesundheitsmarkt bis heute als körperliche Leistungsträger, deren Vitalkraft erhalten oder deren Potenz optimiert werden muss. Frauen indes kämpfen dort gegen Störungen und Defizite: Sie sind unruhig und unkonzentriert, müssen sich zuerst mit dem prämenstru- ellen Syndrom herumschlagen und später dann mit Osteoporose und äußerlichen Zeichen des Alterns. Bis heute gilt, dass Männer zu größerem Risikoverhalten – Alkoholkonsum, Rauchen, zu schnelles Autofahren – neigen, während Frauen sicherheitsorientierter leben und aus ihren zwischenmenschlichen Beziehungen gesundheitliche Vorteile ziehen. Beiden Geschlechtern gemeinsam ist aber, dass sie mittlerweile die Verantwortung für ihre Gesundheit als persönlichen Auftrag übernommen haben, als Agenten ihres Wohlbefindens. Diffuse Diagnosen Die Pharmaindustrie, aber auch andere Gesundheitsanbieter kalkulieren mit der Angst und dem Sicherheitsbedürfnis, insbesondere auf dem zweiten Gesundheitsmarkt, auf dem Arzneimittel frei verkauft, individuelle Gesundheitsleistungen angeboten oder etwa Schönheitsoperationen durchgeführt werden. Und auf dem überhaupt jede Form von Wellness und Befindlichkeitsverbesserung abrufbar ist. Rund ein Viertel der 315 Milliarden Euro Gesamtausgaben für Gesundheit entfällt allein in Deutschland schon auf dieses Segment. Sicherheit versprach einst bei ihrer Einführung auch die Verhütungspille. Hier trafen der Wunsch nach Geburtenkontrolle und Pharmainteressen (im Westen) und medizinischer Paternalismus (im Osten) aufeinander. Heute stehen über 50 entsprechende Präparate zur Verfügung, und der Markt ist hart umkämpft. Deshalb war die Pharmaindustrie daran interessiert, immer neue Indikationen für die Pille zu lancieren. Sie garantiere eine schöne glatte Haut, hieß es zunächst, und sei daher auch gegen Akne einzusetzen. Seit den 80er Jahren hat die Pille sich als Lifestyle-Medikament etabliert. Schering warb mit schönen jungen Frauen für Femovan, Bayer damit, dass sich Kopfschmerzen oder Gereiztheit nach der Einnahme von Yasmin (in den USA unter dem Handelsnamen Yaz verkauft) „in Luft auflösen“ würde. Noch bis vor kurzem operierten viele Unternehmen mit aggressiven zielgruppenorientierten Bildern: Demnach versprach die Pille die Vermeidung der Regelblutung, ein Anwachsen der Brust und Schlankheit. Da Medikamentenwerbung in Deutschland untersagt ist, dient die Rede über eine angebliche Störung – oder eben: Krankheit – als Transmissionsriemen, um ein Produkt zu platzieren. Im Vordergrund stehen dann immer seine Vorteile, während die gesundheitlichen Risiken durch bestimmte Wirkstoffe oder Wirkstoffkombinationen (bei der Antibabyille etwa Drospirenon) verschwiegen oder heruntergespielt werden. Für die von der Pharmain- M O N TA G E : D E R F R E I TA G , M AT E R I A L : I S T O C K P H O T O, G E T T Y I M A G E S ; P O R T R ÄT : R E I N E R Z E N S E N / D E U T S C H E R E T H I K R AT ( R E C H T S ) QUlrike Baureithel dustrie forcierte Anwendungsausweitung spricht, dass heute 79 Prozent aller 14- bis 17-jährigen Mädchen die Pille „prophylaktisch“ konsumieren – nicht als Verhütungsmittel, sondern wegen ihrer vermeintlich positiven Nebenwirkungen. Eine andere Methode, den Absatzmarkt für Arzneimittel zu vergrößern, ist die Verschiebung von Grenzwerten, etwa bei Blut- Historie der Fake-Medizin Modekrankheiten sind kein neues Phänomen. Doch in der frühen Neuzeit, sagt der Medizinhistoriker Michael Stollberg, waren sie zunächst auf die Ärzteschaft beschränkt, die beispielsweise glaubte, dass Skorbut auf den übermäßigen Konsum von Schwarzbrot zurückzuführen sei. Zu einer „Modekrankheit“ wird ein Krankheitsphänomen jedoch erst, wenn es breitere Schichten erreicht. Galt etwa Leibesfülle im 18. Jahrhundert noch als Zeichen des Wohlstands und der männlichen Würde, kamen im 19. Jahrhundert neue Schönheitsideale auf und mit ihnen ärztliche Aufklärungsschriften, in denen den Betroffenen etwa Diäten angedient wurden. Modekrankheiten zeigen die zeitgenössischen Vorstellungen vom Körper, sie sind aber oft auch Seismograf für das Verhältnis der Geschlechter. Gut erforscht ist etwa die sogenannte „weibliche Hysterie“. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Tausende von Frauen in die neu eingerichteten Nervenheilanstalten eingewiesen, doch es konnten keine organischen Ursachen für das Übel ausgemacht werden. „Die Hysterie ist eine organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes“, folgerte Otto Weininger 1903 in seiner misogynen Schrift Geschlecht und Charakter. Nervenleiden gehörten zu den wirkmächtigsten Modekrankheiten, blieben die aber nicht nur auf Frauen beschränkt. Das frühe 20. Jahrhundert etwa brachte ein Phänomen hervor, das insbesondere sensible Männer in Mitleidenschaft zog – die Neurasthenie, die mit den neu entwickelten Nervenstärkungsmitteln bekämpft wurde. Die „empfindlichen Nerven“ fungierten aber auch als soziales Distinktionsmerkmal, das die betroffenen Männer von der Masse abhob. uba zucker oder Bluthochdruck. Bis 1980 galt beispielsweise noch ein Blutzuckergrenzwert von 144 Milligramm pro Deziliter Blut, der zuerst auf 140, dann auf den heute geltenden Wert von 126 gesenkt wurde. Ähnliches lässt sich für den „schlechten“ Cholesterinwert LDL beobachten, der von ursprünglich 260 auf 200 sank. Und beim Bluthochdruck ist es das Gleiche: In den 80ern lag der kritische Wert noch bei 160/100. Heute, kaum 30 Jahre später, gehört man schon mit einem oberen Wert von 120 zu den Prähypertonikern und damit zu einer Risikogruppe. Mit jeder Grenzwertverschiebung nach unten erweitert sich der Absatz für Cholesterinhemmer, Blutdrucksenker und andere Medikamente. Über fünf Millionen Menschen werden alleine in Deutschland mit Lipidsenkern behandelt, oft bei einer diffusen Diagnose. Therapie gegen „Kein Bock“ Dabei stricken nicht nur Pharmaunternehmen und Anbieter medizinischer Produkte an dieser gewinnbringenden RisikoAgenda mit, sondern auch Ärzte, die Grenzwerte bestimmen und Krankheitsleitlinien festlegen. Die neuen Präventionspolitiken zielen nicht nur auf die Gesamterfassung und Überwachung, sondern auch auf die Erziehung zur konstanten Selbstbeobachtung und Selbst- steuerung. Risikopopulationen werden so künstlich erzeugt. Ein Beispiel für das Zusammenspiel von Präventionsfuror und der Kommerzialisierung des ärztlichen Arbeitsfeldes sind die sogenannten individualisierten Gesundheitsleistungen, kurz IGeL. Es handelt sich nicht um Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkassen, sondern sie werden in den Arztpraxen selbstständig vermarktet. Das führt von Vorsorgeuntersuchungen über fortpflanzungsmedizinische Angebote bis hin zu Anti-Aging-Maßnahmen. Seit 2012 existiert der sogenannte IGeLMonitor, ein Internetportal der Krankenkassen, das, so der Selbstanspruch, eine neutrale und wissenschaftlich unabhängige Bewertung der Leistungen vornimmt und von regelmäßigen Umfragen der AOK ergänzt wird. Der Monitor belegt, dass viele IGe-Leistungen völlig überflüssig, teilweise sogar schädlich sind. So wurde etwa der Nutzen des ergänzenden Ultraschalls während der Schwangerschaft kürzlich als „unklar“ deklariert, die Glaukom-Untersuchung (Innendruckmessung des Auges) kann sogar negative Folgen haben. Eine Umfrage im Auftrag der TechnikerKrankenkasse belegt, dass die Hälfte aller Deutschen den Nutzen der IGe-Leistungen bezweifelt und sich nicht ausreichend informiert fühlt. Dennoch wurde 82 Prozent aller Versicherten nach dem eben veröf- Bei Cholesterin, bei Zucker oder Blutdruck legt man die Maximalwerte eben neu fest fentlichten Monitor schon einmal eine IGeLeistung angeboten, über die Hälfte von ihnen nahm diese auch in Anspruch, wobei Besserverdienende und Frauen die bevorzugten Adressatinnen sind. Mit einem Drittel sind Frauenärzte die Medizinergruppe, die am meisten „igelt“. Inzwischen gibt es Ratgeber für erfolgreiches „Igeln“, dieses Marktsegment bringt den Ärzten inzwischen über eine Milliarde Euro ein. Ohne Angebot keine Nachfrage. Aber fürs Geschäft braucht es eben auch die Patienten, die im Dienst des Gottes Gesundheit nur zu gern nach jedem Strohhalm greifen und nichts ungetan lassen wollen, ihr Selbst zu verbessern. Kenntnisse, Energie und Selbstbewusstsein sind vonnöten, um gerade in vulnerablen Lebenslagen – wenn man krank ist, schwanger oder ausgebrannt – den verlockenden Angeboten des Gesundheitsmarktes Widerstand entgegenzusetzen. Das gilt insbesondere in der Konfrontation mit Ärzten, die als Experten die Wissenshoheit haben. Es war Ivan Illich, ein beharrlicher Kritiker des Medizinsystems, der schon in den 70er Jahren auf das Phänomen des Disease Mongering aufmerksam gemacht hat – damals vor allem im Hinblick auf die umfassende Psychiatrisierung von Menschen. Von kindlichen Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS, die heute flächendeckend und mit fragwürdigem Nutzen mit Ritalin behandelt werden, wusste er noch so wenig wie von dem neuen Krankheitssyndrom namens „Attention and Motivation Deficit Disorder“, eine Art „Kein Bock mehr“-Epidemie, die gerade in Australien die Runde macht und von pfiffigen Journalisten und Ärzten entsprechend vermarktet wird. Doch Illich hatte einen klaren Blick für die Folgen der Medikalisierung, nämlich für die ressourcenfressenden und irreparablen Schäden, die die industrielle Herstellung von Gesundheit verursacht. Er sei kein Krankenpfleger, schrieb er in einem späteren Nachwort zu seinem erstmals 1981 erschienenen Buch Nemesis der Medizin, sondern ein Experte für die Geschichte der Freundschaft und die Kunst des Leidens. Das ist in der heutigen Gesundheitsgesellschaft allerdings verloren gegangen. der Freitag: Frau Schott, ich fühlte mich total antriebslos heute Morgen. Könnte das das Symptom einer Krankheit sein? Gisela Schott: Sicher gibt es Personen, die Ihnen sagen, das könnte ein Krankheitssymptom sein, und Ihnen vorschlagen: „Füllen Sie mal unseren Fragebogen aus!“ Wenn Sie ein Mann wären, würden Fragen kommen wie Müdigkeit, Antriebslosigkeit, Muskelschwäche und dergleichen. Wenn man die Ergebnisse dann zusammenfasste, würden Sie vielleicht zu einem Arzt überwiesen werden. Der könnte dann, wenn er entsprechend angeleitet ist, auf die Idee kommen, es könnte ein Testosteronmangel vorliegen, und das entsprechend therapieren. Gibt es dafür noch andere Beispiele? Ein typisches Beispiel wäre das Burn-out-Syndrom, das keine Krankheit darstellt, sondern lediglich eine Ansammlung von Symptomen, so dass ihm in der Klassifikation von Krankheiten auch kein eigenständiger Diagnoseschlüssel zugewiesen wurde. „Manchmal gibt es keine Symptome für eine Krankheit“ Eine weitere angebliche Krankheit ist die hypoaktive Sexualfunktionsstörung der Frau, zu deren Behandlung in den USA kürzlich ein Arzneimittel zugelassen wurde – kaum wirksam, aber mit hohem Nebenwirkungspotenzial. Wir haben es also nicht mehr wie bei Molière mit Menschen zu tun, die sich Krankheiten einbilden, sondern denen sie eingeredet werden? Ja, wobei man aber festhalten muss, dass auch die Patienten selbst einen Beitrag dazu leisten. Es ist ein Geflecht, aber niemand wird dazu gezwungen. Es ist an uns, uns von dem zu distanzieren, was uns von pharmazeutischen Unternehmen suggeriert wird. Und die verfolgen Geschäftsinteressen? Natürlich sind es die pharmazeutischen Unternehmen und andere Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt wie Ärzte, Therapeuten oder Hersteller von Medizinprodukten, die für ihre Präparate oder medizinischen Angebote werben. Dabei weichen sie den Krankheitsbegriff immer mehr auf. Das, was früher normal war, wird dann zur Krankheit. Sie verwenden den Begriff „Disease Mongering“ statt „Modekrankheiten“. Warum ziehen Sie den vor? „Disease Mongering“ bedeutet Handel mit Krankheiten. Der ökonomische Aspekt ist für mich zentral. Dagegen transportiert der Begriff Gisela Schott ist Internistin und Fachreferentin bei der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in Berlin „Modekrankheiten“ die Dimension des Wirtschaftens mit Krankheiten überhaupt nicht. Sie haben den Testosteronmangel angesprochen, die sogenannten männlichen Wechseljahre. Auf welche Weise wird ein Symptom überhaupt zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit? In manchen Fällen wird der Eindruck erweckt, dass seltene Erscheinungen häufig vorkommen. Das gilt für ADHS, beim sogenannten Aufmerksamkeitsdefizit bei Kindern. Sicher gibt es Kinder, auf die diese Diagnose zutrifft, aber nicht alle Kinder, die unruhig sind, haben ADHS. Es gibt jedoch ein Interesse daran, die Fallzahlen auszuweiten, um entsprechende Medikamente abzusetzen. Und es gibt die Fälle, die schlicht zum Älterwerden gehören, zum Beispiel Orangenhaut an den Oberschenkeln, Haarausfall bei Männern … Sicher, das sind die ganz normalen Prozesse des Lebens, die zur Krankheit erklärt werden. Zum anderen werden auch leichte Symptome zu Vorboten einer schweren Erkrankung aufgebauscht, wie bei den sogenannten restless legs. Eine weitere Strategie der Krankheitserfindung ist, persönliche Eigenheiten oder soziale Phobien medizinisch umzumünzen. Schüchternheit wird zur Krankheit erklärt oder Angst vor Spinnen. Und es werden auch normale Risiken teils als Krankheit verkauft. Ja, wie etwa bei Osteoporose. Natürlich kann Osteoporose Frakturen begünstigen, sie aber mittels eines Arzneimittels verhindern zu wollen, statt etwa durch Bewegung, kann in den Bereich von Disease Mongering gehören. Warum sind wir so anfällig dafür? Manchmal gibt es ja nicht einmal Symptome für eine angebliche Krankheit. Patienten werden zu Kranken gemacht, bevor sie selbst überhaupt etwas davon bemerken, bei Prädiabetes beispielsweise oder Prähypertonie. Es wird mit Ängsten gearbeitet, die Angst vor Glatzenbildung etwa oder die Angst vor Schwäche. Das passt zu einem Menschenbild, das an Selbstoptimierung orientiert ist. Die Menschen haben schon im Vorfeld Angst, nicht mehr gesund genug zu sein, nicht mehr mitzukommen. Aber auch Untersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten können Menschen so stark belasten, dass der negative Effekt überwiegt. Das ist das Problem vieler Früherkennungsprogramme. Es geht bei der Erfindung von Krankheiten aber auch um die Neubestimmung von Grenzwerten. Wir haben das bei Cholesterin erlebt, bei den Werten für Diabetes, nun Testosteron. Gibt es überhaupt so etwas wie objektive Grenzwerte? Im Fall von Testosteron gibt es keine altersspezifischen Grenzwerte. Man kann also nicht sagen, mit einem bestimmten Alter muss der männliche Hormonspiegel soundso hoch sein, sonst ist es pathologisch. Beunruhigender ist, dass bei Untersuchungen in den USA deutlich wurde, dass der Testosteronspiegel bei vielen Männern vor Beginn der Therapie gar nicht überprüft wurde, sondern das Hormon ohne vorherige Laboruntersuchung gegeben wurde. Und in einer neueren Veröffentlichung wurden die Ergebnisse zu möglichen Risiken der Therapie, darunter auch bei Prostatakrebs, gar nicht dargestellt. Grenzwerte definieren unsere Vorstellung von Normalität und Abweichung? Genau. Und viele Grenzwerte haben sich im Lauf der Zeit verändert. Einige müssen auch für jeden Patienten individuell festgelegt werden, weil nicht der einzelne Wert, sondern die Risikokonstellation insgesamt entscheidend ist, zum Beispiel beim Blutzucker oder beim Blutdruck. Aber es ist eben ganz schwer, den „richtigen“ Grenzwert zu bestimmen. Wer bestimmt die Grenzwerte überhaupt? Grenzwerte und therapeutische Leitlinien werden von Kommissionen festgelegt, in denen auch Ärzte sitzen, die Verbindungen zu pharmazeutischen Unternehmen haben. Was muss getan werden? Wie gesagt, sehe ich zunächst jeden Einzelnen aufgerufen. Wir müssen lernen, uns im Bereich Gesundheit unabhängige Informationen zu verschaffen, so wie wir uns vor dem Kauf einer Kamera bei der Stiftung Warentest informieren. Zur Gesundheit hält das „Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ ein gutes Angebot bereit oder die Zeitschrift Gute Pillen – Schlechte Pillen. Und darüber hinaus? Es geht nicht an, dass Ärzte, die enge Verbindungen zur Pharmaindustrie unterhalten, in Kommissionen sitzen, in denen Krankheiten definiert, Grenzwerte festgelegt oder die TherapieLeitlinien erarbeitet werden. In größerem Maßstab geht es aber auch um die klinische Arzneimittelforschung in Deutschland. Solange diese fast ausschließlich von der pharmazeutischen Industrie finanziert wird, wird man verzerrte Informationen erhalten. Das Gespräch führte Ulrike Baureithel 08 Politik der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Am Ende bleibt Gottvertrauen Syrien Mit der Schlacht um die Großstadt Aleppo nähert sich der Bürgerkrieg nun womöglich einem unwiderruflichen Finale wieder zu entreißen. Vorstellungen der USRegierung, die türkische Armee als Bodentruppe gegen den IS im Osten Syriens einzuplanen, wirken auf Recep Tayyip Erdoğan wenig beflügelnd, solange er die kurdische Autonomiebewegung in Nordsyrien für einen Handlanger der PKK hält. In der Konsequenz heißt das: Präsident Assad ist außer Gefahr, auch wenn er noch nicht gewonnen hat. Falls die Opposition unter diesen Umständen weiter Einfluss auf die Nachkriegsordnung nehmen will, müsste sie das jetzt tun durch flexibles und konstruktives Verhandeln in Genf. Je klarer die militärischen Erfolge der Regierung, je raumgreifender der Terraingewinn, desto mehr werden die Assad-Gegner an diplomatischem Spielraum verlieren, aller Protektion des Westens zum Trotz. Immerhin wären mit einer vollständigen Rückeroberung Aleppos die Hauptverkehrsrouten von der türkischen bis zur jordanischen Grenze wieder in der Hand des Baath-Regimes (im Küstenstreifen und im angrenzenden Alawitengebirge gilt das ohnehin). Damit bietet sich ein ausreichender strategischer Rückhalt, um in einem nächsten Schritt gegen Raqqa zu drängen, die Hauptstadt des IS in Syrien. Für den Syrischen Nationalrat, den im Exil beheimateten, zerstrittenen und kaum handlungsfähigen Dachverband der Opposition, ist in dieser Phase des Bürgerkrieges kein Triumph mehr denkbar. Zwar hatten Assads Verbündete, Iran und Hisbollah, die Positionen des Anti-Assad-Lagers schon seit längerem geschwächt, doch hielt sich dort bis zur Schlacht um Aleppo die Überzeugung: Sollte man den Krieg nicht für sich entscheiden können, gelte immerhin das Gleiche für Präsident Assad, der über ein Patt nicht hinauskommen werde. Dieses Lagebild lässt sich kaum mehr aufrechterhalten. QMartin Chulov V F O T O : A N WA R A M R O /A F P/ G E T T Y I M A G E S ier Wochen nachdem Mitte März 2011 der Aufstand in Syrien begonnen hatte, reiste Walid Dschumblat, das Oberhaupt der libanesischen Drusen, nach Damaskus. Er wollte dort Mohammed Nasif treffen, seinerzeit Chef des Nationalen Sicherheitsrates. Der war nicht nur einer der Amtsträger, dem die AssadFamilie das größte Vertrauen entgegenbrachte, sondern auch der wichtigste Mittler für die Kontakte seines Landes zum Iran und zur Hisbollah – ein Mann, dessen Schicksal eng mit dem des Regimes verwoben war. „Damals sagte Nasif zu mir: ‚Entweder wir‘ – gemeint war das Volk der Alawiten, aus dem seit der Unabhängigkeit von 1946 die Elite des Staates kam – ‚oder sie‘, die Sunniten“, erinnert Dschumblat diese Begegnung. „Danach wusste ich, welche Richtung das Ganze nehmen würde, selbst wenn es eine Million Tote kostet.“ Über fünf Jahre später hat der Bürgerkrieg Schätzungen zufolge mehr als ein Viertel dieser Zahl an Toten gefordert, über 250.000 Menschen. Das Sterben hat Ausmaße erreicht, dass die UN-Beobachter im August 2015 aufgehört haben, die Opfer zu zählen. Die konfessionelle Dimension des Konflikts, wie sie Nasif angedeutet hat, ist ebenso bittere Realität wie die Zerstörung urbaner und ökonomischer Infrastruktur, einschließlich der Altstadt Aleppos. Die Metropole im Nordwesten, der eine entscheidende Rolle für den Kriegsverlauf und das Schicksal Syriens zukommt, wurde den gesamten Monat Juli über zu großen Teilen von einer Allianz aus syrischer Regierungsarmee, russischer Luftwaffe und Hisbollah von islamistischen Rebellen zurückerobert. Letzte Hoffnungen Mit der Einkreisung der östlichen Viertel scheint der Wendepunkt eines Krieges eingetreten, der so nachhaltige internationale Auswirkungen hatte und so ungewöhnliche Koalitionen hervorbrachte wie kaum ein anderer in der jüngeren Geschichte Arabiens. Eines dieser Bündnisse ergab sich, als Milizionäre der Hisbollah und die Assad-Armee Anfang Juli die – zu diesem Zeitpunkt noch – mit al-Qaida verbundene Dschabhat al-Nusra aus deren Stellungen im Norden Aleppos vertrieben. Während die Schlacht tobte, verhandelten die USA mit Russland über eine gemeinsame Einsatzzentrale für Angriffe auf die AlNusra-Front und den Islamischen Staat „Hier geht es nicht um Politik, nur noch um Leben und Tod“, sagt Abu Sobhi Drusenführer Walid Dschumblat bei einem Friedensmeeting in Beirut (IS). Das gefundene Agreement führte dazu, dass in der Opposition letzte Hoffnungsfunken verglühten. Es ist das stille Einvernehmen zwischen Moskau und Washington, das Baschar al-Assad, den Russland und der Iran vor einem Jahr davor bewahrt haben, am Ende seiner Kräfte zu sein, weiter stärkt. Das Ungemach des Anti-Assad-Lagers wird komplettiert durch die Wiederannäherung zwischen Moskau und Ankara, von dem das Petersburger Treffen der Präsidenten Erdoğan und Putin in dieser Woche Zeugnis ablegte. Zuvor hatte Premier Binali Yıldırım erklärt, in Ankara sei man an einem Frieden mit Damaskus interessiert. Obwohl die Türkei Gegner Assads wie Ahrar al-Scham, die Islamische Bewegung der freien Männer in der Levante, weiter unterstützt, konzentriert sich Ankara darauf, syrischen Kurden-Milizen die Kontrolle von Teilen der türkisch-syrischen Grenze „Ich sitze hier in einem zerstörten Haus im Osten von Aleppo“, sagt Abu Sobhi Dschumail, der seit fünf Jahren auf Seiten der Opposition kämpft. „Ich sehe russische Jets am Himmel, gelegentlich auch syrische Luftwaffe. Östlich von mir liegen ein paar Stellungen des Islamischen Staates, bedrängt von der Hisbollah, dazwischen halten sich Verbände der Dschabhat al-Nusra. Aber die lässt uns im Stich und verbreitet die Parole, wir sollten auf Gott vertrauen. Wenn wir sie um Hilfe bitten, schicken sie uns zum Teufel. Aber ohne deren Kämpfer wären wir schon vor einem Jahr geschlagen worden. Hier geht es nicht mehr um Politik – nur noch um Leben und Tod.“ Wie der Schilderung zu entnehmen ist, bleibt allein eine islamistische Guerilla übrig, die in Aleppo ihr mutmaßlich letztes Gefecht zum Schaden von einer viertelmillion Zivilisten führt. Denen ist es allein wegen des ständigen Beschusses verwehrt, Fluchtkorridore zu erreichen, die von der Regierungsarmee auf russischen Druck hin eingerichtet wurden. Resigniert stellt Abu Sobhi fest, es gäbe im Westen kein wirkliches Interesse mehr, den aushaltenden Rebellen beizustehen. „Alle wollen nur noch, dass es endlich aufhört. Aber ihr werdet für das gerichtet werden, was in Syrien geschieht, auch wenn ich das nicht mehr erleben werde.“ „Wir sind in Aleppo verloren“, sagt auch Suleiman Aboud, der mit seiner Familie aus den von islamistischen Rebellen gehaltenen Vierteln im Osten geflohen ist. „Als Nächstes kommt die Rache der Sieger. Die Revolution gegen Assad war ehrenhaft, vielleicht nicht immer völlig demokratisch, aber die Menschen hatten ein Recht, sich gegen die Unterdrückung aufzulehnen. Und sie haben ein ebensolches Recht auf Sicherheit und Freiheit wie alle anderen arabischen Völker. Im Moment aber leidet die Bevölkerung dieser Stadt gewaltig …“ Amerikas Dilemma Vermutungen, wie lange die Schlacht um Aleppo noch dauert, gehen weit auseinander. Vielleicht noch Monate, falls die Regierungsarmee Verluste vermeiden und die Rebellen schlichtweg aushungern will. Möglicherweise ist dann aber die Gunst der Stunde verstrichen, wie sie Präsident Assad jetzt auskosten kann, weil der Westen zu pragmatischen Deals mit Russland neigt, auch wenn Barack Obama resolute Erklärungen gegen dessen Luftoperationen abgibt. Verhindern kann er sie nicht, fürchten muss er sie jedoch wegen der politischen Reaktionen im eigenen Land wie bei den Verbündeten Saudi-Arabien und Israel. Riad müsste bei all seinem Syrien-Engagement der vergangenen Jahre einen peinlichen Prestigeverlust verkraften, sollte es sich an Assad und seinem säkularen Regime verhoben haben. Die Regierung von Benjamin Netanjahu wiederum hält den IS für das kleinere Übel, verglichen mit einem Überleben des Baath-Staates, der beim Streit um die seit 1981 annektierten Golan-Höhen zu keinerlei Konzessionen neigen dürfte. Die Formel in Jerusalem lautet: Übersteht Assad den Bürgerkrieg, stärkt das den Iran und damit den ärgsten Feind der Israelis, das dürfen die USA nicht zulassen. Martin Chulov ist einer der Nahost-Kolumnisten des Guardian Übersetzung: Holger Hutt Schussfahrt eines Showmans USA Donald Trump wird von den eigenen Leuten zum Sicherheitsrisiko erklärt. Er führt einen Wahlkampf ohne Hausmacht QKonrad Ege D er Aspirant lässt wissen, es sei bestens bestellt um seinen Wahlkampf. US-Medien dagegen sprechen von einer drohenden Kernschmelze, 50 teils hochrangige ehemalige Sicherheitsberater der Republikaner – manche saßen am Tisch von Präsident George W. Bush – erklären Anfang der Woche den Kandidaten in einem gemeinsamen Brief zum nationalen Sicherheitsrisiko. Ihm fehlten Charakter, Werte und Erfahrung für das höchste Staatsamt der USA. Zugleich beißen sich „Experten“ an der Bewertung des Celebrity-Showmans die Zähne aus, denn es geht wirklich nicht normal zu. Der Mann legt sich mit den Eltern eines gefallenen US-Soldaten an, mit der Führung seiner Partei und mit großen Geldgebern. Und er stellt Ignoranz zur Schau. Immer mehr republikanische Politiker gehen auf Distanz, was zu demokratischer Schadenfreude und zu Medienkommentaren über Panik in der Partei führt. Viele von Trumps Anhängern aber sind be- geistert von einem Bewerber, der wenig Rücksicht nimmt auf die üblichen Gepflogenheiten. Sie hätten nicht viel gebracht in der Vergangenheit. Am Wochenende jubelten Fans in New Hampshire, als Trump versicherte, er werde die Mauer an der Grenze zu Mexiko höher als geplant bauen. Dennoch fallen die Umfragewerte ziemlich drastisch, was drei Monate vor der Wahl Besorgnis erregt. Zahlen anderer Art sind ermutigender, die zu den Spendeneinnahmen vom Juli etwa. Trump und die Republikanische Partei erhielten in diesem Monat gut 80 Millionen Dollar, das meiste als kleine Gabe. Trump habe möglicherweise das Potenzial, „als erster republikanischer Präsidentschaftskandidat seinen Wahlkampf hauptsächlich mit Kleinspenden zu finanzieren“, vermerkte die New York Times. Hillary Clintons Wahlmanager Robby Mook warnte, dieser Ertrag müsse ein Wachruf sein für die Demokraten, auch wenn Clinton im Juli 90 Millionen Dollar einnahm. Trump kämpft gegen die „verlogene Hillary“ wie den „inkompetenten Obama“ und fühlt sich offenbar bestätigt von seinen Geldgebern. Das mit den Kleinspenden passe normalerweise nicht zu den Republikanern, so habe er bei den Vorwahlen 60 Millionen Dollar seines eigenen Geldes ausgegeben, nun liefen Spendenappelle. Hunger nach Bestätigung Trump hat es zur Nominierung gebracht ohne eine Hausmacht. Für die rechtschristlichen Stammwähler der Republikaner ist er eine Notlösung. Die Wall Street bleibt skeptisch, die Handelskammer ebenso, selbst die schwerreichen Gebrüder Charles und David Koch, Energieunternehmer und großzügige Paten vieler rechter Projekte und Politiker, spenden angeblich nicht für Trump. Sie konzentrierten sich stattdessen auf republikanische Bewerber für den Senat und das Repräsentantenhaus. Gelegentlich versucht sich Trump als Staatsmann, wie bei seiner TeleprompterWirtschaftsrede vor Tagen in Detroit, als er ankündigte, Steuern für Unternehmen zu senken, die Wirtschaft zu deregulieren und den Pariser Klimavertrag zu zerreißen. Als seit Jahrzehnten medienerprobte Celebrity packt Trump den Wahlkampf jedoch anders an: Donald Trump spielt Donald Trump, er ist ein Entertainer, der bejubelt werden will und meisterlich auf seine Zuhörer eingeht, sagen die vielen Amateurpsychologen. Er habe einen „infantilen Hunger“ nach Bestätigung. Und zwischendurch spuckt er immer wieder Schockierendes und Hasserfülltes aus, über das dann berichtet wird. Trump macht sich unentbehrlich auf dem Bildschirm mit diesen Ausfällen, nicht nur beim rechten Sender Fox. So freute sich Les Moonves, Chef des Fernsehsenders CBS, zu Beginn der Primaries: Der Wahlkampf sei „wohl nicht gut für Amerika, doch verdammt gut für CBS“. Und: „Weiter so, Donald!“ Umfragen zeigen bekanntermaßen, Trumps größte Fans sind weiße Männer ohne höhere Bildung, Leute aus der Arbeiterschicht, aus dem bedrohten Sektor der Mittelklasse. Weiße, die sich offenbar nicht gewöhnen wollen an ein vielfältiges Amerika. Sie haben genug von den klugen Experten und verstehen sehr wohl, dass sie nicht viel zu melden haben in Politik und Gesellschaft, auch nicht bei den Demokraten. Demografisch geraten diese Schichten zunehmend ins Hintertreffen. Ihnen fehlt eine nationale Perspektive. Und dann kommt ein Heiland namens Donald Trump, der sich beim Parteitag in Szene setzte als „die Stimme der Männer und Frauen, die unser Land vergessen hat“. Er spricht aus der Seele; er sagt, was viele seiner Fans ohnehin denken. Einwanderer sind schuld, die Political Correctness ebenfalls, die Weiße mit „traditionellen Werten“ diskriminiere, selbstredend der erste schwarze Präsident und die erste Frau, die gute Chancen hat, Anfang 2017 ins Weiße Haus einzuziehen. Hillary Clinton bietet als Alternative, mehr oder weniger überzeugend, das Prinzip Gemeinwohl an. Seit ihrer Nominierung orientiert sie sich an der politischen Mitte und hofft, besonders republikanische Frauen würden eher sie wählen als Trump. Der bereitet seine Gefolgschaft indes auf eine mögliche Niederlage vor. Seit Tagen warnt Trump vor Wahlbetrug. Das fühle er. So stimmt das Weltbild. Der Kampf geht weiter. Donald gewinnt, auch wenn er verliert. Die jüngsten Umfragen müssen wohl auch gefälscht sein. Politik 09 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 F O T O : A D A M B E R R Y/A F P/ G E T T Y I M A G E S Der Papst empfing den Präsidenten äußerst reserviert Lässt bisher keine großen Talente erkennen: Mauricio Macri Sicher ist nur seine Unsicherheit Argentinien Präsident Macri folgt einem wirtschaftsliberalen Kurs, ohne wirklich Herr seiner Macht zu sein QMarta Platía U nternehmer müssen die Nähe zur Macht suchen, lautet das Mantra von Franco Macri, Vater des heutigen argentinischen Präsidenten. Und der hat dieses Prinzip perfektioniert. Im Kabinett von Mauricio Macri sitzen nicht Ansprechpartner unternehmerischer Macht, sondern deren Inhaber höchstselbst. Die Ressorts werden fast zur Gänze von ehemaligen Konzernvorständen geführt, die bei Shell, JP Morgan, IBM oder HSBC das Sagen hatten. Damit ist in Argentinien nach der Präsidentenwahl 2015 erstmals eine ultrakonservative Regierung ohne die Hilfe eines Militärputsches an die Macht gelangt. Die Folgen bekommen die Bürger täglich zu spüren: Die Gaspreise etwa sind seit Anfang 2016 um bis zu 2.000 Prozent gestiegen, anders als die Löhne. Zudem rollt eine Entlassungswelle durchs Land und hat bereits 160.000 Arbeitsplätze gekostet. Die Freigabe des Peso-Kurses und die Streichung der meisten Exportabgaben haben die mächtigen Agrar- und Bergbaukonzerne in einer Weise protegiert, wie das in der jüngeren Geschichte Argentiniens noch nie vorkam. Macris Wahlkampfversprechen „Null Armut“ ist Lichtjahre von der Realität entfernt. Kürzlich meinte er, ohne rot zu werden: „Hätte ich gesagt, was ich vorhatte, wäre ich auch gewählt worden, allerdings als Kandidat fürs Irrenhaus.“ Solche Töne erinnern die Argentinier an Sprüche, die sie – pointierter freilich – von ihrem früheren Präsidenten Carlos Menem (im Amt 1989 – 1999) zu hören bekamen. Dessen Politik der Privatisierungen und geplünderten Staatskassen ruinierte das Land und ebnete den Weg zum Wirtschaftskollaps von 2001. Clarín gibt, Clarín nimmt Auch wenn Macri nicht Menems Humor hat, teilt er dessen hochmütige Haltung, wenn ihm Steuerbetrug oder Korruption angelastet wird. Als die „Panama Papers“ enthüllten, dass der Präsident bis zu sieben Briefkastenfirmen unterhielt, verweigerte er zunächst jeden Kommentar und beschränkte sich später darauf, die Schuld seinem Vater zuzuschieben. Die Affäre konnte Macri wenig anhaben, da ihn der rechte Flügel des argentinischen Justizsystems ebenso schützte wie das Medienhaus Clarín, das schon im Wahlkampf sein Bestes für Macri gegeben hatte. In Argentinien weiß man: Clarín gibt, und Clarín nimmt. Die Entscheidung liegt bei Héctor Magnetto, der einflussreichen rechten Hand von Konzernchefin Ernestina Herrera de Noble. Auf die Frage, ob er nicht selbst Präsident werden wolle, antwortete der, das sei ein „niederer Posten“. Einmal ließ der Mediengigant auch Macri gegenüber kurz die Muskeln spielen, und zwar just am Tag der Stichwahl gegen seinen kirchneristischen Widersacher Daniel Scioli am 22. November 2015. Plötzlich erschien eine Meldung darüber, dass einige Fabriken, in denen Macris Gattin Juliana Awada Kinderkleidung nähen ließ, der Sklaverei bezichtigt werden. Macri hat allen Grund, Beim Verein Boca musste sich Macri mit Maradona arrangieren sich der Macht von Clarín bewusst zu sein. Doch einstweilen sitzt er im Sattel, und Clarín hat sich auf seine Vorgängerin Cristina de Kirchner eingeschossen, mit dem Ziel, sie hinter Gitter zu bringen. Inzwischen hat Macri mit provokanter Geste dem Mercosur, dem gemeinsamen Binnenmarkt der Staaten Südamerikas, den Rücken gekehrt und kokettiert stattdessen mit der Pazifischen Allianz, um die Rückkehr zu einem engen Bündnis mit den USA voranzutreiben. Zum 40. Jahrestag des Militärputsches vom März 1976 lud er Barack Obama nach Buenos Aires ein, ausgerechnet den Präsidenten des Landes, das seinerzeit die teils faschistoiden Diktaturen Lateinamerikas bei der Operation Condor mit Zehntausenden von Todesopfern maßgeblich unterstützte. Die Opferorganisation der Madres de Plaza de Mayo blieb dem Gedenkmeeting aus Protest fern. Doch ließ es Macri nicht dabei bewenden. Zur 200-Jahr-Feier der argentinischen Unabhängigkeit am 9. Juli 2016 lud er Spaniens König Juan Carlos de Borbón ein, der aus ebendem Herrscherhaus stammt, gegen das José de San Martín, Manuel Belgrano, Martín Miguel de Güemes und die anderen Helden der Selbstbestimmung einst kämpften. Kehrseite von Macris unkritischer Bewunderung für alles Nordamerikanische und Europäische ist die tiefe Verachtung des Unternehmer- und Patriziersprösslings für die unteren Schichten der argentinischen Gesellschaft. Zur Erklärung taugt die Vita des 1959 Geborenen. Mauricio Macri war das erste von fünf Kindern des aus Italien eingewanderten Großunternehmers Franco Macri und der aus einer ultrarechten Patrizierfamilie stammenden Alicia Blanco Villegas. In dem Buch El Pibe (Pibe ist ein in Buenos Aires übliches Rufwort für männliche Jugendliche), das die linke Journalistin Gabriela Cerruti über Macri geschrieben hat, finden sich zahlreiche Episoden, denen zu entnehmen ist, wie der autoritäre Vater den Sohn vor Freunden und Fremden niedergemacht und zugleich darauf getrimmt hat, sein Firmenimperium zu übernehmen. Vom Vater beschimpft Macri senior, 1930 in Rom geboren, kam mit 18 Jahren als Bauarbeiter nach Argentinien und brachte es zum Selfmade-Multimillionär. Bewundert für seinen Erfolg und berüchtigt für sein Geschick, sich mit Zivil- und Militärregierungen gleichermaßen ins Benehmen zu setzen, zählt er zu den Architekten der sogenannten patria contratista einem Geflecht von Geschäftskontakten, das einen Staat im Staate bildet. Während der letzten 50 Jahre konnte sich Franco Macri landesweit die wichtigsten öffentlichen Bauaufträge sichern. Als Duzfreund von Fiat-Chef Gianni Agnelli und Teil des konspirativen Netzwerks um Licio Gellis mafiöse Freimaurerloge P2 übernahm er in den 80ern den Vorsitz der Firma Sevel, die Fiat-Modelle in Lizenz für den argentinischen Markt herstellte. Sein Sohn Mauricio allerdings – vom Vater zu seinem Nachfolger bei Sevel gemacht – fuhr die Firma 1996 an die Wand. Für diese und andere Pleiten musste er sich von dem Alten öffentlich beschimpfen lassen. Um sich derartigem Patronat endlich zu entziehen und wirtschaftliche Misserfolge hinter sich zu lassen, ließ sich Mauricio schließlich zum Präsidenten des Fußballvereins Boca Juniors wählen, das richtige Sprungbrett für erste Schritte in die Politik, die zum Bürgermeisteramt von Buenos Aires führen sollten. Jedoch musste er sich beim Verein Boca mit dem großen Diego Maradona arrangieren, der ihn mit dem Satz zu verspotten pflegte: „Macri riecht noch weniger nach Straße als Venedig.“ Von der rhetorischen Verve seiner Vorgängerin Cristina de Kirchner, die stundenlange Vorträge ohne Manuskript zu halten pflegte, ist Macri weiter entfernt als vom mokanten Charme eines Carlos Menem. Als Redner wirkt dieser Staatschef, der seine Ausbildung allein an Privatuniversitäten erhielt, eher unsicher und bleibt auf vorgefertigte Sätze angewiesen. Er vertraut auf seinen Kommunikationsstrategen Jaime Durán Barba, eine Art Marketing-Rasputin, der zuweilen seiner Bewunderung für Adolf Hitler Ausdruck verleiht und Macri 2015 mit dem Wahlslogan Cambiemos! (Lasst uns wechseln!) beschenkte. Durán berät den Präsidenten nicht zuletzt bei seinen Fotoposen. Zwei Motive gingen um die Welt: zum einen Macri mit Frau und kleiner Tochter in seinem Regierungsbüro, ganz im Stil der legendären Bilder von John F. Kennedy mit Jacqueline Bouvier und den Kindern Caroline und John-John im Oval Office. Und zum anderen die Fotos von einer Audienz bei Papst Franziskus – er empfing den neuen Präsidenten seines Heimatlandes äußerst reserviert –, auf denen Gattin Juliana Awada von Kopf bis Fuß wie eine Kopie von Jackie Kennedy erschien und an deren Treffen mit Papst Paul VI. am 2. Juli 1963 erinnerte: das gleiche Schleiertuch, die gleiche Frisur. Ansonsten ist Mauricio Macri eher ein leidenschaftlicher Freddie-Mercury-Fan und lässt es sich nicht nehmen, den Queen-Sänger zu imitieren und dabei unbeholfen zu tanzen – und sei es auf dem geschichtsträchtigen Balkon der Casa Rosada, auf dem einst Evita und Juan Domingo Perón ihre großen Auftritte hatten. Der pibe, Sohn eines skrupellosen Großunternehmers, lässt bisher keine großen Talente erkennen: Er singt schlecht, tanzt schlecht, redet schlecht. Nach seinen ersten acht Monaten weiß man nur: Nichts ist sicher vor seiner Unsicherheit. Bezeichnend für diesen Zustand des Souveräns war die Vorstellung, die Ricardo Lorenzetti, Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs, am 10. Dezember 2015 bei der Zeremonie zur Amtseinführung Macris gab. Als der neben ihm stand, rang sich Lorenzetti zu einem väterlichen Schulterklopfen durch. So befremdlich diese Geste zwischen einem Obersten Richter und dem gerade inthronisierten Präsidenten wirken mochte, so sehr war sie auch ein Offenbarungseid – Macri ist es gewohnt, als Protegé und Grünschnabel behandelt zu werden. Marta Platía ist eine argentinische Journalistin und schreibt unter anderen für die Tageszeitung Página/12 in Buenos Aires Übersetzung: Michael Ebmeyer ANZEIGE 10 Politik A uf einen ersten Blick scheint die Gazi Caddesi, die Hauptstraße von Diyarbakır, wieder voller Leben. Es wird flaniert, Geschäfte und Basare bieten ihre Waren an, Cafés und Bistros warten auf Gäste – doch Vitalität kann täuschen. Wer tiefer eindringt in die oft labyrinthartigen Innenstadtquartiere, der findet noch immer verbarrikadierte Gassen und Straßen. Das Leben in Sûr, wie die Altstadt heißt, gehe bestenfalls auf Sparflamme weiter, erzählt eine Frau im Sülüklü Han, einem über Diyarbakır hinaus bekannten Treffpunkt zum Wein- und Kaffeetrinken. Augenblicklich werden hier nur Tee und Wasser ausgeschenkt, und das umsonst. Wein gibt es nicht. Aus Respekt vor den Toten der vergangenen Monate. Auch um keinen Konflikt mit der Polizei zu riskieren, sagt die Frau noch. Seitdem die Waffenruhe zwischen Ankara und der kurdischen Arbeiterpartei PKK im Sommer 2015 von der Regierung aufgehoben wurde, reißen die Gefechte im Südosten des Landes kaum ab. Auch wenn sie seit dem mutmaßlichen Putschversuch vom 15. Juli deutlich an Intensität verloren haben. Zuvor wurde unerbittlicher gekämpft als in den 90er Jahren, auch in den historischen Zentren der Städte Südostanatoliens, in Diyarbakır, Cizre, Silvan, Silopi, Nusaybin oder Şırnak. „Unter dem Vorwand, die PKK treffen zu wollen, bombardierte die Armee städtische Infrastrukturen und Wohnquartiere in dieser Region“, sagt Hoshin Ebdullah, ein kurdischer Menschenrechtsaktivist. Immer wieder seien Ausgangssperren verhängt worden. Mit leeren Händen – Aufbau Ost F O T O S : D PA , I LYA S A K E N G I N /A F P/ G E T T Y I M A G E S ( U N T E N ) QAri Scheunemann der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Türkei Während der Kämpfe zwischen Armee und PKK wurden die Bewohner der Altstadt Diyarbakırs erst vertrieben und dann enteignet Es werden Menschen zerstört, die Tod und Massaker überlebten Im Stile Toledos In Sûr sind die Kämpfe seit März beendet. Große Teile der Altstadt liegen in Schutt und Asche. Gut 25.000 Menschen sind in andere Gegenden Diyarbakırs oder in der Nähe gelegene Kommunen wie Batman oder Siirt ausgewichen. Laut Gesundheitsministerium in Ankara mussten in diesem Teil der Türkei allein bis Ende Februar mehr als 350.000 Menschen ihre Heimat verlassen, doch hält Barış Yavuz die Angaben für zu niedrig. Er leitet das lokale Büro von TİHV, der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei. Yavuz meint, dass nach Schätzungen seiner Organisation rund 1,5 Millionen Menschen auf der Suche nach einem Minimum an Sicherheit seien. Das Tragische bestehe darin, dass ein Großteil der Betroffenen vor 20 Jahren aus zerstörten Dörfern in die Städte floh, als der Konflikt zwischen der PKK und dem Militär schon einmal eskalierte. Anders als in jener Zeit, als viele Kurden Zuflucht in westtürkischen Städten wie Izmir oder Istanbul suchten, finde heute eine Migration in der Region statt. Das heißt, die meisten wollen zurückkehren und den verlorenen Faden des Lebens dort wieder aufnehmen, wo sie zu Hause waren. Ob sie das können, ist fraglich: Als am 21. März, dem Tag des kurdischen Neujahrsfes- Diyarbakır im Februar. Oben: Rückkehr zur Normalität tes, erneut eine eher fragile Waffenruhe ausgerufen wurde, gab die Regierung Erdoğan zugleich die Verstaatlichung der Altstadt Diyarbakırs bekannt. 6.600 von insgesamt 7.300 Parzellen sind nun Staatseigentum. Ahmet Davutoğlu, damals noch Premierminister, kündigte an, alles zügig wieder aufzubauen – möglichst im Stile der spanischen Stadt und Touristenhochburg Toledo, die wie Sûr zum Weltkulturerbe gehört. Den Menschen stehe es nach Abschluss der Bauarbeiten frei, ihre Häuser zurückzukaufen. Wie fragwürdig dieses Angebot ist, zeigt die Geschichte von Mehmed. Der Händler, der eigentlich anders heißt, aber nicht möchte, dass sein Name in einer Zeitung steht, ist gemeinsam mit den neun Kindern im Januar aus Sûr geflohen, nachdem eine Bombe direkt neben seinem Haus ex- ANZEIGE # !" So viele wollen den verlorenen Faden des Lebens wieder aufnehmen plodierte und alle Fensterscheiben barsten. „Ich wollte bleiben, doch der Winter war so kalt.“ Sein Haus habe ganz in der Nähe der Ulu Camii gestanden, der großen Moschee, und sei aus prächtigem Basaltstein gebaut worden. Um es zu betreten, habe man ein schmiedeeisernes Tor passieren müssen, erzählt er mit traurigen Augen. Jetzt ist die Familie in der Neustadt untergebracht, in einer umfunktionierten Empfangshalle im Erdgeschoss eines Hochhauses. Wann man dieses traurige Asyl wieder verlassen könne, wisse er nicht. Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Menschenrechtsanwalts Tahir Elçi am 28. November 2015 in Sûr wurde die dortige Altstadt für 55 Tage ohne Unterbrechung abgeriegelt. Noch wenige Minuten vor den tödlichen Schüssen hatte der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer von Diyarbakır auf einer Pressekonferenz für den Frieden in der Region geworben und vor der kulturellen Zerstörung Sûrs gewarnt. Mehmed kann sich noch haargenau an die Folgen erinnern. „Mehr als zwei Monate lang hatten wir keinen Strom. Wenn uns das Essen oder das Wasser ausging, mussten wir unter Lebensgefahr das Haus verlassen.“ Es empöre ihn noch heute, dass die europäischen Staaten, aber auch die Vereinten Nationen nicht reagiert hätten auf die Notrufe aus der abgeriegelten Stadt. „Wo war die internationale Hilfe, als der Leichnam einer Mutter über acht Tage auf der Straße lag und die Kinder täglich vom Fenster aus mit ansehen mussten, wie sich Hunde und Katzen über sie hermachten?“ Mehmed möchte zurück nach Sûr. Er will endlich sein Haus und sein Geschäft wieder aufbauen. Bevor der Konflikt ausbrach, verkaufte er Obst und Gemüse aus den umliegenden Dörfern an Händler seines Quartiers. Auf staatlichen Beistand mag er sich beim Wunsch nach Rückkehr nicht verlassen. 300 türkische Lira pro Monat hat ihm die Regierung zuletzt ausgezahlt, umgerechnet sind das knapp 90 Euro für eine elfköpfige Familie. Um ihm eine Entschädigung für seine verlorenen Waren einzuräumen, müsse man zuerst seine Steuerunterlagen prüfen, teilten ihm die Behörden mit. Also suchte Mehmed in den Ruinen seines Hauses nach den Papieren und fand sie schließlich. Doch als er damit vorstellig wurde, hieß es, ohne Quittungen seiner Lieferanten gäbe es keine Entschädigung. Mehmed hat seine Waren in der Regel bei Bauern in der Umgebung gekauft, die keine Quittungen ausstellen. So bleibt ihm jede Kompensation für erlittene geschäftliche Verluste verwehrt, mehr noch: Als er vor Tagen die Ranzen und Schulbücher seiner Kinder holen wollte, musste er unverrichteter Dinge wieder gehen. Obwohl er eine offizielle Erlaubnis des Bürgermeisters vorzeigen konnte, durfte Mehmed sein Haus nicht betreten. Wohin sonst? Dabei ist er zumindest theoretisch in einer besseren Position als viele andere, die sich aus der Altstadt in Sicherheit brachten. Mehmeds Haus gehört zu den offiziell eingetragenen Bauten. Andere, die sich in den 90er Jahren in Sûr eine neue Existenz aufbauten, lebten in Gebäuden, die schnell und illegal hochgezogen wurden. Wen das betrifft, der hat keinen Anspruch auf Entschädigung, muss zudem eine Strafe für illegalen Hausbau zahlen und darüber hinaus monatliche Raten für einen Neubau aufbringen. Schließlich will die Regierung im Interesse ihres Tourismusplanes alle Häuser luxuriös und hochwertig neu erstehen lassen. Einen Rückkauf seines einstigen Obdachs werde sich unter diesen Umständen kaum jemand leisten können, sagt Reha Ruhavioğlu, der Vorsitzende des Vereins für Menschenrechte Mazlumder. „Die Mehrheit der Bevölkerung von Sûr ist arm. Sie steht jetzt regelrecht mit leeren Händen da.“ Offiziell gebe es zwar vollmundige Versprechen zur Entschädigung der von Enteignung Betroffenen. In der Realität sei das jedoch eine Utopie, meint Ruhavioğlu. Er rät den alten Eigentümern davon ab, die Papiere der Regierung, bei denen es um Entschädigungssummen für ihre zerstörte Bleibe geht, zu unterschreiben. Das Geld würde weder reichen, um die Häuser zurückzukaufen, noch, um neue zu bauen. Außerdem würden die Bewohner den Anspruch auf ihr Eigentum preisgeben, sollten sie diese Papiere signieren. Als die staatliche Wohnungsbaubehörde 2011 in Sûr gegen illegal errichtete Häuser vorgehen wollte, scheiterte dies am Widerstand der Bevölkerung. Später erließ die Regierung ein Dekret, mit dem erlaubt wurde, auch denkmalgeschützte Gebäude abzureißen, sollten sie „einsturzgefährdet“ sein. Waren vor den jüngsten Gefechten lediglich einige Häuser als marode eingestuft, trifft das inzwischen auf mehr als 80 Prozent zu und erleichtert die vom Staat betriebene Enteignung. Der Plan, Diyarbakır in eine Touristenstadt umzuwandeln, ist nicht neu – Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte Derartieges bereits 2011 verkündet, als er noch Premierminister war. Für den renommierten Soziologen und Historiker Taner Akçam zeugt das Vorhaben von der verhängnisvollen Kontinuität einer fatalen Bevölkerungspolitik. Dass versucht werde, ethnische Konflikte und religiösen Hader durch Zwangsumsiedlungen oder Vertreibungen einzudämmen, lasse sich ein Jahrhundert lang zurückverfolgen. Figen Yüksekdağ, die Kovorsitzende der prokurdischen Partei HDP, befand Ende März unumwunden, dass der türkische Staat mit seinem Plan zur Sanierung Sûrs die Existenzgrundlage der Menschen zerstöre, die Tod und Massaker überlebt hätten. An manchen Stellen der Altstadt sind bereits Bulldozer unterwegs und reißen zertrümmerte Häuser ein. Bagger laden den Schutt auf große grüne Transporter, die außerhalb Diyarbakırs entladen werden. „Der Staat säubert die Stadt von seinen Schandtaten“, räuspert sich der Händler Mehmed. Er hat den Plan, wieder in sein altes Haus zu ziehen, noch nicht aufgegeben. Wohin sollte er sonst? Der Menschenrechtler Reha Ruhavioğlu lebt mit seiner Familie außerhalb von Sûr in Gaziler, einem gutbürgerlichen Bezirk der Neustadt. Auch wenn es dort bislang noch nie Gefechte gab, wollen Rehas Frau und seine Mutter weg aus Diyarbakır. Zu gefährlich sei es, zu aufreibend der stete Kampf mit dem Staat. Reha denkt anders: „Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass wir bleiben. So viel ist zerstört, so viele Menschen brauchen Hilfe.“ Ari Scheunemann ist freie Autorin und auf das Thema Fluchtbewegungen spezialisiert Gender 11 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Männersache Frauensache Wenn Männer sich im Internet mit Kopftuch zeigen QLilly O’Donnell K ann eine Feministin Vergewaltigungsfantasien haben? Für die feministische Pornoproduzentin Pandora Blake, die die Fetischpornoseite Dreams of Spanking betreibt und regelmäßig Fantasien über nicht einvernehmlichen Sex beschreibt, versteht sich das von selbst. „Absolut“, sagt sie. In der feministischen Pornobewegung ist es Konsens, dass keine Fantasie als tabu gilt, egal wie antifeministisch ihr Gegenstand zunächst erscheinen mag. Es gibt, so lautet die Argumentation, nichts Antifeministischeres, als einer Frau zu sagen, was sie erregen darf und was nicht. „Der Lust auf Hardcore-BDSM, Rape-Play oder Age-Play – all den Tabus, die Frauen nie haben durften – die Scham zu nehmen, reizt mich an der feministischen Pornobewegung am meisten“, sagt Courtney Trouble, die Produzentin hinter Trouble Films und eine der Pionierinnen der Szene. „Wenn wir uns outen und zugeben, Vergewaltigungsfantasien zu haben, werden wir oft als krank und kaputt denunziert“, sagt Trouble. „Das will ich ändern.“ Feministinnen kämpfen üblicherweise auch für das Recht einer Frau, selbst über ihre Sexualität zu entscheiden – darüber, wann und mit wem sie Sex hat und wann, wenn überhaupt, sie schwanger wird. Sie kämpfen traditionell gegen all jene Kräfte, die diese Rechte einschränken wollen: die puritanischen Stimmen, die meinen, eine Frau, die Spaß an Sex hat, sei eine „Schlampe“. Oder gegen diejenigen, die den Zugang zu Verhütungsmitteln erschweren wollen und behaupten, wer sich aufreizend anziehe, lade dazu ein, vergewaltigt zu werden. F O T O : C R I S T I NA G A R C I A R O D E R O / M A G N U M P H O T O S /A G E N T U R F O C U S V Bekleidete Männer Daher sei es nur konsequent, auch die sexuellen Fantasien anderer nicht als schändlich darzustellen. Auch nicht diejenigen, die Bilder von Perversion, Dominanz und sogar Vergewaltigung beinhalten, finden feministische Pornoproduzentinnen. „Es gibt da einen klaren Unterschied – ob man sich vorstellt, zu etwas gezwungen zu werden, oder ob man tatsächlich dazu gezwungen wird“, sagt Blake. Dass sie gewisse Fantasien habe und diese auch darstelle, bedeute keinesfalls, dass sie nicht einvernehmlichen Sex im wirklichen Leben billige. „In manchen Fällen widersprechen die pornografischen Vorlieben der Leute ihrer Identität in der Realität, wo sie verantwortungsvolle Menschen sind, die sich Gerechtigkeit und Gleichheit verpflichtet fühlen“, sagt Tristan Taormino. „Ich finde, das ist in Ordnung.“ Taormino produziert ebenfalls feministische Pornos, arbeitet als „Sex-Erzieherin“ und organisiert die jährliche Feminist Porn Conference. In ihren eigenen Pornos geht es in erster Linie um weibliche Lust, die Vielfalt und Verschiedenartigkeit von Körpern und vor allem auch darum, dass ihre Darstellerinnen sich wohlfühlen und ihr Ausdruck authentisch ist. Oft unterläuft sie die Stilmittel, die Zuschauerinnen in einem Porno vielleicht erwarten. „Sicher gibt es in der Mainstreampornografie Dinge, die ich stereotyp, repetitiv, langweilig oder sogar abstoßend finde“, sagt sie. „Aber die Antwort darauf besteht nicht darin, keine Pornos mehr zu machen. Sondern bessere.“ Die meisten Mainstreampornos drehten sich um die scheinbar omnipräsente Erektion. „Das spricht Bände darüber, wie sehr es dabei um männliches Verlangen und männliche Fantasien geht. Also habe ich Szenen gedreht, in denen der Mann seine Partnerin mit seinen Händen, seinem Mund oder einem Spielzeug zum Orgasmus bringt, ohne dabei auch nur seine Hose auszuziehen.“ Taormino nimmt auch Szenen mit hinein, in denen die sexuelle Initiative von Frauen ausgeht oder die Darstellerinnen sich gegenseitig zeigen, was ihnen gefällt, und nicht alle immer zu wissen scheinen, was sie oder er machen soll. Es tauchen auch keine Pizzaboten auf, die von einer Horde kichernder Studentinnen bedrängt werden. Tristan Taormino geht es darum, Einvernehmlichkeit und beiderseitige Lust zu betonen. Auch Courtney Trouble versucht immer wieder, die Erwartungen zu unterlaufen, die von der Mainstreampornografie ge- Fragen der Fantasie Sex Feminismus und Pornografie – sind das nicht zwei völlig unvereinbare Welten? Drei Filmproduzentinnen klären auf weckt werden. Als Darstellerin mit Übergröße wollten Produzenten sie oft in Filme stecken, die ihren Körper schon im Titel als etwas Sonderbares und Lächerliches herausstellten. Oder sie verlangten von ihr, in Pornoszenen Kuchen zu essen. Ihr selbst macht es Freude, Filme zu drehen, in denen dickere Menschen als begehrenswert dargestellt werden. Während konventionelle „lesbische Pornos“ für gewöhnlich aus Szenen bestehen, in denen stereotyp-feminine, homosexuell-weibliche Darstellerinnen Sex miteinander haben – ganz darauf ausgerichtet, dass männliche Zuschauer sich daran erfreuen –, hat Trouble lesbische Zuschauerinnen im Kopf, wenn sie Szenen mit zwei Frauen dreht. Sie arbeitet deswegen genauso mit maskulinen Darstellerin- „Das Geile am Spanking ist die Angst vor dem, was kommt“, sagt Pandora Blake nen wie mit femininen. Dabei beschränkt sich der Feminismus von Troubles und Taorminos Pornografie nicht auf den Inhalt. Die beiden kümmern sich um ein sicheres und angenehmes Arbeitsumfeld, gerechte Bezahlung und ein Mitspracherecht für ihre Darstellerinnen. Für Pornografie wie die von Pandora Blake ist das Geschehen hinter der Kamera besonders wichtig. Während Blake den Inhalt ihrer Arbeit sehr wohl mit feministi- schen Haltungen im Einklang sieht, werde es kompliziert, wenn es darum gehe, diese Fantasien darzustellen und weiterzugeben, ohne tatsächliche Gewalt gegen Frauen zu fördern. In einer Welt, in der Pornos de facto Mittel der sexuellen Erziehung sind, müssen verantwortungsvolle Produzenten nicht nur darüber nachdenken, was die Leute reizen könnte, sondern auch darüber, was sie aus Pornos lernen könnten. Blake glaubt, ein Disclaimer zu Beginn des Films, der das einvernehmliche Handeln betont, würde die Fantasie entzaubern. Aber das Aushandeln von Grenzen, das zu jedem gesunden BDSM gehöre, müsse dennoch stattfinden. Auf der Seite Dreams of Spanking finden sich jede Menge Bilder und Videos, auf denen zu sehen ist, was passiert, wenn jemand „Cut“ oder das vereinbarte Safeword ruft und eine Szene abgebrochen wird. Anders als bei Interviews, in denen die Darstellerinnen oft das Gefühl haben, sie müssten bestimmte Erwartungen erfüllen, zeigt das Material auf Dreams of Spanking, was wirklich am Set passiert. Man kann sehen, dass alle Beteiligten aus freien Stücken dabei sind. Pandora Blake sagt, sie caste nur Leute, die sie in der BDSM-Szene treffe. Sie will sichergehen, dass sie wissen, worauf sie sich einlassen, und es ihnen tatsächlich Spaß macht. „Auf gewisse Art filme ich eine echte BDSM-Szene.“ Im Gegensatz zu Pornoprofis, die BDSM nur performen. „Es geht darum, deine authentische Erfahrung zu nehmen und sie in eine Performance zu verwandeln.“ Sie selbst habe schon immer solche Neigungen gehabt, sagt Blake. Lange bevor sie wusste, was das letztendlich bedeutet. Sie erinnert sich daran, wie sie von Stockschlägen in Roald Dahls Autobiografie las und ihre eigene Reaktion sie gleichzeitig faszinierte und beschämte. „Schon damals war mir klar, dass an dieser Reaktion etwas falsch ist“, sagt sie. „Wir alle müssen diese Scham ablegen, bevor wir unsere Sexualität genießen können – und wenn sie außerhalb der Norm liegt, natürlich erst recht.“ Zum ersten Mal begegnete ihr das Schlagen auf den Hintern als sexuelle Aktivität, als sie als Teenager erotische Literatur las. Doch erst als sie begann, die Welt der Internetpornos zu entdecken, wurde ihr klar, dass sie nicht die Einzige war, die die Vorstellung erregend fand, mit der Hand, einer Peitsche oder einem Stock mehr auf den Po zu bekommen als nur spielerische Klapse. Nach dem Unterricht „Das Geile am Spanking ist die Angst, die man dabei verspürt, und die Vorwegnahme dessen, was einen erwartet“, sagt sie. Blake entwickelt gern Szenen, in denen das Schlagen nicht aus dem Nichts kommt, sondern in denen eine Figur es antizipiert. „Wie ein Schulmädchen, das weiß, nach dem Unterricht bekommt es den Hintern versohlt. Sie kann an nichts anderes mehr denken und fragt ihre Freundinnen, wie schlimm es wohl wird und ob es sehr wehtut.“ Es sei nicht unfeministisch, weiblich und devot zu sein, sagt Pandora Blake. Es sei aber unfeministisch, anzunehmen, eine Frau aus der BDSM-Szene sei automatisch unterwürfig, nur weil sie eine Frau ist. Die Leute in der Szene hätten bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verinnerlicht, wie alle anderen auch. Dagegen kämpfe sie mit Dreams of Spanking an. „Auf feministische Weise mit jemandem Sex zu haben heißt, dass es einvernehmlich geschieht, kommunikativ und respektvoll. Und das funktioniert auch beim BDSM.“ Lilly O’Donnell ist stellvertretende Chefredakteurin von narrative.ly und arbeitet als freie Journalistin u. a. für den Guardian Übersetzung: Holger Hutt iel Furore macht in den sozialen Netzwerken gerade das Hashtag #MenInHijab. Iranische Männer mit Kopftüchern sind da zu sehen, meist in Begleitung von Frauen ohne Kopftuch. Gedacht ist das alles als Protest gegen den iranischen Kopftuchzwang. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Nicht, dass ich Kopftuchzwang befürworte. Um Himmels willen, nein! Frauen sollen anziehen, was sie möchten. Kopftücher kommen nur freiwillig infrage. Es geht mir im Fall von #MenInHijab um die Wirkung. Ernten hier nicht die Männer unverdient Lob und Anerkennung? Aber von vorn. Ins Leben gerufen wurde #MenInHijab von der in New York lebenden iranischen Journalistin Masih Alinejad, die schon vor einiger Zeit die Kampagne #MyStealthyFreedom zu verantworten hatte. Beide Aktionen sind im Grunde ähnlicher Natur: Frauen im Iran protestieren, indem sie Bilder von sich ohne Kopftuch ins Netz stellen. Ob mit Kopftuchmann oder ohne, die Frauen gehen damit ein erhebliches Risiko ein, denn unbedecktes Frauenhaar ist in der Öffentlichkeit verboten. Hat die Frau Pech, erwischt sie die Religionspolizei und nimmt sie zum Verhör mit auf die Wache. Meist passiert am Ende nichts Schlimmes. Aber der Iran ist ein Willkürstaat. Haben die Beamten einen schlechten Tag, können sie sich auch einfach ein Delikt aus den Fingern saugen und die Frau auf unbestimmte Zeit wegsperren. Das ist bei den Männern im Hidschab natürlich auch möglich, aber gegen geltendes Recht verstoßen diese nicht. Masih Alinejad wird von der FAZ mit den Worten zitiert: „Ich wollte, dass die iranischen Männer einmal die Erniedrigung und Entwürdigung spüren, die Millionen von Frauen jeden Tag ertragen müssen.“ Aber ganz ehrlich: Das können sie nicht. Das ganze Gewicht rigider, frauenfeindlicher Gesetze und gesellschaftlicher Normen kann ein Foto mit Kopftuch niemals erfahrbar machen. Die Erniedrigung, die Männer vielleicht spüren, ist, dass sie sich in Frauenkleidung lächerlich machen. Das geht wiederum nur, weil die iranische Gesellschaft – ebenso wie unsere – geschlechterbinär ist und die gesellschaftliche Rolle von Frauen inklusive der damit verbundenen Kleidung als minderwertig erachtet. Eine eher zweifelhafte Basis. Hat #MenInHijab trotzdem einen Nutzen? Solidarität ist allerdings gut und wichtig. Viele Menschen, die heterosexuell oder Cisgender sind – also mit ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmen –, begreifen den Kampf für die Rechte nichtkonformer Sexualitäten und Gender nicht als ihren eigenen. Genauso ist der Kampf für Frauenrechte aus der Sicht vieler Männer zuallererst Frauensache. Schön also, wenn es auch mal anders läuft. Denn wirklich etwas ändern können die Menschen nur, wenn sich alle gemeinsam für die Rechte unterdrückter oder diskriminierter Gruppen engagieren. Es gibt nur zwei Dinge, die nicht passieren dürfen. Erstens, dass die Solidarität selbst mehr Aufmerksamkeit bekommt als ihr Grund. Denn das lenkt von den Leuten ab, um die es eigentlich geht. Zweitens ist es mit einem Hashtag nicht getan. Wie cool wäre es zum Beispiel, wenn Männer im Iran mit Kopftüchern zur Arbeit oder zur Universität gingen? Vorbilder für solidarischen Protest in Frauenkleidung gibt es genug, sogar in den unmittelbaren Nachbarländern. Vergangenes Jahr zum Beispiel starteten Männer in Miniröcken einen Protestmarsch durch Istanbul. Anlass war der Fall der Studentin Özgecan Aslan, die nach einem Vergewaltigungsversuch von einem Minibusfahrer getötet worden war. Und in Kabul demonstrierten Männer in Burkas gegen die zunehmende Einflussnahme der Taliban. Sophie Elmenthaler 12 Chronik der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 F O T O S : I M A G O, D PA ( 2 ) , A F P/ G E T T Y I M A G E S ( 2 ) Die Woche vom 4. bis 10. August 2016 Gesetzentwurf Türkei/Österreich Studie Berlin Südafrika Schwule entschädigen In Abneigung vereint Reiche Umweltschweine Wen wählt Oma Anni? ANC-Aderlass Es erscheint unglaublich: Noch bis zum Jahr 1994 standen in Deutschland homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe. Die Grünen wollen eine rasche Entschädigung der Opfer des ehemaligen Paragrafen 175 im Strafgesetzbuch. Dazu haben sie nun einen Gesetzentwurf vorgelegt. Im Mai kam ein von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beauftragtes Gutachten zu dem Schluss, dass Deutschland in der rechts- und sozialstaatlichen Pflicht stehe, schwule Männer, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt wurden, zu rehabilitieren. Nun drängen die Grünen im Hinblick auf das Alter vieler Verurteilter auf eine schnelle Entscheidung des Bundestags. LTB Die Brüsseler Kommission will vorläufig an Beitrittsgesprächen mit der Türkei festhalten. Sie weist ein Ansinnen des österreichischen Kanzlers Kern (Foto) ab, Ankara aus dem EUKandidatenkreis zu streichen, da laufend demokratische Standards verletzt würden. Der Vorstoß aus Wien hat in der Regierung Erdoğan zu harschen Reaktionen geführt. EU-Minister Çelik verglich das Gesuch mit Forderungen von Rechtsextremisten, was Außenminister Çavuşoğlu noch zu steigern wusste, indem er Österreich ein „Zentrum des radikalen Rassismus“ nannte. Beirrt hat das die SPÖ-ÖVPRegierung nicht. Sie will das Thema Türkei auf die Agenda des EU-Gipfels Mitte September setzen lassen. LH Manchmal gibt es einen Unterschied zwischen Sein und Bewusstsein. Wer sich für umweltbewusst hält, kann in Wirklichkeit das Gegenteil sein, wie eine Studie des Umweltbundesamts zeigt. Entscheidend sei vor allem das Einkommen. Mehr Geld fließe oft in schwere Autos, große Wohnungen und häufigere Flugreisen – das werde durch Mülltrennung und Bio-Essen nicht ausgeglichen. Bestimmte Aspekte des nichtnachhaltigen Konsums wie Fernreisen würden von den reichen „Umweltbewussten“ oft unterschätzt oder bei der Bewertung des eigenen Verhaltens nicht berücksichtigt. Unterm Strich verursachten sie mehr CO2-Ausstoß als Menschen mit niedrigerem Einkommen. FW Ein Wahlplakat der Berliner Linken sorgt für Streit. Zu sehen ist die 95-jährige Anni Lenz, dazu der Spruch: „Mietrebellin Oma Anni bleibt“. Die Werbeträgerin kämpft seit Jahren mit ihren Nachbarn gegen einen Investor, der die Miete hochsetzen will. Anni Lenz hat zwar eingewilligt, dass sie auf dem Linken-Plakat abgebildet wird, aber sie wählt eine andere Partei, wie sie dem Berliner Kurier gesagt hat. „War immer SPD, das bleib ich auch.“ Die Sozialdemokraten gestalteten daraufhin ihr eigenes Plakat. Der Slogan: „Oma Anni bleibt SPD-Wählerin“. Die Linken konterten per Twitter: Der Mietrebellin werde von der SPD doch im Zweifel „in den Arsch getreten“, schrieb Landeschef Klaus Lederer. FW Bei Kommunalwahlen hat der ANC in nahezu allen Großstädten die Mehrheit verloren, so in Johannesburg, Pretoria, Port Elizabeth, Kapstadt. Die Regierungspartei kam zwar landesweit auf 56 Prozent, profitierte damit aber vom Sympathiebonus in den ländlichen Regionen, während sich in den Metropolen die schwarze Mittelschicht ebenso abwandte wie die Bevölkerung der Townships. Als Gegner des ANC hat mit diesem Votum besonders die liberale Democratic Alliance unter Führung des schwarzen Politikers Maimane an Statur gewonnen. Die DA kam in urbanen Wahlbezirken teils auf über 40 Prozent. Mehr denn je gilt nach der Abstimmung Präsident Zuma als angeschlagen. LH 1991 Das Streichholz QLutz Herden E s konnte sein, dass Michail Gorbatschow, ein Freund des taktischen Lavierens, Gefallen an der bonapartistischen Verlockung fand. Allerdings musste in der Sowjetunion unverkennbar Endzeitstimmung herrschen, damit es dazu kam. So wurde Anfang November 1991 Verteidigungsminister Jewgenij Schaposchnikow in den Kreml gebeten, um vom sowjetischen Präsidenten mit dem Ansinnen konfrontiert zu werden, die Armee möge die Macht übernehmen, eine Militärregierung bilden, den Staat UdSSR vor dem Verschwinden bewahren und – nach erreichter Stabilisierung – den Rückzug antreten. Das klang kaum nach rationalem Kalkül, mehr nach waghalsigem Abenteuer. Schaposchnikow soll sich mit der Bemerkung aus der Affäre gezogen haben, schreibt der amerikanische Autor William E. Odom in seinem Buch The Collapse of the Soviet Military, dann könne er sich ja gleich – ein forsches Lied pfeifend – in Richtung „Matrosenstille“ abmelden. Im Moskauer Gefängnis Matrosskaja Tischina sitzen um diese Zeit hochkarätige Sowjetpolitiker in Untersuchungshaft, darunter Schaposchnikows Vorgänger, Marschall Dmitri Jasow. Sie haben sich – kein viertel Jahr ist es her – zwischen dem 19. und 21. August 1991 als Rettungskommando für den moribunden Staat versucht und sind gescheitert. Dass der im Spätherbst 1991 weitgehend entmachtete Gorbatschow plötzlich selbst den autoritären Ausweg sucht, scheint zu bestätigen, was einst Karl Marx in seinem 18. Brumaire des Louis Bonaparte über die Wiederholung historischer Geschehnisse schrieb. Das erste Mal ereigneten sie sich als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Was zu der Frage führt, war der „Augustputsch“ vor 25 Jahren eine „Tragödie“? Verdienen es seine Urheber, „tragische Helden“ genannt zu werden, weil sie dem Rad der Geschichte in die Speichen griffen, das sie zu überrollen drohte? War dieser Aufstand der Nomenklatura ein selbstmörderisches Unternehmen, wie heute geurteilt und vollendete Geschichte mit einstiger Gegenwart verwechselt wird? Es ist ein Sonntag, als am 18. August 1991 die ZK-Sekretäre Oleg Baklanow, Waleri Boldin und Oleg Schenin sowie General Walentin Warennikow zum Kap Foros auf der Krim fliegen. Sie wollen Gorbatschow in seiner Sommerresidenz treffen und drängen, die für den 20. August anberaumte Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages aufzuschieben oder ganz abzusagen. Der sieht vor, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in eine Union Souveräner Staaten (USS) zu überführen. Litauen hat sich davon distanziert, desgleichen Georgien, das Anfang April 1991 seinen Austritt aus der Union erklärt. Estland und Lettland dürften folgen. Da jedoch Belarus, die Ukraine, Usbekistan, Tadschikistan, Armenien, Turkmenistan und Kasachstan einen Staatenbund erhalten wollen, wird es den wohl geben. Woran auch der russische Präsident Boris Jelzin interessiert scheint, der seiner Sowjetrepublik zwar ein Maximum an Souveränität verschaffen, mit der Sowjetunion aber nicht völlig brechen will. Schließlich soll Russlands Anspruch keinen Schaden nehmen, im Fall des Falls ein privilegierter Erbe zu sein, den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wie das Kernwaffenarsenal zu übernehmen. Überdies hat am 17. März 1991, beim ersten Referendum der Sowjetgeschichte, eine Mehrheit von 76,4 Prozent für den Erhalt der Union gestimmt. Die Abordnung aus Moskau wird in Foros vorgelassen, aber vertröstet. Gorbatschow habe mit einem Bandscheibenvorfall zu kämpfen, beim Spaziergang mit Frau Raissa sei es passiert, er müsse den Arzt bemühen. Es dauert bis zur Audienz, die Gorbatschow mit dem schmissigen Einstieg eröffnet, auch wenn man ihm das linke Bein amputiere, werde ihn nichts daran hindern, am 20. August in Moskau zu sein, um den Unionsvertrag zu unterschreiben. Baklanow und Genossen könnten nun getrost zum Airport Belbek fahren und wieder abfliegen. Gorbatschow denkt nicht daran, von einem Vorhaben zu lassen, das den Schwanengesang einer Weltmacht bestenfalls verzögern, nicht bannen wird. Deren Ökonomie nähert sich dem Kollaps und verzeichnet im ersten Halbjahr 1991 einen Produktionsausstoß, der bei 80 Prozent des Niveaus von 1966 (!) liegt. Betriebe werden willkürlich geschlossen oder unterbrechen die Fertigung. In FOTO: IMAGO Zeitgeschichte In Moskau verkündet ein Notstandskomitee der Nomenklatura den Ausnahmezustand, um die Sowjetunion vor dem Untergang zu retten – das Gegenteil wird erreicht Der russische Präsident Jelzin am 19. August 1991 vor seinem Amtssitz Gorbatschow will nicht glauben, wie sehr ihm entglitten ist, was er zu regieren meint Russland riecht das häufig nach Sabotage. Dazu ist die Armee durch einen überstürzten Abzug aus dem Osten Deutschlands verunsichert. Die geostrategische Parität mit den USA ging ebenso verloren wie das eigene Bündnissystem. Um den Warschauer Pakt ist es seit dem 1. Juli 1991 geschehen. Entgegen aller Rhetorik hat Gorbatschow kein europäisches Haus erbaut, sondern sich durch konziliante Vorleistungen um ein Wohnrecht in einem solchen Haus beworben, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie sehr das eigene – das sowjetische – in sich zusammenfällt. All das kommt in Foros zur Sprache. Je alarmierender die von Baklanow und Warennikow beschworenen Katastrophenszenarien ausfallen, desto entrückter wirkt Gorbatschow. Als wollte er nicht wahrhaben, wie sehr ihm entglitten ist, was er zu regieren meint. Wozu in den Abgrund schauen, wenn das zum Absturz führt? Der Ausnahmezustand könnte die Rettung sein, die einzig realistische, wirft Warennikow ein. Gorbatschow steht auf und verabschiedet sich. Er ist nun Mitwisser, will aber kein Täter sein. Erst als die Emissäre am 18. August gegen 22.00 Uhr wieder in Moskau landen, in den Kreml fahren und bei Sowjetpremier Walentin Pawlow berichten, fällt die Entscheidung, das Staatskomitee für den Ausnahmezustand zu bilden, denselben auszurufen und Gorbatschow aus „gesundheitlichen Gründen“ abzusetzen. Außer Pawlow entschließen sich Vizepräsident Janajew, Verteidigungsminister Jasow, Innenminister Pugo, KGB-Chef Krjutschkow und Parlamentspräsident Lukjanow zum Handeln. Sie stehen auf der Bühne, während der Vorhang fällt. Im Appell des Staatskomitees, den Gennadi Janajew bei einem Auftritt – halb Pressekonferenz, halb Regierungserklärung – am Vormittag des 19. August mit zitternder Hand und Stimme verliest, heißt es: „Die Inflation der Macht zerstört schlimmer als jede andere Inflation unseren Staat und unsere Gesellschaft.“ Zu diesem Zeitpunkt sind Truppen des Moskauer Militärbezirks in die Hauptstadt eingerückt, sie patrouillieren, sichern das Fernsehzentrum Ostankino wie einen Teil der Ministerien. Ihnen ist befohlen, von der Schusswaffe nur im Notfall Gebrauch zu machen. „Die Situation glich der vor dem Anzünden eines Streichholzes neben einem Pulverfass“, wird sich später Marschall Jasow bei seiner Vernehmung erinnern. Als in der Innenstadt Barrikaden errichtet werden und Molotow-Cocktails fliegen, brennt das Streichholz lichterloh, als sich Menschen um das Weiße Haus scharen, damals der Sitz Jelzins, um das Gebäude zu schützen, flackert es noch. Als die Soldaten abziehen und das Staatskomitee am 21. August abdankt, ist es erloschen. Es gibt keine Helden, schon gar keine tragischen, stattdessen drei Opfer, drei junge Moskauer, überfahren von Militärfahrzeugen. Die Sowjetunion lässt sich im August 1991 nicht mehr retten, jedenfalls nicht so. Die Aufrührer haben den Staatsapparat unabsichtlich gezwungen, Verfall und Ohnmacht zu offenbaren. Boris Jelzin weiß nun, dass Russland die Sowjetunion nicht mehr fürchten muss. Instinktsicher nutzt er die Gunst des Augenblicks, hält sich an den Urlaubsheimkehrer Gorbatschow und verbietet in dessen Gegenwart am 22. August die KPdSU auf russischem Territorium, was einem Verbot des Sowjetstaates gleichkommt. Dem bleibt noch eine Gnadenfrist von vier Monaten. Sie werden zur Farce, weil Gorbatschow als Präsident ausharrt, anstatt zurückzutreten. Warum nicht Marx’ Theorie weiterdenken und auf den Übergang vom tragischen zum komischen Helden beziehen? Buchtipp: Der Augustputsch 1991. Acht Akteure erinnern sich. Edition Berolina 2016, 256 S., 14,99 € 13 Widerstreit Wie Theaterbühnen mit Geflüchteten arbeiten S. 15 Erhabenheit Eduard Engels Stilkunde der deutschen Sprache S. 16 Kinderzeit Der Ärzte-Bassist Rodrigo González reist nach Chile S. 19 In Bielefeld präsentiert die Musikerin Anohni bildende Kunst – ihre eigene und die ihrer Idole S. 14 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Kulturkommentar Christine Käppeler Der Traum von Rio: Wenn ein Werbespot Realitäten schafft F O T O S : F O S S I P H O T O / I M A G O, I N G O B U S T O R F ( O B E N ) A Proletarische Identität: Ernst Thälmann in Magdeburg Wo bleibt der Stolz? Klassenkampf Wenn die Linken die „kleinen Leute“ noch erreichen wollen, müssen sie ihre Sprache ändern QNils Markwardt D onald Trump, Front National oder AfD: Fast überall in der westlichen Welt sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Dabei verbindet sie vor allem eins: Sie stoßen besonders in den unteren Einkommensschichten auf Resonanz. Stellt sich die Frage: Warum? Genauer gesagt: Auch wenn die Arbeitermilieus historisch keine „natürliche“ Klientel der Linken bilden, da sie auch immer schon in konservativen Kreisen verankert waren, bleibt zu klären, warum linke Parteien nun so erschreckend eindeutig von rechtspopulistischen abgelöst werden. Risse in Familien Eine erste Antwort liefert Didier Eribon in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch Rückkehr nach Reims: „So widersprüchlich es klingen mag“, heißt es dort, „bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest teilweise als eine Art politische Notwehr der unteren Schichten interpretieren muss. Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die seit je mit Füßen getreten worden ist und nun sogar von denen missachtet wurde, die sie zuvor repräsentiert und verteidigt hatten.“ Das sind starke Worte, die, stammten sie von einem Rechtsausleger, von manchem schon als Relativierung von Fremdenfeindlichkeit gedeutet werden könnten. Aber sie stammen eben von Eribon, einem linken Philosophen, LGBT-Aktivisten und Biografen Michel Foucaults. Der 1953 geborene Denker kommt selbst aus einer Arbeiterfamilie. In Rückkehr nach Reims, einer Mischung aus erzählender Autobiografie und soziologischer Studie, beschreibt Eribon, wie er, der alle Verbindungen gekappt hatte, wieder Kontakt zu seiner Heimat aufnimmt. Und dabei treibt ihn vor allem eins um: Wie konnte es passieren, dass seine Eltern, Brüder und Cousinen, die früher selbstverständlich die Kommunistische Partei wählten, zu Anhängern des Front National wurden? Nun werden dafür in der Regel eine Reihe von Gründen angeführt: vom Siegeszug des Neoliberalismus über den ökonomischen Strukturwandel bis zur Kritik, die Linke beschäftige sich heute nur noch mit postmaterialistischen Identitätsfragen statt mit wirtschaftlichen Verteilungskonflikten. Bei Eribon steht das alles im Hintergrund – er hebt vor allem auf den Aspekt der Identität ab. Denn in dem Moment, wo Teile der Linken den „Dritten Weg“ beschritten und plötzlich von Eigenverantwortung und IchAG sprachen, manifestierten sie ja nicht nur eine Dauerprekarisierung ganzer Milieus, sie zerstörten auch die letzten Reste eines Klassenbewusstseins. Das zeigt sich schon sprachlich. Aus Arbeitern wurden „Geringverdiener“, aus Proletariern „sozial Schwache“. Aus einem Kollektivsubjekt, das Rechte einforderte, wurde ein Sammelsurium von Opfern und Hilfsempfängern. Welchen psychopolitischen Effekt das hatte, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass kommunistische und sozialdemokratische Parteien historisch nicht nur als nüchterne Interessenvertreter der Arbeiterschaft dienten, sondern immer auch proletarische Identitätsmaschinen bildeten. Mit einem Repertoire an Symbolen und Narrativen, von der roten Fahne bis zur Internationale, gaben sie ihren Anhängern zurück, was im Fabrikalltag zu verloren zu gehen drohte: Stolz und Würde. Die rote Fahne markierte einst Würde und Identität. Wir brauchen dringend neue Symbole Und das war nicht zuletzt deshalb möglich, weil der Marxismus, ob nun revolutionär oder reformistisch, das dialektische Versprechen barg, mit der „Philosophie des Elends“ Schluss zu machen: Aus dem Knecht sollte schließlich irgendwann der Herr werden. Fragt man sich also, warum Trump so viele blue-collar workers begeistert, 86 Prozent der Arbeiter bei der Stichwahl zum österreichischen Präsidenten für FPÖ-Kandidat Norbert Hofer votierten oder die AfD der Linkspartei Wähler abwirbt, besteht eine Antwort darin, dass die Rechtspopulisten schlicht eine Lücke füllen. Obschon deren ökonomische Programme den Interessen der unteren Schichten bisweilen sogar widersprechen, die AfD ist in dieser Hinsicht ja weitestgehend noch jene neoliberale Honoratiorenpartei, als die sie einst startete, geben sie sich als Repräsentanten der „kleinen Leute“. Und im Gegensatz zur Linken haben sie obendrauf vor allem noch ein Identitätsangebot: jenes völkische Phantasma, das Stolz bereits aus der Nationalität und Hautfarbe ableitet. Und es ist ja nicht so, dass alle, die für Front National oder AfD stimmen, damit schlagartig rassistisch würden. Allein deshalb nicht, weil viele es schon vorher waren. Eribon beschreibt etwa eindrücklich, wie stark der Alltagsrassismus in seiner Familie bereits in jener Zeit war, als diese noch für die Parti Communiste votierte. „Mit der Entscheidung für linke Parteien wählte man gewissermaßen gegen seinen unmittelbaren rassistischen Reflex an, ja gegen einen Teil des eigenen Selbst, so stark waren diese rassistischen Empfindungen.“ Parlamentarisch übersetzt sich Fremdenfeindlichkeit also vollends erst dann, wenn der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit von der politischen Bühne verschwindet. Neben der von Eribon aufgeworfenen Frage der Identität ließe sich aber noch ein weiterer Aspekt anbringen. Und zwar die Tatsache, dass linke Diskurse oft nur noch von dem bestimmt sind, was der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli „Opferideologie“ nennt. Nun muss man bei dem Wort Opferideologie erst einmal schlucken. Hört sich das doch zunächst nach einem jener Rülpser aus der Maskulinistenhölle an, wonach es gar keine Opfer von Rassismus, Sexismus oder Homophobie gebe, sondern es genau andersherum sei. „Gender-Ideologie“ und Political Correctness bildeten ideologische Waffen im Feldzug gegen den weißen Mann. Es ist jener gleichermaßen reaktionäre wie perfide Ethos, den Clint Eastwood kürzlich im Interview mit Esquire auf den Punkt brachte, als er sich darüber mokierte, dass wir in einer „pussy generation“ leben, in der Menschen andere Menschen tatsächlich des Rassismus bezichtigen. „Als ich groß wurde“, sagte Eastwood, „hat man solche Sachen nicht rassistisch genannt.“ Im Gegensatz zu diesem reaktionären Diskurs, der sich ja deshalb wieder in die 50er Jahre wünscht, weil da Frauen, Schwarze und Homosexuelle eben noch die Schnauze zu halten hatten, geht es Giglioli in seinem Essay Die Opferfalle um etwas anderes. Wenn die Formulierung einer Opferposition nicht mehr mit der Idee der Ermächtigung verbunden sei, drohe die Kultivierung von Passivität, schreibt Gigliolo. Das heißt: Wird das Ausstellen der eigenen Erniedrigungen zum Selbstzweck, bindet sich der Mensch an seine eigenen Verletzungen. Dann wirfd er zur bloßen Summe seiner Kränkungen. „Das Opfer ordnet das Sein hinter das Haben, reduziert das Subjekt auf einen Träger von Eigenschaften (und nicht etwa von Handlungen), verlangt von ihm auf schmerzhafte, aber stolze Weise das zu bleiben, was es ist.“ Es fehlt eine Idee des Guten Die Kritik zielt also nicht darauf, dass Menschen kein Zeugnis von ihrem erlittenen Unrecht dieses Zeugnis ablegen sollten. Sie zielt darauf, dass ohne politisches Projekt in einer bloßen Ontologie des Mangels münden kann. Und das führt nicht nur dazu, dass der Konflikt immer öfter durch den Skandal, Politik durch Moral ersetzt wird, sondern auch, sagt Giglioli, zum „Verlust einer allgemeinen, positiven Idee des Guten“. Dass dieser Verlust real ist, erkennt man bereits daran, dass linke Kampagnen ihre argumentative Schlagkraft oft nur noch aus der Verhinderung von Rechtspopulisten ziehen können. Was also tun? Ein bloßes Zurück zum alten Klassenkampf kann es freilich nicht sein. Schon deshalb, weil der klassische Marxismus historisch ja bewiesen hat, dass er jene emanzipatorischen Diskurse, ohne die eine offene Gesellschaft nicht zu denken ist, Feminismus oder den Kampf für die Rechte von Homosexuellen, nicht ausreichend integrieren konnte, ja ihnen bisweilen sogar widersprach. Eribon beschreibt zum Beispiel, wie sehr ihm bei seinem politischen Engagement immer wieder Homophobie entgegenschlug. Vielleicht wäre es aber ein Anfang, wenn die Linke jenes Bonmot von Karl Marx beherzt, wonach es zunächst nicht darum geht, alle gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben, sondern darum, ihnen eine Form zu geben, in der sie sich bewegen können. Die Rechtspopulisten tun das nämlich bereits. Rückkehr nach Reims Didier Eribon Suhrkamp 2016, 240 S., 18 € Die Opferfalle Daniele Giglioli Matthes & Seitz 2015, 126 S., 14,90 € ls 1988 die Olympischen Sommerspiele in Seoul stattfanden, war ich neun und ein fantasievolles Kind. Jedes Provinzbad, in dem ich mit meinem Schwimmverein Bahnen zog, wurde damals für mich zur olympischen Wettkampfstätte. Diese Strahlkraft haben die Spiele lange schon verloren, aber ich erinnerte mich jetzt daran, als ich einen Spot mit der südsudanesischen Sprinterin Margret Rumat Rumar Hassan sah. Es ist ein Werbeclip von Samsung, Hauptsponsor in Rio. Wir sehen die Leichtathletin in den Katakomben eines Stadions, vor ihrem inneren Auge taucht ein Mädchen auf, das sie vor einer Wand mit Zeitungsartikeln anfeuert. „Local Girl Dreams of Rio“ steht als Schlagzeile über einem Foto der Sprinterin. Wir sehen dann Schüler in einer Dorfschule, Männer in einer Dorfkneipe, staubige Straßen und immer mehr Menschen, die Margret Rumat Rumar Hassan anfeuern, sie steigen in Busse und auf Motorräder, manche rennen nur ein Stück mit, ein paar steigen dann in ein Flugzeug. Als Hassan aus den Katakomben ins Stadion tritt, steht das Mädchen natürlich unter den Fans auf den Rängen. „For those who defy barriers“ lautet der Slogan des Sponsors – für alle, die sich über Hindernisse hinwegsetzen. Man kann das zynisch finden, 60.000 Menschen sind Anfang August wieder binnen drei Wochen aus dem Südsudan geflohen, und natürlich stehen keine Flugzeuge für sie bereit. Laut Berichten des UNHCR wurden viele mit Waffengewalt daran gehindert, auch nur ins Nachbarland Uganda zu gelangen. Aber es ist nicht die Aufgabe von Werbespots, die Realität abzubilden. Das eigentliche Problem dieses Spots ist ein anderes: Er hat Realitäten geschaffen. Recherchen des Guardian zufolge liegt es auch an diesem Clip, dass Hassan überhaupt für Südsudan in Rio antritt. Der nationale Leichtathletikverband hatte sie nicht nominiert. Ausgewählt worden war der Sprinter Mangar Makur Chuot. Chuots Vater, der sich für die Unabhängigkeit des Südsudan einsetzte, wurde ermordet, als er vier Jahre alt war. Mangar wuchs in einem kenianischen Flüchtlingslager auf, 2005 erhielt er Asyl in Australien. In Perth befand ein Leichtathletikcoach, er laufe „wie eine Gazelle auf Amphetamin“. Chuot, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, wollte sich 2012 für das australische Olympiateam qualifizieren. Er wurde überfallen, die Einbrecher, Sudanesen, prügelten gezielt auf seine Beine ein. Seine Achillessehne riss, er fiel monatelang aus. 2014 wurde er australischer Meister über 200 Meter. Im Dezember 2015 eröffnete ihm der südsudanesische Leichtathletikverband, dass er in Rio das Land vertreten wird, für das sich sein Vater eingesetzt hatte. In dem Brief standen sogar schon die genauen Wettkampfzeiten. Das Nationale Olympische Komitee entschied acht Tage vor Beginn der Spiele anders. Sein Generalsekretär räumte im Radio ein, dass Margret Rumat Rumar Hassans Werbedeal mit ausschlaggebend für ihre Nominierung war. Mangar Makut Chuots komplizierte und tragische Geschichte lässt sich schwer auf 1:43 Werbeminuten verdichten. Noch weniger sponsorentauglich ist ihre traurige Pointe: Was die Schläger 2012 nicht erreichten, ist nun vollbracht. Chuot verkündete vergangenen Freitag seinen endgültigen Abschied vom Sport. Das Nationale Olympische Komitee bot ihm an, als Gast nach Rio zu reisen. Wie peinlich das ist, versteht nun wirklich jedes Kind. Der Sprinter im Porträt: freitag.de/chuot 14 Kultur der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 ßen. Das zeigt sich nicht nur in der lebensgroßen, verkitschten Skulptur eines weinenden Eisbären, sondern vor allem auch in ihren Fundstücken. „She told me I was one of her children“, hat Anohni auf einer Buchseite neben der Abbildung eines getöteten Rhinozeros notiert. „We were the same“, steht dort als Kommentar zu einem Medientagebuch Den Chefposten zu verlieren, scheint ein großes Glück zu sein Neben einem an den Läufen aufgehängten Wildschwein steht: „We were the same“ K L E I NA N Z E I G E Kur an der poln. Ostseeküste in Bad Kolberg! 14 Tage ab 399 Euro! Hausabholung inklusive! Tel.: 0048943556210 · www.kurhotelawangardia.de F O T O S : I N G O B U S T O R F, G U N T E R L E P K O W S K I ( U N T E N ) N icole Zepter möchte in Zukunft eigene Projekte vorantreiben. Da hat sie so große Lust drauf, dass sie partout nicht länger Chefredakteurin der Gruner+Jahr-Zeitschriften Neon und Nido bleiben kann. Zwar hat sie den Posten erst im Mai 2015 angetreten. Aber der Wunsch nach eigenen Projekten ist stärker. So ähnlich erging es auch schon Zepters Vorvorgängern Vera Schroeder und Patrick Bauer. Als der Verlag entschied, die Redaktionen der beiden Zeitschriften von München nach Hamburg zu verlegen, war nicht etwa dieser Umzug der Grund für ihren Ausstieg. Sie wollten schlichtweg neue berufliche Wege gehen. Und auch ihr Nachfolger Oliver Stolle, der nach 16 Monaten Umzugsmanagement Platz für die oben erwähnte Nicole Zepter machte, zog ausschließlich sein Heimweh zurück nach München und damit weg vom Posten des Chefredakteurs. Gründe, an diesen Aussagen zu zweifeln, gibt es nicht. Schließlich stammen sie vom Verlag selbst – und ein Unternehmen, das sein Geld mit Journalismus und damit dem Kampf für die Wahrheit verdient, würde doch niemals beschönigen oder gar lügen. Dass die verkaufte Auflage von Neon in den vergangenen zwei Jahren von 178.000 auf 123.000 gerauscht ist, die Stimmung in der Redaktion denkbar schlecht und Zepter ihrem Job als Chefin nicht gewachsen gewesen sein soll: Das sind nur langweilige Fakten und Gerüchte von „Redaktionsmitgliedern, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen mögen“. Und nur weil Zepters Vorgesetzte, die in der Gruner+Jahr-Pressemitteilung zitiert wird, ihren Beruf mit „Publisherin“ angibt und als solche einer community of interest vorsteht, heißt das noch lange nicht, dass man ihr nicht glauben kann. Auch wenn man dank der seltsamen Fremdwörter gar nicht versteht, was diese Frau eigentlich macht. Zudem sind die Chefs von Neon und Nido nicht die einzigen im deutschen Medienmarkt, die aus freien Stücken ihre Führungsposition aufgeben. Hans-Jürgen Jakobs zum Beispiel, bis Ende 2015 zusammen mit Sven Afhüppe Chefredakteur des Handelsblatts, gab sich in der offiziellen Mitteilung sehr erfreut, als die redaktionelle Verantwortung komplett seinem Kompagnon übertragen wurde. Er selbst darf sich schließlich seitdem Senior Editor, Mitglied im Beirat der Bildungsinitiative der Dieter von Holtzbrinck Stiftung und Herausgeber von Orange by Handelsblatt nennen. Letztgenanntes ist das junge Angebot der Wirtschaftszeitung, mit genau so vielen Fans, wie man unter jungen Menschen für Wirtschaftsthemen vermutet. 3.455 haben die Seite bei Facebook geliked; ein stolzes Dreiundfünfzigstel der Fanzahlen des Handelsblatts. Noch glücklicher dürfte nur Ulrich Reitz gewesen sein, als er im März als Chefredakteur des Nachrichtenmagazins Focus abtreten und an Robert Schneider von der Superillu übergeben durfte. Nach eineinhalb Jahren als Chef ist Ulrich Reitz nun Editor-at-large – ein Job, der in seiner Keine-Ahnung-wasdas-ist-igkeit von Gruner+Jahr erdacht sein könnte. Dort gibt es auch das Frauenmagazin Barbara mit Editor-atlarge Barbara Schöneberger. Sie darf der Zeitung nicht nur ihren Namen leihen, sondern auch das Editorial schreiben, Interviews führen und bei jeder Ausgabe den Titel zieren. Folglich dürfte der Focus bald als Ulrich mit Reitz auf dem Cover erscheinen; in alter Focus-Tradition ist er vermutlich nackt. Für solche Aussichten räumt man doch gern den Chefsessel. Juliane Wiedemeier James Elaine lässt Bohnenpflanzen aus „Britannica“-Enzyklopädien sprießen Am Fenster Ausstellung Die Musikerin Anohni zeigt in Bielefeld Kunst, die sie beeinflusst hat, zusammen mit eigenen Werken. Es ist eine Welt voller Mitgefühl QCara Wuchold T here is a black river / It passes by my window“ – so beginnt der Song River of Sorrow von Antony and the Johnsons, der im Jahr 2000 auf dem Debütalbum der Band erschien. Ein Requiem für Marsha P. Johnson, Namensgeberin der Band, deren Leiche am 6. Juli 1992 im Hudson River gefunden wurde. Die afroamerikanische, transsexuelle Aktivistin für die Rechte von Homosexuellen taucht nicht nur in der Musik von Antony Hegarty auf – selbst Transgender und inzwischen unter dem Namen Anohni aktiv –, sondern auch in Anohnis bildnerischem Werk. Ihre Collagen, Zeichnungen, Malereien und Skulpturen sind derzeit in der Kunsthalle Bielefeld zu sehen. Die deutsch-amerikanische Bildhauerin Kiki Smith hatte den Kontakt zwischen Anohni und dem Ausstellungshaus hergestellt. Marsha P. Johnsons lachendes Porträt – ein textiler Siebdruck, aufgenäht auf einer weißen Bluse – ist ebenso Teil der Schau wie eine Kopie ihrer Sterbeurkunde. „Suicide“ wurde darauf von der Polizei vermerkt, obwohl Johnsons Tod nie vollständig aufgeklärt wurde. „Disabled“ ist als Angabe zur Berufstätigkeit notiert. Zwei Stichworte, die in aller Härte verdeutlichen, wie es damals um die Rechte der LGBT stand. Rechts und links flankiert wird das Schriftstück von schwarz übertünchtem Papier, dem Anohni mit Flächen aus hellem Blau etwas entgegenzusetzen versucht. Die britische Künstlerin lebte zu Beginn der 90er Jahre bereits in New York, angezogen von ebenjener queeren Szene. Es ist ihr Lebenskosmos, in dem sie sich auch künstlerisch bewegt. Ob in der Musik oder der bildenden Kunst, macht hier nicht den entscheidenden Unterschied. Es gehe ihr nicht so sehr um die einzelnen Kunstwerke, sagte Anohni kürzlich dem Magazin Interview. „Die Arbeiten haben für mich etwas Spirituelles. Produziert habe ich sie nur, um eine Umgebung für mich selbst zu schaffen, eine Umgebung, die mir mein Überleben sichert.“ Und dazu zieht sie auch andere Künstler heran. Im ersten Stock der Kunsthalle sind Schwarzweißfotografien von Peter Hujar zu sehen. Darunter sein berühmtes Porträt Candy Darling on her Deathbed (1973) der todkranken Dragqueen und Warhol-Muse. Oder jenes von Charles Ludlam, Schauspie- ler, Filmemacher und Dramatiker, der wie Hujar selbst Ende der 80er an Aids starb. Hujar förderte ein neues Selbstverständnis der Szene und wurde zum Chronisten der Opfer des tödlichen Virus, an dem viele von Anohnis Idolen damals starben. Eine Kopie des Fotos von Candy Darling findet sich wieder in einem der Totempfähle, die Anohni an anderer Stelle aus verschiedenen Versatzstücken direkt an die Wand geklebt hat. Es sind Identitätssymbole, bestehend aus privaten Essensquittungen, einem Buchcover wie Die kleine Enzyklopädie der Frau, einem Nachruf auf einen Gay-Aktivisten und Zeilen wie „I got to B a boy“, die auf das musikalische Werk verweisen. „For today I am a boy / One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful woman“, hieß es in einem Song von Antony and the Johnsons. Drei Säulenheilige Dann sind da die Werke des US-amerikanische Künstlers James Elaine. Er rettet Bücher vor der Bedeutungslosigkeit und lässt Bohnenpflanzen aus alten Britannica-Enzyklopädien sprießen, die heute niemand mehr zu Rate zieht. In seinen Animal Books wiederum drapiert er von Autos überfahrene Tiere – Mäuse, Vögel, Reptilien – wie zwischen Buchseiten getrocknete Pflanzen und verschafft ihnen so einen Ort des Gedenkens. Zudem sind Teile seiner sogenannten blood series ausgestellt, darunter zerbrochene Porzellanvasen, die der Künstler mit Kunstharz und roter Tinte wieder zusammengefügt hat. Blut steht für ihn weniger für Verletzung als für Leben und Heilung. James Elaine ist Mitbegründer des Künstler-Lofts Arcadia in Brooklyn, in dem Anohni – damals noch als Antony Hegarty – regelmäßig performt hat. Der Tod spiegelt sich auch wider in der Filminstallation ihres dritten Säulenheiligen: des Japaners Kazuo Ohno, der als einer der Väter des Butoh-Tanzes gilt, einer japanischen Form des Ausdruckstanzes. Die Installation basiert auf dem Film Mr. O’s Book of the Dead von 1973, in Butoh-Manier tanzt Kazuo Ohno hier weiß geschminkt und fast nackt. „Er schien im Angesicht von etwas Geheimnisvollem und Schöpferischem zu tanzen; mit jeder Geste verkörperte er das Kind und das weiblich Göttliche. Er ist so etwas wie ein Elternteil meiner Kunst“, wird Anohni im Ausstellungsheft zitiert. Schon auf dem Cover des Albums The Crying Light (2009) von Antony and the Johnsons war Kazuo Ohno abgebildet. Wie Antony Hegarty aka Anohni in den Songs von Antony and the Johnsons Weltschmerz in ultrawarme Töne taucht, so verwandelt sie in der Ausstellung My Truth todtraurige Szenarien in eine Hommage. Und schafft sich auf diese Weise gleichzeitig Orte der Selbstvergewisserung, Orte, an denen sie sich aufgehoben zu fühlen scheint. Es ist eine Welt voller Mitgefühl, die Anohni in Bielefeld kreiert. Und das gilt für Menschen und Tiere gleicherma- Die Aktivistin Marsha P. Johnson taucht auch im bildnerischen Werk auf Anohni, „Turning (Chloe)“, 2008 an den Vorder- und Hinterläufen aufgehängten Wildschwein. Ihre kleinformatigen Collagen, in Wachs gebundenen Farbmalereien und filigranen Zeichnungen bleiben da meist kryptischer. Sie sind die stärksten Arbeiten in der vielfältigen Ausstellung. Form, Farbe und Material finden hier inuitiv und treffend zusammen. Einige größere Malereien wirken dagegen einfach nur flach. Diese Werke sind in den vergangenen 15 Jahren jenseits der Öffentlichkeit entstanden. In einem Interview sagte die Transgender-Künstlerin kürzlich, sie empfinde das bildnerische Arbeiten als einen „würdevolleren Prozess“, da es – anders als ihre Musik – nicht in direktem Zusammenhang mit ihrem eigenen Körper stehe. Ihr aktuelles Album Hopelessness – das erste, das sie im Mai dieses Jahres als Anohni veröffentlichte – hat sie radikal in den Dienst ihrer politischen Botschaften gestellt. Da geht es um Überwachung, globale Erwärmung und Drohnenkrieg. Um ihre Enttäuschung gegenüber Barack Obamas Politik. Themen wie die Folgen des Klimawandels scheinen auch in ihrer bildenden Kunst immer wieder durch. Doch die Werkschau in der Kunsthalle Bielefeld wirkt weniger wie eine Anklage, sondern vielmehr wie eine Einladung: in einen künstlerisch aufgeladenen Resonanzraum, in dem all jenes zu seinem Recht kommt, was in der Welt da draußen aufs Äußerste gefährdet zu sein scheint. My Truth. James Elaine, Peter Hujar, Kazuo Ohno Anohni Kunsthalle Bielefeld, bis 16. Oktober Kultur 15 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Drama mit Trauma „Es entsteht immer ein Abhängigkeitsverhältnis“, bekräftigt ein Psychologe Konfliktstoff Wie Theater mit Geflüchteten arbeiten, ist umstritten. Über die Grenzen zwischen Kunst, Ausbeutung und Therapie QAnn Esswein Rund um die Uhr Die Antwort von Maher Draidi wäre „Ja“. Der Leiter von Travellers 3 ist Schauspieler und Theaterpädagoge, Regisseur und noch weit mehr für die Jugendlichen. Es ist Juni, Draidi hat zum Fastenbrechen in seine Neuköllner Wohnung geladen. Wie ein Familienoberhaupt sitzt er am Tischende, weiße Haare ziehen sich durch seinen schwarzen Pferdeschwanz. Um Punkt zehn Uhr öffnet er die Colaflaschen. Die Jugendlichen stürzen sich hungrig auf das Büfett, für das Draidis Frau den ganzen Tag gebacken und gekocht hat. Für einen Moment legt er den Kopf schief und mahnt die Jungs zur Ruhe, dann lächelt er gutmütig. Eigentlich arbeitet der Palästinenser drei Stunden die Woche fest angestellt im Theaterbüro. Er schreibt Stücke und feilt an ihrer Inszenierung. Nebenbei spricht er mit Lehrerinnen, wenn es Ärger in der Schule gibt, und er regelt bürokratische Angelegenheiten für die Jugendlichen. Wie Samer kamen viele als unbegleitete Minderjährige nach Deutschland. „Dieser Ort ist neu, und ich bin der Link zwischen der alten Heimat und hier“, sagt Draidi leise. Ständig hat er sein Handy in den Händen. Sie haben eine Whatsapp-Gruppe, dort sei er rund um die Uhr erreichbar, oft genug auch nachts. In seiner Ausbildung als Theaterpädagoge warnten die Dozenten ihn vor der Arbeit mit traumatisierten Jugendlichen. Es kön- F O T O : M A H E R D R A I D I / T R AV E L L E R S 3 E rst mal ist da nur die Erinnerung. Die drei auf drei Meter große Fläche bleibt gedankliche Kulisse. Schwere Filzvorhänge dunkeln die Fensterfront des Jugendzentrums ab. Es ist so leise, dass man Samer schlucken hört, als er auf die beleuchtete Fläche tritt. Wie ein Fußballspieler nach dem Tor triumphiert der 16-Jährige, er rennt durch das Quadrat, albert herum. Einen Moment später versteckt er sich schreiend hinter den Vorhängen. Aus dem arabischen Monolog stechen zwei Worte hervor: „Europa“, und noch deutlicher: „Mama“. Samer schlägt mit der Faust gegen die Wand, als ein Handy klingelt. „Alemanja“, wiederholt er ungläubig. Jetzt schießen dem zierlichen Jungen Tränen in die Augen. Er muss verlegen grinsen. Während seine Freunde applaudieren, fallen seine Schultern. „Wir brauchen keinen Arzt und keinen Psychologen, wir brauchen nur eine Bühne.“ So beschreibt es später in der Reflexionsrunde Samers Freund Abdil Karim. „Jeder hat eine Geschichte, die er mit sich schleppt“, sagt der 18-Jährige, die anderen nicken. Die größtenteils syrischen Jugendlichen gehören der Theatergruppe Travellers 3 an. Seit acht Monaten proben sie zusammen. Nach ihrer Ankunft war es für viele das Erste, was sie taten, wenn sie nicht täglich vor Berliner Ämtern kampierten. Der Verlust einer geliebten Person, angeknackstes Selbstbewusstsein, das unverständliche neue Deutschland und immer wieder die Heimat – diese Themen ziehen sich durch die Improvisationen, die sich später zu einem Theaterstück formieren. Ein Laientheater könnte man die Gruppe des Interkulturellen Theaterzentrums in Neukölln nennen oder auch eine sozialpädagogische Maßnahme. Ein Gegenentwurf zum Repräsentationstheater der etablierten Häuser. Spätestens seit vergangenem Sommer ist das Thema Flucht und Migration aus den großen Theatersälen und den Kulturprogrammen der Berliner Hinterhöfe nicht mehr wegzudenken. So unterschiedlich ihr Publikum ist, sie haben eines gemeinsam: Scheinbar inflationär bedienen sie sich der realen Erinnerungen der Geflüchteten. Seit diese selbst auf der Bühne stehen, verschwimmen die Grenzen zwischen Laien- und professionellem Theater. Sogar ein Genrebegriff hat sich etabliert. Das sogenannte Geflüchtetentheater möchte alles, Ästhetik, Authentizität, Aktionismus und Aufarbeitung, am besten gleichzeitig. Kann Theater das leisten? Laientheater und sozialpädagogische Maßnahme: die Gruppe Travellers 3 aus Berlin-Neukölln ne schädlich sein, die Traumata ohne professionelle Begleitung eines Psychotherapeuten hervorzuholen. Er widersprach. „Theater ist die beste Therapie“, davon ist er auch heute überzeugt. Er spricht von einem „save space“ – einem geschützten Raum – und meint dabei viel mehr als das Theaterbüro oder sein Wohnzimmer. „Das grundlegendste Bedürfnis der Ankommenden ist Sicherheit“, betont auch der Psychologe Boris Friele vom Berliner Zentrum Überleben. Dem Deutschen Ärzteblatt zufolge leidet etwa jeder zweite Geflüchtete aufgrund von traumatischen Erlebnissen an einer psychischen Erkrankung. Ein Teil der Belastungsstörungen werde jedoch erst in Europa durch das Asylsystem verursacht, durch angedrohte Abschiebungen und prekäre Situationen in den Notunterkünften. Friele spricht in diesem Zusammenhang von „retraumatisierenden Erlebnissen“. Diese könnten auch in der Theaterarbeit auftreten. Für manche sei der kreative Rahmen eine Befreiung. Für andere könne die Konfrontation mit dem eigenen Schicksal traumatische Gefühle von Angst und Ohnmacht wiederbeleben. Dem Theater attestiert er grundsätzlich therapeutisches Potenzial, gleichzeitig warnt er: „Es entsteht immer auch ein Abhängigkeitsverhältnis.“ Kritisch sieht er die Instrumentalisierung der Geflüchteten für künstlerische Zwecke. „Sie haben es schwer, die kulturelles Codes unserer Gesellschaft zu verstehen“, fügt er hinzu. Entscheidend sei, dass man achtsam und sensibel mit den Geschichten der Betroffenen umgehe, um ungewollte Bloßstellungen zu vermeiden. Für ihn ist bezeichnend, dass viele Regisseure sich zwar der Geschichten der Geflüchteten bedienen, sie aber von professionellen Schauspielern vortragen lassen. Bestes Beispiel dafür sind die Asyl-Dialoge. Die dokumentarische Theaterreihe der Bühne für Menschenrechte hat in den ver- „Ich bin für die Jungs der Link zwischen ihrer alten Heimat und hier“, sagt der Regisseur gangenen Jahren großen Zuspruch erfahren. Stoff der schlichten Inszenierungen sind die Geschichten Geflüchteter, die um ihren Aufenthaltsstatus bangen, sowie von Unterstützern und Aktivisten. Schauspieler tragen sie wortgetreu vor, sie sprechen auf den Bühnen kleiner Theaterhäuser und Kulturkneipen. Am Ende jeder Inszenierung folgt ein Publikumsgespräch. Das dokumentarische Theater will politisieren und das Publikum direkt ansprechen, „als Komplize“. „Dafür leihen wir uns die Geschichten der Geflüchteten“, sagt Initiator Michael Ruf und scheint dabei Angst vor dem Wort „bedienen“ zu haben. pulse, er verband das aktivistische Laientheater mit der Hochkultur. Das Berliner Maxim-Gorki-Theater stellte ihm ein Büro, vier weitere Theater engagierten den ehrgeizigen Pakistaner für ein Jahr. „Wir haben nicht genug Jobs, geht zurück in euer Land“, schreit Ullah auf der Bühne. Der stämmige Mann zittert. Seine Augen sind weit geöffnet. Für seinen Tobsuchtsanfall erntet er spontanen Applaus. Es ist eine Aufzeichnung des Stücks Do Butter- flies have Borders?, mit dem Ullahs unerwartete Laienkarriere begann, als er 2013 sein persönliches Feindbild spielte: den Beamten, der ihn täglich ernüchterte. Monatelang wartete Ullah auf eine Arbeitserlaubnis. Zufällig traf er in der Notunterkunft auf eine Theatergruppe. Als loser Zeitvertreib gegen das Warten begann es, dann entdeckte er, wie ihm das Spielen half. Die Kunst habe ihm ermöglicht, Dinge zu sagen, die er sonst nie losgeworden wäre, sagt er. Im März diesen Jahres sprach Samee Ullah 90 Minuten lang im Bundestag als Gesandter des Refugee Club Impulse zum Thema Flucht und Migration. Von der Theaterbühne hatte er es auf die politische geschafft. Medien berichteten über den „Vorzeigeflüchtling“. Ein Star wollte Ullah nie sein. Was er in Deutschland suchte, war Normalität. Sicherheit fand er im Theater. Während die syrische Gruppe Travellers 3 noch im geschützten Raum des Jugendbüros probt, strebt die Truppe um den Refugee Club Impulse nach draußen. Für ihr aktuelles Projekt Caravan Al-Hakawati nutzen die Theatermacher die Kunst der arabischen Geschichtensammler und -erzähler. In einem bunten Zug durch die Straßen – die „Welt der Grenzen“ – erzählen fiktive Figuren die „Geschichten dieser Welt“. Wer hinter den pompösen Masken steckt, ist nicht zu erkennen, und es ist auch nicht wichtig. Die heterogene Gruppe besteht aus Laienschauspielern und Professionellen, Geflüchteten und ihren Mitstreitern. Die normative Bühne ist aufgelöst, unters Volk gemischt, dort, wo sie laut Ullah hingehört. Nicht in elitären Cliquen über Geflüchtete reden, lautet die resümierende Forderung der Aktivisten nach drei Jahren Theaterarbeit. Oder, um es mit Stemanns resignierter Abänderung in den Schutzbefohlenen zu sagen: „Ich kann nicht für euch sprechen, macht das lieber selbst.“ ANZEIGE Kommt Ironie an? „Wir können euch nicht helfen, wir müssen euch doch spielen“, heißt es in Nicolas Stemanns Inszenierung der Schutzbefohlenen. Angelehnt an die griechische Tragödie Die Schutzflehenden geht es in dem Stück von Elfriede Jelinek um die Rolle der Geflüchteten im öffentlichen Diskurs. Das Hadern, wie mit ihnen auf der Bühne umzugehen sei, wird zum subtilen Leitmotiv. Stemann probiert sich seit der Uraufführung 2014 mit verschiedenen Versionen aus, immer abwägend, wer die artifiziellen Texte in perfektem Deutsch sprechen kann und wie authentisch die Inszenierung trotzdem sein soll: Mal rezitieren weiß, mal schwarz geschminkte Schauspielprofis Jelineks Zeilen, dann wieder hellhäutige Schauspieler mit weißen Masken. Stemann wurde deshalb auch Exotismus vorgeworfen. Als Klagechor holt er die Geflüchteten selbst auf die Bühne. Sie spielen in zweiter Reihe, oft nur für wenige Minuten. Die moralischen Tücken dieser Darstellung stilisiert Stemann zu einer Analogie zum Stand der Geflüchteten in Deutschland. „Die Flüchtlinge spielen eben auch nur eine Rolle. Auf der Bühne wie in der Gesellschaft“, sagte er in einem Interview. Die Bühne als Metapher für die realen Verteilungskämpfe in der Gesellschaft. Kommt diese Ironie bei den Geflüchteten an? Samee Ullah machte Stemanns Inszenierung nicht nur ratlos, sondern wütend. Die metaphorischen Verteilungskämpfe auf der Bühne sind für ihn tatsächliche. Er hält nichts von Projekten, bei denen „Geflüchtete sich auf der Bühne so bewegen sollen, wie es ein privilegierter Regisseur will“, sagt der 33-Jährige frustriert. „Wir sind keine Kunstobjekte.“ Drei Jahre lang war er Mitstreiter des Kollektivs Refugee Club Im- Milliarden: Betrüger Das Debütalbum ab 12.08.16 als CD / LP / Download www.milliardenmusik.de 16 Literatur der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Schreiben nach Gehör Sprache Eduard Engels Meisterwerk „Deutsche Stilkunst“ war lange vergessen. Nun erscheint es in einer Neuauflage träge auf Englisch zu halten“. Stil und Sprache sind „Gedankenform“, wird Engel nicht müde zu erklären. Sprechen und Denken stehen in engem Zusammenhang, den Griechen schon galten sie als so untrennbar verbunden, dass sie für beides nur einen Begriff kannten: logos. „Die Sprache ist gleichsam die äußerliche Erscheinung des Geistes der Völker, ihre Sprache ist ihr Geist und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich beide nicht identisch genug denken“, sagte Wilhelm von Humboldt. Und gilt diese Einsicht nicht auch für unseren alltäglichen Sprachgebrauch? Aber natürlich, antwortet Engel und weist damit ausdrücklich den Verdacht zurück, sein Kampf gegen die „Fremdwörterei“ verdanke sich etwa „schrullenhaftem Hass“ oder bloßer „Schulmeisterei“. Ihm geht es nicht um Verdeutschung um jeden Preis, sein Grundsatz lautet: „Kein Fremdwort für das, was deutsch gesagt werden kann.“ Die Wir- QGert Ueding W er Eduard Engels Deutsche Stilkunst nur als Lehrbuch oder Nachschlagewerk für den besseren Ausdruck benutzt, hat seine Größe und wahre Absicht nicht verstanden. Es ist das schönste und zugleich genaueste Porträt der deutschen Sprache, das wir besitzen. Von den kleinsten Einheiten, den Wörtern, bis zu Satz, Periode, Rede und Schrift entsteht das Bild einer reichen, geschmeidigen, unterscheidungsstarken, aber auch nicht ungefährdeten Sprache – und dieses Bildnis ist bezaubernd schön, weil der Autor nicht nur als souveräner Kenner, sondern auch als Liebender schreibt. An ihrem „unerschöpflichen Wortreichtum“, ihrer „ganz einzigen Freiheit von Wortstellung und Satzbau“ erfreut er sich und lässt auch auf die Zeichensetzung nichts kommen, ist sie doch „für das leichte Verstehen notwendig“. Man merkt jedem Satz des Autors Begeisterung und scharfsinnige Empfindlichkeit an. So ist ein Prosawerk ersten Ranges entstanden, das an Ort und Stelle die Tugenden selber vorführt, die es beschreibt. 1911 erschien die erste Auflage, 30 weitere folgten bis zur letzten 1931. Damit verschwand das Buch vom Markt – nicht etwa, weil es keine Leser mehr fand, sondern weil der jüdische Gelehrte Engel nicht mehr veröffentlichen durfte. Das besorgte ab 1943 für ihn ein Autor, den wir alle aus dem Deutschunterricht kennen: Ludwig Reiners. Aus ihm wurde so etwas wie ein geistiger Kriegsgewinnler auf Kosten des verfemten, 1938 verstorbenen Engel, bei dem er manchmal auch abschrieb. Reiners’ Stilkunst ist bis heute Standardwerk. Sein Grundsatz lautet: „Kein Fremdwort für das, was deutsch gesagt werden kann“ Engel, dessen Stilkunst nun bei der Anderen Bibliothek in einer schönen Neuausgabe erschienen ist, kannte die gesprochene deutsche Sprache wie kein anderer aus seiner täglichen Arbeit. Von 1871 bis 1919 war er amtlicher leitender Stenograf im Deutschen Reichstag, hat also, schreibt er, „mehr Reden als irgend ein andrer mitangehört“, „zehntausende lange und kurze Reden (…) auf ihre Form geprüft“. Das Ergebnis in fast 50 Jahren: „formvollendete Redner nur vier oder fünf, sprachlich und künstlerisch schöne Reden vielleicht zwanzig, gewiss nicht dreißig“. Die niederschmetternde Erfahrung hat ihn nicht verzweifeln lassen, sondern sie wurde zum kräftigen Motor seiner Stilkunst. Dass sie sein Bild von der deutschen Sprache nicht einschwärzte, verdankte er seiner immensen literarischen Bildung, die weit über die deutschen Grenzen hinausging. Er kannte Shakespeare so gut wie Byron oder E. A. Poe, verkehrte freundschaftlich mit Fontane, Zola oder Daudet. Der oberste Heilige in seinem literarischen Ka- A B B . : A K G - I M A G E S / D PA Verbrüderung Verschloss sein inneres Ohr nicht in der Nachttischschublade: Eduard Engel (1851 – 1938) lender aber war und blieb Goethe, mit dem er beinah wie mit einem Zeitgenossen umging, ihm gelegentlich auch mal eine Ungeschicklichkeit einräumte. Durch das familiäre Verhältnis zu „seinen“ Autoren (zu denen besonders noch der Prosakünstler Nietzsche gehörte) gewinnt seine Stilkunst ihre Lebendigkeit. Man kann das Buch auch als Wegweiser durch das Schatzhaus der ANZEIGE ! Film-Konzepte Herausgegeben von Michaela Krützen, Fabienne Liptay und Johannes Wende ++ # ")$& #* " "%#& *")$( *!$'% #* auch als eBook Johannes Wende (Hg.) Heft 43 François Ozon etwa 100 Seiten, zahlreiche farbige und s/w-Abbildungen ca. € 20,– (D) ISBN 978-3-86916-511-0 François Ozon (*1967) steht in der Tradition des französischen Autorenfilms, wobei er im zeitgenössischen Kino einer der wenigen ist, deren Namen auch hierzulande einem größeren Kinopublikum bekannt sind. 6HLQ bisheriges Werk LVWäußerst vielfältig und reicht von aufsehenerregenden Kurzfilmen über bunte Publikumserfolge wie »8 Frauen« bis hin zu psychologischen Dramen wie »Jung und Schön«. deutschen Literatur seit Luther lesen. Engel war ein Meister des Zitierens, wie es – Jean Paul ausgenommen – sonst keinen in unserer Literatur gibt. Er leitet jedes Kapitel mit einem Zitat ein, bringt es als Beleg oder Glanzlicht, als ironischen Kommentar oder abschreckendes Beispiel. Niemals aufgesetzt, niemals, um mit Namen und Belesenheit zu prunken. „An einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“, lässt er Nietzsche uns vorsprechen und folgt ihm überhaupt im Lobpreis des Hörens als Bedingung des guten Schreibens. Das sei bei uns so selten, weil der Deutsche sein inneres Ohr in der Nachttischschublade verschlossen habe. Dieser Akzent ist für den heutigen Leser die erste große Überraschung. Engel geht es um nichts Geringeres als „das Überwinden des Buches“; für die „gute Schreibe“ kennt er „keinen bessern Rat als den des möglichsten Annäherns an die gute Rede“. Ja, dass die Deutschen trotz ihrer unvergleichlich entwickelten Sprache so schlecht schrieben, liege daran, dass sie das Schreiben vor dem Reden lernten; schon Leibniz hatte diese Überzeugung vertreten. Und wirklich: Engels Stilkunst ist eigentlich eine Was den Leser überrascht: Letztlich geht es um die „Überwindung des Buches“ Redekunst, und wenn er zum Beistand fremde Autoritäten braucht, lässt er nicht etwa eine der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Stillehren zu Wort kommen, sondern Aristoteles mit seiner Rhetorik, Cicero mit seinem Buch Über den Redner oder Quintilian mit seiner Institutio oratoria. „Man schreibt nicht für sich, sondern für einen anderen“, lautet Engels wichtigste Maxime, die Wirkungsabsicht darf man nicht aus dem Auge verlieren, und sie erfüllt sich nicht in einer stummen, sondern in einer beredten Sprache. Daher muss man einen Satz hören, also laut sprechen, wenn man seine Schönheit spüren will. Wer „auf die Tonwirkung des Geschriebenen verzichtet, beraubt sich eines der stärksten Eindrucksmittel“. Verluderung Wie ein Bildnis Caravaggios gewinnt Engels Sprachporträt Tiefe und Körperlichkeit auch durch dunkle Kontraste. Durch diesen Widerspruch kommt eine dramatische Note ins literarische Spiel. Denn nicht bloß die „Schreibsamkeit“ der Deutschen bedroht ihre Sprache, sondern auch die so sprachverlassenen Wissenschaften und die kaum noch zu bändigende „Fremdwörterei“. Beide Gesichtspunkte spielen in der heutigen Sprachdiskussion eine wichtige Rolle; Engel hat Bedenkenswertes dazu beizutragen. Wie verräterisch wirkt im Lichte seines Buches doch ein Appell deutscher Wissenschaftler, auf Tagungen im eigenen Lande „neben Englisch immer auch (!) Deutsch“ vorzusehen, oder die Aufforderung an deutsche Wissenschaftler vor einer germanistischen Tagung in New York, „ihre Vor- kungsabsicht ist auch in diesem Punkt wieder sein wichtigstes Kriterium, bestehe sie nun in formelhafter „Scheinklarheit“, im bewusst gebrauchten „Nebelwesen des Fremdworts“, in „Wissensprotzerei“, gezielter Unverständlichkeit oder der Sprachilloyalität der deutschen Sprecher. In diesen Kapiteln verwandelt sich der Sprachliebhaber in den beißenden Polemiker. Besonders lustvoll nimmt er sich der Germanisten an, die deshalb so heißen, weil sie nichts von der deutschen Sprache verstehen: Wenige von ihnen sind in der Lage, „zwei Sätze hintereinander nur in deutscher Sprache zu schreiben“ oder selbst „um ihr Leben zu retten die Hauptbegriffe eines längeren deutschen Satzes deutsch auszudrücken“. Kurz: „Vielen Germanisten versagt das Deutsche bis zum Lallen.“ Was würde ihm angesichts heutiger Schöpfungen aus geisteswissenschaftlicher Werkstatt wohl einfallen? Er hätte jedenfalls noch sehr viel mehr Grund als zu seiner Zeit zu fragen: Welches Recht haben eigentlich die Deutschen, „die Sprache anderer Völker zu bestehlen und die gestohlenen Wörter pöbelhaft verunstaltet in die eigene Sprache einzuflicken“? Und: „Mit welchem Recht untersteht sich ein Deutscher, Wörter der ihm anvertrauten Sprache zu verdrängen, zu unterdrücken, auszurotten, um an ihre Stelle die verpöbelten, gestohlenen Wörter fremder Sprache zu setzen?“ Eine Ausrichtung seines Themas hat Engel trotz der Zeitgenossenschaft zur „Lingua Tertii Imperii“, zur Sprache des „Dritten Reiches“, nicht gesehen, die für uns heute eine so wichtige Rolle spielt: die bewusste Sprachpolitik zur Durchsetzung politischer Ansprüche. „Die Globalisierung läuft nach dem Vorbild der USA ab“, stellte schon vor Jahren der Leiter der Pariser Zweigstelle von McKinsey befriedigt fest – nicht unbeteiligt an diesem Erfolg sei die Dominanz des Englischen. Wer durch unsere Fußgängerzonen wandert, mit dem Computer arbeitet oder die Populärkultur nutzt, bekommt einen Eindruck von der wirklichen Dimension der Verluderung der deutschen Sprache und ihrer Auslieferung an ein Pidgin-Englisch, das noch dazu zur „Unternehmenskultur“ hochgejubelt wird. Immer wieder aber berichten auch Beobachter, dass die Umstellung von nationalen Konzernsprachen aufs Englische, ob bei Bertelsmann, Nissan oder Aventis, vom „kulturbedingten Widerstand unter den Beschäftigten“ behindert werde. Engel hätte ihnen den deutschen Sprachpreis verliehen. Deutsche Stilkunst Eduard Engel Die Andere Bibliothek 2016, 976 S., 78 € Literatur 17 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Wenn die Dinge zornig werden Erzählband Martin Lechner wirft einen Blick in die grotesken, bedrohlichen Abgründe des Alltags QAndreas Böhme F O T O : E L M E R M A R T I N E Z /A F P/ G E T T Y I M A G E S M Das Krankenhaus in Nicaragua, wo die Romanheldin zuletzt im Einsatz war, verzichtet fortan lieber auf ihre Dienste Zug um Zug Roman Katja Lange-Müller steckt eine Ex-NGO-Mitarbeiterin in eine Erinnerungsschleuder QJörg Magenau V ermutlich ist Asta keine Frau, die sich hinsetzen würde, um Nietzsche zu lesen. Das passt nicht zu ihr. Und doch hat Katja Lange-Müller ihrem Roman – und damit ihrer Romanfigur – ein Zitat des Mitleid-Verächters und Nächstenliebe-Überwinders Nietzsche als Motto mitgegeben: dass der allerbeste Wille nichts nützt, wenn er „unbescheiden genug ist, denen nützen zu wollen, deren Geist und Wille ihm verborgen ist“. Ums Helfen in all seiner Vergeblichkeit und die oft kontraproduktiven Folgen geht es in diesem Buch. Nach 22 Jahren Auslandseinsatz in diversen Hilfsdiensten und Krankenhäusern ist Asta wieder in Deutschland gelandet. Sie steht einigermaßen derangiert am Münchner Flughafen in einer Drehtür, zwischen drinnen und draußen, aber doch eher draußen, weil sie unbedingt rauchen muss, und zwar nicht nur eine, sondern ganz viele Zigaretten. Schließlich hat sie eine ganze Stange aus dem Duty-free-Shop in ihrer Plastiktüte. Mit dem Rauchen kommen die Erinnerungen, ausgelöst durch Passanten, die dieser oder jener Figur aus ihrem Leben ähneln. Mit jedem Zug steigert sich ein anfangs noch diffuses Unwohlsein. Dass Rauchen tödlich ist, steht ja auf jeder Zigarettenpackung; die Geschichten aber, die sich einstellen, die sind pures Leben. Erzählen ist nicht bloß in Tausendundeiner Nacht ein Überlebensmittel. Die Versuchung ist groß Asta ist da, und sie ist nicht da. Sie ist angekommen, aber ohne Ziel. Mit den deutschen Worten tut sie sich schwer, die sogenannte Muttersprache ist ihr fremd geworden. Hauptwort? Aufhören? Aufhorchen? Kettenglied? Donnergrollen? Was haben die Worte und die Dinge, die sie bezeichnen, miteinander zu tun? Also beschließt sie, erst einmal nichts zu sagen, in ihren Gedanken zu verschwinden. Asta ist 65 Jahre alt, Zeit für Rente und Ruhestand, und da steht sie nun, eher unruhig, weil die titelgebende Drehtür nun mal kein Platz ist, an dem man zur Ruhe kommen könnte. Asta ist altersmäßig, nikotintechnisch, DDR-geschichtsbezüglich, mit einem UlanBator-Aufenthalt und sicherlich auch manchen anderen Erlebnissen ein Alter Ego der Autorin. Die Versuchung, Bücher von Katja Lange-Müller als autobiografische Auskünfte zu lesen, ist immer groß, weil sie darin so deutlich enthalten ist. Sie selbst bezeichnete ihr Schreiben einmal als „Konglomerat aus Erlebtem, Gehörtem und Erdachtem“ – was auch sonst? Das macht zwar in der Summe ein Leben aus, hat aber nichts mit biografischer Linientreue zu tun. Umso mehr aber mit einer Gefühls- und Wahrnehmungsauthentizität, die ihrer Prosa stets eine besondere, menschenfreundliche Wärme gibt. Weil das so ist, lässt Katja Lange-Müller ihre Asta dann auch beiläufig über dieses Problem nachdenken, so als ob ihre Figur schon selbst nicht mehr wüsste, was sie sich ausgedacht und was sie tatsächlich gehört oder erlebt hat. Bei einer guten Geschichte ist das ja sowieso vollkommen egal. Tatsächlich ist Drehtür eher eine Geschichtensammlung als ein Roman. Die Tür funktioniert wie eine Art Propeller, der Erinnerungen aufwirbelt, manchmal ist Asta auch bloß die Referentin, die andere Stimmen zum Sprechen bringt. So in der eindrucksvollsten Geschichte, die durch den Anblick einer Flughafen-SupermarktKassiererin ausgelöst wird, die an die einstige Kollegin Tamara Schröder erinnert, Tamara, wie Tamara Bunke, als Folge der Kuba-Revolutionsbegeisterung des Vaters. Etwas umständlich referiert Tamara deshalb zuerst die traurige Geschichte von Tamara Bunke und Che Guevara, bevor sie auf ihre eigene kommt: dass sie einmal geschrieben habe, eine Erzählung, in der eine Singer-Nähmaschine eine Rolle spielte, was ihr auf dem Umweg über die Frankfurter Buchmesse eine Indienreise einbrachte. Dort geriet sie in eine finstere Baracke, in der Hunderte entstellter Frauen an Nähmaschinen saßen. Vor denen sollte sie lesen, konnte aber nur weinen über ihre eigene Hilflosigkeit und tat ihnen mit dieser als Mitleid aufgefassten Geste den größeren Gefallen. Diese vernarbten, verkrüppelten Ein Koch aus Nordkorea hat Zahnweh, und der Geliebte taugt nichts Frauen waren, so stellte sich heraus, von ihren Schwiegermüttern angezündet worden, weil sie zu wenig Mitgift eingebracht oder eine Tochter geboren hatten. Helfen hieß nun, mindestens 150 Nähmaschinen zu organisieren und nach Indien zu schicken, ein Auftrag, den Tamara erfolgreich absolvierte und der sie zugleich dem Schreiben nachhaltig entfremdete. Helfen und Schreiben – das scheint auch eine Botschaft zu sein – passen nicht zusammen. Man muss sich für eines davon entscheiden. Schreiben setzt Distanz und vielleicht auch Mitleidlosigkeit voraus. Die anderen Geschichten sind weniger sozialkritisch eingefärbt. Es gibt eine Begegnung mit einem nordkoreanischen Koch, der unter Zahnschmerzen leidet, einen immer schriller missratenden Aufenthalt in einer tunesischen Ferienkolonie mit einem Freund, der zum Geliebten nicht taugt. Auch das ist ein wiederkehrendes Motiv: Mit der Liebe klappt es bei Asta nicht. Freundschaft ist ihr sowieso wichtiger, sagt sie einmal, was vermutlich gelogen ist. Vielleicht ist es mit der Liebe wie mit dem Erzählen, wenn Asta feststellt, dass es „Geschichten gebe, die offen bleiben würden, deren Fortgang und Ende ich mir, falls ich das nicht ertragen könnte, schon selbst zusammenreimen müsste“. it Kleine Kassa legte Martin Lechner 2014 einen virtuosen Debütroman vor. Er schickte einen modernen Simplicissimus auf einen Hindernisparcours durch seine Heimatstadt Lüneburg, wobei die hyperbolische Sprache in dem naiv-klugen Protagonisten stets ein Zentrum hatte, alle narrativen Fäden liefen dort zusammen. Auf einen solchen identifikatorischen Anhalt muss der Leser in seinem neuen Erzählungsband Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen verzichten. Trägt und bewegt Lechners rhythmische Sprache, die gleichermaßen von Verdichtung wie von arabesker Verzweigung lebt, auch kurze Texte? Der Autor entwirft Experimentier-Anordnungen, Un-Fälle zwischen Menschen, zwischen Menschen und Dingen. Der Leser steht vor einer Absperrung. Er weiß: Dies ist ein Tatort. Oder eine Parade von Freaks. Es treten auf: ein lebensmüder See, der sich durch den Fund eines abgetrennten Kopfs in einem Koffer nun wieder etwas animiert fühlt, ein Duschvorhang, der um aktive Sterbehilfe bittet, bevor ihn der Schimmel überzieht, eine Socke, ein Ohr, ein abgetrennter Finger, ein Knie, ein Fuchs, eine Schraube, verschiedenste Städte, diese und jene Menschen auch. Es ist sicher keine Etikettierung, wenn man diese Erzählungen im Genre der Groteske verordnet. Tatsächlich zieht sich das Thema der Höhlen-, Grotten- und Abgrundgeschichten durch den ganzen Band. In der ersten Erzählung Mainz bemerkt ein Hotelbesucher „eine leichte Kuhle in der Mitte des Empfangsteppichs“, die ein „menschengroßes Loch anzudeuten“ schien. In Der Schacht erweitert sich die „Kuhle“ zu einem Abgrund, einem Krater gleich hinter der Hausschwelle, der das Haus unbewohnbar macht und den Eigentümer zu der Frage verleitet, „ob er sich nicht kopfüber in die Schwärze stürzen“ sollte. In Feierabend findet ein Pendler in der Zugtoilette einen Zugang zu einem Keller, der aus wildem, offenem Fleisch besteht, das ihn zu verschlingen droht. Immer wenn Menschen sich fallen oder gehen lassen, wenn sie sich erlauben, nicht zu funktionieren, tut sich ihnen eine groteske, bedrohliche Abgründigkeit auf. Grotesken haben vordergründig einen hohen Unterhaltungswert. Lechner aber stärkt das analytische Moment. Und zwar im wörtlichen Sinn: Er zergliedert, zerlegt. Der Blick schärft sich für das, was sich im Alltäglichen verrenkt, entfremdet, deformiert. Wenn die isolierten Dinge zu sprechen beginnen, erzählen die Geschichten zweierlei. Zum einen, wie müde, verzweifelt und zornig die Dinge in der Menschenwelt geworden sind. Zum anderen spiegeln sie unser Selbstverhältnis. Ästhetik des Trickfilms Lechner erzählt Missbrauchsgeschichten. Das Abgründige baut keinen Sinn für Erhabenes auf, das Hässliche provoziert nicht. Der Untergang taugt nicht, um Furcht und Schrecken zu erregen, die Katharsis ist perdu. Es geht einfach weiter: Ein Selbstmord in Schulzeit: „Ach nein, die Kugel jagte ihm bloß durch die Frisur, und er lebte noch Jahrzehnte dumm dahin.“ Was den ganzen Kuddelmuddel zusammenhält, ist Lechners Sprache. Sie bindet, was sie selbst trennt. Das analytische wird durch das stilistische Moment aufgefangen. Die Genauigkeit, die sich in der Sparsamkeit zeigt, qualifiziert auch die übermütigen Texte. Zuweilen aber verliert sie sich, kippt das Virtuose ins Verspielte. Das erinnert dann an die Ästhetik eines Trickfilms. Da liegt der dicke Mann plattgewalzt auf der Straße, springt im nächsten Augenblick wieder auf, und weiter geht’s: Keiner lernt etwas, die Eskapaden bleiben folgenlos. Aber vielleicht ist auch dies der Spiegel des Zeitgeists. Man denke etwa an die Börsenberichterstattung nach den Attentaten in Paris. Dort hieß es: „Wir lassen uns nicht beirren, wir machen weiter!“ Wie soll man da nicht ins Fach der Groteske greifen? Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen Martin Lechner Residenz 2016, 192 S., 19,90 € ANZEIGE E I N F I L M V O N N A H U E L L O P E Z im KINO Asta bräuchte Hilfe Dass Helfen womöglich nur ein Reflex ist, immer auch dem Helfer hilft, dass er Macht ausübt über den Hilfsbedürftigen, dass Mitleid tatsächlich eine zutiefst fragwürdige Empfindung ist – all diese Reflexionen sind weder neu noch originell. Sie dienen eben dazu, die disparaten Geschichten zusammenzuhalten. Asta steht am Ende des Buchs immer noch an der Drehtür, kämpft nun aber mit Schwindel und Übelkeit. Die Erinnerungsschleuder tut ihr offensichtlich nicht gut. Denn all die Geschichten führen nirgendwohin. Sie hat zwar noch eine Wohnung in Leipzig, aber was soll sie da? Eine Entwicklung findet nicht statt – wie auch, wenn die Drehtür die Bewegungsrichtung vorgibt? Asta bräuchte Hilfe. Sie begreift nichts, sie erzählt bloß. Das ist ihr Problem. Das ist am Ende aber auch das Problem dieses auf der Stelle tretenden Romans. EL VIAJE RODRIGO GONZÁLEZ ! !$ & # !!! % %""$ !% ' Drehtür Katja Lange-Müller Kiepenheuer & Witsch 2016, 224 S., 19 € El Viaje - Anzeigen.indd 1 29.07.16 14:16 18 Film der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 „Wie sollte ein neues Kino aussehen ohne eine gehörige Zahl an Filmen von Frauen?“ FOTOS: BRITISH FILM INSITUTE, LONDON, WIKIMEDIA CC (OBEN) Laura Mulvey hat ihre avantgardistischen Positionen auch in eigenen Arbeiten wie „Riddles of the Sphinx“ (1977) ausgeführt Wiederholt abspielen Aktualisierung Laura Mulvey ist feministische Filmtheoretikerin der ersten Stunde. Ein Dialog über Gestern und Heute zu ihrem 75. Geburtstag QIsabella Reicher E ngland im Sommer nach dem Brexit-Votum. „Ein Albtraum“, sagt Laura Mulvey, nicht nur weil die tief greifenden Folgen für den Bildungsbereich, für internationale Kollaborationen, Forschungsgelder oder Austauschprogramme für Studierende noch gar nicht abzuschätzen seien. Mulvey, die dieser Tage ihren 75. Geburtstag feiert, ist Professorin für Film- und Medienwissenschaft am Birkbeck College der University of London. Außerdem ist sie wahrscheinlich die einzige feministische Filmtheoretikerin, deren Name in einem Songtext auftaucht (in Still England von Viv Albertine, die nach dem Ende ihrer Band The Slits selbst bei Mulvey studierte). Vor allem hat Laura Mulvey mit Visual Pleasure and Narrative Cinema (Visuelle Lust und narratives Kino) vor 41 Jahren einen kurzen Essay verfasst, der lange Wirkung entfaltete und heute als ein Schlüsseltext gilt. Gerade ist er im Gender & Medien-Reader von Kathrin Peters und Andrea Seier in neuer deutscher Übersetzung wiederveröffentlicht worden. Im Zuge der Frauenbewegung hatte sich Mulvey in den frühen 70er Jahren einem Lesekreis angeschlossen, der sich Werke von Friedrich Engels, Claude Lévi-Strauss oder Sigmund Freud vornahm. Als Ergebnis dieser Lektüren unterzog sie ihr „geliebtes Hollywoodkino“ einer kritischen Betrachtung. 1975 veröffentlichte das renommierte britische Magazin Screen das Resultat dieser Auseinandersetzung, den besagten Artikel. Die Autorin argumentierte darin unter Bezugnahme auf die Freud’sche Psychoanalyse, dass Frauen im klassischen Erzählkino auf der Leinwand in ein männlich formatiertes Blickregime eingespannt werden („die Frau als Bild, der Mann als Träger des Blicks“). Eine eigenständige Zuschauerinnenposition und visual pleasure, visuelle Lust, blieben ihnen auch vor der Leinwand verwehrt. Nur in Avantgardepraktiken würden sich Möglichkeiten eröffnen, dieses Verhältnis auszuhebeln. (Mulvey und ihr Partner Peter Wollen führten dies wenig später mit eigenen Essayfilmen wie Riddles of the Sphinx aus.) Diese These ging mitten in den Kern des Kinos. Die sich daraus ergebenden Fragestellungen (und produktiven Einwände) prägten die sich etablierende Filmwissenschaft und die feministische Filmtheorie als eine ihrer zentralen Positionen. ANZEIGE * Digital, demokratisch 1%) /.!3% 8 8 8 8 5/./.3!'")2/..!"%.$).(1%-1)%&+!23%. )%20!1%.1/7%.374-/1-!,01%)2 !2"/%.$%3!43/-!3)2#(%2-422.)#(3!""%23%,,36%1$%. %373!4#(!,2%2#(%.+!"/ +.+5<38'.58'+5 ( ++ , +7! 0$" -"/ +-')( "$ +- (-$ +, )%.' +-.++ ( (2.' # .5 & $,! (-&$#+!+(27,$, +$ $()+20 $! +.&-.(, !- +) '$-.(-$( !$ ,# '$($,- + (+1 - +()+- +(%& ($-- &(. " ,#($,# .-,# +'-,%)&& $#+ '$- (" ( (% (0$ + $( " ' $(,' ( $"(. " (2 $", - $(' #!$(.( + ( +,# &4$(,-+% . 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Wie sieht sie diese Einschätzung heute? „Jemand von meiner Generation kann sich leicht intellektuell verunsichert und persönlich entfremdet fühlen angesichts der Explosion von Kommunikationskanälen im Netz oder der An+4%*'4 sammlung von Screens und Plattformen. .#0'5#3 Aber es sind Dinge entstanden, die meine Idee einer neuen Cinephilie weiter beflügeln. Ich denke an die videographic essays: Leute, die Filme lieben oder ein wissen schaftliches Interesse haben, machen Analysen, indem sie diese Werke zitieren, Bilder und Sequenzen neu ordnen, wiederholen, Audio- oder Textkommentare hinzufügen *'0 0'0/#% !05'35# .$!. )%2/8)! 3)2#(% !14-31!3%."1) 39%). .3%1 !22 3%1&>1$%.:1%7) !.'%0 /13/,!./ 4+3)/. 5)%6-)3.1)#/ $%,.2 ,%1/$ ;"%1$ <' /,)8%) ,%.+ #(!"%1 3%1$%2 %3%1 '/. $%."41 31% . "' 3!!3,) 2%+3/12 &35/1! 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Es ist sehr faszinierend, was da etwa bei (in)Transition. Journal of Videographic Film and Moving Image Studies erscheint. Mit der Etablierung der Filmwissenschaft ist ja auch eine gewisse Trennung vom ,Machen‘ einhergegangen, die wird nun wieder etwas zurückgenommen.“ Mulvey ist nicht nur in dieser Hinsicht eine neugierige Denkerin geblieben, sie mag auch in die Klage übers Ende des (analogen) Kinos nicht einstimmen: „Zelluloid überlebt ja, aber eben in sehr spezifischen Zusammenhängen. Es ist kein Massenmedium mehr. Ich begrüße in jedem Fall, wie die digitale Technik – noch viel grundlegender als einst 16 Millimeter – den Zugang zum Filmemachen demokratisiert hat. Gerade Frauen können heute viel spontaner und billiger ihre eigenen Filme machen als je zuvor – und das machen sie auch!“ Schon 1972 war sie an der Erstellung einer Frauenfilmreihe fürs Filmfestival Edinburgh beteiligt. Damals hätten sie und ihre Mitstreiterinnen einfach eine Woche Programm gefüllt mit allen Filmen von Regisseurinnen, die ihnen bekannt und die erhältlich waren. Und sie seien, erzählt Mulvey heute gern, selbstverständlich davon ausgegangen, dass bis zur Jahrtausendwende die Hälfte der Filme von Frauen gemacht würden. Weil das bekanntermaßen nicht eingetreten ist, gibt es immer noch genug zu tun. Am Birkbeck College, Mulveys langjähriger Wirkungsstätte, ist derzeit ein breit angelegtes Forschungsprojekt zum weiblichen Filmschaffen im Gange. Es soll nicht nur die entsprechende Produktion, sondern auch Verleih, kritische Rezeption, Einspielergebnisse oder Publikumsresonanz berücksichtigen. Den Anstoß dazu gab die im Vorjahr am Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) gestartete Retrospektive Onwards and Outwards. Diese versammelte Arbeiten von Andrea Arnold, Sally Potter, Lynne Ramsay, Joanna Hogg und anderen britischen Regisseurinnen aus den letzten 50 Jahren, das begleitende Symposion hat Laura Mulvey mitkonzipiert: „Wie man bei der Schau sehr gut sehen konnte, gibt es in Großbritannien eine kleine Gruppe Regisseurinnen, die in den vergangenen Jahrzehnten hochinteressante Arbeiten gemacht haben. Viele sind mit Fördergeldern entstanden, denn Frauen haben eindeutig bessere Chancen, Filme zu machen, wenn sie sich um staatliche Förderungen bewerben können. Im Umkehrschluss sagt das auch etwas über die Diskriminierung von Frauen in der Filmindustrie aus. Das ist ein weiterhin anhaltender Kampf. In Schweden gibt es im Fördersystem inzwischen eine Quote, die auf 50 Prozent Frauenanteil abzielt – es ist traurig, aber das scheint nach wie vor die verlässlichste Antidiskriminierungsmaßnahme zu sein. Es gibt jetzt Druck aufs British Film Institute, die britische Förderinstitution, sich in diese Richtung zu bewegen.“ Konstruktiv, alternativ Das scheint darauf hinzudeuten, dass es im Moment wieder mehr um aktivistische und empirische Zugänge zum Filmschaffen von Frauen geht und weniger um die Frage nach der Darstellung von Frauen in den Filmen von Männern. „Sie könnten recht haben, schließlich ist auch die Frage: Wie lange will man weiter Kritik üben – oder will man stattdessen nicht lieber an konstruktiven Alternativen arbeiten? Ich weiß jedenfalls nicht, wie wir uns ein neues Kino vorstellen sollten ohne eine ausreichend große Zahl an Filmen von Frauen.“ Gender & Medien-Reader Kathrin Peters, Andrea Seier (Hg.) Diaphanes 2016, 600 S., 29,95 € Film 19 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Vor dem Punkrock Dokumentation Rodrigo González, der Bassist der Band Die Ärzte, reist nach Chile und sucht Spuren der Musik seiner Kindheit schen Zwischentöne nahezu völlig ausklammert. Was gezeigt wird, ist hingegen ein beeindruckend breites, anarchisch-rebellisches, offenes, surreal anmutendes experimentelles Musikspektrum, das aber mit Agitprop nichts zu tun hat. Unklar bleibt auch, was und wie Rodrigo González dieses musikalische Spektrum in Einklang mit seinem eigenen Repertoire in Deutschland bringt. Man kann gespannt sein. QHugo Velarde M anchmal sind Zwischenwelten eine glückliche Folge des Exils. Für den deutsch-chilenischen Musiker Rodrigo González trifft das genau zu. Davon zeugt der Dokumentarfilm El Viaje – González’ Reise nach Chile, auf den Spuren der Musik seiner Kindheit. Doch oft bleiben auch in der Folge des Exils nur geschiedene, einsame, entzweite, in sich unvermittelte Gegenwelten, die ihm einen traurigen Stempel aufdrücken: „Du hast alles vereinnahmt / und lässt mich nackt durch die Welt irren … / Ich jedoch hinterlasse dich … stumm! … / Und wie willst du das Korn einbringen / und das Feuer nähren, / wenn ich den Gesang mitgenommen?“ So stirbt 1968 einsam und gebrochen der spanische Dichter León Felipe in Mexiko. FOTO: MI NDJAZZ PICTU RES Was bleibt als Erbe jener Folk-Gruppen aus den 70er Jahren? Hamburger Jungs Immer wieder das Exil, ein tödlich paralysierendes Unglück oder ein befreiend fruchtbares Unterfangen – eingebettet in doppelte Perspektiven. Gegen- und Zwischenwelten. Doppelte Bindungen als Daseinsformen des Exils – quer zwischen sich zuweilen umkehrenden eigenen und fremden Bezugspunkten. Müssen sie unbedingt in einem Entweder-oder verharren? Oder gelingt es, sie durch einen gegenseitigen Wechsel bedingbar zu machen, sie damit vermittelt zu einer Balance zusammenzufügen, die die scheinbar unentrinnbaren Lebens- und Erlebenspolaritäten überwindet? Kann sich also die Not des Exils zu einer dialektischen Tugend wandeln? Am Anfang hatte sich der Himmel grau gefärbt. Keiner aus der Familie González hatte es sich so vorgestellt – den Weg von Valparaíso, der pittoresken Hafenstadt im Süden Chiles, ins Hamburger Exil, eingeleitet durch Pinochets faschistischen Putsch vom 11. September 1973. So entflieht 1974 der sechsjährige Rodrigo – heute der bekannte Rodrigo González und Nueva-Canción-Legende Eduardo Yáñez in der Gedenkstätte für die Opfer der chilenischen Diktatur Bassist und Sänger der deutschen PunkrockBand Die Ärzte – mit seiner Familie der mörderischen Maschinerie der Militärdiktatur. Aus dem chilenischen Kind wird bald auch ein deutsches. Doppelt gebunden, wird es erwachsen. Chile bleibt dennoch im Herzen. Pablo Neruda oder Violeta Parra sind beredt genug, selbst in der Fremde identitätsstiftend nachzuwirken. Die alte Sprache ist tägliches Brot, die Witze kommen von chilenischer Zunge. So tritt die Familie der drohenden Entwurzelung energisch entgegen. Rodrigos Vater gehörte zur Protestmusikbewegung der Nueva Canción Chilena, salopp gesagt, einer Art Politpop, die einst weltweit großes Aufsehen erregte: Victor Jara oder die Gruppen Quilapayún und IntiIllimani – die ganze Welt hörte ihre Lieder. Kein Wunder, dass Rodrigo Musiker wird. Sein bester Freund, der etwa gleichaltrige Nahuel Lopez (der Regisseur dieses Films), teilt mit ihm die Erinnerung an Chile und das neue Leben in Hamburg. Zwei Welten. Hamburger Jungs mit dem Antlitz des chilenischen Exils. Lenin scheint passé zu sein Aber nicht nur Chile bleibt im Herzen, sondern auch die musikalische Synthese, die Chile aus ganz Lateinamerika erzeugt habe: aus Argentinien, Bolivien, Brasilien, Kolumbien oder Kuba. Camila Moreno, eine der bekanntesten Musikerinnen der neuen Generation, ist kategorisch: „Wir müssen das antinationalistische Punkgefühl von Violeta Parra zurückholen.“ Auch „Chinoy“, der Komponist Mauricio Castillo Moya, fühlt sich diesem Kosmopolitismus verpflichtet. Politischer wird es mit Alonso Núñez. Der Musiker und vielfach ausgezeichnete Menschenrechtler teilt sich derweil die Bühne mit Quilapayún. Politpop und Punkrock – reine Kontinuität? Oder hatte die Musik mit der Zeit nicht ihre Ausstrahlung verloren? Was bleibt als Erbe jener Folk-Gruppen aus den 60er und 70er Jahren, die zu Agitprop-Zwecken instrumentalisiert wurden? Und was ist mit dem Entweder-oder einer an Carl Schmitt erinnernden politischen Romantik geworden, die einst, als besonders „radikal-chic“ sinnhaft, eine übergenerationelle Brücke zu sein versprach? Leider erfährt man in El Viaje so gut wie nichts über diese zwingenden Fragen. Die große Schwäche des Films ist seine narrative Linearität, die bei der Kontinuität und Diskontinuität der „rebellischen“ Generationenfolge die musikalischen und politi- Ein ebenso schönes wie pikantes Fazit bleibt, dass gegenüber der einstigen Tragik des Exils, nur entzweit oder im unentrinnbaren, auch politisch bestimmten Entweder-oder leben zu müssen (was übrigens der Logik des Kalten Kriegs entsprach), das kosmopolitische Leben als Sinnbild einer neuen Ethik angepriesen wird. Eduardo Carrasco, schon seit langem mit Frankreich eng verbunden, der Kopf von Quilapayún, bezeichnet sich nämlich als „Bürger mehrerer Länder“. Aber: „Es war sehr hart, nach Chile zurückzukommen!“ Dort liest er leidenschaftlich Nietzsche oder Heidegger. Lenin scheint passé zu sein. Wie hatten damals seine politischen Mitstreiter – und wahrscheinlich er selbst – diese bourgeoise Luxusleichtigkeit bekämpft! Dennoch: Die Produktion von Schönheit war und ist weiterhin Eduardo Carrascos Metier. Dem großen Musiker sei Dank. Rodrigo „Rod“ González steht ihm in nichts nach; er ist nun Protagonist eines schönen Films geworden. El Viaje – ein Musikfilm mit Rodrigo González Nahuel Lopez Deutschland 2016, 92 Minuten Hugo Velarde ist Autor, Musiker, Übersetzer und Verleger (BasisDruck Verlag) in Berlin. Er wurde in La Paz, Bolivien, geboren und kam 1977 nach Ostberlin ANZEIGE Chor der Chinesinnen 30.6. – 28.8. Dresden www.filmnaechte.de Trilogie Der zweite Teil von Miguel Gomes’ Erzählprojekt im krisenhaften Portugal QStefanie Diekmann D er zweite Teil ist im Allgemeinen der, in dem eine Erzählung fortgesetzt wird. In Der Verzweifelte, Teil 2 des Projekts 1001 Nacht von Miguel Gomes (Teil 1: Freitag 30/2016), ist das etwas anders. Aber das liegt nur daran, dass die Geschichten, die zu erzählen wären, alle schon bereitliegen. Verknüpft, wie in der Episode über „Die Tränen der Richterin“, oder nebeneinandergelagert, wie in der Episode, die sich um „Die Besitzer von Dixie“ und ihre Nachbarn dreht. Fortsetzung ist unter dergleichen Bedingungen kein Thema mehr, viel weniger noch ein Problem. Eher geht es darum, wie das Erzählen denn begrenzt oder zu Ende geführt werden könnte, wenn die Welt voller Geschichten ist und jede einzelne von ihnen so unweigerlich zu einer anderen führt, dass man darüber in Verzweiflung geraten muss wie die Richterin, die irgendwann den Kopf auf den Tisch legt und zu heulen beginnt. „Der Fall ist einfach“, hat sie zuvor noch gesagt. Aber das ist der Fall eben nicht, ebenso wenig wie das dazugehörige Urteil, das nicht gesprochen werden kann, solange noch jemand das Wort ergreift, sich erklärt oder verteidigt, eine Anekdote beiträgt oder eine Information, die wieder die Form einer Anekdote annimmt, auf die dann eine weitere folgt – bis nicht mehr zu übersehen ist, dass in dieser Verhandlung wirklich alles mit allem zu tun hat. Wie im ersten Teil, Der Ruhelose, ist die Wucherung der Erzäh- lung und der Erzählinstanzen dadurch markiert, dass schlichtweg nichts existiert, was nicht die Stimme erheben könnte. Es sprechen: die Angeklagten und die Kläger, eine Kuh und ein Olivenbaum, ein Geist, der böse sein könnte, vielleicht aber auch gut, eine Taubstumme, ein Chor von Chinesinnen, vier Einbrecher mit geschnitzten Masken, ein Anwalt, ein Schuldiger, der Vater des Schuldigen und viele mehr. Die Einblendungen, die zu Beginn davon in Kenntnis setzen, dass das Erzählte nicht nach dem Inhalt der arabischen Märchen, sondern nach „Ereignissen in Portugal vom August 2013 bis zum Juli 2014“ gestaltet sei, werden später darüber informieren, dass die Geschichten, die hier begonnen und verzweigt werden, einer 470., einer 484. und einer 497. Nacht zugehörig sind (aber wessen Nacht, und in welcher Zeit?). Sie siedeln damit zwischen dem, was bereits erzählt wurde, fast als hätte sich mehr als genug Platz gefunden, um andere Stimmen, andere Orte in die Textur einzufügen, oder als wäre der Raum der Erzählung, einmal eröffnet, groß genug, um unzählige Die Episode um Hund Dixie ist wie eine Studie über dauernde Vereinzelungen Geschichten aufzunehmen und wieder freizusetzen. Wer dann heult, hätte besser erst gar keine Fragen gestellt. Wenn dabei die Episode der weinenden Richterin als eine Studie in aufhörlicher Verknüpfung und Verkettung erscheint, ist die Episode um Dixie, den Hund, der von einem Besitzer an den nächsten weitergegeben wird, eine Studie in Vereinzelungen, in der jede Verbindung punktuell bleibt. Die Erzählung von Simão wiederum, der gleich zu Beginn des Films auf der Flucht ist und den Mund vor allem aufmacht, um zu essen oder zu fluchen, exerziert das Erzählen als Kunst, die darin besteht, zu berichten, ohne etwas zu verraten. Was zu Simãos Flucht geführt hat, warum er ein „Dreckskerl“ genannt, warum die Suche nach ihm so ernst genommen wird und was ihn dazu bewegen könnte, sich zu stellen, ist gegen Ende beinahe so unklar wie am Anfang. Ein Mord, wenn es einer war, erklärt nicht viel. Und warum er gemordet hat, wird von niemandem verraten. Scheherazade, in Der Ruhelose mit dem Boot unterwegs, um an entlegenen Orten Geschichten einzusammeln, wird in Der Verzweifelte nur als Silhouette zu sehen sein. Wieder in einem Boot, diesmal in umgekehrter Richtung und bei Einbruch der Nacht, was wohl bedeutet, dass sie sich bereits auf dem Weg in den dritten Teil der Trilogie befindet. PREMIERE DAS FILMTEAM IST ANWESEND Dienstag 23.8. 24 Wochen 19.00 UHR 20.30 UHR Tickets ganz bequem zum Selbstausdrucken unter www.filmnaechte.de Vorverkaufsticket sichern und 1 € sparen 1001 Nacht: Teil 2 – Der Verzweifelte Miguel Gomes CH/DE/FR/POR 2015, 131 Minuten fn-dd-2016-az-freitag-122x173-1.indd 1 05.08.16 12:49 20 Post Eren Güvercin Präsident auf Augenhöhe Warum die Mehrheit der türkischen Community in Deutschland zur AKP-Regierung steht der Freitag 30 vom 28. Juli 2016 Bei allem Verständnis für die Befindlichkeiten hier lebender Deutsch-Türken können sie nicht erwarten, dass aus Höflichkeit ihnen gegenüber nicht auch scharf kritisiert wird, dass sich Erdoğan als Despot betätigt, der die türkische Opposition ausschaltet, sich die Justiz gefügig macht und wie ein Berserker auf den Menschenrechten derjenigen herumtrampelt, die nicht für ihn sind. Dafür kann es hierzulande weder Sympathie noch Verständnis geben. Dies zu akzeptieren, kann den Deutsch-Türken nicht erspart werden. Balsamico, Freitag-Community Gefährliches Denken Michael Girke „Es sind unsere Kinder“ Vor dem Hintergrund der jüngsten Anschläge analysiert die Philosophin Bettina Stangneth die Abgründe des Bösen der Freitag 31 vom 4. August 2016 Eine kluge Frau, ein kluger Artikel. Wen wundert da noch der Zustand unserer Bildungssysteme? Denken ist gefährlich, für wen? Charakter und Klugheit hat nur jemand, der Andersdenkende nicht verachtet, sondern versucht zu verstehen und diskutiert. Die Menschen werden seit 2000 Jahren in die Irre geführt. Sie haben sich wohl dran gewöhnt. Rita, Freitag-Community Mit zwei einfachen Gesetzen Florian Schmid Keine große Zukunft mehr Patrick Spät stellt die Mythen des Kapitalismus bloß. Da ist er nicht der Erste, selten aber kommt die Kritik so unerbittlich und leichtfüßig zugleich daher der Freitag 30 vom 28. Juli 2016 Der Kapitalismus wird nicht scheitern, weil er keine Gesellschaftsordnung ist, sondern eine Organisationsform von Gier. In jedem Handel gibt es einen, der eine Ware für mehr Geld an den Kunden bringen will, als die Ware wert ist. Das ist der Beginn jeglicher von der Warenwirtschaft abgekoppelter Geldwirtschaft. Und solange Geld Die besten Zitate aus den Kommentaren auf freitag.de/community litischen Möglichkeiten, sowie einem auf Vergünstigungen hoffenden Wahlvolk nicht mal bis zur Vereidigung der neuen Regierung brauchen. Da ist mir eine (klein)bürgerliche Koalition lieber, wenn sie beeinflusst werden kann, die wirklich dringlichen Aufgaben anzugehen, wie zum Beispiel die Vermeidung einer kriegerischen Konfrontation in Europa mit Russland. Dafür müsste sich doch eine parteiübergreifende friedliebende und stabile Mehrheit finden lassen. G.A., Freitag-Community „Gossip ist die neue Analyse 2.0“ Karamasoff „Trump beleidigt alles, was nicht weiß, amerikanisch, männlich und ungebildet ist“ Thomas Sauer freitag.de/community das Konvertierungsmittel bleibt, wird es Kapitalismus geben, nur seine Tarnungen werden sich ändern. Wenn der Kapitalismus scheitert, dann nur um den Preis der Selbstausrottung der Menschheit. Dabei wäre es so einfach, man könnte ihn mit zwei Gesetzen von weltweiter Gültigkeit sofort und ein für alle Mal erledigen: 1) Verbot von Geld als Ware; 2) Verbot von Zins und Zinseszins. Lethe, Freitag-Community Türkische Exklusivität Lutz Herden Jede Menge Maskeraden EU und NATO tolerieren den autoritären Kurs Tayyip Erdoğans. Sie wissen um die geostrategische Exklusivität der Türkei der Freitag 30 vom 28. Juli 2016 Tigerstaat, sagte einst der BastaKanzler, sei die Türkei. Auch der in Istanbul geborene Herr Zetsche schließt sich dem an. Nun, Politik und Wirtschaft sprechen aus einem Munde, wie immer. Das ist auch heute so unter Angela Merkel. Doch das Wichtigste ist dabei die Rücksicht auf die US-Doktrin, auf den Lehrsatz von Brzeziński. Geopolitisch denken, geostrategisch handeln, Weltmacht Nr. 1 sein und bleiben. Alles (aus)nutzen, was diesem alleinigen Ziel dient. EU und NATO sind dabei nur Mittel zum Zweck. Durch die Flüchtlingskatastrophe wird nun vieles neu durchdacht. Die Achse des Bösen (Russland) erscheint am paranoiden US-Horizont. Nie war der Türke sich seiner Exklusivität so bewusst wie heute. Rioja, Freitag-Community Erdoğan und Putin? Islam und die russisch-orthodoxe Kirche? Nein, das ist beim besten Willen beider Staaten keine gute Idee. Das wäre langfristig ein Machtverlust beider Despoten, denn sie würden ihre religiösen Stützen nach und nach verlieren. Die EU sollte jetzt Position beziehen und der Türkei unmissverständlich klarmachen, dass es unter den jetzigen Bedingungen niemals zur Visa-Freiheit oder zu einem EU-Beitritt kommen kann und wird. Flüchtlingsdeal canceln, jawohl. Wenn Erdoğan sich entschließt, das Schleppertum wieder aufleben zu lassen, ist er schuld am Tod etlicher Menschen. Flüchtlingsboote werden von Frontex abgefangen und umgehend zurück zur türkischen Küste gebracht. Die EU-Außengrenzen gegenüber der Türkei zu schützen, muss möglich gemacht werden. Da darf Geld keinerlei Rolle spielen. Erdoğan darf nicht das Schicksal von Menschen als Druckmittel gegenüber der EU einsetzen dürfen. Roger11, Freitag-Community Spöttische Inszenierung Peter Rehberg Macht und Weiblichkeit Melania, Michelle, Hillary – in der Politik müssen Frauen Mütter verkörpern der Freitag 31 vom 4. August 2016 In der Politik wird alles und jede(r) inszeniert, egal ob Mann oder Frau. Die Inszenierungen sind unterschiedlich, aber authentische Menschen wird man in den Medien kaum finden. Ich bin mir nicht mal sicher, ob es da Frauen wirklich schwerer haben. Vielleicht reagiert die feministisch angehauchte Öffentlichkeit auch nur empfindlicher, wenn Frauen Zielscheibe abwer- tender Zuschrei-bungen werden. Was musste Helmut Kohl wegen seiner unbeholfenen Ausdrucksweise und seiner Figur an Häme über sich ergehen lassen! Auch bei Gabriel wird regelmäßig seine Körperfülle zum Anlass für spöttische Bemerkungen genommen. Es ist auch fraglich, ob Männer und Frauen tatsächlich noch die beiden Gruppen sind, anhand derer sich Unterschiede in den Machtoptionen besonders häufig zeigen. Unwissender, Freitag-Community Armutstourismus im Sonderangebot Jo Griffin Eine Favela ist kein Zoo Die Bewohner des Viertels Babilônia in Rio de Janeiro haben das Gefühl, einen verdammt hohen Preis für das Mega-Event Olympia zu zahlen der Freitag 26 vom 30. Juni 2016 Die EU sollte Position beziehen und der Türkei klarmachen, dass es unter den jetzigen Bedingungen nicht zum EU-Beitritt kommen kann Und nun gibt es auch noch den gruselig-traurigen Armutstourismus als Special im Angebot manch eines Reiseunternehmens für die Abenteurer unter den Reichen, die mal ihr Näschen für ein Stündchen ins Elend stecken wollen, um sich dann zu bekreuzigen, wie gut sie es doch im Leben angetroffen haben. Abgesehen von korrupten Politikern, illegalen Deals, schießwütigen Banden und unter Drogen stehenden Bevölkerungsschichten ist die „Besichtigung des Elends“ durch Touristen die nächste Unmenschlichkeit, die den Armen die Würde zu nehmen droht … und dass sie dies nicht einmal selbst noch realisieren. Nashira, Freitag-Community Begrenzte Haltbarkeit Ulrike Baureithel Konzert der Koalitionsaussagen Lieber ein breites linkes Bündnis oder mit der Union zusammenarbeiten? Die Spitzenpolitiker der Grünen sind unterschiedlicher Meinung der Freitag 30 vom 28. Juli 2016 Die Linke steht selbsterklärterweise in der öffentlichen Meinung gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sollte die Linke sich für eine Koalition Rot-Rot-Grün entscheiden, wäre das ein Punkt, den sie definitiv aufgeben müsste. So dumm werden die Linken nicht sein. Heinz, Freitag-Community K A R I K AT U R : K L A U S S T U T T M A N N F Ü R D E R F R E I TA G Kein Verständnis der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Stellen wir uns mal vor, Rot-RotGrün hätte tatsächlich eine realistische Mehrheit und würde eine Regierungskoalition bilden. Welche gemeinsamen Ziele sollte diese haben und wie lange würde diese Verbindung halten? Nur so lange, wie das Establishment braucht, um eine Alternative möglich zu machen. Das würde mit deren ökonomischer Macht , einer innigen Freundschaft mit den USA mit ihren medienpo- Erst mal auf Eis legen Michael Krätke Kreisen in der Warteschleife TTIP und CETA könnten eigentlich zu den Akten gelegt werden, solange die Brexit-Konditionen nicht ausgehandelt sind der Freitag 30 vom 28. Juli 2016 Das werden sie mit Sicherheit nicht. Sie werden in den Hinterzimmern intensiv weiter verhandeln, und uns anschließend noch mehr belügen! Demokratie ist für sie ein Fremdwort. Wo sind Umweltverbände, Kultur und die Vertreter der Bevölkerung? Da wundern sie sich noch, dass immer mehr von deren lobbygesteuerten Politik die Nase voll haben. Gmeinke, Freitag-Community CETA ist die Blaupause von TTIP. Allein die Tatsache, dass sich die USA aufgrund ihrer NSA-Aktivitäten einen unfairen Verhandlungsvorteil bei den Freihandelsabkommen (TTIP, TISA …) verschafft, wäre schon Grund genug, diese Verhandlungen erst mal auf Eis zu legen. SigismundRuestig, Freitag-Community Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen Impressum Chefredaktion Jakob Augstein (V.i.S.d.P.), Philip Grassmann, Katja Kullmann Verantwortliche Redakteure Jan J. Kosok (Online), Jan Pfaff (Titelthema) Redaktion Michael Angele, Ulrike Baureithel (FM*), Matthias Dell (FM), Lutz Herden, Michael Jäger (FM), Christine Käppeler, Maxi Leinkauf, Juliane Löffler, Nils Markwardt, Sebastian Puschner, Felix Werdermann CvD Marco Rüscher Gestaltung Reinhild Ischinski, Maximilian Sauerbier (Art Direction), Felix Velasco (Titel), Niklas Rock (Bild), Lisa Kolbe Redaktionelle Übersetzer Zilla Hofman, Holger Hutt Redaktionsassistenz Jutta Zeise Hospitanz Louisa Braun, Marisa Janson Verlag und Redaktion der Freitag Mediengesellschaft mbh & Co KG, Hegelplatz 1, 10117 Berlin, Tel.: (030) 250 087-0 www.freitag.de Geschäftsführung Jakob Augstein, Dr. Christiane Düts Beratung Prof. Christoph Meier-Siem Verlagsleitung Nina Mayrhofer Anzeigen Johann Plank (Leitung) ([email protected]), Elke Allenstein ([email protected]) Marketing & Vertrieb Andreas Bednarek (Leitung) ([email protected]) Oda Hassepaß ([email protected]) Isabell Schröder ([email protected]), Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Oda Hassepaß [email protected] *= Freie/r Mitarbeiter/in Jahresbezugspreis € 170,85 Ermäßigter Bezugspreis für Schüler, Studenten, Auszubildende und Rentner: € 122,40 jeweils inkl. 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August 2016 Die Kosmopolitin Lena Gorelik Ich habe keine Angst vor Terror. Ich habe Angst vor dem Trotz F O T O S : M A R C A / I M A G O, N B L B I L D A R C H I V/ I M A G O ( O B E N ) I Sie zieht’s durch Caster Semenya wird seit Jahren als Mann verhöhnt, weil ihr Körper viel Testosteron produziert. Bei Olympia könnte sie den Weltrekord im 800-Meter-Lauf brechen S. 23 ch habe Angst. Ich habe Angst vor dem Zahnarzt, ich habe Angst davor, etwas zu verpassen, ich habe Angst im Flugzeug. Ich habe keine Angst vor dem Anderssein, aber davor, dass meine Kinder an ihrem Anderssein leiden könnten. Ich habe keine Angst vor Terror, aber ich habe Angst vor dem Menschen. Als der Amokläufer in München im OEZ schoss und den ersten Angaben zufolge noch weitere Täter unterwegs waren, saß ich in den Kammerspielen, einem Münchner Theater, fest. Das Projekt, das ich mit leitete und das gerade auf der Bühne war, wurde abrupt abgebrochen, die Polizei bat alle Anwesenden, den Raum nicht zu verlassen, weil das den Saal umgebende Foyer verglast sei und somit eine Einladung für einen Schützen. Das sagten sie so, eine Einladung für einen Schützen, und bis zu diesem Moment hatte ich in den vorangegangenen Probetagen bei „verglast“ hauptsächlich „Hitze“ gedacht. Diese Tage, in denen den Begriffen die Bedeutung entrissen wird und den Menschen ein Lebensgefühl, ein Glaube an das Fortwähren des eigenen Lebens. In dem Raum, in dem wir bleiben mussten, war es stickig, und in dem Raum war Angst. Jemand drehte ohne Vorwarnung die Lüftungsanlage an, die Ventilatoren hörten sich an wie Flugzeugturbinen, und ein Schrecken ging durch den Raum, ein Aufschrei, ein Zusammenzucken der Masse. Jemand von den Kammerspielen ergriff das Mikro, gab die Regeln der Polizei durch und machte sich besondere Mühe, hinzuzufügen: Es ist ein Terrorangriff. Das war, während die Polizei via Twitter inständig darum bat, weder den Begriff Terror noch weitere Gerüchte zu verbreiten. Ich hörte auf, die weinenden Menschen zu zählen. Ich weiß nicht, warum ich keine Angst hatte. Zwei Tage nach dem Amoklauf war es heiß, stickig und blauhimmelig in München, meine Kinder und ich fuhren durch die Innenstadt, und sie baten mich darum, durch den Stachus-Springbrunnen rennen zu dürfen. Ich überlegte nicht lang: Wir hatten keine Ersatzklamotten dabei, ich trug ein weißes T-Shirt, und einen Parkplatz in der Münchner Innenstadt zu finden, ist eine große Herausforderung, auch wenn man nicht solch ein talentfreier Autofahrer ist wie ich. Genug Gründe also, um genau das zu tun: durch den Springbrunnen zu laufen. Wir zählten bis drei, im Springbrunnen glitzerten Regenbögen, der Kleinste schrie, weil er Wasser in den Augen nicht mag, alles an mir triefte, alles lachte, ich freute mich an diesem Pippi-Langstrumpf-Gefühl. Zwei Tage zuvor hatte es hier an dem Springbrunnen eine Massenpanik gegeben, weil jemand Gerüchte in die Welt gesetzt hatte, auch hier würde geschossen. Wir rannten durch das Wasser, feierten Sommer und Kindheit, und nichts davon war ein Trotz. Ich blickte nicht nach rechts, nicht nach links und fragte mich nicht, ob und wer und warum. Ich war nass von oben bis unten und wieder zurück. Im Laufe des Wochenendes hörte ich von vielen Veranstaltungen, sowohl privater als auch öffentlicher Art, die trotzdem stattfanden. Trotzdem. Ich habe keine Angst vor Menschen, die am Stachus schießen oder sich selbst und andere in die Luft jagen. Ich habe Angst vor dem Trotz. Das Trotz hat eine einfache Ableitung, die nennt sich Um nicht. Um nicht in einem Trotz leben zu müssen, darf man zum Beispiel Menschen in Länder abschieben, in denen Krieg herrscht. Man darf pauschalisieren. Man darf im Stich lassen. Ich habe Angst vor dem Menschen. Und ich habe Angst vor dem Trotz. 22 Alltag Steak sucht Bulette der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 Storyboard Zynismus Bei Meatface machen Nutzer sich über das Datingportal Tinder lustig. Nur: Was soll das? QMarisa Janson I L L U S T R AT I O N : A P F E L Z E T F Ü R D E R F R E I TA G A Nicht in Berlin In Sachsen-Anhalt lässt sich die Steinzeit-Astronomie entdecken. Wenn man den Weg findet Die Vermessung des Himmels N achdem die Geschichte dann ein gutes Ende nahm, muss man den Raubgräbern dankbar sein, dass sie dieses Artefakt ans Licht gezerrt hatten. Denn sie entdeckten, im Juli 1999, eine Sensation: die Himmelsscheibe von Nebra, die zuvor rund 3.600 Jahre auf dem Mittelberg unter der Grasnarbe ruhte. Dabei ist sie nur eines der vielen Relikte im SaaleUnstrut-Land, die zeigen, wie der Blick auf die Himmelsbewegungen vergangene Kulturen beschäftigt hat, lange bevor die Gegend Sachsen-Anhalt hieß. Vergangenheit ist das richtige Stichwort. Zumindest kulturpolitisch dominiert in Sachsen-Anhalt nämlich der Blick zurück, das Tourismusmarketing lebt vor allem von Restauration. Erst am letzten Juliwochenende wurde zum Beispiel in Wernigerode ein Bismarck-Gedenkstein enthüllt. (Der spätere Reichskanzler soll dort 1846 bei einer Harz-Tour seine Frau Johanna von Puttkamer kennengelernt haben.) Und gleich eine ganze Dekade wird dem Geburtstag der Reformation gewidmet. Zieleinlauf der erinnerungspolitischen Tour de Force ist im Oktober 2017. Zehn Jahre Gedenken, da bleibt in Sachsen-Anhalt für die Gegenwart kaum Luft. Dementsprechend schien es auch fast sinnbildlich, als Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) die Wiedereröffnung von Martin Luthers Sterbehaus im Jahr 2013 einen „Meilenstein in der Geschichte“ des Landes nannte. Endlich angekommen, entschädigt aber gleich der erste Blick. Wie die goldene Barke auf der Himmelsscheibe thront das multimediale Besucherzentrum Arche Nebra über dem Unstruttal. Die archaisch anmutende Konstruktion, die 2007 eröffnet wurde, zeigt sich an diesem Wochentag menschenleer. Vielleicht sind alle Bismarck gucken? Bei freier Platzwahl im digitalen Planetarium erfährt man, wie die Menschen vor drei Jahrtausenden mit der Vermessung des Himmels begannen. Dabei wird anschaulich, wie die Himmelsscheibe – das Original wird eine halbe Autostunde entfernt im Museum für Vorgeschichte in Halle verwahrt – der Orientierung im Jahreskreis diente. Sichel- und Vollmond sowie Plejadenhaufen bestimmen Aussaat- und Erntetermine. An den links und rechts angebrachten Horizontbögen lassen sich Sommerund Wintersonnenwende ablesen. Der Vorteil der Kopie: Man darf sie anfassen und staunt über das Gewicht von gut zwei Kilogramm. In Kupfer und Gold dokumen- tiert die älteste konkrete Himmelsdarstellung der Welt den Lauf von Sonne und Mond. Dabei relativiert sie en passant auch die Vorstellung von den primitiven Früheuropäern, die lange im Schatten sumerischer und ägyptischer Hochkultur standen. Denn das bronzezeitliche Relikt muss einer arbeitsteiligen Gesellschaft entsprungen sein. Zusammen mit seinen Beifunden deutet es kulturelle und ökonomische Beziehungen bis in den Mittelmeerraum an. Zur Sonne Skizziert wird auch die Kriminalgeschichte des Funds. Nach ihrer illegalen Bergung im Jahr 1999 und einer dreijährigen Odyssee konnte die Schweizer Polizei die Scheibe schließlich sicherstellen. Zudem zeigt die Ausstellung Handwerkskunst und Naturwissen der Bronzezeit, zieht Parallelen zu anderen Artefakten der Frühzeit-Astronomie und informiert über das Sonnenobservatorium von Goseck. Durchs große Zur goldenen Barke Die Himmelsscheibe passt also gut in die anhaltinische Kulturlandschaft. Macht man sich auf den Weg zu ihr, ist man aber zunächst einmal mit ungeahnten Schwierigkeiten konfrontiert. Denn im Gegensatz zur Klarheit der Himmelsscheibe fällt die Straßenausschilderung miserabel aus. Zwar wird Nebra an der A 38 zwischen Göttingen und Leipzig schon vor der angepeilten Abfahrt ausgewiesen, doch folgt man dann den weiteren Wegweisern, verliert man sich nach Dutzenden Kilometern im Dreieck Naumburg-Weißenfels-Querfurt. F O TO: KÖ H N/I M AG O uf Tinder war ich noch nie. Das Einzige, was ich darüber weiß, ist, dass dort Gesichter nach „Gefällt“ oder „Gefällt nicht“ sortiert werden können, durch ein Wischen nach rechts oder links auf dem Smartphone. Es ist extrem einfach, das doof zu finden. Im Vergleich zu anderen Internetportalen, auf denen die Userinnen und User neben ihrem Profilbild zumindest noch ihre Lieblingsbands oder Lieblingsurlaubsorte angeben können, bevor sie sich in den Sympathiewettbewerb begeben, ist die Tinder-App an Oberflächlichkeit wohl kaum zu überbieten. Das finden jetzt auch die Macher von meatface.me: Sie bieten Menschen an, Selfies auf die gleichnamige Webseite hochzuladen. Mitten auf das Gesicht wird dann ein grafisches Steak geklatscht. Das derart veränderte Profilbild soll schließlich den Tinder-Account des Users oder der Userin zieren, um ein Statement gegen die dort praktizierte „Fleischbeschau“ zu setzen. Irgendwie witzig. Zugegeben, auch ich habe kurz überlegt, diesen kleinen Protestspaß mitzumachen. Aber warum genau sollte ich das tun? Datingseiten an sich sind nichts Neues. Und sie haben durchaus ihre Berechtigung. Menschen suchen Partner. Ich sehe zwar die Gefahr, dass sich der Rückzug auf Onlineportale irgendwann negativ auf den Alltag auswirken kann, jedenfalls wenn man es damit übertreibt. Doch auch in der dreidimensionalen Außenwelt sind wir umgeben von ständiger Konkurrenz, es wird einem suggeriert, dass man schöner, erfolgreicher und liebenswerter sein könne, wenn man dies oder das konsumiere. Wir lernen, uns zu optimieren, uns in Gesprächen „richtig zu verkaufen“, bei Begegnungen zu verstellen. Genau dort, im real life, liegt das Kernproblem. Und dort entsteht auch die Sehnsucht nach Echtheit, Offenheit und Liebe. Selbst wenn man Tinder im Speziellen vorwerfen mag, bloß eine Plattform für schnellen Sex zu sein, kann ich nur mit den Schultern zucken. Ich mache das zwar nicht mit – aber es ist doch vollkommen legitim, wenn sich zwei Erwachsene „nur“ für den Geschlechtsverkehr verabreden. Und wenn sich doch einige in der Hoffnung auf „wahre Liebe“ bei Tinder & Co anmelden, finde ich das nicht verachtenswert, sondern vor allem traurig. Es sind Unternehmen wie Tinder, die gewohnt marktförmige „Lösungen“ anbieten. Die Botschaft: Die Möglichkeit des Glücks liegt direkt vor dir, wenn du nicht zugreifst, bist du selbst schuld. Pathologisiert wird das Individuum – nicht die Gesellschaft. Und jetzt soll ich mich bei Meatface über Leute, die ihre Hoffnungen dahinein setzen, lustig machen? Klar: Erwachsene sollten in der Lage sein, sich von all dem Druck freizumachen. Doch so einfach ist es nicht. Der Mensch ist eben auch ein soziales Wesen, von dem beeinflusst, was um ihn herum geschieht. Genau das zeigt auch Meatface wieder: Es ist eine – verständliche – Reaktion auf eine gesellschaftliche Entwicklung. Doch sie bietet auch keine Lösung. Im Gegenteil. Sie hackt ebenso oberflächlich auf empfindsamen Menschen herum und bringt damit eine kurze Bedürfnisbefriedigung für solche, die sich als „kritische Beobachter“ sehen. Damit ist Meatface nur eine weitere Erfindung unseres Oberflächlichkeitszeitalters. Ich finde es traurig, in einer so kalten Umgebung zu leben. Denn sie beeinflusst auch mich, ob ich will oder nicht. Und wenn ich mich dann doch mal darüber lustig mache, dann nur, um diese Realität ein wenig von mir wegzudrücken. Mit anderen Worten: Meatface hätte auch von mir sein können. Thront über dem Unstruttal: das Besucherzentrum Arche Nebra Panoramafenster erspähe ich den Fundort der Scheibe. Die wenige Minuten entfernte Hügelkuppe kann direkt per Busshuttle erreicht werden, wo über Baumkronen hinweg ein Aussichtsturm den Blick bis zum Harz freimacht. Am Brocken nordeten die Menschen die Himmelsscheibe einst als Sonnenkalender ein, mutmaßen Archäologen. Für den Aufstieg im offenen Treppenhaus sollte man ziemlich schwindelfrei sein, sonst sorgen das Übermaß an Transparenz nach unten und die sich verdreht gegeneinander verkeilenden Wände für weiche Knie. Der Rückweg zum Parkplatz, der von köstlichen Walderdbeeren gesäumt wird, macht jedoch alles wieder gut. Mit dem Nachgeschmack der Beeren im Mund steuere ich zwischen Naumburg und Weißenfels eine weitere Stätte prähistorischer Astronomie an. Da die Beschilderung abermals zu wünschen übrig lässt, passiere ich in meiner ratlosen Herumkurverei zunächst unzählige Weltkriegsdenkmäler, bis mir eine halbfreundliche Kioskverkäuferin den Weg weist. Auf grünem Acker breitet sich das Sonnenobservatorium Goseck aus. Im 7.000 Jahre alten, aus rundem Erdwall und innerem Pfahlkreis bestehenden Heiligtum wird dank wissenschaftlicher Rekonstruktionen der steinzeitliche Sonnenkult erlebbar. Drei Tore durchbrechen die Ringanlage. Am Tag der längsten Nacht kann man im Südwesttor beobachten, wie die Sonne untergeht und am nächsten Morgen im Südosttor wieder aufsteigt. Auch die Sommersonnenwende am 21. Juni lässt sich präzise ablesen. Ob Observatorium und Himmelsscheibe in direktem Zusammenhang stehen, ist bis dato ungeklärt; die räumliche Nähe aber erstaunt – und erfreut das Tourismusmarketing. Ende Juni hat in der Gegend noch eine weitere Attraktion der Steinzeit-Archäologie eröffnet: Die Kreisgrabenanlage von Pömmelte wird bereits als „Stonehenge SachsenAnhalts“ beworben. Den Ausflug dorthin werde ich verschieben müssen. Sogar die Lokalzeitung warnte schon: „Es mangelt noch an der notwendigen Ausschilderung an den Wegen.“ Tobias Prüwer Porträt 23 der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 „Die Politiker warfen sie den Wölfen zum Fraß vor“ Caster Semenya stürzte nach ihrem Weltmeistertitel 2009 in eine tiefe Krise. Jetzt ist sie zurück – und damit die Feindseligkeit QDonald McRae D as Ganze ist eine tickende Zeitbombe“, sagt der Sportjournalist Daniel Mothowagae bei unserem Treffen in Johannesburg. Er meint damit den Aufruhr, der losbrechen dürfte, wenn Caster Semenya bei den Olympischen Spielen an den Start geht. Abgesehen davon, dass Südafrikas Mittelstreckenläuferin in Rio als sichere Siegerin des 800-MeterLaufs der Frauen gilt, wird sie erneut zu leiden haben: An Semenya werden all die komplexen Fragen festgemacht, die in Zusammenhang mit Geschlechtstests im Sport stehen. Wer eine Weile in Südafrika unterwegs war, versteht, was Daniel Mothowagae meint: Im Fall Caster Semenya gehen die Meinungen weit auseinander. Mothowagae ist mit Semenya befreundet und klingt arglos, wenn er sagt: „Caster ist doch nur ein Tomboy“, ein burschikoses Mädchen. Sein Sportjournalistenkollege Wesley Botton, der Semenyas Karriere so genau verfolgt hat wie kein anderer, seit sie 2009 in Berlin überraschend Weltmeisterin wurde, beklagt, dass sie zum „weiblichen Aushängeschild für Hyperandrogenämie“ geworden sei, die körpereigene erhöhte Produktion männlicher Hormone. Ihr Trainer Jean Verster sagt, Caster sei „ein fantastischer und bodenständiger Mensch und eine große Athletin. Für einige Mädchen in unserer Trainingsgruppe ist sie wie eine Mutter.“ Derweil bedauert der südafrikanische Sportwissenschaftler Ross Tucker die starke Personalisierung des Themas. Ihm graut vor Olympia, „denn Caster Semenya wird gewinnen. Und das wird ziemlich ungute Auswirkungen haben.“ Ein offenes Geheimnis Alle vier sind überzeugt, dass Semenya in Rio ihr ganzes Leistungsvermögen abrufen und den seit 33 Jahren bestehenden Weltrekord brechen wird. Und sie sind sich einig, dass Semenya ganz allein unter Beobachtung stehen wird, ohne jede Rücksicht auf ihre Privatsphäre, und das, obwohl es als offenes Geheimnis gilt, dass mehrere potenzielle Finalistinnen über 800 Meter in Rio intersexuell sein könnten. „Sie sagt immer zu mir, dass sie antreten wird, solange es ihr die Regeln erlauben“, sagt Mothowagae. „Rio wird zeigen, wie viel die Verantwortlichen aus ihrem Martyrium bei der Weltmeisterschaft von 2009 gelernt haben. Wenn Caster das mit 18 durchstehen konnte, steckt sie heute, mit 25, alles weg.“ Im August 2009 hatte Semenya in Berlin mit der fulminanten Zeit von 1:55,45 Minuten den Weltmeistertitel geholt. Der Weltleichtathletikverband (IAAF) hatte tags zuvor bereits verkündet, dass Semenyas spektakulärer Auftritt auf der Weltbühne des Sports nichts mit Doping zu tun habe, und bestätigte, dass sie in Südafrika und Deutschland „Geschlechtstests“ unterzogen worden war. Ein Endokrinologe, ein Gynäkologe und ein Psychologe hatten versucht herauszufinden, ob Semenya, die ihr ganzes Leben als Mädchen gelebt hatte, nicht in Wirklichkeit ein Mann war. Sie wurde für das Finale zugelassen. Der IAAF ließ durchblicken, dass weitere Tests durchgeführt worden waren, gab die Ergebnisse aber nie bekannt. Eine andere Finalistin, Elisa Cusma aus Italien, verhöhnte Semenya als Mann. Der südafrikanische Verband warf dem IAAF Rassismus und Sexismus vor, Südafrikas Sportminister warnte vor einem „dritten Weltkrieg“, sollte Semenyas Status als Intersexuelle bestätigt werden. „Ich habe gehört, dass sie beschlossen hatten, sie noch vor den Vorläufen herauszunehmen“, erzählt Wesley Botton. „Aber die Politiker zwangen „Am Telefon dachte ich, da spricht ein Mann mit mir“ W. Botton, Journalist sie zu laufen. Sie wollten den ersten internationalen Titel einer schwarzen Südafrikanerin in der Leichtathletik. Also warfen sie Caster den Wölfen zum Fraß vor.“ Was damals neben einer erst nach elf Monaten aufgehobenen Sperre geschah, beschreibt Botton so: „Caster benötigte Hilfe und geriet an Leute, denen sie nicht hätte vertrauen sollen. Für den Artikel in einem Magazin steckten sie sie in ein Kleid, wie eine Puppe, obwohl sie so etwas sonst nie trägt. Es war unmöglich. Caster wurde völlig aus der Bahn geworfen. Im Lauf der nächsten Jahre ließen ihre Leistungen aus verschiedenen Gründen nach, nicht allein wegen der Medikamente, zu deren Einnahme sie gezwungen war, um den Testosteronspiegel zu senken. Sie war weit weg von Der Sport und die Frage nach dem Geschlecht Die ersten Tests in Bezug auf das Geschlecht gab es in der Leichtathletik 1966. Frauen mussten sich nackt vor ein Gremium aus Ärzten stellen, um ihre Genitalien abtasten zu lassen – wer nach Meinung der Ärzte eine Vagina hatte, war eine Frau. Die spätere Goldmedaillengewinnerin im Fünfkampf, Mary Peters aus Großbritannien, beschrieb dies als „die härteste und demütigendste Erfahrung meines Lebens“. Bei den Winterspielen 1968 in Grenoble führte erstmals das Internationale Olympische Komitee (IOC) Geschlechtstests durch – wegen des vor- herigen Protests von Athletinnen per Speichelabstrich. Wer zwei X-Chromosomen hatte, durfte offiziell als Frau teilnehmen. Aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Vielzahl von Geschlechterfaktoren wurde es in der Folgezeit immer schwieriger, eine klare Trennlinie zwischen „männlich“ und „weiblich“ zu ziehen. Das IOC aber rang sich erst vor der Olympiade in Sydney 2000 dazu durch, die generelle Überprüfung von Frauen zu beenden. 2004 in Athen war transsexuellen Sportlerinnen und Sportlern erstmals offiziell der Start erlaubt, der Internationale Leichtathletikverband (IAAF) zog mit einer ähnlichen Regel nach, doch Überprüfungen in Einzelfällen wie dem Caster Semenyas blieben möglich. 2011 führte der Verband den Testosterontest mitsamt einer Obergrenze von zehn Nanomol pro Liter Blut ein; der Durchschnittswert bei Frauen beträgt bis zu 3,3 Nanomol. 2015 verbot der Internationale Sportgerichtshof einstweilen den Test: Der IAAF soll bis zum Jahr 2017 erst einmal belegen, dass sich mit dem Verfahren Leistungssteigerungen durch hohe Testosteronwerte wissenschaftlich nachweisen lassen. MJ zu Hause, einer ländlichen Gegend im Norden Südafrikas, und stand auf einmal im internationalen Rampenlicht. Dann überwarf sie sich mit ihrem alten Trainer und fing allem Anschein nach an, in der Hauptstadt Pretoria richtig Party zu machen. Ihr Ex-Trainer sagt, sie habe mehr Zeit mit ihrer Freundin verbracht als beim Training.“ Doch alles veränderte sich schlagartig, als sie nach Potchefstroom zog, knapp 200 Kilometer nördlich von Pretoria. Die kleine und abgelegene Universitätsstadt gilt als ideales Trainingszentrum, bei Athleten aus aller Welt beliebt, nicht zuletzt, weil Jean Verster dort arbeitet. „Im Oktober 2014 rief Caster mich an und fragte, ob sie bei uns mit trainieren könne“, erzählt er. „Ich sagte ‚Kein Problem‘ – wusste aber nicht, was mich erwartet. Ich hatte von ihrer Knieverletzung gelesen, und es war schrecklich, mitanzusehen, wie sie sich abmühte. Sie hinkte regelrecht, wenn sie rannte, litt an Übergewicht und machte eine schwierige Zeit durch. Ich war überrascht, als sie anrief, und erstaunt, was für ein großartiger Mensch sie ist. Sie brachte neuen Schwung in die Gruppe, hatte immer ein Lächeln im Gesicht, obwohl sie so außer Form war.“ Die zuvor oft mürrische Athletin, die so viel über sich hatte ergehen lassen müssen, schien wie ausgewechselt. Botton erinnert sich: „Ich hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr lächeln sehen. Sie war überhaupt nicht mehr ruppig und aggressiv. Manchmal war sie mir gegenüber recht unhöflich gewesen, aber ich habe ihr das nie wirklich übelgenommen, weil ich wusste, was sie durchgemacht hat. Sie kann aggressiv sein und dich wüst beschimpfen. Aber seit sie bei Jean Verster ist, wirkt sie wie befreit.“ Im Dezember gingen Bilder von Semenyas Hochzeit mit ihrer langjährigen Freundin durch die sozialen Netzwerke. Endlich ohne Medikamente Dieses Jahr ist Semenya in blendender Form. An einem unvergesslichen Nachmittag im April, bei den südafrikanischen Meisterschaften, gewann sie souverän die 400, die 800 und die 1.500 Meter. Im Juli lief sie die 800 Meter in Monaco in 1:55,33 – die schnellste Zeit einer Frau seit 2008. „Sie ist der Beweis dafür, dass intersexuelle Athletinnen von Testosteron profitieren“, sagt der Sportwissenschaftler Tucker. Am 27. Juli 2015 war Semenya von den Auflagen zur Einnahme von Testosteron unterdrückenden Medikamenten befreit worden. An jenem Tag gewann Dutee Chand, eine 19-jährige indische Sprinterin, ihren wegweisenden Fall beim Internationalen Sportgerichtshof CAS und wurde wieder zu Wettkämpfen zugelassen. Ihre Anwälte hatten argumentiert, es sei diskriminierend, sie aufgrund von Geschlechtstests auszuschließen, die allein auf ihrem Testosteronspiegel basierten. Alle Bestimmungen in Bezug auf Hyperandrogenämie wurden bis Juli 2017 ausgesetzt. Semenya konnte nun wieder ganz normal und natürlich laufen – ohne Medikamente. Tucker ist mit dem Urteil des CAS nicht einverstanden, aus wissenschaftlichen und aus sportlichen Gründen. „Die grundsätzliche Frage lautet, warum es überhaupt getrennte Wettbewerbe für Frauen gibt. Wenn es die nicht gäbe, hätten Frauen keinerlei Chance, im Sport jemals etwas zu gewinnen. Es geht nicht nur um Testosteron. Aber die meisten Unterschiede zwischen Männern und Frauen – fettärmere Muskelmasse, größeres Lungen- und Herzvolumen – können auf Testosteron zurückgeführt werden. Es wird immer Frauen geben, die schneller sind als manche Männer. Aber die besten Männer sind immer schneller als die besten Frauen.“ Von 2:01 Minuten 2015 auf 1:55 in diesem Jahr – Tucker ist sich sicher, worauf Semenyas Leistungsexplosion zurückzuführen ist: „Sie durfte die Medikamente absetzen. Seitdem die Auflagen aufgehoben sind, ist sie etwa sechs Sekunden schneller als in den vergangenen zwei Jahren.“ Andere führen eher persönliche Gründe für Semenyas verbesserte Form an. Botton erinnert an ihren Durchbruch in Mauritius im Juli 2009: „Sie kam aus dem Nichts und lief 1:56“, erinnert sich der Sportjournalist. „Ich bemühte mich um ein Interview und war zunächst recht verwirrt. Sie hat eine derart tiefe Stimme, besonders am Telefon, dass ich dachte, ich spreche mit einem Mann. Erst als ich ihren Namen im Internet suchte, stieß ich auf all die kontroversen Informationen über sie. Das erste Interview mit ihr gestaltete sich schwierig, weil Caster nicht nur sehr jung, sondern auch sehr schüchtern war.“ „Wir ziehen so spät wie möglich ins olympische Dorf“ J. Vester, Trainer War sie selbst von ihrer Zeit überrascht? „Nein, sie wusste, dass sie solche Zeiten laufen konnte. Caster läuft immer eher für sich, bis ein großer Wettkampf kommt. Erst dann gibt sie richtig Vollgas und geht ganz aus sich heraus.“ Auch Trainer Jean Verster argumentiert gegen die Behauptung, allein das Absetzen der Medikamente sei ausschlaggebend. „Die Leute fragen, warum Caster 2015 nicht gut gelaufen sei – dabei lief sie gut, wenn man alles bedenkt. Wir haben Fortschritte gemacht, aber im April verletzte sie sich am Knie und konnte dann den ganzen Mai und Juni über kaum trainieren. Im Juli flogen wir für zwei Rennen nach Europa. Caster überraschte sich selbst, als sie sich für die WM in Peking qualifizierte.“ Jetzt, in Rio, besteht die Möglichkeit, dass Caster auch die 400 Meter läuft. Vers- ter allerdings tut alles, um ihr das auszureden. „Ich habe ihr schon vor Monaten gesagt, dass wir bei südafrikanischen oder afrikanischen Meisterschaften zwei oder drei Wettkämpfe bestreiten können. Aber das hier ist Olympia.“ Seiner Meinung nach sollte sich Semenya allein auf die 800 Meter konzentrieren. „Die Olympischen Spiele finden nur alle vier Jahre statt, und wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wir werden in Kürze endgültig entscheiden. Ich hoffe, dass es nur die 800 Meter werden.“ Verster zweifelt nicht, dass sie über diese Distanz den Weltrekord der tschechischen Läuferin Jarmila Kratochvílová von 1983 schlagen kann: 1:53,28. „Aber unser Hauptziel ist die Goldmedaille.“ Zwar liegt Caster Semenya mit ihrer persönlichen Bestzeit derzeit nur auf Platz 22 der Liste der schnellsten 800-Meter-Läuferinnen aller Zeiten. Doch die meisten der schnelleren Zeiten kamen durch Doping zustande. Die Südafrikanerin ist sauber. Doch ihr eigener, natürlicher Testosteronspiegel wird dafür sorgen, dass sie angefeindet werden wird. „Caster ist da sehr klar und unverblümt, ,Wir ziehen unser Ding durch, pfeif auf den Rest‘, das sind ihre Worte“, sagt Verster. „In Rio werden wir uns abschotten. Ich glaube, es ist wichtig, so spät ins olympische Dorf zu ziehen wie möglich.“ Am 17. August starten die 800-Meter-Vorläufe, am 21. August findet das Finale statt. Zurück in Johannesburg, spricht Daniel Mothowagae in warmen Worten von seiner Freundschaft zu Semenya. „Sie hat einen weiten Weg zurückgelegt – wie wir alle. Die meisten Südafrikaner werden sie unterstützen. Wir hier wissen, dass sie einfach nur ein Tomboy ist. Und die Leute sind begeistert, weil sie jedes Mal gewinnt, wenn sie antritt. Es ist ihnen egal, was die Wissenschaft über Caster Semenya sagt.“ Donald McRae ist Sportjournalist. Der Südafrikaner schreibt für den Guardian Übersetzung: Holger Hutt ANZEIGE X % %# "$ !"# 122x173_FREITAG_SPG_04_16.indd 1 18.07.16 12:59 24 A – Z der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016 A–Z Wahlwerbung K Kiffen Das Adjektiv alternativ kann mittlerweile ja unterschiedlich ausgelegt werden. Wer früher an Hippies oder an Reggae dachte, hat 2016 wohl Rechtspopulisten (¬Nationalismus) im Kopf. Nun besinnt sich die AfD womöglich auf den ursprünglichen Inhalt ihres Namens. In Berlin versucht sie, neue Wählerkreise für sich zu gewinnen. Nicht nur konservative WHM („white heterosexual males“), auch die jungen, urbanen Unzufriedenen sollen dazugehören. Die neue Strategie offenbart sich deshalb in Form einer Kifferkampagne. „Mein marokkanischer Dealer kriegt sein Leben komplett vom Staat finanziert. Irgendwas ist in Deutschland oberfaul, und deshalb wähle ich die Alternative“ ist nur einer der Sprüche, mit denen derzeit Werbelastwagen durch Berlin fahren – ganz ohne AfD-Logo. Subtiler Rassismus durch subtile Manipulation. Fragt sich nur, warum der marokkanische Dealer eigentlich noch Drogen dealen muss. LTB FOTO: K. HOFFMANN/LAI F L Politik Während in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahlen anstehen, geht auch das Rennen um die US-Präsidentschaft in die heiße Phase. Und wer Wahlkämpfe gewinnen will, braucht die richtigen Werbemittel: zum Beispiel Kondome, Protestsongs oder Spitzensoziologen. Unser Wochenlexikon A Adbusting Es ist ja in Mode gekommen, Slogans auf Wahlkampfplakaten professionell zu überkleben. Anstatt „Gute Arbeit und neue Ideen“ steht dann „Rassismus und Ausbeutung“ vor dem CDU-Claim „So bleibt Deutschland stark“. Das ist redlich, manchmal tut es aber auch eine hingekritzelte Pimmelnase. Der Klassiker unter den entstellenden Gesichtsmodifikationen bleibt indes der Hitlerbart. Für den, so ließ sich neulich in Wien begutachten, reicht ein Bleistift: Zwischen Nase und Oberlippe des FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer schimmerte es so dezent wie unmissverständlich. Ambitionierte Bildstörer arbeiten aber längst in 3-D. Als die NPD (¬Nationalismus) letzten Winter ihren Stand in die malerische Kulisse eines schwäbischen Wochenmarkts stellte, organisierte der Bürgermeister davor eine Leistungsschau städtischer Schneepflüge und Müllfahrzeuge. Der Kehraus könnte gewirkt haben: 15 Wähler weniger verbuchte die NPD bei der folgenden Landtagswahl. Christine Käppeler B Bayern Wo Werbung der parlamentarischen Opposition kaum Aussicht auf Erfolg hat, dort kommen die originellsten Aktionen von außerhalb des Parlaments. Lange lieferten sich die Landesschülervertretung Bayern und die CSU-Regierung Kämpfe um das Schulsystem des Freistaats und dessen Demokratiedefizite: Bayern war lange das letzte Bundesland ohne gesetzlich verankerte Schülervertre- tung auf Landesebene. Die als Verein organisierte LSV verteilte (¬Give-aways) um 2002 herum Kondome mit dem Aufdruck: „Keine Kinder in dieses Bildungssystem!“ Ein Erfolg: In den Folgejahren hatte Bayern rückläufige Geburtenzahlen. Zuletzt sind diese wieder gestiegen, was damit zu tun haben könnte, dass das bayrische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz seit 2008 einen Landesschülerrat vorsieht, den Kritiker zu gefällig gegenüber der CSU finden. Sebastian Puschner D Design Kritische Geister wissen: Das Design bestimmt das Bewusstsein. Ab und zu erinnert auch der Wahlkampf daran. Hans-Christian Ströbele etwa wirbt seit 2002 mit Postern des Comiczeichners und Karikaturisten Gerhard Seyfried. Die zeigen den Grünen-Politiker in einer bunten Kreuzberger Welt voller Revolte und Leben. Doch Design kennt keine ideologischen Grenzen. Das Plakat aus dem Jahr 1953, das unter dem Slogan „Alle Wege des Marxismus führen nach Moskau“ für die CDU (¬Flüchtlinge) warb, hat durchaus gestalterischen Eigenwert. Die roten Linien, die hin zu einem düster dreinschauenden Mann mit Sowjetmütze führen, gleichzeitig aber wie dessen dämonischer Blick wirken, avancierten zum ästhetischen Inbegriff des Antikommunismus. Unvergessen ist auch das von Shepard Fairey gestaltete „Hope“Plakat der Obama-Kampagne 2008. Ein Pop-Art-Porträt, das in Blau-, Rot- und Pastelltönen gehalten und mit den Slogans „Hope“, „Change“ und „Progress“ versehen war. Obama wurde zum Heilsbringer stilisiert, das Plakat zum Bild der Kampagne und zu einem Höhepunkt politischer Ikonografie. Benjamin Knödler F Flüchtlinge Angela Merkels „Wir schaffen das“ war schon vor 70 Jahren Aushängeschild der Union (¬Design). Vor allem das der CSU. 1946 richtete diese sich mit dem Slogan „Gemeinsam schaffen wir’s“ an Heimatvertriebene und forderte Geflüchtetenwahlkreise, keine geschlossenen Grenzen. Das war kein Widerspruch zum Nationalkonservatismus. Bei den Flüchtlingen handelte es sich zum großen Teil um Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Noch weiter trieb es die CDU 1949: „Das ganze Deutschland soll es sein“ stand auf einem Plakat, das die Wiedervereinigung mit den unter polnischer oder tschechischer „Besatzung“ stehenden Gebieten forderte: „zum ungeteilten Vaterland“. Louisa Theresa Braun G Give-aways Neben Feuerzeugen und Kugelschreibern wird im Straßenwahlkampf oft auch Abseitiges verteilt. Originell war die SPD-Streichholzbox mit zwei abgebrannten Zündhölzern und dem Spruch: „Auch hier sind wieder nur die Roten zu gebrauchen.“ „Damit nichts anbrennt“, ließ die CSU (¬Bayern) auf Holzgrillzangen schreiben. Ebenso mäßig war das Skatspiel mit „Grün sticht“. Noch peinlicher erschien der Piraten-Sticker zum Christopher Street Day: „Solidarische Hete“. Statt Kondomen verschenkte die Linke einst rote Strampler („Mit LINKS gemacht“). Und mit Hanf-Setzlingen verlieh sich das alternative Bündnis „Wien Anders“ den Ruch des, nun ja: Andersseins. Tobias Prüwer Luhmann „Am Montag, den 18. 05. 1998 unterschrieb Niklas Luhmann vor der Humboldtuni überraschend das Unterstützungsformular“ hieß es in einer Meldung von CHANCE 2000. Das klang unwahrscheinlich. Die von Christoph Schlingensief gegründete Partei, die bei der Bundestagswahl 1998 0,058 Prozent der Zweitstimmen erhielt, fiel sonst nämlich durch Aktionen auf, die nicht gerade zum Doyen der Systemtheorie passten. Etwa durch den Aufruf an Millionen Arbeitslose, im Wolfgangsee zu baden, um das Ferienhaus Helmut Kohls zu überschwemmen (¬Satire). Da sich die Meldung aber auch in einem Gesprächsband Luhmanns findet, stimmt sie wohl. Luhmann „begeisterte sich spontan für die Schlingensiefsche Variante der Systemtheorie“, wonach „System 1“ durch „System 2“ ersetzt werden müsse. Da das aber wiederum das Ende von Luhmanns Theorie wäre, heißt es am Ende der Meldung auch: „Schön, daß Niklas CHANCE 2000 trotzdem unterstützt!“ Nils Markwardt N Nationalismus Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei der AfD oft auseinander: In einer Wahlwerbung zum Beispiel gab sie rumänische Models als eigene Anhänger aus. Von solchen Peinlichkeiten kann die NPD ein Lied (¬Zeitgeschichte) singen. 2013 zeigte sie in einem Spot eine Familie, mit der zuvor ein finnischer Quarkhersteller warb. Die Forderung „Konsequent abschieben“ untertitelte sie mit „Unser Volk zuerst“. Ähnlich bei der Schweizer SVP: Deren Vizepräsidentin Nadja Pieren hielt in einem Clip ein Schild mit „Zuwanderung begernzen“ hoch. Mit der Sprache hadert wiederum auch die AfD. Auf einem aktuellen Plakat heißt es: „Ich möchte, dass mein Sohn richtig deutsch sprechen lernt, weil das die Voraussetzung ist, für einen guten Beruf.“ TP R Regeln Loriot wird der Satz zugeschrieben, das Wahlplakat sei der beste Ort für einen Politiker: Dort sei er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen. Aber so einfach ist es nicht. In Nordrhein-Westfalen werden Autofahrer vor verkehrsge- fährdender Ablenkung (¬Kiffen) geschützt: Plakatwerbung darf nur in den drei Monaten vor der Wahl erfolgen und ist „unzulässig im Bereich von Kreuzungen und Einmündungen, vor Bahnübergängen und am Innenrand von Kurven“. In dieser Hinsicht kann man sogar rechte Parteien loben. Die bringen ihre Plakate häufig in enormer Höhe an – wenn auch eher aus Angst vor Vandalismus. In Zukunft werden sie wohl an Hochspannungsmasten hängen, dann müssen Regelungen zum Schutz des Luftverkehrs getroffen werden. Uwe Buckesfeld S Satire Noch vor der Gründung der Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative (PARTEI) machten ihre Gründer durch spektakuläre Aktionen (¬Luhmann) von sich reden: Unter anderem griffen sie der SPD in Landtagswahlkämpfen unter die Arme. Da 2003 der hessische Spitzenkandidat Gerhard Bökel laut Umfragen den Wählern unbekannt war, schickten die PARTEI-Gründer sieben verschiedene Bökels, darunter eine Frau, zum Klinkenputzen – und alle wurden von den Angesprochenen als Bökel wiedererkannt. Anschließend unterstützten sie die bayrische SPD mit Slogans wie „Mit Anstand verlieren. SPD“ oder „Wir geben auf. Dabei sein ist alles. SPD“. Andrea Wierich T The Simpsons Das Drama, das wir im USWahlkampf erleben, ist ein doppeltes. Entgegen allgemeiner Panikmache besteht nicht nur eine geringe Chance, dass mit Trump ein lupenreiner Antidemokrat an die Macht kommt. Auch radikalisieren sich die Fronten zwischen Gut und Böse über jede Verhältnismäßigkeit hinaus. Anders ist kaum zu erklären, wie auch auf liberaler Seite der Hass auf Clinton gewachsen ist – inklusive der bigotten Einschätzung, zwischen ihr und Trump gebe es letztlich keinen relevanten Unterschied. Wenn nun auch die „Simpsons“ mit einem eilig produzierten Zweiminüter aktiv in den Wahlkampf einsteigen, um Schlimmstes zu verhindern, ist das nett gemeint, gut gemacht (¬Adbusting) und natürlich nachvollziehbar. Wenn aber ein Unterhaltungsformat sich gezwungen sieht, bei seinem Stammpublikum offene Türen einzurennen, indem es die drohende Wahl zur Alternativlosigkeit erklärt, ist das weder progressiv noch mutig, sondern Symptom einer akuten Krise der Demokratie. Timon Karl Kaleyta Z Zeitgeschichte Joseph Beuys war nicht nur Künstler, er gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern der Grünen, kandidierte 1979 für das Europaparlament und nahm 1982 an deren Bundesparteitag teil. Mehr noch: Im gleichen Jahr spielte er mit Musikern von BAP ein friedensbewegtes Lied ein, das implizit auch Wahlwerbung war. Eigentlich sollte Wolfgang Niedecken den Text schreiben, der hielt Beuys’ Anfrage aber für einen Witz (¬The Simpsons). Es übernahm ein Werbetexter. Heraus kam der Song „Sonne statt Reagan“. Ungelenk intonierte Beuys den eigenwilligen Text. Da heißt es: „Hau ab mit deinen Nuklearstrategen / deinen Russenhassern, deinem Strahlenregen / Mensch Knitterface, der Film ist aus / nimm die Raketen mit nach Haus!“ Und im Refrain schließlich: „Wir wollen: Sonne statt Reagan /ohne Rüstung leben! / Ob West, ob Ost /auf Raketen muss Rost!“ NM