Sie sehen ja übel aus!

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≫freitag.de Steuersenkung für die Mittelschicht
Arm & Reich Unsere
Sommerserie über soziale
Ungleichheit. Folge drei:
„Die neuen Diener“ Politik S. 3
Diyarbakır Der Kampf
zwischen Armee und
PKK hat die Stadt schwer
erschüttert Politik S. 10
Rio An der südafrikanischen
Läuferin Caster Semenya zeigt
sich die ganze Problematik
von Geschlechtstests Alltag S. 21
Partner des Guardian
11. August 2016
Ausgabe 32
Deutschland 3,80 €
Ausland 4,10 €
„Schützt die
Willkommenskultur uns
vor Terror?“
Magda
Politik Die Community diskutiert
über die Flüchtlingspolitik von
Bundeskanzlerin Angela Merkel
≫freitag.de/community
Das Meinungsmedium
M O N TA G E : D E R F R E I TA G , M AT E R I A L : S I LV E R S C R E E N C O L L E C T I O N / G E T T Y I M A G E S , F O T O L I A
Sie sehen ja
übel aus!
Wie die Pharmaindustrie Krankheiten
erfindet, um Milliarden zu verdienen S. 6 / 7
Trügerische Fassaden
Arabien Nicht nur die
Regierungskrise in Tunesien
zeigt: Der islamischen Welt
ist mit der Demokratie des
Westens oft nicht geholfen
QSabine Kebir
E
r wurde als demokratischer Aufbruch gefeiert – doch für viele ist
der Arabische Frühling längst gescheitert. Als sichtbare Zeichen
gelten der Syrien-Krieg und
Ägyptens regierende Obristen um Präsident Abd al-Fattah as-Sisi. Auch Tunesien,
Mutterland der Arabellion von 2011, gelingt
es kaum, eine stabile Regierung zu bilden,
die den sozialen Hoffnungen, wie sie die
„Revolution“ vor fünf Jahren geweckt hat,
gerecht wird. Und sind die Massenverhaftungen in der Türkei, die seit dem Putschversuch nicht abreißen, kein Zeichen dafür,
dass der lange mit Wohlwollen bedachte
demokratische Fortschritt in diesem Land
eine Chimäre war? Sollte also doch etwas
dran sein am Verdacht, dass der Islam – jedenfalls in seinen derzeitigen Ausprägungen – demokratieunfähig ist?
Wenn wir uns eingestehen, dass Frankreichs Front National, die Freiheitlichen in
Österreich und Pegida in Deutschland
ebenfalls die Demokratie bedrohen, drängt
sich die Schlussfolgerung auf, dass ein heftig rumorender antidemokratischer Geist
auch die westliche Demokratie heimsucht.
Dabei wollten wir sie doch in den Nahen
Osten exportieren!
Ohne die evidenten Realitäten in der islamischen Welt zu verharmlosen, müssen
wir uns fragen, ob der Begriff von Demokratie, der seit Jahrzehnten von westlichen
Regierungen und Medien kreiert wird, ausreicht, jene Welt zum Positiven zu verändern. Besagtes Demokratiemodell besteht
aus einem starren, nur wenige Koordinaten
umfassendem Regelwerk von good governance. Demokratie ist demnach herzustellen, wenn sich die Bürger eines Landes frei
in Parteien und Vereinen zusammenschließen und von Zeit zu Zeit ihre Favoriten frei
und geheim wählen, wenn Exekutive und
Judikative unabhängig sind und eine vom
Staat nicht gegängelte private Medienlandschaft dominiert. Die ökonomische Seite
dieses Reglements heißt schlicht: Anschluss an einen neoliberal grundierten
Weltmarkt, der den freien Verkehr von Personen und Waren durchsetzt.
Dass dieses Demokratiemodell über keine sozialen Koordinaten verfügt, ist sein
großer Mangel. Es bleibt emanzipatorische
Versprechen schuldig. Wo auch immer –
seit Jahrhunderten – auf der Welt um Demokratie gekämpft wurde, erhofften sich
die Menschen, nicht nur hin und wieder
ihre Wählerstimmen abgeben zu dürfen,
sondern ihre Lebensperspektiven verbessert zu finden. So hat sich des westliche Demokratiemuster auch nur in Gesellschaften
etabliert, in denen es gelang, einem Sozialstaat Geltung zu verschaffen. Wird der beschnitten, nimmt das Interesse ab, die formalen demokratischen Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Sie erscheinen den
Menschen dann inhaltsleer.
Demokratie
ist kein CarePaket, das
man überall
gern auspackt
In Gesellschaften wie den arabischen, in
denen noch nie ein demokratisches System
in Verbindung mit einem zuverlässigen Sozialstaat existiert hat, erlischt die Begeisterung für eine formale Demokratie besonders schnell, weil man begreift, dass man
sich in sozialen Fragen weiter an die traditionell dafür zuständigen Mächte wenden
muss: die Instanzen der Religion. Das gilt
übrigens auch für christliche Staaten Afrikas. Die Ablehnung des formalistisch eingeengten Demokratiemodells kann dort
wie in Arabien so weit gehen, dass sich die
Menschen mit diktatorischen Systemen
abfinden. Diese garantieren meist ein materielles Minimum. Dass die Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit der Justiz eingeschränkt sind, gilt als zweitrangig.
Neben ausgesparter Sozialstaatlichkeit
weist das beschriebene Demokratiemuster
weitere Lücken auf. So verzichtet es auf die
positive Wertung von laizistischen Errungenschaften, die sich in der islamischen
Welt in verschieden starken Ausformungen
historisch früh etablieren konnten, aber
vom Islamismus negiert und bekämpft
werden. Umso mehr müssen wir uns von
der Idee verabschieden, dass Demokratie
ein fest geschnürtes Care-Paket ist, dessen
standardisierter Inhalt überall auf der Welt
von einem Tag auf den anderen konsumiert werden kann. Ein Prozess oft langer
gesellschaftlicher Kämpfe ist nötig, um Demokratie zu erringen. Oft gibt es Teilerfolge, oft Rückschritte.
Natürlich müssen Mehrheitsvoten bei
freien Wahlen anerkannt werden, jedenfalls soweit sie keine Aggression gegen andere Staaten zur Folge haben. Aber ein gravierender Fehler ist es, Wahlergebnisse in
islamisch-arabischen Ländern auch dann
als „demokratisch“ anzuerkennen, wenn
die mehrheitlich gewählte Partei nicht einmal Grundelemente von good governance
zu verwirklichen gedenkt. Oder wenn sie
einen existierenden demokratischen Besitzstand – wie die Laizität – abschaffen
will. Da oft dennoch Anerkennung durch
den Westen winkt, haben sich islamistische
Parteien eine formaldemokratische Fassade zugelegt, die nur dazu dient, an die
Macht zu kommen und ohne demokratische Teilhabe zu regieren, wie das in der
Türkei der Fall ist.
Rachid Ghannouchi, Führer der islamistischen Ennahda-Partei in Tunesien, die
demnächst Teil einer Exekutive der „Nationalen Einheit“ werden soll, hat jüngst auf
einem Parteitag erklärt, künftig Politik und
Religion trennen zu wollen. Prompt erntete
er dafür das Lob der Konrad-Adenauer-Stiftung. Große Teile der tunesischen Laizisten
halten Ghannouchis neue Linie stattdessen
für reine Demagogie, denn er hat ausdrücklich Recep Tayyip Erdoğan zum politischen
Vorbild erklärt.
Christoph Kappes über Sein oder Nichtsein im Netz
Und raus bist du! Wer seine digitale Existenz
Fremden anvertraut, sollte die AGB gut lesen
G
oogle ließ im digitalen Wunderland gerade einen Schriftsteller
verschwinden. Mit einem Schlag
löschte die Google-Tochter Blogspot den
literarischen Blog von Dennis Cooper.
Kein Inhalt war mehr zugänglich, auch
nicht Coopers Romanprojekt Zac’s
Freight Elevator. Selbst sein E-Mail-Konto
wurde ausgeknipst. „Es tut uns leid, das
Blog wurde entfernt“ – so karg wurde die
Löschung verkündet. Und raus bist du!
Coopers Literatur ist als grenzgängerisch bekannt. In seinem Buch Frisk
finden Lustmorde an jungen Männern
statt. Für die queere Internet-Enzyklopädie glbtq.com ist er einer der kontroversesten Autoren der Gegenwart. Cooper
selbst hatte seinen Blog mit einem
„NSFW“-Hinweis versehen, auf Deutsch:
für unter 18-Jährige nicht geeignet.
Die schlichteste und zugleich marktwirtschaftliche Antwort auf den Fall des
Dennis Cooper lautet: „Lies! Deine! Allgemeinen Geschäftsbedingungen!“ Jeder
Nutzer unterwirft sich qua Zustimmung
diesen Regeln – auch wenn er sie weder
verstanden hat noch deren Eintreten für
wahrscheinlich hält. Solange Wettbewerb besteht, hat der Blogger, Foto- und/
oder Film-Hochlader immerhin die
Wahl: Er kann seinen Blog auch auf einem
bezahlten Server betreiben, unter einer
eigenen Web-Adresse. Der simpelste Tipp:
jeden Blogeintrag präventiv abzuspeichern. Woher eigentlich rührte Coopers
Vertrauen, sein Werk in die Hände
eines Konzerns zu legen – und keine
Sicherheitskopie zu behalten?
Freilich ist Coopers Problem kein
privates: Online-Kommunikation ist, so
schändlich sie im Einzelfall erscheinen
mag, Teilhabe an politischer Öffentlichkeit. Der Schaden, der bei Löschungen
entsteht, ist nicht nur der Verlust an Daten, sondern der an Aufmerksamkeit.
Sie zu garantieren, sollte eine generelle
öffentliche Aufgabe werden. Das heißt,
es muss Auftrag öffentlich-rechtlicher
Medien sein, Chancen auf Aufmerksam-
keit herzustellen – diskriminierungsfrei.
Bei dem laxen Umgang mit Konflikten,
die Online-Plattformen durch Löschen
auslösen, kann es nicht bleiben.
Derzeit sprechen Google & Co Recht in
eigener Sache. Viele Eingriffe der Plattformbetreiber – Löschen, Sperren, AusDer-Suchmaschine-Nehmen – sind ja
politisch gewollt, etwa bei Verletzungen
des Urheberrechts oder bei MissbrauchsAbbildungen. Für Nutzer ist der Eingriff
trotzdem schlecht vorhersehbar, der Prozess ist nicht transparent, und Rechtsmittel sind faktisch ausgeschlossen. Die
Lösung kann nur lauten, sich wieder
formeller an Rechtsfragen zu orientieren.
Erstens Nutzungsbestimmungen zu
vereinheitlichen, zu erläutern und mit
Entscheidungsdokumentationen anzureichern. Zweitens strittigen Fällen Gehör
zu verschaffen – hier ist auch die Politik
gefragt. Drittens muss eine Instanz
geschaffen werden, die über alle Anbieter
hinweg das Sperren von Publikationen
und Konten überprüft, etwa ein ZensurOmbudsmann.
Die Auslöschung des Cooper-Blogs
wirft die grundsätzliche Frage auf: Wer
sind wir, wenn wir uns im Wunderland
Internet mit Texten, Bildern und Kommunikation verwirklichen? Eingeborene,
Künstler, Kopierer – oder vielleicht
doch nur Mieter, Gäste und Kunden, über
deren Sein oder Nichtsein im virtuellen
Reich der Kollaboration andere jederzeit
willkürlich verfügen können? Was der
Fall lehrt, ist, Blogger und Surfer nachdrücklich an die virtuellen Eigentumsverhältnisse zu erinnern: „Die Cloud“,
das ist ein Synonym für „fremder Leute
Computer“.
Christoph Kappes ist Netztheoretiker,
Internetunternehmer und Autor
32
4 198389 803803
Hegelplatz 1
10117 Berlin
PVStk. A04188
Entgelt bezahlt
Tagebuch
02 Seite 2
Inhalt
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Indiens eiserne Lady
Irom Chanu Sharmila will nach 16 Jahren Hungerstreik gegen staatliche Willkür jetzt in die Politik gehen
Wochenthema
Sie sehen ja übel aus! S. 6/7
Wie die Pharmaindustrie Krankheiten
erfindet, um Milliarden zu verdienen,
und uns alle zu Patienten machen will
Politik
Mecklenburg-Vorpommern S. 4
Die Landesregierung verpasst es, der
rechten Opposition im Wahlkampf mit
starken Inhalten entgegenzutreten
Stephan Hebel
Syrien S. 8
Die Schlacht um Aleppo: Wer alles mitmischt und warum die Kämpfe zum
Finale des Bürgerkriegs werden könnten
Martin Chulov
Argentinien S. 9
Über die Verwobenheit von Politik,
Familiengeschichten und Konzernen am
Beispiel des Präsidenten Franco Macri
Marta Platía
Kultur
Kunst S. 14
Die Musikerin Anohni gibt jetzt mit
eigenen und fremden Kunstwerken einen
Einblick in queere Weltsichten
Cara Wuchold
Theater S. 15
Geflüchtete auf der Bühne: Wie sie
ihre Geschichten erzählen können, ohne
retraumatisiert zu werden
Ann Esswein
Literatur S. 16
Die Liebe zum gesprochenen Wort:
Wie Eduard Engels Deutsche Stilkunst
noch heute die Leserschaft begeistert
Gert Ueding
Film S. 18
Die feministische Filmtheoretikerin
Laura Mulvey beschäftigt sich mit der
Diskriminierung von Frauen im Kino
Isabella Reicher
Alltag
Nicht in Berlin S. 22
Mit neuen historischen Museen will
Sachsen-Anhalt für Touristen attraktiver
werden, vergisst aber die Infrastruktur
Tobias Prüwer
Porträt S. 23
Die südafrikanische Läuferin Caster
Semenya geht jetzt trotz jahrelanger
Anfeindungen in Rio an den Start
Donald McRae
A – Z Wahlwerbung S. 24
Von Plakaten, Stickern und Kondomen
Leserbriefe, Impressum S. 20
QVidhi Doshi
F
ast 16 Jahre nachdem sie in einen
unbegrenzten Hungerstreik trat, hat
Irom Chanu Sharmila zu Beginn der
Woche erstmals wieder etwas gegessen. Die 44-jährige indische Menschenrechtlerin wurde künstlich ernährt, unter polizeilicher Aufsicht, und kam für ihre
Nahrungsverweigerung in Haft, da versuchter
Selbstmord in Indien bisher unter Strafe
stand. Sie ist ein Symbol des Widerstandes gegen behördliche Gewalt im nordöstlichen
Staat Manipur. Nun ist sie wieder auf freiem
Fuß, Suizidversuche werden inzwischen nicht
mehr geahndet. Vorerst liegt Sharmila wegen
ihres angegriffenen Gesundheitszustandes
noch im Krankenhaus.
Bisher musste sie im Zwei-Wochen-Rhythmus vor Gericht erscheinen, wohin sie von
ihren Pflegern gebracht wurde. Bei der letzten
Anhörung teilte sie mit, es sei an der Zeit, auf
andere Weise gegen den Armed Forces Special
Powers Act (AFSPA) zu protestieren. Ihr Hungerstreik habe zu wenig bewirkt. Das von ihr
kritisierte Gesetz erlaubt Hausdurchsuchungen, Arrest, physische Gewalt bei Verhören
und den Gebrauch der Schusswaffe, ohne dass
dafür richterliche Beschlüsse nötig sind. Es
reicht, dass die Behörden von Manipur befinden, es bestehe akute Terrorgefahr, oder dass
Unruhen die innere Ordnung erschüttern.
Als Sharmila am 2. November 2000 mit ihrem Hungerstreik begann, hatte es gerade ein
Massaker im Dorf Malon unweit der Regionalhauptstadt Imphal gegeben. Zehn Menschen
wurden von den der Regierung unterstellten
paramilitärischen Assam Rifles getötet. Sharmila erklärte sofort, sie wolle die Behörden
zwingen, auf das Ermächtigungsgesetz zu verzichten. Mehrere NGOs solidarisierten sich
mit ihr. Der Tenor: Die Bevölkerung dürfe
nicht länger wie Freiwild behandelt werden.
Nun hat Sharmila eine neue Taktik für ihren
Protest: Sie will demnächst bei den Regionalwahlen antreten. „Manche halten es sicher für
befremdlich, dass ich in die Politik gehen will.
Sie sagen, Politik sei ein schmutziges Geschäft,
aber das ist die Gesellschaft auch. Ich will sie
durch mein Engagement herausfordern.“ Mit
ihrem Entschluss wird die Aktivistin von Sympathisanten in die Nähe von Aung San Suu Kyi
oder Nelson Mandela gerückt. So fällt denn
auch das Ende ihres Hungerstreiks mit dem
74. Jahrestag der Quit-India-Bewegung zusammen, die sich seit August 1942 als Avantgarde
Als Sharmila
mit ihrem
Hungerstreik
begann, erhielt
sie sehr viel
Unterstützung.
Der Tenor: Die
Bevölkerung
darf nicht länger
Freiwild sein
F O T O : B I J U B O R O /A F P/ G E T T Y I M A G E S
Liebe Leserinnen und Leser,
das Auffallende am weltweiten Vormarsch rechtspopulistischer Parteien ist,
dass sie gerade bei den unteren Einkommensschichten besonders großen
Zuspruch finden. Das zeigen Umfragen
zu Donald Trump, zum Front National
und zur AfD. Umgekehrt bedeutet das:
Linke Parteien verlieren immer stärker
den Kontakt zur Arbeiterschaft. Aber warum? Zwei aktuelle Bücher versuchen,
darauf Antworten zu geben.
Das eine stammt von dem französischen Philosophen Didier Eribon. Dieser
kommt selbst aus einer Arbeiterfamilie
und analysiert in seiner autobiografischen Studie Rückkehr nach Reims, wie
die eigenen Verwandten von Anhängern
der Kommunistischen Partei zu Wählern
des Front National wurden. Seine Ursachenforschung kreist dabei um die Frage
nach Identität. Genauer gesagt: um das
Verschwinden dessen, was einst Klassenbewusstsein hieß. Der italienische
Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli
macht hingegen noch ein anderes Argument auf. In seinem Essay Die Opferfalle
kritisiert er, dass die Linke keine positive
Idee des Guten mehr habe. Wenn Sie
wissen möchten, was das genau bedeutet,
lesen Sie den Beitrag auf Seite 13.
Ihr Nils Markwardt
des zivilen Ungehorsams um den Kampf für
Indiens Unabhängigkeit verdient gemacht
hat. Dass sich Sharmila gerade diesen Anlass
ausgesucht hat, wird allgemein als Zeichen für
ihre Ernüchterung über Indiens politische
Kultur und über die Missachtung des Erbes
von Mahatma Gandhi gedeutet.
Beobachter ihres Protests gehen davon aus,
dass der Verzicht auf den Hungerstreik von
ihrem britisch-indischen Freund, Desmond
Coutinho, beeinflusst wurde. Obwohl man ihr
während der Haft sporadische Freigänge gewährte, waren Kontakte nur zu einer Handvoll
Menschen gestattet – Coutinho gehörte dazu.
„Ich habe mindestens 60 bis 70 Anrufe von
Journalisten erhalten“, sagte jetzt Sharmilas
Bruder Irom Singhjit Singh. „Auch TV-Sender
waren hier. Ich habe ihnen allen das Gleiche
gesagt – sie müssen mit Sharmila sprechen,
ich bin Bauer, kein Menschenrechtsaktivist.“
Wird die Aktivistin nach Hause zurückkehren?
Sharmilas 84-jährige Mutter erklärte vor Jour-
nalisten, ihre Tochter sei entschlossen, „erst
dann wieder in der Familie zu sein, wenn der
Special Powers Act aufgehoben wird. Ich gebe
ihr meinen Segen.“
Sharmilas Ankündigung, in die Politik zu gehen, hat schon das Interesse einiger Oppositionsparteien im Staat Manipur geweckt. Der
lange Hungerstreik wurde zur Ermutigung für
eine Widerstandsbewegung, deren Protagonisten davon überzeugt sind, dass Sharmila gute
Chancen hat, ins Regionalparlament gewählt
zu werden. Nicht nur Babloo Loitongbam, Vorsitzender der Gruppe Human Rights Alert,
wirbt für ihre Pläne. Auch die Aam Aadmi Party (AAP, übersetzt: Partei des einfachen Mannes), die Ende 2012 aus der Antikorruptionsbewegung hervorging, und die Bharatiya Janata
Party seien an ihr interessiert, hieß es. Die radikale Alliance for Social Unity schickte Sharmila
hingegen eine Nachricht, die sie aufforderte,
ihren Streik doch bitte fortzusetzen und lieber
einen Einheimischen zu heiraten. Diese Nachricht erinnerte Sharmila nach eigener Aussage
daran, dass schon „einige revolutionäre Anführer ermordet wurden, wenn sie sich als Politiker versucht haben“.
Das Dorf Tulihal, aus dem fünf der Männer
stammten, die einst bei dem Massaker in Malon getötet wurden, ist über ihre Entscheidung
für die Politik gespalten. Tokpam Somorendra,
der seinen Sohn Shantikumar in Malon verlor,
meint: „Ich will nicht sagen, dass ihre Entscheidung falsch ist. Sie hat in diesen 16 Jahren so
viel geopfert und verdient jeden Respekt, weil
sie nicht für sich selbst gekämpft hat, sondern
für uns alle, die wir vom Staat nicht länger gedemütigt werden wollen. Ihr Kampf war unser
Kampf. Aber warum hat sie so schnell gehandelt, ohne uns etwas zu sagen?“ Sharmila habe
so viele treue Unterstützer – und es sei schade,
dass diese bei ihrem Fastenbrechen nun nicht
live dabei sein konnten. Ein paar Häuser weiter,
in der Familie von Chandramani Sinan, die
ebenfalls Opfer des Massakers zu beklagen hat,
finden Sharmilas Ambitionen indes mehr Anklang. „Sie hat 16 Jahre lang nichts gegessen
und kam ihrem Traum nicht näher, dieses
fürchterliche Gesetz fallen zu sehen“, sagt die
Mutter der Familie. „Für uns steht fest, dass wir
Sharmila weiter beistehen müssen. Wenn sie
sich zur Wahl stellt, kann sie mit unserer Stimme rechnen. Das ist sicher.“
Vidhi Doshi ist Freelancerin des Guardian
in Indien und Pakistan
Übersetzung: Holger Hutt
Michael Krätke über den Warnschuss der Bank of England
Ulrike Baureithel über den Grünen Boris Palmer
Teuer erkaufter Spielraum
An der rechten Abbruchkante
M
ark Carney, erster Ausländer auf dem Chefsessel der britischen
Zentralbank, ist ein mutiger
Mann. Der Oxford-Ökonom aus
Kanada hat lange Jahre für
Goldman Sachs gearbeitet, bevor
er die Zentralbank Kanadas
führte. Dieses Land kam auch
dank seiner proaktiven und expansiven Geldpolitik am besten
von allen G 7-Ländern durch
die Weltfinanzkrise vor acht
Jahren. Seit 2013 präsidiert Carney der britische Notenbank
und machte sich besonders viele
Feinde, als der Brexit-Wahn erblühte. Statt das ökonomische
Schwadronieren landauf, landab
mit Neutralität zu bedenken,
tat er seine Pflicht und warnte
mehrfach vor den desaströsen
Folgen eines EU-Ausstiegs.
Die lassen sich inzwischen als
Anzeichen einer Rezession deuten. Folglich hat die Bank of
England ihre Wachstumsprognose drastisch nach unten
korrigiert. Sie erwartet, dass die
Wirtschaft im dritten Quartal
um mindestens 0,4 Prozent
schrumpft. Der Beschäftigungseinbruch ist schon unterwegs,
wenn derzeit vorzugsweise Vollzeitstellen prekarisiert werden,
Schlüsselbranchen wie die Bauindustrie rascher als in den Krisenjahren 2008/09 einen Rückgang der Aufträge verbuchen
und die Umsätze im Dienstleistungssektor bedenklich nachgeben. Britischen Unternehmern,
großen wie kleinen, scheint der
Schrecken in die Glieder gefahren zu sein, wenn Investitionen
entweder aufgeschoben oder
abgeblasen werden. Den Wertverlust beim Pfund spüren die
Briten bei steigenden Preisen
für Lebensmittel. Sollten sich die
Anzeichen zu Tatsachen verdichten, stehen einige hunderttausend Jobs auf dem Spiel.
Deshalb wohl wollte das Direktorium der Zentralbank nicht
länger warten und umgehend
mit energischen Maßnahmen
reagieren. Seit März 2009 stand
ihr Leitzins bereits auf dem
unerhört niedrigen Niveau von
0,5 Prozent, jetzt wurde er auf
0,25 gesenkt, tiefer als je zuvor in
der langen Geschichte des Geldinstituts. Zugleich sollen mehr
Staatsanleihen aufgekauft werden, wenn das laufende Programm um 60 Milliarden auf
dann 435 Milliarden Pfund
aufgestockt wird. Dieses Vorgehen erfasst auch Unternehmensanleihen in einer Größenordnung von zehn Milliarden
Pfund. Dass die Kreditvergabe
von Privatbanken an ihr Publikum gefördert werden soll,
versteht sich. Es gäbe keinen
Grund für die Geldhäuser auf
der Insel, das Zinsminus von
0,25 Prozent nicht an ihre Kunden weiterzugeben, betont
Mark Carney.
Doch mit Geldpolitik allein
lässt sich eine Konjunkturflaute
nicht aufhalten. Ohne adäquate
Aktivitäten des britischen Staates, ohne Konjunktur- und Investitionshilfen, verpufft der Effekt von Minimalzinsen. Und
viel Munition hat Carney nicht
mehr, sollte es in den Wintermonaten ernster werden. Nullund Negativzinsen helfen auf
Dauer wenig, das hat die weithin
erfolglose Politik der EZB zur
Genüge gezeigt.
Fürs Erste kann Carney zumindest eines als Erfolg werten:
Er hat dem neuen britischen Finanzminister Philip Hammond,
ebenfalls bekennender BrexitGegner, Zeit zum Handeln verschafft. Gekaufte Zeit muss man
nutzen, nicht verplempern.
Angela Merkel hat stattdessen
immer wieder vorgeführt, wie
man mit teuer erkaufter Zeit
das Desaster nur noch größer
macht. Ein Beispiel, dem die
Briten nicht folgen sollten. Was
ihr Land jetzt braucht, ist
Klarheit über den Brexit-Kurs.
Der Zentralbankchef und der
Schatzkanzler sind sich da einig.
Die Bank of England hat einen
Warnschuss abgefeuert, den
auch Premierministerin Theresa
May gehört haben dürfte.
D
as Querulantige hat er
wohl von seinem Vater,
Helmut Palmer. Der
„Remstal-Rebell“ war in BadenWürttemberg schon eine Legende, als sein Sohn Boris noch
gar nicht geboren war. Immer
wieder ließ er sich bei Wahlen
gegen die Freidemokraten aufstellen, ein parteiloser Wüterich
mit fast göttlicher Mission und
dicker Akte beim Staatsanwalt.
Die hat sein Sohn Boris Palmer nicht, aber ein Stänkerer ist
er doch. Ob als Verteidiger des
Kohlekraftwerks Brunsbüttel, an
dem die Tübinger Stadtwerke
beteiligt sind, ob als früher Verfechter von Schwarz-Grün oder
als grüner Hardliner in der
Flüchtlingspolitik: Es gibt vieles,
worüber sich der seit zehn
Jahren amtierende Tübinger Rathauschef mit seinen grünen
Parteifreunden zofft.
Gerade hat er in der Stuttgarter Zeitung verlauten lassen,
dass man straffällig gewordene
Flüchtlinge auch in ihre
Herkunftsländer, beispielsweise
nach Syrien, zurückschicken
könne. Mit gewissen Verhaltensweisen verwirke man sein Aufenthaltsrecht, und wer sich
nicht an elementare Regeln halte, für den greife das Asylrecht
nicht mehr. Das ähnelt in manchem der Linkspartei-Politikerin Sahra Wagenknecht, und
auch bei den Grünen sorgen solche Äußerungen für Ärger.
Die eher bedächtige Parlamentarische Geschäftsführerin
Britta Haßelmann bezeichnete
Palmers Vorschlag als „zynisch“,
und Parteichefin Simone
Peter sprach von „klassischem
Palmer-Nonsens“.
Er sei „Realpolitiker“, konterte
Palmer, und würde nur auf die
geltende Rechtslage verweisen.
Doch seine wiederholten
Äußerungen zur Flüchtlingspolitik haben System und sind
nicht zufällig an der politischen
Abbruchkante zur AfD angesiedelt. Dabei hat Palmer, wie er
erklärt, keine politischen Ambitionen mehr, lieber würde er „in
der Wirtschaft etwas bewegen“.
Im Moment bewegt er allerdings nur die Bundespartei. Wie
viel Palmer ist goutierbar, wie
viel darf man ihm durchgehen
lassen, um noch den konservativsten Schwaben einzusammeln und aus dem Strom der
AfD zu den Grünen zu lenken?
Vielleicht ist Palmer aber auch
nur die grüne Vorhut. Sein
Vorschlag fügt sich jedenfalls
nahtlos in die neuesten geplanten Asylrechtsverschärfungen
der Union ein, die Flüchtlinge
endgültig zu Menschen zweiter Klasse machen. Es ist sozusagen eine Übung auf
dem schwarz-grünen Feld.
Politik 03
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der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Der Hofstaat
der Mitte
Ungleichheit Ohne die Hilfe einer neuen Diener-Klasse kämen
viele selbsternannte Leistungsträger kaum zurecht
und alte Leute betreuen, oder die als „Kontraktoren“ von Firmen wie Alfred oder TaskRabbit
„zeitnah“ und „on demand“ Bequemlichkeitswünsche von gestressten Kunden erfüllen.
Nur ein Bruchteil dieser Dienstleister ist
statistisch erfasst, nur ein Bruchteil würde angeben, „von Beruf“ etwa als Online-Butler zu
arbeiten. Die Dunkelziffer der heutigen Haushaltshelfer übertrifft die offiziellen Zahlen um
ein Vielfaches. Wer studiert, kann sich als
Nannie oder Teilzeit-Kaninchen leicht etwas
dazuverdienen; schwieriger wird es, wenn
man mit 50 oder 60 allen Ambitionen abgeschworen hat und allein aus Geldnot immer
noch putzen geht. Ein domestic worker zu
sein ist für die meisten eine Falle, aus der man
sich irgendwann nicht mehr befreien kann.
Warum aber tappt man überhaupt in die Falle? Weil diese Jobs immer noch attraktiver
sind als schwere körperliche Arbeit. Weil man
in der Regel keine Ausbildung für sie braucht.
Und weil es eben leicht ist, einen solchen Job
zu finden. Der Arbeitsmarkt für Diener bemisst sich am Bedienungshunger der Kunden,
und dieser ist größer denn je.
QChristoph Bartmann
W
e do chores, You live life“,
wir machen die Hausarbeit, du lebst dein Leben:
So wirbt die Service-Plattform TaskRabbit überall in
New York für ihre Dienste. Heute New York,
morgen 19 weitere Städte in den USA, übermorgen die halbe Welt, die Markteroberung
muss schnell passieren, denn die Konkurrenz
schläft nicht. Auch hierzulande nicht. Warum
soll man sein Essen nur bei Lieferando bestellen, wenn es doch auch die Dienste dinnery
und apetito gibt, nicht zu vergessen foodora
oder deliveroo? Es sieht so aus, als wollten diese neuen Bequemlichkeitsanbieter ihre Alleinstellung durch besonders blöde Namen untermauern – was nicht funktioniert, wenn sich
alle blöde Namen geben.
TaskRabbit leistet sich den Spaß, seine Mitarbeiter als Rabbits, als Aufgaben-Kaninchen
zu bezeichnen. Den Erfolg des Unternehmens
behindert das einstweilen nicht. Zu attraktiv
erscheint die Option, sich mit der App von lästigen Hausaufgaben ganz einfach freizukaufen. Auf der Homepage des Unternehmens
wird der Unterschied zwischen häuslichen Arbeiten und Leben genauer erläutert. Während
jemand deine Regale montiert, hängst du mit
deinen Kindern ab. Während jemand deine
Einkäufe macht, läufst du im Park. Während
jemand die Wände deiner Wohnung streicht,
malst du ein Meisterwerk. Und während jemand deinen Müll einsammelt, widmest du
dich deinem neuen Hobby. Das schöne Leben,
das solche Angebote verheißen, passiert immer dann, wenn die Arbeit am häuslichen Krisenherd anderweitig erledigt wird.
F O T O S : ( V O N O B E N I M U Z G ) M I C H A E L G O T T S C H A L K / G E T T Y I M A G E S , P E T E R B O H L E R / L A I F, G R E G O R F I S C H E R / D PA
Grauzone der Bequemlichkeit
Ein „Alfred“ kostet 32 Dollar
Wem die Heinzelmännchen von TaskRabbit
noch nicht genug Bequemlichkeit spenden,
der kann sich, jedenfalls in New York, auch an
Alfred wenden. Alfred „ist ein automatischer
Hands-off-Dienst, der ganz leise im Hintergrund deines Lebens summt – und dir erlaubt,
es zu leben“. Schon ab 32 Dollar pro Woche
kann man seinen persönlichen Alfred buchen.
Der klassische Butlername Alfred suggeriert
einen Hauch von alter Dienerherrlichkeit.
Für 32 Dollar kommt also ein Alfred in unser Haus und arbeitet unsere „To-do-Liste“ ab,
Dinge, zu denen wir, warum auch immer,
selbst nicht kommen. Als Kunde wird man Alfred selten oder gar nicht zu Gesicht bekommen. Alfred hat unseren Schlüssel und wir
vertrauen ihm, weil seine Firma ihn von
Grund auf durchleuchtet hat. Überhaupt nur
drei Prozent der Bewerberinnen und Bewerber bestünden diesen Check, wird mitgeteilt.
Man hat sich diesen neuen Typus von haushaltsnahem Dienstleister somit als Elite vorzustellen, leistungsfreudig, zuverlässig, ja getrieben von Idealismus und dem glühenden
Wunsch, anderen das Leben zu erleichtern.
„Meet the Alfreds“: Auf den Alfred-Seiten lernen wir etwa Eeva Marja aus Finnland kennen,
die jetzt in Brooklyn wohnt. Sie hat einen Masterabschluss in Psychologie, arbeitet jetzt aber
eben als Alfred und bezieht aus ihrem Job „die
Befriedigung, den Alltag anderer Leute besser
zu machen“.
Wenn man der Werbung glaubt, sind die
neuen Butler fast schon eine Art Sozialarbeiter. Der Sozialfall sind hier Menschen mit hohem Einkommen und Leistungsidealen, die
freilich das Hinaustragen des Mülls aus der
eigenen Wohnung nicht einschließen. Auf den
Seiten von Alfred berichten Kunden von ihrer
„Alfred experience“. Die Berufe sprechen Bände: James arbeitet in der Sparte „Real Estate
Finance“, Christina in einer Anwaltsfirma, Angelica ist „Capital Markets Associate“, und so
fort. Alle haben sie sich für eine Art Hotelwohnen entschieden. Es ist diese leistungsfrohe,
überstundenhungrige Klasse von jungen, ungebundenen Professionellen, die das neue
Service-Wesen befördert. Nicht dass doppelverdienende Eltern mit Kindern keine Servicewünsche hätten, im Gegenteil. Aber diese
Wünsche sind, vor allem wenn es um die Kin-
Unterbezahlte Hilfskräfte werden heute „helpling“ genannt oder „taskrabbit“
Butler, Köche,
Nannies und
Putzhilfen
sind eine Art
Sozialarbeiter
für Manager
und andere
Gestresste
der geht, komplexer: Da geht es noch einmal
ganz anders um Vertrauen und persönliche
Beziehungen. Noch buchen wir den Babysitter
nicht über eine App, aber der Tag ist vielleicht
nicht fern.
Der Trumpf der neuen digitalen Entlastungsindustrie besteht nicht nur in der Entlastung von der Arbeit selbst – sondern in der
Entlastung auch noch von der Anbahnung
dieser Arbeit. Anders als in der Vorzeit, wo
man sich mit dem Hauspersonal immer auch
den Konflikt mit dem Hauspersonal mit ins
Haus holte, ist hier alles vorab geklärt, vom
Vertrauens-Check über die Qualifizierung bis
zur Bezahlung. Eine wie auch immer geartete
Nähe zwischen Kunden und Dienstleistern
baut sich unter diesen Umständen nicht mehr
auf und ist auch nicht erwünscht. Die neuen
Dienstleisterinnen und Dienstleister sind
Hausgeister geworden, die, für uns unsichtbar, in unseren Räumen nach unseren Wünschen unsere Arbeit tun.
Es müsste Politik und Gesellschaft erschrecken, dass haushaltsnahe Dienstleistungen,
sowohl die herkömmlichen wie die neuen,
plattformgetriebenen, eine der wenigen wirklichen Zukunftsbranchen unserer Tage sind.
Wenn in Deutschland neue Jobs entstehen,
dann bewegen diese sich zu 80 Prozent im
Niedriglohnsektor, und davon wiederum ein
großer Teil im haushaltsnahen Bereich. Das
sind der polnische Pflegehelfer, die Putzfrau
aus Bosnien, das Kindermädchen von den
Philippinen, aber eben auch der Pizzafahrer
aus Deutschland. Warten, Pflegen, Liefern, das
ist ein Arbeitsmarkt mit goldener Zukunft.
Meist schlecht bezahlt, oft unversichert, mal
scheinselbstständig, mal als Minijob, frei von
Aufstiegschancen und oft sogar vom Wunsch
danach: Sehr viele Leute richten sich, offenbar
mangels besserer Alternativen, in solchen Arbeitsverhältnissen dauerhaft ein, ohne Gewerkschaften und Tarifverträge. Und die Gewerkschaften tun sich schwer, in diesem
wachsenden Segment Fuß zu fassen. Viele der
Dienstleister legen wenig Wert darauf, abhängig Beschäftigte zu werden. Die klassischen
Arbeitnehmerrechte und –pflichten passen
kaum zu einem mobilen Lebensstil, bei dem
„Migration“ sich zunehmend in „Zirkulation“
verwandelt und kein Land mehr eine feste Basis bildet, von der aus bürgerliche und Arbeitnehmerrechte geltend gemacht werden.
Jobs als Kaninchen gibt es viele
Folgt man den Untersuchungen der International Labour Organization (ILO) der Vereinten
Nationen, lässt sich ein Anstieg in der Zahl
häuslicher Dienstleisterinnen und Dienstleister weltweit verzeichnen. Domestic workers:
Das sind Männer und Frauen, von denen
manche sogar in den Haushalten ihrer Auftraggeber leben, nach dem Live-in-Prinzip,
andere nicht. Menschen, die als Butler, Köche
oder Gärtner den Hofstaat von Oligarchen
oder Popstars bevölkern, die als Nannies,
Haushälterinnen und Pflegerinnen Kinder
Man kann sich über all diese Tatsachen nicht
genug wundern. Sind nicht Diener ein Phänomen aus der Vergangenheit, jedenfalls in den
westlichen Ländern? Das Wort weckt nostalgische Empfindungen, wie sie heute von TV-Serien wie Downton Abbey bedient werden. Tatsächlich stand in den Jahrzehnten nach dem
Zweiten Weltkrieg in vielen Ländern das Dienerwesen vor dem Aussterben, wie Statistiken
zeigen. Der bürgerliche Haushalt, ob in seiner
klein- oder seiner gutbürgerlichen Variante,
kam weithin ohne Diener aus. Neuartige
Haushaltsgeräte machten es der sogenannten
Hausfrau möglich, den dienerlosen Haushalt
selbst zu bewältigen und in manchen Fällen
sogar lieben zu lernen. Die Freude am Selbermachen (Backen, Stricken, Putzen) begann zu
dominieren. Die Geräte spendeten Entlastung,
freilich ohne dass deshalb die Arbeit unbedingt weniger wurde.
Familienpolitisch jedoch war die unbezahlte Vollzeitarbeit von Frauen im eigenen Haushalt irgendwann nicht mehr zu halten. Um
1960 herum begann die neue Ära der (mit)
verdienenden, aber weiterhin dienerlosen
Frau und Mutter, die auf diese Weise erste Erfahrungen im Vereinbarkeits-Management
von Beruf und Familie sammelte. Schon gab
es ein Vereinbarkeitsproblem – aber noch niemanden, auf dessen Rücken man es hätte lösen können. Erst die massenhafte Ankunft
von Arbeitsmigrantinnen in Deutschland und
anderswo hat zu Lösungen geführt, wenn
auch regelmäßig zu Lasten anderer.
Das heute nicht nur bei Familien mit Kindern vorherrschende Gefühl, Stress zu haben
und deshalb Dinge besser einfach zu delegieren, siedelt in der Grauzone zwischen Bequemlichkeit und Bedürftigkeit. Haushaltsnahe Dienstleistungen halten für beides Angebote bereit. Wer sich über Lieferando Chips
und Bier für einen netten Fußballabend nach
Hause kommen lässt, gehört eher in die Bequemlichkeitsklasse als einer, der nach einer
Pflegekraft für die alternden Eltern sucht, die
nicht ins Heim wollen. In beiden Fällen aber
werden Leistungen in Anspruch genommen,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit schlecht bezahlt sind und die zudem von Leuten erbracht
werden, die, eben weil sie solche Dienstleistungen verrichten, niemals ein eigenes bequemes Leben haben werden. Es ist die Mittelklasse mit ihren von der Politik umworbenen
„Leistungsträgern“, die heute das häusliche
Service-Wesen befeuert. Familien, Singles, wer
auch immer, nie fiel es ihnen leichter und nie
war es vom Anbahnungsaufwand her unkomplizierter, Serviceleistungen zu buchen – und
das fast ohne schlechtes Gewissen: Man hält
sich ja nur ein bisschen „den Rücken frei“.
Christoph Bartmann ist für das Goethe-Institut in
New York tätig. Kommende Woche erscheint sein
Buch Die Rückkehr der Diener. Das neue Bürgertum
und sein Personal (Hanser 2016, 288 S., 22 €)
04 Politik
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Unter der Woche
Jürgen Busche
An der Spitze des
FC Bayern lauern
viele Gefahren
F O T O : J E N S B Ü T T N E R / D PA
U
li Hoeneß kommt also wieder.
Wer wollte sagen, er hätte etwas
anderes erwartet? Wer wollte
sagen, das sei nicht wünschenswert?
Der nach Verbüßung seiner Haftstrafe –
der Hälfte der zudiktierten Strafe – auf
Bewährung entlassene Steuerhinterzieher wird wieder Präsident des FC Bayern
München, eines der reichsten, wenn
auch nicht erfolgreichsten Fußballvereine Europas. Niemand meckert.
Manche mögen eine satte Portion
Neid verspüren. Politiker zum Beispiel.
Die Wahl von Hoeneß durch die Bayern
wird erst im November stattfinden.
Schon jetzt ist klar, dass er sie gewinnen
wird. Er hat keinen Gegenkandidaten.
Sein derzeit noch amtierender Vorgänger war erkennbar nur ein Strohmann.
So etwas konnte sich bisher nur Wladimir Putin leisten, der, als die russische
Verfassung seine Wiederwahl zum Präsidenten verbot, einfach seinen Ministerpräsidenten vorschob, selbst dessen
Posten übernahm und, als die Amtsperiode abgelaufen war, wieder verfassungskonform in das Präsidentenamt
zurückkehrte. Schön, wenn so etwas
klappt. Demokratie kann etwas Feines
sein, wenn man sie im Griff hat. In Bayern sagt man dazu dann: Mia san mia.
Hochdeutsch: Wir sind wir. Das reicht.
Dass nun ein Vorbestrafter, einer, der
im Knast gesessen hat, Präsident eines
großen Vereins wird, kann im Ernst niemand anstößig finden. Wir wollen ja
nicht die düstere Prognose aktualisieren,
die Hans Fallada mit seinem Roman
und Romantitel ausgegeben hat: „Wer
einmal aus dem Blechnapf aß …“ Strafen
im Rechtsstaat sind – wenn im Urteil
nicht anders vorgesehen – begrenzt.
Und dann gilt: Vorbei ist vorbei. Jeder
darf sich dazu seinen Teil denken.
Aber für die Rechte des Einzelnen im
öffentlichen Leben, auch des straffällig Gewordenen, darf das keine Rolle
spielen. Unser Strafen hat das Ziel
einer Resozialisierung im Blickfeld. Der
aus der Haft Entlassene soll wieder
in die Gesellschaft eingefügt werden.
Das ist bei Hoeneß kein Problem.
Es gibt da allerdings einen Punkt,
der bei der Beachtung der Bewährungsfrist ins Auge fällt. Der Entlassene, der
sich wieder ins tätige Leben einklinkt,
sollte die Nähe von Leuten vermeiden,
die ihn wieder ins alte Milieu der
Tunichtgute hineinziehen. Präsident
Hoeneß wird beim FC Bayern wieder auf
Aufsichtsratsmitglied Martin Winterkorn treffen, gegen den die Staatsanwaltschaft ermittelt und der möglicherweise demnächst Hoeneß’
bittere Erfahrungen besser kennenlernen wird, als ihm lieb ist. Steuerhinterziehung ist nicht alles, was verboten ist. An der Spitze des FC Bayern
lauern noch mehr Gefahren. Also:
Uli, pass auf!
Ministerpräsident Erwin Sellering ist bei den Bürgern sehr beliebt, seine SPD weniger
Stimmungsmache überall
Mecklenburg-Vorpommern Rechte schüren Angst, die anderen verbreiten Zuversicht. Nur politische Ideen fehlen
QStephan Hebel
A
uch wenn es nicht besonders
auffällt: Mecklenburg-Vorpommern befindet sich im
Wahlkampf. Selbst bei vielen
Bürgern des nordöstlichen
Bundeslandes dürfte diese Nachricht noch
nicht angekommen sein, denn sie befinden sich im Urlaub. Der sechswöchige Endspurt zur Wahl begann am vorletzten JuliWochenende – genau wie die Sommerferien. Und gewählt wird am 4. September,
exakt am letzten Tag, bevor die Schule wieder beginnt.
So dürften die Plakatbotschaften, die
sich zwischen Müritz und Ostsee breitgemacht haben, an manchen Orten mehr
Touristen erreichen als Wahlberechtigte.
Womit sich die Terminierung dieser Landtagswahl als erstaunlicher Widerspruch
zum allerorten ausgerufenen Ziel erweist,
die Menschen in einer Zeit der Wut, der
Sorge und des Zweifels wieder von den
Vorzügen der parlamentarischen Demokratie zu überzeugen.
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Ob das allerdings gelingen würde, wenn
der Wahlkampf nicht vor halbleeren Rängen
stattfände, muss bezweifelt werden. Was
man aus Mecklenburg-Vorpommern hört,
spricht eher für die inhaltliche Entleerung
der politischen Auseinandersetzung, die wir
auch andernorts erleben. Niemand traut
sich zu, in demokratischer Sprache Tacheles
zu reden. Stattdessen machen alle, Rechtspopulisten wie Demokraten, lieber Stimmung.
Angstparolen und nationalistische Ausgrenzungsfantasien stoßen auf weitgehend leere
Beschwichtigungsformeln und liberale Lippenbekenntnisse ohne Mut zur Eindeutigkeit. Kein gutes Omen für die Zeit bis zur
Bundestagswahl in einem Jahr.
Als Spezialist für Beschwichtigung tritt
Erwin Sellering von der SPD an, seit acht
Jahren Ministerpräsident im Bündnis mit
der CDU. Wie es aussieht, ist er dabei, seine Partei in eine Niederlage zu führen und
dabei exemplarisch zu zeigen, wie man
den Angstmachern und Angstprofiteuren
von rechts gerade nicht begegnen sollte.
Es ist zwar nicht so, dass der in den Osten
verschlagene Westfale die Leute anlügen
würde, wenn er sagt: „Unsere wunderschöne Heimat Mecklenburg-Vorpommern hat
sich in den letzten Jahren wirklich gut entwickelt.“ Tatsächlich ist die offizielle Arbeitslosigkeit seit 2005 um die Hälfte auf
(immer noch überdurchschnittliche) neun
Prozent gesunken, 50.000 zusätzliche Jobs
sind neu entstanden. Der Rostocker Hafen
hat gerade ein paar schöne Zahlen zum Güterumschlag vermeldet, die Windkraftindustrie schafft Arbeit, der Tourismus funktioniert.
Gespaltene Bevölkerung
Aber natürlich weiß auch Sellering, dass
er nur die halbe Wahrheit erzählt, wenn er
diese Erfolgsbilanz herunterbetet. Denn
erstens sind Abwanderung, Tarifflucht,
prekäre Beschäftigung, Arbeitslosigkeit
und vor allem die Furcht davor keineswegs
Vergangenheit. Und zweitens: Die Stimmung ist schlecht, weit über die AfD-Klientel hinaus.
Die jüngste Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap hat ergeben, dass die Bevölkerung des Küstenlandes zwischen Zuversicht und Zukunftsangst gespalten ist: „Finden Sie,
dass die Verhältnisse derzeit in Mecklenburg-Vorpommern eher Anlass zur Zuversicht oder eher Anlass zur Beunruhigung
geben?“, fragten die Demoskopen. Genau
die Hälfte zeigte sich zuversichtlich – aber
44 Prozent sahen eher Grund zur Beunruhigung. Und so irreal das in einem so
dünn besiedelten Landstrich auch ist: An
nichts macht sich hier so viel Panik fest
wie an der Zuwanderung. Absurd, aber
wahr: 59 Prozent fürchten einen „zu starken“ Einfluss des Islam und 51 Prozent
eine Beeinträchtigung heimischer „Lebensart“.
Diese Reaktionen, von der etablierten
Politik teils geduldet und teils noch befeuert, haben längst eine politische Sprengkraft entwickelt, die das ganze Parteiensystem ins Wanken bringt. Zwar werden
nicht alle Beunruhigten auf die nationalistischen Parolen der AfD hereinfallen. Aber
Infratest dimap maß die Zustimmung für
die Neurechten Ende Juni immerhin mit
19 Prozent. Die SPD kam auf gerade mal 22
und die CDU auf 25 Prozent. Damit wäre
die AfD drittstärkste Kraft in MecklenburgVorpommern, noch vor der Linkspartei
mit 17 Prozent.
Sozialdemokrat Sellering redet jedoch
an den Angstthemen meistens gezielt vorbei, statt sie den Rechten aus der Hand zu
nehmen. Er scheint sich in eine Art Stimmungswettkampf begeben zu haben: Die
einen arbeiten mit der Angst, die anderen
mit der Zuversicht. Nur demokratische,
freiheitliche und soziale Antworten auf
Angst und Verunsicherung gibt niemand.
Das ist vielleicht der größte Erfolg der AfD:
dass Ideen für eine wirklich liberale
Flüchtlingspolitik, verbunden mit einem
sozialen Schutzversprechen für Alteingesessene wie Zugewanderte, überhaupt
nicht mehr im Angebot sind. Da sieht es
in Mecklenburg-Vorpommern nicht anders aus als im Bund.
Die SPD im Nordosten hat offenbar bei
der Wahlkampfplanung geglaubt, das Thema hinter ihren Erfolgsparolen verschwinden lassen zu können. Und wenn der Ministerpräsident doch einmal redet, fällt
Eine liberale
Asylpolitik ist
gar nicht mehr
im Angebot,
ein Erfolg der
Rechten
ihm nichts Besseres ein, als die Abwehrreflexe gegen Fremde in geradezu
Seehofer’scher Manier auch noch selbst zu
bedienen: „Es war ein großer Fehler, die
Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn im
September nicht zu einer Ausnahme zu erklären. Stattdessen wurde monatelang der
Eindruck erweckt, als sei die unbegrenzte
und unkontrollierte Aufnahme von Flüchtlingen alternativlos“, verkündete er jetzt im
Tagesspiegel.
Bonus des Landesvaters
So schwankt also die SPD im Land wie im
Bund zwischen Beruhigungsrhetorik und
Anleihen beim Populismus, als wüsste sie
nicht, dass sie die Zweifler und die Hasser
weder mit dem einen noch mit dem anderen erreichen wird. Sellerings Stimmungspolitik verzichtet fast vollständig auf Konfrontation und alternative Konzepte – als
wären sie nicht das einzige Gegenmittel zu
den aus Abwehr und Abgrenzung gezimmerten Scheinlösungen von rechts. Da ist
der Kandidat von der Küste nicht anders
als sein Parteivorsitzender Sigmar Gabriel.
Wohlgemerkt: Der Schweriner Ministerpräsident steht hier nur stellvertretend
für alle etablierten Parteien, die sich – mit
unterschiedlichen Akzenten – nicht viel
anders verhalten. Sellering selbst mag sich
damit trösten, dass die Bürger im Nordosten ihn am liebsten als Ministerpräsidenten behalten wollten: 57 Prozent würden
sich bei einer Direktwahl für ihn entscheiden. Aber mit seiner Partei und deren Inhalten hat das offenbar weniger zu tun als
mit dem Bonus eines Landesvaters: Die 22
Prozent der SPD liegen unter der Prognose
für die Rechts-außen-Parteien, rechnet
man zu den 19 Prozent der AfD noch die
4 Prozent für die NPD hinzu (die sogar
Chancen hat, die Fünfprozenthürde noch
zu knacken).
Bei der AfD gibt es ein Plakatmotiv, bei
dem unter dem Slogan „Für unser Land
und unsere Kinder“ in riesigen Buchstaben nur ein einziges Wort zu lesen ist:
„Volkspartei“. Natürlich gilt der Anspruch
nicht für alle Bewohner dieses Landes,
sondern ausdrücklich nur „für das eigene
Volk“, wie es auf einem anderen AfD-Plakat heißt. Aber tatsächlich fehlt nicht viel,
und die neurechte Sammelbewegung
schließt zu den alten Volksparteien auf. Es
sei denn, die merken noch, dass den rechten Stimmungspolitikern mit Stimmungspolitik nicht beizukommen ist.
Politik 05
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Wenig Zeit für die Wahrheit
Justiz Ein Richter erledigt
weniger Streitfälle als seine
Kollegen und wird ermahnt.
Muss er jetzt schneller und
oberflächlicher arbeiten?
Kernelemente unseres Rechtsstaates
sind die Gewaltenteilung und die richterliche Unabhängigkeit. Wenn eine Gerichtspräsidentin eine Ermahnung ausspricht,
wird sie unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung nicht als Richterin, sondern
als Teil der Exekutive tätig. Verfassungsrechtlich wird diese Maßnahme dem Justizministerium zugerechnet. Damit wird
deutlich, dass die politische Verantwortung
für Hügels Verhalten beim zuständigen
Justizminister liegt. Er ist Herr des Verfahrens und kann jederzeit die dienstrechtlichen Maßnahmen zurücknehmen. Das gilt
selbst noch nach Ausschöpfung des Rechtsweges. Deswegen richten sich auch die politischen Vorwürfe nicht nur gegen Hügel,
sondern ebenfalls gegen den früheren Justizminister Rainer Stickelberger (SPD) und
seine damalige Amtschefin Bettina Limperg (heute Präsidentin des Bundesgerichtshofs) sowie gegen seinen Nachfolger
Guido Wolf (CDU).
QWolfgang Nešković
Verweigerte Realität
Schulte-Kellinghaus wehrte sich, beschritt
den Rechtsweg gegen die dienstrechtliche
Maßnahme. Es war der Beginn einer bislang
einzigartigen Auseinandersetzung zwischen
einer Justizverwaltung und einem hartnäckig und unerschrocken um seine Unabhängigkeit kämpfenden Richter. Leider haben
die zuständigen Richterdienstgerichte in
erster und zweiter Instanz die Klage abgewiesen. Sie haben sich vor allem darauf berufen, dass die pauschale Aufforderung,
durchschnittliche Erledigungszahlen zu erbringen, nicht in die Rechtsanwendung ein-
FOTO: U L R I C H BAUM GA RT E N/G E T T Y I M AG E S
D
ie Strafanzeige, die der Rechtsanwalt Gerhard Strate dieser
Tage bei der Freiburger Staatsanwaltschaft erstattet hat, ist
eine äußerst ungewöhnliche.
Der Vorwurf: versuchte Nötigung in einem
besonders schweren Fall. Die Beschuldigte:
Christine Hügel, bis zum vergangenen Jahr
Präsidentin des Oberlandesgerichts Karlsruhe. Beim Stuttgarter Justizministerium
gingen zudem mehrere Dienstaufsichtsbeschwerden gegen Hügel ein.
Auf den ersten Blick geht es bloß um eine
„Ermahnung“. Hügel hat im Jahr 2012 bemängelt, dass der Richter Thomas SchulteKellinghaus rund ein Drittel weniger Fälle
als seine Kollegen erledigt hatte. In Wirklichkeit geht es in diesem Fall aber um viel
mehr: um einen Eingriff in die Unabhängigkeit von Richtern. Um weniger Zeit für
die Suche nach der Wahrheit. Und um die
Gefährdung des Rechtsstaats.
Nach dem Grundgesetz sind Richter unabhängig, nicht weisungsgebunden und
allein dem Gesetz unterworfen. SchulteKellinghaus ist der Meinung, dass die Ermahnung darauf abzielte, ihn zu zwingen,
seine Rechtsanwendung zu ändern: weniger rechtliches Gehör, weniger Sachverhaltsaufklärung durch Beweisaufnahmen,
mehr Verfahrensverkürzungen durch die
Annahme von Verjährung oder durch Vergleiche statt Urteile.
Das Aktenstudium kann erhellend sein
greife. Die Gerichtspräsidentin habe schließlich keine konkreten Vorgaben gemacht. Der
Strafverteidiger Strate hat hierzu in der eingangs erwähnten Strafanzeige angemerkt:
„Eine Präsidentin, die einen Richter unter
‚Zahlendruck‘ setzt, übt Druck auf eine andere (zeitsparende) Rechtsanwendung aus.
Wer diesen Zusammenhang leugnet, verweigert sich der Realität.“
Ähnlich sieht das auch der an der Universität Münster zur Justizorganisation forschende Professor Fabian Wittreck. Unstreitig verfassungswidrig wäre es, erläutert er,
wenn die Oberlandesgerichts-Präsidentin
den Richter angewiesen hätte, zur Zeitersparnis beispielsweise weniger Beweisaufnahmen oder mündliche Verhandlungstermine durchzuführen. Da niemand – auch
Hügel selbst nicht – behaupte, der Richter
Schulte-Kellinghaus arbeite zu wenig oder
sei seinem Amt nicht gewachsen, könne dieser seine Erledigungszahlen nur durch eine
Gelegentlich
kommt es zu
Deals: kurzer
Prozess gegen
geringe Strafe
oberflächlichere Arbeitsweise steigern – also
durch das, was die Präsidentin nicht von ihm
verlangen dürfe. Wittreck nennt ihre Maßnahme „perfide“, weil sie in die Unabhängigkeit eingreife, ohne das zuzugeben.
Christine Hügel konnte im laufenden
Rechtsstreit auch nicht darlegen, wie Schulte-Kellinghaus mehr Fälle erledigen soll,
ohne seine Rechtsanwendung zu ändern.
Stattdessen präsentierte sie den Dienstgerichten ihre Denkweise auf dem Silbertab-
lett. In einem von ihr unterzeichneten
Schriftsatz heißt es: „Durch die gesetzliche
Vorgabe der Personalausstattung und das
tatsächliche Fallaufkommen wird aber der
– auch für den Berufungsführer (Herrn
Schulte-Kellinghaus) – verbindliche Maßstab aufgestellt, wie viel der einzelne Richter in seiner jeweiligen Funktion insgesamt
zu erledigen hat.“
Der Satz hat es in sich. Für Richter soll
nach Auffassung von Hügel nicht die am
Gesetz orientierte individuelle Überzeugung handlungsleitend sein, sondern die
Finanzplanung des Landes. Im Rechtsstaat
darf ein Richter jedoch keinesfalls das
Recht entgegen seiner Überzeugung anwenden. So sieht es der Richtereid vor. Der
Richter ist nicht Diener haushaltspolitischer Vorgaben, sondern des Rechts. Sein
Herr ist das Gesetz und nicht das Justizministerium. Wer das nicht akzeptiert, rüttelt
an den Grundfesten des Rechtsstaats.
Zum Vergleich gedrängt
Es geht auch um Glaubwürdigkeit. Richter,
die dem Verdacht ausgesetzt sind, sie suchten einen Weg, der zeitaufwendige Beweisaufnahmen und rechtliche Recherchen erspart, gefährden das Vertrauen in die Justiz.
Wer einen Prozess führt, weiß, dass die Zeit
die Mutter der Wahrheit und Gerechtigkeit
ist. Ein Richter ohne Zeit ist wie ein Maurer
ohne Kelle. Wenn Richter in Strafprozessen
dealen, dann wird das Strafgesetzbuch zum
Handelsgesetzbuch. Die Wahrheit wird
nicht mehr erforscht, sondern vereinbart.
Insbesondere Wirtschaftskriminelle nutzen die Zeitnot, die die Politik wegen der zu
geringen Zahl an Richterstellen zu verantworten hat, für einen Deal mit Strafrabatt.
Frei nach dem Motto: Kurzer Prozess gegen
geringe Strafe. In Zivilprozessen machen
viele Bürger die Erfahrung, dass sie mit unterschiedlichen Druckmitteln zu einem
Vergleich gedrängt werden. Der Vergleich
erspart dem Richter die meist zeitaufwendige Begründung einer Entscheidung.
Geht Geschwindigkeit vor Gerechtigkeit?
Der mutige Kampf des Richters SchulteKellinghaus zielt im Ergebnis darauf ab, die
Justiz aus dem Zeitgefängnis der Verwaltung zu befreien. Wenn er am Ende gewinnt, wäre das ein starkes Signal.
Wolfgang Nešković war Richter am
Bundesgerichtshof und saß als Parteiloser
für die Linke im Bundestag
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Uranfabriken unter Druck
Atomkraft Deutschland beliefert ausländische Reaktoren mit Brennstoff. Wie lange noch?
QAnika Limbach
S
ie liefern Brennstoff für Atomkraftwerke in aller Welt und dürfen nach
derzeitiger Gesetzeslage weiterlaufen
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag: die Urananreicherungsanlage im westfälischen
Gronau und die Brennelementefabrik im
niedersächsischen Lingen. Offiziell hat
Deutschland den Atomausstieg beschlossen, aber nach dem Abschalten des letzten
Reaktors dürfen diese beiden Uranfabriken
immer noch produzieren, sie besitzen eine
unbefristete Betriebsgenehmigung. Doch
das könnte sich bald ändern. Die rot-grünen Landesregierungen in Hannover und
Düsseldorf machen Druck, und Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD)
zeigt sich offen für eine Diskussion über
eine Schließung der Anlage in Gronau.
Bisher wurden die zwei Uranfabriken
von der Politik weitgehend ignoriert. Im
rot-grünen Atomausstieg kamen sie nicht
vor, der Atomausstieg von Merkel im Jahr
2011 beschränkte sich ebenfalls auf die
kommerziellen Reaktoren. Die damalige
Empfehlung des Bundesrats, auch die Laufzeit der beiden Uranfabriken zu begrenzen,
versickerte schnell im Sande. Und auch die
Atomaufsichtsbehörden von NordrheinWestfalen und Niedersachsen kamen den
Betreibern Urenco und ANF in den vergangenen Jahren nicht ins Gehege – trotz der
kritischen Haltung der Umweltminister.
Erst mit den Pannen und den Protesten
gegen die Uralt-Reaktoren in Belgien und
Frankreich gerieten die beiden deutschen
Anlagen wieder stärker in den Blickpunkt
von Öffentlichkeit und Politik. So wurde
bekannt, dass die Lingener Fabrik das störanfällige AKW im belgischen Doel und
französische Risikoreaktoren in Fessenheim und Cattenom mit Brennstäben versorgt. Bereits Ende vergangenen Jahres hatten Atomkraftgegner einen Exportstopp
für den Brennstoff gefordert. Dafür gäbe es
keine rechtliche Handhabe, hieß es später
aus dem Bundesumweltministerium.
Dem widerspricht jedoch ein Rechtsgutachten, das die atomkraftkritische Ärzteorganisation IPPNW kürzlich vorgestellt hat.
Die „weitere Belieferung der Atomkraftwerke in Doel, Fessenheim und Cattenom mit
in Deutschland hergestellten Brennelementen“ sei „nicht nur in hohem Maße widersprüchlich. Sie ist auch mit dem geltenden Recht nicht vereinbar.“ Die Juristin
Cornelia Ziehm beruft sich dabei auf den
Paragrafen 3 des Atomgesetzes, wonach die
Kernbrennstoffe nur dann eine Ausfuhrgenehmigung erhalten dürfen, wenn sie
„nicht in einer die innere oder äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland
gefährdenden Weise verwendet werden“.
Nach derzeitiger
Gesetzeslage
dürfen die
Anlagen ewig
weiterlaufen
Laut Gutachten dürften die Anlagen in
Doel, Fessenheim und Cattenom nach dem
deutschen Atomgesetz nicht mehr betrieben werden. Das zuständige Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle müsse
daher Brennstabexporte zu diesen Kraftwerken unterbinden und notfalls Genehmigungen widerrufen. Die Aufsicht darüber hat die Bundesumweltministerin.
Hendricks hat öfters Sicherheitsbedenken gegenüber den belgischen Reaktoren
geäußert, im April sogar die belgische Regierung gebeten, zwei Blöcke „bis zur Klärung offener Sicherheitsfragen“ herunterzufahren. Trotzdem hat das Ausfuhramt im
Frühjahr neue Exportgenehmigungen erteilt. Matthias Eickhoff vom Aktionsbündnis Münsterland gegen Atomanlagen ist
alarmiert. „Mit der Lieferung ermöglicht
Hendricks den Weiterbetrieb eines Reaktorkomplexes, den sie selbst öffentlich kritisiert. Sie muss das Bundesamt schnellstens anweisen, diese Genehmigung zu widerrufen.“ Auf Dauer, so seine Einschätzung,
werde Hendricks ihr widersprüchliches
Handeln nicht aufrechterhalten können.
Es gibt Zeichen der Hoffnung: Im Juni
hatten die Umweltminister der Länder gefordert, die Uranfabriken in den Atomausstieg einzubeziehen, worauf Hendricks zunächst ablehnend reagierte. Vor kurzem
jedoch zeigte sie in einem Brief an Nordrhein-Westfalens Umweltminister Johannes Remmel (Grüne) ihre Bereitschaft, über
eine Schließung der Urananreicherungsanlage Gronau zu verhandeln. Vielleicht
klappt es eines Tages doch noch mit dem
vollständigen Atomausstieg.
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06
Wochenthema
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Wochenthema 07
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Sie sehen ja übel aus! Wie die Pharmaindustrie Krankheiten erfindet, um Milliarden zu verdienen
„Wir müssen uns von
Suggestionen befreien“
Erst Ängste schüren,
dann abkassieren
Medizin Gisela Schott über Medizin und Marketing
Gesundheit Pharmakonzerne und Ärzte geben sich alle Mühe, neue Krankheitsbilder zu
kreieren. Der Selbstoptimierungsdruck macht etliche Menschen zu willigen Patienten
E
in schon etwas älteres Paar sitzt
zusammen im Bett. Auf dem
Nachttisch des Mannes liegt gut
sichtbar Viagra, auf dem der Frau
eine Packung Addyi. „Wie lange
wirkt denn deine?“, fragt der verunsicherte
Mann seine Partnerin. Diese Cartoon-Szene nimmt die vergangenes Jahr von der
amerikanischen Gesundheitsaufsicht FDA
zugelassene Potenzpille Addyi auf die
Schippe, die abflauender weiblicher Lust
auf die Sprünge helfen soll.
Auch auf dem Gebiet des pharmakologisch erzeugten Sex ist jetzt Gleichberechtigung angesagt: Flibanserin, eigentlich ein
Mittel gegen Depression, ist im Gegensatz
zu Viagra nicht blau, sondern rosa und
greift in den Stoffwechsel des weiblichen
Gehirns ein. Es wird nun, nachdem
Boehringer Ingelheim das Handtuch geworfen hat, von einem amerikanischen
Konzern großflächig vermarktet. Even the
Score, eine US-amerikanische Organisation,
in der auch Feministinnen aktiv sind, feierte die Zulassung tatsächlich überschwänglich als Akt der Gleichberechtigung – obwohl die Pille nicht mehr verspricht als
gerade einmal mehr genussvollen Sex im
Monat. Die Gruppe wurde als Patientenorganisation übrigens vom Hersteller Sprout
unterstützt.
Wechseljahre der Männer
„Sexuelle Dysfunktion“ bei der Frau ist
eine inzwischen zur Krankheit erhobene
Störung. Kriterien, die diese genauer definieren, gibt es zwar nicht, dennoch liefert
die „Krankheit“ den Stoff für zahlreiche
Vorträge und Artikel. Gesponsert werden
solche Kampagnen von Pharmaunternehmen mit dem Ziel, medikamentös zu intervenieren, wie bei der „erektilen Dysfunktion des Mannes“. Dass es sich oft nur
um einen psychologisch oder sozial grundierten Mangel an sexuellem Verlangen
handelt, interessiert die Campaigner
nicht. Wo Unbehagen ist, soll Krankheit
werden – so das Motto. Und für alle gibt es
Abhilfe – so das Versprechen.
Wo Frauen jahrzehntelang mit Hormonersatztherapien angeblich über die Wechseljahre gebracht wurden oder ihnen routinemäßig die dann „unnütze“ Gebärmutter
entfernt wurde, dürfen Männer nun nicht
mehr nachstehen. Die „Wechseljahre des
Mannes“, eigentlich ein Karnevalsschlager,
sind in den Olymp des Behandlungswürdigen aufgerückt: Männer sind mürrisch,
schlafen schlecht, und wenn sie wollen,
können sie nicht. HSDD (Hypoactive Sexual Desire Disorder), also sexuelles Desinteresse, gilt inzwischen ebenfalls als behandlungsbedürftig. „Haben Sie zu wenig Energie?“, werden Männer in Zeitungsanzeigen
zum Selbst-Test animiert. „Sind Sie traurig?
Empfinden Sie Ihre Erektion als zu gering?“
Zehn Fragen nur, und Mann weiß, wie es
um sein Lustlevel bestellt ist. Bei drei JaAntworten wird ihm geraten, den Arzt aufzusuchen, um den Testosteronspiegel abklären zu lassen und das Männlichkeitshormon gegebenenfalls zu substituieren.
Mangelnde Lust? Depressive Verstimmung? Gar ein Burn-out? Unruhige Beine?
Motivationsmangel, Aufmerksamkeitsstörung, Haarausfall oder Faltenbildung? Der
Katalog von Befindlichkeitsstörungen und
Alterungserscheinungen ist lang. Und wo
Gott oder das Schicksal im Leben der Menschen kein Regiment mehr führt und jede
Normabweichung Ängste auslöst, springen
die Machbarkeitspriester gern ein, auch
dort, wo eigentlich gar nichts ist.
„Disease Mongering“ nannte die Journalistin Lynn Payer schon 1992 dieses Phänomen, was sich ins Deutsche nicht wirk-
lich gut übersetzen lässt. Gemeint ist eine
Kombination aus dem Erfinden von
Krankheiten und dem Vermarkten. Oder,
wie es Gisela Schott nennt (siehe Interview), der Handel mit Krankheiten („selling sickness“). Wie bei jedem anderen industriellen Produkt wird zunächst ein
neuer Markt mit neuen Abnehmern erzeugt. Akteure sind neben der Pharmaindustrie Ärzte und Angehörige von Gesundheitsberufen, aber auch sogenannte
Multiplikatoren wie Lehrer oder Journalisten, die entweder in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt oder damit befasst sind,
Geschichten über angebliche Krankheitsbedrohungen zu verbreiten.
Beim Disease Mongering werde Krankheit zu einem Industrieprodukt, erklärte
der Medizinjournalist Jörg Blech vergangenes Jahr bei einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrats. Zunächst werde Werbung
für eine neue Krankheit gemacht – dann
für das sie bekämpfende Medizinprodukt.
Auf dem explodierenden Gesundheitsmarkt treffen viele unterschiedliche ökonomische Interessen zusammen, die alle
um die vorhandenen Ressourcen buhlen.
Andererseits sind auch die „mündigen
Patienten“ als Aufmerksamkeitslenker an
Viele Mädchen
nehmen die
Pille nicht zur
Verhütung,
sondern für
bessere Haut
diesem Prozess beteiligt. Akribisch beobachten viele heute sich selbst, machen sich
Sorgen über völlig normale Lebensprozesse und nehmen dankbar jedes Angebot
wahr, um auf mutmaßliche Risiken zu reagieren. Damit tragen sie, meist unbewusst,
kräftig zur Medikalisierung des Alltags bei.
Interessanterweise setzt das Geschäft
mit realen oder erfundenen Krankheiten
– nicht nur im oben vorgestellten Zusammenhang des „Sex sells“ – vor allem an
geschlechtsspezifischen Verhaltensweisen
und Gesundheitsbedürfnissen an. Männer
erscheinen auf dem Gesundheitsmarkt bis
heute als körperliche Leistungsträger, deren Vitalkraft erhalten oder deren Potenz
optimiert werden muss. Frauen indes
kämpfen dort gegen Störungen und Defizite: Sie sind unruhig und unkonzentriert,
müssen sich zuerst mit dem prämenstru-
ellen Syndrom herumschlagen und später
dann mit Osteoporose und äußerlichen
Zeichen des Alterns.
Bis heute gilt, dass Männer zu größerem
Risikoverhalten – Alkoholkonsum, Rauchen, zu schnelles Autofahren – neigen,
während Frauen sicherheitsorientierter leben und aus ihren zwischenmenschlichen
Beziehungen gesundheitliche Vorteile ziehen. Beiden Geschlechtern gemeinsam ist
aber, dass sie mittlerweile die Verantwortung für ihre Gesundheit als persönlichen
Auftrag übernommen haben, als Agenten
ihres Wohlbefindens.
Diffuse Diagnosen
Die Pharmaindustrie, aber auch andere Gesundheitsanbieter kalkulieren mit der
Angst und dem Sicherheitsbedürfnis, insbesondere auf dem zweiten Gesundheitsmarkt, auf dem Arzneimittel frei verkauft,
individuelle Gesundheitsleistungen angeboten oder etwa Schönheitsoperationen
durchgeführt werden. Und auf dem überhaupt jede Form von Wellness und Befindlichkeitsverbesserung abrufbar ist. Rund
ein Viertel der 315 Milliarden Euro Gesamtausgaben für Gesundheit entfällt allein in
Deutschland schon auf dieses Segment.
Sicherheit versprach einst bei ihrer Einführung auch die Verhütungspille. Hier trafen der Wunsch nach Geburtenkontrolle
und Pharmainteressen (im Westen) und
medizinischer Paternalismus (im Osten)
aufeinander. Heute stehen über 50 entsprechende Präparate zur Verfügung, und der
Markt ist hart umkämpft. Deshalb war die
Pharmaindustrie daran interessiert, immer
neue Indikationen für die Pille zu lancieren.
Sie garantiere eine schöne glatte Haut, hieß
es zunächst, und sei daher auch gegen Akne
einzusetzen. Seit den 80er Jahren hat die
Pille sich als Lifestyle-Medikament etabliert. Schering warb mit schönen jungen
Frauen für Femovan, Bayer damit, dass
sich Kopfschmerzen oder Gereiztheit nach
der Einnahme von Yasmin (in den USA unter dem Handelsnamen Yaz verkauft) „in
Luft auflösen“ würde. Noch bis vor kurzem
operierten viele Unternehmen mit aggressiven zielgruppenorientierten Bildern:
Demnach versprach die Pille die Vermeidung der Regelblutung, ein Anwachsen
der Brust und Schlankheit.
Da Medikamentenwerbung in Deutschland untersagt ist, dient die Rede über
eine angebliche Störung – oder eben:
Krankheit – als Transmissionsriemen, um
ein Produkt zu platzieren. Im Vordergrund
stehen dann immer seine Vorteile, während die gesundheitlichen Risiken durch
bestimmte Wirkstoffe oder Wirkstoffkombinationen (bei der Antibabyille etwa Drospirenon) verschwiegen oder heruntergespielt werden. Für die von der Pharmain-
M O N TA G E : D E R F R E I TA G , M AT E R I A L : I S T O C K P H O T O, G E T T Y I M A G E S ; P O R T R ÄT : R E I N E R Z E N S E N / D E U T S C H E R E T H I K R AT ( R E C H T S )
QUlrike Baureithel
dustrie forcierte Anwendungsausweitung
spricht, dass heute 79 Prozent aller 14- bis
17-jährigen Mädchen die Pille „prophylaktisch“ konsumieren – nicht als Verhütungsmittel, sondern wegen ihrer vermeintlich
positiven Nebenwirkungen.
Eine andere Methode, den Absatzmarkt
für Arzneimittel zu vergrößern, ist die Verschiebung von Grenzwerten, etwa bei Blut-
Historie der Fake-Medizin
Modekrankheiten sind kein
neues Phänomen. Doch in
der frühen Neuzeit, sagt der
Medizinhistoriker Michael
Stollberg, waren sie zunächst
auf die Ärzteschaft beschränkt, die beispielsweise
glaubte, dass Skorbut auf
den übermäßigen Konsum
von Schwarzbrot zurückzuführen sei. Zu einer
„Modekrankheit“ wird ein
Krankheitsphänomen
jedoch erst, wenn es breitere
Schichten erreicht. Galt
etwa Leibesfülle im 18. Jahrhundert noch als Zeichen
des Wohlstands und der
männlichen Würde, kamen
im 19. Jahrhundert neue
Schönheitsideale auf und
mit ihnen ärztliche
Aufklärungsschriften, in
denen den Betroffenen etwa
Diäten angedient wurden.
Modekrankheiten zeigen die
zeitgenössischen Vorstellungen vom Körper, sie sind
aber oft auch Seismograf
für das Verhältnis der
Geschlechter. Gut erforscht
ist etwa die sogenannte
„weibliche Hysterie“. Mitte
des 19. Jahrhunderts wurden
Tausende von Frauen
in die neu eingerichteten
Nervenheilanstalten eingewiesen, doch es konnten
keine organischen Ursachen
für das Übel ausgemacht
werden. „Die Hysterie
ist eine organische Krisis
der organischen Verlogenheit
des Weibes“, folgerte Otto
Weininger 1903 in seiner
misogynen Schrift
Geschlecht und Charakter.
Nervenleiden gehörten zu
den wirkmächtigsten
Modekrankheiten, blieben
die aber nicht nur auf Frauen
beschränkt. Das frühe 20.
Jahrhundert etwa brachte ein
Phänomen hervor,
das insbesondere sensible
Männer in Mitleidenschaft
zog – die Neurasthenie,
die mit den neu entwickelten
Nervenstärkungsmitteln
bekämpft wurde.
Die „empfindlichen Nerven“
fungierten aber auch als
soziales Distinktionsmerkmal, das die betroffenen
Männer von der Masse
abhob.
uba
zucker oder Bluthochdruck. Bis 1980 galt
beispielsweise noch ein Blutzuckergrenzwert von 144 Milligramm pro Deziliter Blut,
der zuerst auf 140, dann auf den heute geltenden Wert von 126 gesenkt wurde. Ähnliches lässt sich für den „schlechten“ Cholesterinwert LDL beobachten, der von ursprünglich 260 auf 200 sank. Und beim
Bluthochdruck ist es das Gleiche: In den
80ern lag der kritische Wert noch bei
160/100. Heute, kaum 30 Jahre später, gehört man schon mit einem oberen Wert
von 120 zu den Prähypertonikern und damit zu einer Risikogruppe. Mit jeder Grenzwertverschiebung nach unten erweitert
sich der Absatz für Cholesterinhemmer,
Blutdrucksenker und andere Medikamente. Über fünf Millionen Menschen werden
alleine in Deutschland mit Lipidsenkern
behandelt, oft bei einer diffusen Diagnose.
Therapie gegen „Kein Bock“
Dabei stricken nicht nur Pharmaunternehmen und Anbieter medizinischer Produkte an dieser gewinnbringenden RisikoAgenda mit, sondern auch Ärzte, die
Grenzwerte bestimmen und Krankheitsleitlinien festlegen. Die neuen Präventionspolitiken zielen nicht nur auf die Gesamterfassung und Überwachung, sondern auch auf die Erziehung zur
konstanten Selbstbeobachtung und Selbst-
steuerung. Risikopopulationen werden
so künstlich erzeugt.
Ein Beispiel für das Zusammenspiel von
Präventionsfuror und der Kommerzialisierung des ärztlichen Arbeitsfeldes sind
die sogenannten individualisierten Gesundheitsleistungen, kurz IGeL. Es handelt
sich nicht um Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkassen, sondern sie werden
in den Arztpraxen selbstständig vermarktet. Das führt von Vorsorgeuntersuchungen über fortpflanzungsmedizinische Angebote bis hin zu Anti-Aging-Maßnahmen.
Seit 2012 existiert der sogenannte IGeLMonitor, ein Internetportal der Krankenkassen, das, so der Selbstanspruch, eine
neutrale und wissenschaftlich unabhängige Bewertung der Leistungen vornimmt
und von regelmäßigen Umfragen der AOK
ergänzt wird. Der Monitor belegt, dass viele IGe-Leistungen völlig überflüssig, teilweise sogar schädlich sind. So wurde etwa
der Nutzen des ergänzenden Ultraschalls
während der Schwangerschaft kürzlich als
„unklar“ deklariert, die Glaukom-Untersuchung (Innendruckmessung des Auges)
kann sogar negative Folgen haben.
Eine Umfrage im Auftrag der TechnikerKrankenkasse belegt, dass die Hälfte aller
Deutschen den Nutzen der IGe-Leistungen
bezweifelt und sich nicht ausreichend informiert fühlt. Dennoch wurde 82 Prozent
aller Versicherten nach dem eben veröf-
Bei Cholesterin,
bei Zucker
oder Blutdruck
legt man die
Maximalwerte
eben neu fest
fentlichten Monitor schon einmal eine IGeLeistung angeboten, über die Hälfte von
ihnen nahm diese auch in Anspruch, wobei
Besserverdienende und Frauen die bevorzugten Adressatinnen sind. Mit einem Drittel sind Frauenärzte die Medizinergruppe,
die am meisten „igelt“. Inzwischen gibt es
Ratgeber für erfolgreiches „Igeln“, dieses
Marktsegment bringt den Ärzten inzwischen über eine Milliarde Euro ein.
Ohne Angebot keine Nachfrage. Aber
fürs Geschäft braucht es eben auch die Patienten, die im Dienst des Gottes Gesundheit nur zu gern nach jedem Strohhalm
greifen und nichts ungetan lassen wollen,
ihr Selbst zu verbessern. Kenntnisse, Energie und Selbstbewusstsein sind vonnöten,
um gerade in vulnerablen Lebenslagen –
wenn man krank ist, schwanger oder ausgebrannt – den verlockenden Angeboten
des Gesundheitsmarktes Widerstand entgegenzusetzen. Das gilt insbesondere in
der Konfrontation mit Ärzten, die als Experten die Wissenshoheit haben.
Es war Ivan Illich, ein beharrlicher Kritiker des Medizinsystems, der schon in den
70er Jahren auf das Phänomen des Disease
Mongering aufmerksam gemacht hat – damals vor allem im Hinblick auf die umfassende Psychiatrisierung von Menschen.
Von kindlichen Aufmerksamkeitsstörungen wie ADHS, die heute flächendeckend
und mit fragwürdigem Nutzen mit Ritalin
behandelt werden, wusste er noch so wenig
wie von dem neuen Krankheitssyndrom
namens „Attention and Motivation Deficit
Disorder“, eine Art „Kein Bock mehr“-Epidemie, die gerade in Australien die Runde
macht und von pfiffigen Journalisten und
Ärzten entsprechend vermarktet wird.
Doch Illich hatte einen klaren Blick für
die Folgen der Medikalisierung, nämlich
für die ressourcenfressenden und irreparablen Schäden, die die industrielle Herstellung von Gesundheit verursacht. Er
sei kein Krankenpfleger, schrieb er in einem späteren Nachwort zu seinem erstmals 1981 erschienenen Buch Nemesis der
Medizin, sondern ein Experte für die Geschichte der Freundschaft und die Kunst
des Leidens. Das ist in der heutigen Gesundheitsgesellschaft allerdings verloren
gegangen.
der Freitag: Frau Schott,
ich fühlte mich total antriebslos heute Morgen.
Könnte das das Symptom
einer Krankheit sein?
Gisela Schott: Sicher gibt
es Personen, die Ihnen
sagen, das könnte ein Krankheitssymptom sein, und
Ihnen vorschlagen: „Füllen
Sie mal unseren Fragebogen aus!“ Wenn Sie ein
Mann wären, würden
Fragen kommen wie Müdigkeit, Antriebslosigkeit,
Muskelschwäche und dergleichen. Wenn man die
Ergebnisse dann zusammenfasste, würden Sie vielleicht zu einem Arzt überwiesen werden. Der könnte
dann, wenn er entsprechend angeleitet ist, auf die
Idee kommen, es könnte
ein Testosteronmangel
vorliegen, und das entsprechend therapieren.
Gibt es dafür noch andere
Beispiele?
Ein typisches Beispiel wäre
das Burn-out-Syndrom,
das keine Krankheit darstellt,
sondern lediglich eine
Ansammlung von Symptomen, so dass ihm in der
Klassifikation von Krankheiten auch kein eigenständiger Diagnoseschlüssel zugewiesen wurde.
„Manchmal
gibt es keine
Symptome
für eine
Krankheit“
Eine weitere angebliche
Krankheit ist die hypoaktive
Sexualfunktionsstörung
der Frau, zu deren Behandlung in den USA kürzlich
ein Arzneimittel zugelassen
wurde – kaum wirksam,
aber mit hohem Nebenwirkungspotenzial.
Wir haben es also nicht
mehr wie bei Molière mit
Menschen zu tun, die
sich Krankheiten einbilden,
sondern denen sie eingeredet werden?
Ja, wobei man aber festhalten
muss, dass auch die Patienten selbst einen Beitrag
dazu leisten. Es ist ein
Geflecht, aber niemand wird
dazu gezwungen. Es ist
an uns, uns von dem zu distanzieren, was uns von
pharmazeutischen Unternehmen suggeriert wird.
Und die verfolgen
Geschäftsinteressen?
Natürlich sind es die pharmazeutischen Unternehmen und andere Anbieter
auf dem Gesundheitsmarkt wie Ärzte, Therapeuten oder Hersteller von
Medizinprodukten, die für
ihre Präparate oder medizinischen Angebote werben.
Dabei weichen sie den
Krankheitsbegriff immer
mehr auf. Das, was früher
normal war, wird dann zur
Krankheit.
Sie verwenden den Begriff
„Disease Mongering“
statt „Modekrankheiten“.
Warum ziehen Sie den vor?
„Disease Mongering“ bedeutet Handel mit Krankheiten.
Der ökonomische Aspekt ist
für mich zentral. Dagegen
transportiert der Begriff
Gisela Schott ist
Internistin und
Fachreferentin bei
der Arzneimittelkommission der
deutschen Ärzteschaft in Berlin
„Modekrankheiten“ die Dimension des Wirtschaftens
mit Krankheiten überhaupt
nicht.
Sie haben den Testosteronmangel angesprochen,
die sogenannten männlichen Wechseljahre. Auf
welche Weise wird ein
Symptom überhaupt zu
einer behandlungsbedürftigen Krankheit?
In manchen Fällen wird der
Eindruck erweckt, dass seltene Erscheinungen häufig
vorkommen. Das gilt für
ADHS, beim sogenannten
Aufmerksamkeitsdefizit
bei Kindern. Sicher gibt es
Kinder, auf die diese Diagnose zutrifft, aber nicht alle
Kinder, die unruhig sind,
haben ADHS. Es gibt jedoch
ein Interesse daran, die
Fallzahlen auszuweiten, um
entsprechende Medikamente abzusetzen.
Und es gibt die Fälle, die
schlicht zum Älterwerden
gehören, zum Beispiel
Orangenhaut an den
Oberschenkeln, Haarausfall bei Männern …
Sicher, das sind die ganz
normalen Prozesse des
Lebens, die zur Krankheit
erklärt werden. Zum anderen werden auch leichte
Symptome zu Vorboten
einer schweren Erkrankung
aufgebauscht, wie bei den
sogenannten restless legs.
Eine weitere Strategie der
Krankheitserfindung ist, persönliche Eigenheiten oder
soziale Phobien medizinisch
umzumünzen. Schüchternheit wird zur Krankheit
erklärt oder Angst vor
Spinnen.
Und es werden auch
normale Risiken teils als
Krankheit verkauft.
Ja, wie etwa bei Osteoporose.
Natürlich kann Osteoporose Frakturen begünstigen,
sie aber mittels eines
Arzneimittels verhindern
zu wollen, statt etwa
durch Bewegung, kann in
den Bereich von Disease
Mongering gehören.
Warum sind wir so anfällig
dafür?
Manchmal gibt es ja nicht
einmal Symptome für eine
angebliche Krankheit.
Patienten werden zu Kranken gemacht, bevor sie
selbst überhaupt etwas davon
bemerken, bei Prädiabetes
beispielsweise oder Prähypertonie. Es wird mit
Ängsten gearbeitet, die
Angst vor Glatzenbildung
etwa oder die Angst vor
Schwäche. Das passt zu einem Menschenbild, das
an Selbstoptimierung orientiert ist. Die Menschen
haben schon im Vorfeld
Angst, nicht mehr gesund
genug zu sein, nicht
mehr mitzukommen. Aber
auch Untersuchungen zur
Früherkennung von Krankheiten können Menschen
so stark belasten, dass der
negative Effekt überwiegt.
Das ist das Problem vieler
Früherkennungsprogramme. Es geht bei der
Erfindung von Krankheiten aber auch um die
Neubestimmung von
Grenzwerten. Wir haben
das bei Cholesterin erlebt,
bei den Werten für Diabetes, nun Testosteron. Gibt
es überhaupt so etwas
wie objektive Grenzwerte?
Im Fall von Testosteron
gibt es keine altersspezifischen Grenzwerte. Man
kann also nicht sagen, mit
einem bestimmten Alter
muss der männliche Hormonspiegel soundso hoch
sein, sonst ist es pathologisch. Beunruhigender ist,
dass bei Untersuchungen
in den USA deutlich wurde,
dass der Testosteronspiegel bei vielen Männern vor
Beginn der Therapie gar
nicht überprüft wurde, sondern das Hormon ohne
vorherige Laboruntersuchung gegeben wurde. Und
in einer neueren Veröffentlichung wurden die Ergebnisse zu möglichen Risiken
der Therapie, darunter
auch bei Prostatakrebs, gar
nicht dargestellt.
Grenzwerte definieren unsere Vorstellung von Normalität und Abweichung?
Genau. Und viele Grenzwerte haben sich im Lauf
der Zeit verändert. Einige
müssen auch für jeden Patienten individuell festgelegt
werden, weil nicht der einzelne Wert, sondern die Risikokonstellation insgesamt
entscheidend ist, zum
Beispiel beim Blutzucker
oder beim Blutdruck. Aber
es ist eben ganz schwer,
den „richtigen“ Grenzwert
zu bestimmen.
Wer bestimmt die Grenzwerte überhaupt?
Grenzwerte und therapeutische Leitlinien werden
von Kommissionen festgelegt, in denen auch Ärzte
sitzen, die Verbindungen zu
pharmazeutischen Unternehmen haben.
Was muss getan werden?
Wie gesagt, sehe ich zunächst
jeden Einzelnen aufgerufen. Wir müssen lernen, uns
im Bereich Gesundheit
unabhängige Informationen
zu verschaffen, so wie wir
uns vor dem Kauf einer Kamera bei der Stiftung
Warentest informieren.
Zur Gesundheit hält das
„Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen“ ein gutes
Angebot bereit oder die
Zeitschrift Gute Pillen –
Schlechte Pillen.
Und darüber hinaus?
Es geht nicht an, dass Ärzte,
die enge Verbindungen
zur Pharmaindustrie unterhalten, in Kommissionen
sitzen, in denen Krankheiten
definiert, Grenzwerte
festgelegt oder die TherapieLeitlinien erarbeitet werden. In größerem Maßstab
geht es aber auch um die
klinische Arzneimittelforschung in Deutschland.
Solange diese fast ausschließlich von der pharmazeutischen Industrie finanziert
wird, wird man verzerrte
Informationen erhalten.
Das Gespräch führte
Ulrike Baureithel
08 Politik
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Am Ende bleibt Gottvertrauen
Syrien Mit der Schlacht um
die Großstadt Aleppo
nähert sich der Bürgerkrieg
nun womöglich einem
unwiderruflichen Finale
wieder zu entreißen. Vorstellungen der USRegierung, die türkische Armee als Bodentruppe gegen den IS im Osten Syriens einzuplanen, wirken auf Recep Tayyip Erdoğan
wenig beflügelnd, solange er die kurdische
Autonomiebewegung in Nordsyrien für einen Handlanger der PKK hält.
In der Konsequenz heißt das: Präsident
Assad ist außer Gefahr, auch wenn er noch
nicht gewonnen hat. Falls die Opposition
unter diesen Umständen weiter Einfluss
auf die Nachkriegsordnung nehmen will,
müsste sie das jetzt tun durch flexibles und
konstruktives Verhandeln in Genf. Je klarer
die militärischen Erfolge der Regierung, je
raumgreifender der Terraingewinn, desto
mehr werden die Assad-Gegner an diplomatischem Spielraum verlieren, aller Protektion des Westens zum Trotz. Immerhin
wären mit einer vollständigen Rückeroberung Aleppos die Hauptverkehrsrouten
von der türkischen bis zur jordanischen
Grenze wieder in der Hand des Baath-Regimes (im Küstenstreifen und im angrenzenden Alawitengebirge gilt das ohnehin). Damit bietet sich ein ausreichender strategischer Rückhalt, um in einem nächsten
Schritt gegen Raqqa zu drängen, die Hauptstadt des IS in Syrien.
Für den Syrischen Nationalrat, den im
Exil beheimateten, zerstrittenen und
kaum handlungsfähigen Dachverband der
Opposition, ist in dieser Phase des Bürgerkrieges kein Triumph mehr denkbar. Zwar
hatten Assads Verbündete, Iran und Hisbollah, die Positionen des Anti-Assad-Lagers schon seit längerem geschwächt,
doch hielt sich dort bis zur Schlacht um
Aleppo die Überzeugung: Sollte man den
Krieg nicht für sich entscheiden können,
gelte immerhin das Gleiche für Präsident
Assad, der über ein Patt nicht hinauskommen werde. Dieses Lagebild lässt sich
kaum mehr aufrechterhalten.
QMartin Chulov
V
F O T O : A N WA R A M R O /A F P/ G E T T Y I M A G E S
ier Wochen nachdem Mitte
März 2011 der Aufstand in Syrien begonnen hatte, reiste
Walid Dschumblat, das Oberhaupt der libanesischen Drusen, nach Damaskus. Er wollte dort Mohammed Nasif treffen, seinerzeit Chef des
Nationalen Sicherheitsrates. Der war nicht
nur einer der Amtsträger, dem die AssadFamilie das größte Vertrauen entgegenbrachte, sondern auch der wichtigste Mittler für die Kontakte seines Landes zum
Iran und zur Hisbollah – ein Mann, dessen
Schicksal eng mit dem des Regimes verwoben war. „Damals sagte Nasif zu mir: ‚Entweder wir‘ – gemeint war das Volk der Alawiten, aus dem seit der Unabhängigkeit
von 1946 die Elite des Staates kam – ‚oder
sie‘, die Sunniten“, erinnert Dschumblat
diese Begegnung. „Danach wusste ich, welche Richtung das Ganze nehmen würde,
selbst wenn es eine Million Tote kostet.“
Über fünf Jahre später hat der Bürgerkrieg Schätzungen zufolge mehr als ein
Viertel dieser Zahl an Toten gefordert,
über 250.000 Menschen. Das Sterben hat
Ausmaße erreicht, dass die UN-Beobachter
im August 2015 aufgehört haben, die Opfer zu zählen. Die konfessionelle Dimension des Konflikts, wie sie Nasif angedeutet
hat, ist ebenso bittere Realität wie die Zerstörung urbaner und ökonomischer Infrastruktur, einschließlich der Altstadt Aleppos. Die Metropole im Nordwesten, der
eine entscheidende Rolle für den Kriegsverlauf und das Schicksal Syriens zukommt, wurde den gesamten Monat Juli
über zu großen Teilen von einer Allianz
aus syrischer Regierungsarmee, russischer
Luftwaffe und Hisbollah von islamistischen Rebellen zurückerobert.
Letzte Hoffnungen
Mit der Einkreisung der östlichen Viertel
scheint der Wendepunkt eines Krieges
eingetreten, der so nachhaltige internationale Auswirkungen hatte und so ungewöhnliche Koalitionen hervorbrachte wie
kaum ein anderer in der jüngeren Geschichte Arabiens. Eines dieser Bündnisse
ergab sich, als Milizionäre der Hisbollah
und die Assad-Armee Anfang Juli die – zu
diesem Zeitpunkt noch – mit al-Qaida verbundene Dschabhat al-Nusra aus deren
Stellungen im Norden Aleppos vertrieben.
Während die Schlacht tobte, verhandelten
die USA mit Russland über eine gemeinsame Einsatzzentrale für Angriffe auf die AlNusra-Front und den Islamischen Staat
„Hier geht es
nicht um
Politik, nur
noch um Leben
und Tod“,
sagt Abu Sobhi
Drusenführer Walid Dschumblat bei einem Friedensmeeting in Beirut
(IS). Das gefundene Agreement führte
dazu, dass in der Opposition letzte Hoffnungsfunken verglühten. Es ist das stille
Einvernehmen zwischen Moskau und Washington, das Baschar al-Assad, den Russland und der Iran vor einem Jahr davor
bewahrt haben, am Ende seiner Kräfte zu
sein, weiter stärkt.
Das Ungemach des Anti-Assad-Lagers
wird komplettiert durch die Wiederannäherung zwischen Moskau und Ankara, von
dem das Petersburger Treffen der Präsidenten Erdoğan und Putin in dieser Woche
Zeugnis ablegte. Zuvor hatte Premier Binali
Yıldırım erklärt, in Ankara sei man an einem Frieden mit Damaskus interessiert.
Obwohl die Türkei Gegner Assads wie
Ahrar al-Scham, die Islamische Bewegung
der freien Männer in der Levante, weiter
unterstützt, konzentriert sich Ankara darauf, syrischen Kurden-Milizen die Kontrolle
von Teilen der türkisch-syrischen Grenze
„Ich sitze hier in einem zerstörten Haus
im Osten von Aleppo“, sagt Abu Sobhi
Dschumail, der seit fünf Jahren auf Seiten
der Opposition kämpft. „Ich sehe russische
Jets am Himmel, gelegentlich auch syrische
Luftwaffe. Östlich von mir liegen ein paar
Stellungen des Islamischen Staates, bedrängt von der Hisbollah, dazwischen halten sich Verbände der Dschabhat al-Nusra.
Aber die lässt uns im Stich und verbreitet
die Parole, wir sollten auf Gott vertrauen.
Wenn wir sie um Hilfe bitten, schicken sie
uns zum Teufel. Aber ohne deren Kämpfer
wären wir schon vor einem Jahr geschlagen
worden. Hier geht es nicht mehr um Politik
– nur noch um Leben und Tod.“ Wie der
Schilderung zu entnehmen ist, bleibt allein
eine islamistische Guerilla übrig, die in
Aleppo ihr mutmaßlich letztes Gefecht
zum Schaden von einer viertelmillion Zivilisten führt. Denen ist es allein wegen des
ständigen Beschusses verwehrt, Fluchtkorridore zu erreichen, die von der Regierungsarmee auf russischen Druck hin eingerichtet wurden. Resigniert stellt Abu
Sobhi fest, es gäbe im Westen kein wirkliches Interesse mehr, den aushaltenden Rebellen beizustehen. „Alle wollen nur noch,
dass es endlich aufhört. Aber ihr werdet für
das gerichtet werden, was in Syrien geschieht, auch wenn ich das nicht mehr erleben werde.“
„Wir sind in Aleppo verloren“, sagt auch
Suleiman Aboud, der mit seiner Familie
aus den von islamistischen Rebellen gehaltenen Vierteln im Osten geflohen ist. „Als
Nächstes kommt die Rache der Sieger. Die
Revolution gegen Assad war ehrenhaft,
vielleicht nicht immer völlig demokratisch,
aber die Menschen hatten ein Recht, sich
gegen die Unterdrückung aufzulehnen.
Und sie haben ein ebensolches Recht auf
Sicherheit und Freiheit wie alle anderen
arabischen Völker. Im Moment aber leidet
die Bevölkerung dieser Stadt gewaltig …“
Amerikas Dilemma
Vermutungen, wie lange die Schlacht um
Aleppo noch dauert, gehen weit auseinander. Vielleicht noch Monate, falls die Regierungsarmee Verluste vermeiden und die
Rebellen schlichtweg aushungern will.
Möglicherweise ist dann aber die Gunst der
Stunde verstrichen, wie sie Präsident Assad
jetzt auskosten kann, weil der Westen zu
pragmatischen Deals mit Russland neigt,
auch wenn Barack Obama resolute Erklärungen gegen dessen Luftoperationen abgibt. Verhindern kann er sie nicht, fürchten
muss er sie jedoch wegen der politischen
Reaktionen im eigenen Land wie bei den
Verbündeten Saudi-Arabien und Israel. Riad
müsste bei all seinem Syrien-Engagement
der vergangenen Jahre einen peinlichen
Prestigeverlust verkraften, sollte es sich an
Assad und seinem säkularen Regime verhoben haben. Die Regierung von Benjamin
Netanjahu wiederum hält den IS für das
kleinere Übel, verglichen mit einem Überleben des Baath-Staates, der beim Streit um
die seit 1981 annektierten Golan-Höhen zu
keinerlei Konzessionen neigen dürfte. Die
Formel in Jerusalem lautet: Übersteht Assad den Bürgerkrieg, stärkt das den Iran
und damit den ärgsten Feind der Israelis,
das dürfen die USA nicht zulassen.
Martin Chulov ist einer der
Nahost-Kolumnisten des Guardian
Übersetzung: Holger Hutt
Schussfahrt eines Showmans
USA Donald Trump wird von den eigenen Leuten zum Sicherheitsrisiko erklärt. Er führt einen Wahlkampf ohne Hausmacht
QKonrad Ege
D
er Aspirant lässt wissen, es sei bestens bestellt um seinen Wahlkampf.
US-Medien dagegen sprechen von
einer drohenden Kernschmelze, 50 teils
hochrangige ehemalige Sicherheitsberater
der Republikaner – manche saßen am Tisch
von Präsident George W. Bush – erklären
Anfang der Woche den Kandidaten in einem gemeinsamen Brief zum nationalen
Sicherheitsrisiko. Ihm fehlten Charakter,
Werte und Erfahrung für das höchste
Staatsamt der USA.
Zugleich beißen sich „Experten“ an der
Bewertung des Celebrity-Showmans die
Zähne aus, denn es geht wirklich nicht normal zu. Der Mann legt sich mit den Eltern
eines gefallenen US-Soldaten an, mit der
Führung seiner Partei und mit großen
Geldgebern. Und er stellt Ignoranz zur
Schau. Immer mehr republikanische Politiker gehen auf Distanz, was zu demokratischer Schadenfreude und zu Medienkommentaren über Panik in der Partei führt.
Viele von Trumps Anhängern aber sind be-
geistert von einem Bewerber, der wenig
Rücksicht nimmt auf die üblichen Gepflogenheiten. Sie hätten nicht viel gebracht in
der Vergangenheit. Am Wochenende jubelten Fans in New Hampshire, als Trump versicherte, er werde die Mauer an der Grenze
zu Mexiko höher als geplant bauen.
Dennoch fallen die Umfragewerte ziemlich drastisch, was drei Monate vor der
Wahl Besorgnis erregt. Zahlen anderer Art
sind ermutigender, die zu den Spendeneinnahmen vom Juli etwa. Trump und die
Republikanische Partei erhielten in diesem
Monat gut 80 Millionen Dollar, das meiste
als kleine Gabe. Trump habe möglicherweise das Potenzial, „als erster republikanischer Präsidentschaftskandidat seinen
Wahlkampf hauptsächlich mit Kleinspenden zu finanzieren“, vermerkte die
New York Times. Hillary Clintons Wahlmanager Robby Mook warnte, dieser Ertrag
müsse ein Wachruf sein für die Demokraten, auch wenn Clinton im Juli 90 Millionen Dollar einnahm.
Trump kämpft gegen die „verlogene Hillary“ wie den „inkompetenten Obama“ und
fühlt sich offenbar bestätigt von seinen
Geldgebern. Das mit den Kleinspenden
passe normalerweise nicht zu den Republikanern, so habe er bei den Vorwahlen 60
Millionen Dollar seines eigenen Geldes
ausgegeben, nun liefen Spendenappelle.
Hunger nach Bestätigung
Trump hat es zur Nominierung gebracht
ohne eine Hausmacht. Für die rechtschristlichen Stammwähler der Republikaner ist
er eine Notlösung. Die Wall Street bleibt
skeptisch, die Handelskammer ebenso,
selbst die schwerreichen Gebrüder Charles
und David Koch, Energieunternehmer und
großzügige Paten vieler rechter Projekte
und Politiker, spenden angeblich nicht für
Trump. Sie konzentrierten sich stattdessen
auf republikanische Bewerber für den Senat und das Repräsentantenhaus.
Gelegentlich versucht sich Trump als
Staatsmann, wie bei seiner TeleprompterWirtschaftsrede vor Tagen in Detroit, als er
ankündigte, Steuern für Unternehmen zu
senken, die Wirtschaft zu deregulieren und
den Pariser Klimavertrag zu zerreißen. Als
seit Jahrzehnten medienerprobte Celebrity
packt Trump den Wahlkampf jedoch anders
an: Donald Trump spielt Donald Trump, er
ist ein Entertainer, der bejubelt werden will
und meisterlich auf seine Zuhörer eingeht,
sagen die vielen Amateurpsychologen. Er
habe einen „infantilen Hunger“ nach Bestätigung. Und zwischendurch spuckt er immer wieder Schockierendes und Hasserfülltes aus, über das dann berichtet wird. Trump
macht sich unentbehrlich auf dem Bildschirm mit diesen Ausfällen, nicht nur beim
rechten Sender Fox. So freute sich Les Moonves, Chef des Fernsehsenders CBS, zu Beginn
der Primaries: Der Wahlkampf sei „wohl
nicht gut für Amerika, doch verdammt gut
für CBS“. Und: „Weiter so, Donald!“
Umfragen zeigen bekanntermaßen,
Trumps größte Fans sind weiße Männer
ohne höhere Bildung, Leute aus der Arbeiterschicht, aus dem bedrohten Sektor der
Mittelklasse. Weiße, die sich offenbar nicht
gewöhnen wollen an ein vielfältiges Amerika. Sie haben genug von den klugen Experten und verstehen sehr wohl, dass sie
nicht viel zu melden haben in Politik und
Gesellschaft, auch nicht bei den Demokraten. Demografisch geraten diese Schichten
zunehmend ins Hintertreffen. Ihnen fehlt
eine nationale Perspektive. Und dann
kommt ein Heiland namens Donald
Trump, der sich beim Parteitag in Szene
setzte als „die Stimme der Männer und
Frauen, die unser Land vergessen hat“. Er
spricht aus der Seele; er sagt, was viele seiner Fans ohnehin denken. Einwanderer
sind schuld, die Political Correctness ebenfalls, die Weiße mit „traditionellen Werten“
diskriminiere, selbstredend der erste
schwarze Präsident und die erste Frau, die
gute Chancen hat, Anfang 2017 ins Weiße
Haus einzuziehen.
Hillary Clinton bietet als Alternative,
mehr oder weniger überzeugend, das Prinzip Gemeinwohl an. Seit ihrer Nominierung orientiert sie sich an der politischen
Mitte und hofft, besonders republikanische
Frauen würden eher sie wählen als Trump.
Der bereitet seine Gefolgschaft indes auf
eine mögliche Niederlage vor. Seit Tagen
warnt Trump vor Wahlbetrug. Das fühle er.
So stimmt das Weltbild. Der Kampf geht
weiter. Donald gewinnt, auch wenn er verliert. Die jüngsten Umfragen müssen wohl
auch gefälscht sein.
Politik 09
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
F O T O : A D A M B E R R Y/A F P/ G E T T Y I M A G E S
Der Papst
empfing den
Präsidenten
äußerst
reserviert
Lässt bisher keine großen Talente erkennen: Mauricio Macri
Sicher ist nur seine Unsicherheit
Argentinien Präsident Macri folgt einem wirtschaftsliberalen Kurs, ohne wirklich Herr seiner Macht zu sein
QMarta Platía
U
nternehmer müssen die Nähe
zur Macht suchen, lautet das
Mantra von Franco Macri, Vater des heutigen argentinischen Präsidenten. Und der
hat dieses Prinzip perfektioniert. Im Kabinett von Mauricio Macri sitzen nicht Ansprechpartner unternehmerischer Macht,
sondern deren Inhaber höchstselbst. Die
Ressorts werden fast zur Gänze von ehemaligen Konzernvorständen geführt, die bei
Shell, JP Morgan, IBM oder HSBC das Sagen
hatten. Damit ist in Argentinien nach der
Präsidentenwahl 2015 erstmals eine ultrakonservative Regierung ohne die Hilfe eines Militärputsches an die Macht gelangt.
Die Folgen bekommen die Bürger täglich
zu spüren: Die Gaspreise etwa sind seit Anfang 2016 um bis zu 2.000 Prozent gestiegen, anders als die Löhne. Zudem rollt eine
Entlassungswelle durchs Land und hat bereits 160.000 Arbeitsplätze gekostet. Die
Freigabe des Peso-Kurses und die Streichung
der meisten Exportabgaben haben die
mächtigen Agrar- und Bergbaukonzerne in
einer Weise protegiert, wie das in der jüngeren Geschichte Argentiniens noch nie vorkam. Macris Wahlkampfversprechen „Null
Armut“ ist Lichtjahre von der Realität entfernt. Kürzlich meinte er, ohne rot zu werden: „Hätte ich gesagt, was ich vorhatte,
wäre ich auch gewählt worden, allerdings als
Kandidat fürs Irrenhaus.“ Solche Töne erinnern die Argentinier an Sprüche, die sie –
pointierter freilich – von ihrem früheren
Präsidenten Carlos Menem (im Amt
1989 – 1999) zu hören bekamen. Dessen Politik der Privatisierungen und geplünderten
Staatskassen ruinierte das Land und ebnete
den Weg zum Wirtschaftskollaps von 2001.
Clarín gibt, Clarín nimmt
Auch wenn Macri nicht Menems Humor hat,
teilt er dessen hochmütige Haltung, wenn
ihm Steuerbetrug oder Korruption angelastet wird. Als die „Panama Papers“ enthüllten,
dass der Präsident bis zu sieben Briefkastenfirmen unterhielt, verweigerte er zunächst
jeden Kommentar und beschränkte sich
später darauf, die Schuld seinem Vater zuzuschieben. Die Affäre konnte Macri wenig anhaben, da ihn der rechte Flügel des argentinischen Justizsystems ebenso schützte wie
das Medienhaus Clarín, das schon im Wahlkampf sein Bestes für Macri gegeben hatte.
In Argentinien weiß man: Clarín gibt,
und Clarín nimmt. Die Entscheidung liegt
bei Héctor Magnetto, der einflussreichen
rechten Hand von Konzernchefin Ernestina
Herrera de Noble. Auf die Frage, ob er nicht
selbst Präsident werden wolle, antwortete
der, das sei ein „niederer Posten“. Einmal
ließ der Mediengigant auch Macri gegenüber kurz die Muskeln spielen, und zwar
just am Tag der Stichwahl gegen seinen
kirchneristischen Widersacher Daniel Scioli am 22. November 2015. Plötzlich erschien
eine Meldung darüber, dass einige Fabriken, in denen Macris Gattin Juliana Awada
Kinderkleidung nähen ließ, der Sklaverei
bezichtigt werden. Macri hat allen Grund,
Beim Verein
Boca musste
sich Macri mit
Maradona
arrangieren
sich der Macht von Clarín bewusst zu sein.
Doch einstweilen sitzt er im Sattel, und
Clarín hat sich auf seine Vorgängerin Cristina de Kirchner eingeschossen, mit dem
Ziel, sie hinter Gitter zu bringen.
Inzwischen hat Macri mit provokanter
Geste dem Mercosur, dem gemeinsamen
Binnenmarkt der Staaten Südamerikas, den
Rücken gekehrt und kokettiert stattdessen
mit der Pazifischen Allianz, um die Rückkehr zu einem engen Bündnis mit den USA
voranzutreiben. Zum 40. Jahrestag des Militärputsches vom März 1976 lud er Barack
Obama nach Buenos Aires ein, ausgerechnet
den Präsidenten des Landes, das seinerzeit
die teils faschistoiden Diktaturen Lateinamerikas bei der Operation Condor mit
Zehntausenden von Todesopfern maßgeblich unterstützte. Die Opferorganisation der
Madres de Plaza de Mayo blieb dem Gedenkmeeting aus Protest fern. Doch ließ es Macri
nicht dabei bewenden. Zur 200-Jahr-Feier
der argentinischen Unabhängigkeit am
9. Juli 2016 lud er Spaniens König Juan Carlos de Borbón ein, der aus ebendem Herrscherhaus stammt, gegen das José de San
Martín, Manuel Belgrano, Martín Miguel de
Güemes und die anderen Helden der Selbstbestimmung einst kämpften. Kehrseite von
Macris unkritischer Bewunderung für alles
Nordamerikanische und Europäische ist die
tiefe Verachtung des Unternehmer- und Patriziersprösslings für die unteren Schichten
der argentinischen Gesellschaft. Zur Erklärung taugt die Vita des 1959 Geborenen.
Mauricio Macri war das erste von fünf
Kindern des aus Italien eingewanderten
Großunternehmers Franco Macri und der
aus einer ultrarechten Patrizierfamilie
stammenden Alicia Blanco Villegas. In dem
Buch El Pibe (Pibe ist ein in Buenos Aires
übliches Rufwort für männliche Jugendliche), das die linke Journalistin Gabriela
Cerruti über Macri geschrieben hat, finden
sich zahlreiche Episoden, denen zu entnehmen ist, wie der autoritäre Vater den Sohn
vor Freunden und Fremden niedergemacht
und zugleich darauf getrimmt hat, sein Firmenimperium zu übernehmen.
Vom Vater beschimpft
Macri senior, 1930 in Rom geboren, kam
mit 18 Jahren als Bauarbeiter nach Argentinien und brachte es zum Selfmade-Multimillionär. Bewundert für seinen Erfolg
und berüchtigt für sein Geschick, sich mit
Zivil- und Militärregierungen gleichermaßen ins Benehmen zu setzen, zählt er zu
den Architekten der sogenannten patria
contratista einem Geflecht von Geschäftskontakten, das einen Staat im Staate bildet.
Während der letzten 50 Jahre konnte sich
Franco Macri landesweit die wichtigsten
öffentlichen Bauaufträge sichern. Als Duzfreund von Fiat-Chef Gianni Agnelli und
Teil des konspirativen Netzwerks um Licio
Gellis mafiöse Freimaurerloge P2 übernahm er in den 80ern den Vorsitz der Firma Sevel, die Fiat-Modelle in Lizenz für
den argentinischen Markt herstellte. Sein
Sohn Mauricio allerdings – vom Vater zu
seinem Nachfolger bei Sevel gemacht –
fuhr die Firma 1996 an die Wand. Für diese
und andere Pleiten musste er sich von dem
Alten öffentlich beschimpfen lassen.
Um sich derartigem Patronat endlich zu
entziehen und wirtschaftliche Misserfolge
hinter sich zu lassen, ließ sich Mauricio
schließlich zum Präsidenten des Fußballvereins Boca Juniors wählen, das richtige
Sprungbrett für erste Schritte in die Politik,
die zum Bürgermeisteramt von Buenos
Aires führen sollten. Jedoch musste er sich
beim Verein Boca mit dem großen Diego
Maradona arrangieren, der ihn mit dem
Satz zu verspotten pflegte: „Macri riecht
noch weniger nach Straße als Venedig.“
Von der rhetorischen Verve seiner Vorgängerin Cristina de Kirchner, die stundenlange Vorträge ohne Manuskript zu halten
pflegte, ist Macri weiter entfernt als vom
mokanten Charme eines Carlos Menem.
Als Redner wirkt dieser Staatschef, der seine Ausbildung allein an Privatuniversitäten erhielt, eher unsicher und bleibt auf
vorgefertigte Sätze angewiesen. Er vertraut
auf seinen Kommunikationsstrategen Jaime Durán Barba, eine Art Marketing-Rasputin, der zuweilen seiner Bewunderung
für Adolf Hitler Ausdruck verleiht und Macri 2015 mit dem Wahlslogan Cambiemos!
(Lasst uns wechseln!) beschenkte.
Durán berät den Präsidenten nicht zuletzt bei seinen Fotoposen. Zwei Motive
gingen um die Welt: zum einen Macri mit
Frau und kleiner Tochter in seinem Regierungsbüro, ganz im Stil der legendären Bilder von John F. Kennedy mit Jacqueline
Bouvier und den Kindern Caroline und
John-John im Oval Office. Und zum anderen
die Fotos von einer Audienz bei Papst Franziskus – er empfing den neuen Präsidenten
seines Heimatlandes äußerst reserviert –,
auf denen Gattin Juliana Awada von Kopf
bis Fuß wie eine Kopie von Jackie Kennedy
erschien und an deren Treffen mit Papst
Paul VI. am 2. Juli 1963 erinnerte: das gleiche Schleiertuch, die gleiche Frisur.
Ansonsten ist Mauricio Macri eher ein leidenschaftlicher Freddie-Mercury-Fan und
lässt es sich nicht nehmen, den Queen-Sänger zu imitieren und dabei unbeholfen zu
tanzen – und sei es auf dem geschichtsträchtigen Balkon der Casa Rosada, auf dem einst
Evita und Juan Domingo Perón ihre großen
Auftritte hatten. Der pibe, Sohn eines skrupellosen Großunternehmers, lässt bisher
keine großen Talente erkennen: Er singt
schlecht, tanzt schlecht, redet schlecht. Nach
seinen ersten acht Monaten weiß man nur:
Nichts ist sicher vor seiner Unsicherheit.
Bezeichnend für diesen Zustand des Souveräns war die Vorstellung, die Ricardo Lorenzetti, Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs, am 10. Dezember 2015 bei der
Zeremonie zur Amtseinführung Macris
gab. Als der neben ihm stand, rang sich Lorenzetti zu einem väterlichen Schulterklopfen durch. So befremdlich diese Geste zwischen einem Obersten Richter und dem
gerade inthronisierten Präsidenten wirken
mochte, so sehr war sie auch ein Offenbarungseid – Macri ist es gewohnt, als Protegé
und Grünschnabel behandelt zu werden.
Marta Platía ist eine argentinische Journalistin
und schreibt unter anderen für die
Tageszeitung Página/12 in Buenos Aires
Übersetzung: Michael Ebmeyer
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10 Politik
A
uf einen ersten Blick scheint
die Gazi Caddesi, die Hauptstraße von Diyarbakır, wieder
voller Leben. Es wird flaniert,
Geschäfte und Basare bieten
ihre Waren an, Cafés und Bistros warten
auf Gäste – doch Vitalität kann täuschen.
Wer tiefer eindringt in die oft labyrinthartigen Innenstadtquartiere, der findet noch
immer verbarrikadierte Gassen und Straßen. Das Leben in Sûr, wie die Altstadt
heißt, gehe bestenfalls auf Sparflamme
weiter, erzählt eine Frau im Sülüklü Han,
einem über Diyarbakır hinaus bekannten
Treffpunkt zum Wein- und Kaffeetrinken.
Augenblicklich werden hier nur Tee und
Wasser ausgeschenkt, und das umsonst.
Wein gibt es nicht. Aus Respekt vor den Toten der vergangenen Monate. Auch um
keinen Konflikt mit der Polizei zu riskieren, sagt die Frau noch.
Seitdem die Waffenruhe zwischen Ankara und der kurdischen Arbeiterpartei PKK
im Sommer 2015 von der Regierung aufgehoben wurde, reißen die Gefechte im Südosten des Landes kaum ab. Auch wenn sie
seit dem mutmaßlichen Putschversuch
vom 15. Juli deutlich an Intensität verloren
haben. Zuvor wurde unerbittlicher gekämpft als in den 90er Jahren, auch in den
historischen Zentren der Städte Südostanatoliens, in Diyarbakır, Cizre, Silvan, Silopi,
Nusaybin oder Şırnak. „Unter dem Vorwand, die PKK treffen zu wollen, bombardierte die Armee städtische Infrastrukturen und Wohnquartiere in dieser Region“,
sagt Hoshin Ebdullah, ein kurdischer Menschenrechtsaktivist. Immer wieder seien
Ausgangssperren verhängt worden.
Mit leeren
Händen –
Aufbau Ost
F O T O S : D PA , I LYA S A K E N G I N /A F P/ G E T T Y I M A G E S ( U N T E N )
QAri Scheunemann
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Türkei Während der Kämpfe
zwischen Armee und PKK wurden die
Bewohner der Altstadt Diyarbakırs
erst vertrieben und dann enteignet
Es werden
Menschen
zerstört,
die Tod und
Massaker
überlebten
Im Stile Toledos
In Sûr sind die Kämpfe seit März beendet.
Große Teile der Altstadt liegen in Schutt und
Asche. Gut 25.000 Menschen sind in andere
Gegenden Diyarbakırs oder in der Nähe gelegene Kommunen wie Batman oder Siirt
ausgewichen. Laut Gesundheitsministerium in Ankara mussten in diesem Teil der
Türkei allein bis Ende Februar mehr als
350.000 Menschen ihre Heimat verlassen,
doch hält Barış Yavuz die Angaben für zu
niedrig. Er leitet das lokale Büro von TİHV,
der Stiftung für Menschenrechte in der Türkei. Yavuz meint, dass nach Schätzungen
seiner Organisation rund 1,5 Millionen Menschen auf der Suche nach einem Minimum
an Sicherheit seien. Das Tragische bestehe
darin, dass ein Großteil der Betroffenen vor
20 Jahren aus zerstörten Dörfern in die Städte floh, als der Konflikt zwischen der PKK
und dem Militär schon einmal eskalierte.
Anders als in jener Zeit, als viele Kurden Zuflucht in westtürkischen Städten wie Izmir
oder Istanbul suchten, finde heute eine Migration in der Region statt. Das heißt, die
meisten wollen zurückkehren und den verlorenen Faden des Lebens dort wieder aufnehmen, wo sie zu Hause waren.
Ob sie das können, ist fraglich: Als am 21.
März, dem Tag des kurdischen Neujahrsfes-
Diyarbakır im Februar. Oben: Rückkehr zur Normalität
tes, erneut eine eher fragile Waffenruhe
ausgerufen wurde, gab die Regierung
Erdoğan zugleich die Verstaatlichung der
Altstadt Diyarbakırs bekannt. 6.600 von
insgesamt 7.300 Parzellen sind nun Staatseigentum. Ahmet Davutoğlu, damals noch
Premierminister, kündigte an, alles zügig
wieder aufzubauen – möglichst im Stile der
spanischen Stadt und Touristenhochburg
Toledo, die wie Sûr zum Weltkulturerbe gehört. Den Menschen stehe es nach Abschluss der Bauarbeiten frei, ihre Häuser
zurückzukaufen.
Wie fragwürdig dieses Angebot ist, zeigt
die Geschichte von Mehmed. Der Händler,
der eigentlich anders heißt, aber nicht
möchte, dass sein Name in einer Zeitung
steht, ist gemeinsam mit den neun Kindern im Januar aus Sûr geflohen, nachdem
eine Bombe direkt neben seinem Haus ex-
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#
!"
So viele
wollen den
verlorenen
Faden des
Lebens wieder
aufnehmen
plodierte und alle Fensterscheiben barsten.
„Ich wollte bleiben, doch der Winter war so
kalt.“ Sein Haus habe ganz in der Nähe der
Ulu Camii gestanden, der großen Moschee,
und sei aus prächtigem Basaltstein gebaut
worden. Um es zu betreten, habe man ein
schmiedeeisernes Tor passieren müssen,
erzählt er mit traurigen Augen. Jetzt ist die
Familie in der Neustadt untergebracht, in
einer umfunktionierten Empfangshalle im
Erdgeschoss eines Hochhauses. Wann man
dieses traurige Asyl wieder verlassen könne, wisse er nicht.
Nach der Ermordung des bekannten kurdischen Menschenrechtsanwalts Tahir Elçi
am 28. November 2015 in Sûr wurde die
dortige Altstadt für 55 Tage ohne Unterbrechung abgeriegelt. Noch wenige Minuten
vor den tödlichen Schüssen hatte der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer von
Diyarbakır auf einer Pressekonferenz für
den Frieden in der Region geworben und
vor der kulturellen Zerstörung Sûrs gewarnt. Mehmed kann sich noch haargenau
an die Folgen erinnern. „Mehr als zwei Monate lang hatten wir keinen Strom. Wenn
uns das Essen oder das Wasser ausging,
mussten wir unter Lebensgefahr das Haus
verlassen.“ Es empöre ihn noch heute, dass
die europäischen Staaten, aber auch die
Vereinten Nationen nicht reagiert hätten
auf die Notrufe aus der abgeriegelten Stadt.
„Wo war die internationale Hilfe, als der
Leichnam einer Mutter über acht Tage auf
der Straße lag und die Kinder täglich vom
Fenster aus mit ansehen mussten, wie sich
Hunde und Katzen über sie hermachten?“
Mehmed möchte zurück nach Sûr. Er
will endlich sein Haus und sein Geschäft
wieder aufbauen. Bevor der Konflikt ausbrach, verkaufte er Obst und Gemüse aus
den umliegenden Dörfern an Händler seines Quartiers. Auf staatlichen Beistand
mag er sich beim Wunsch nach Rückkehr
nicht verlassen. 300 türkische Lira pro
Monat hat ihm die Regierung zuletzt ausgezahlt, umgerechnet sind das knapp 90
Euro für eine elfköpfige Familie. Um ihm
eine Entschädigung für seine verlorenen
Waren einzuräumen, müsse man zuerst
seine Steuerunterlagen prüfen, teilten
ihm die Behörden mit. Also suchte Mehmed in den Ruinen seines Hauses nach
den Papieren und fand sie schließlich.
Doch als er damit vorstellig wurde, hieß
es, ohne Quittungen seiner Lieferanten
gäbe es keine Entschädigung. Mehmed hat
seine Waren in der Regel bei Bauern in der
Umgebung gekauft, die keine Quittungen
ausstellen. So bleibt ihm jede Kompensation für erlittene geschäftliche Verluste
verwehrt, mehr noch: Als er vor Tagen die
Ranzen und Schulbücher seiner Kinder
holen wollte, musste er unverrichteter
Dinge wieder gehen. Obwohl er eine offizielle Erlaubnis des Bürgermeisters vorzeigen konnte, durfte Mehmed sein Haus
nicht betreten.
Wohin sonst?
Dabei ist er zumindest theoretisch in einer
besseren Position als viele andere, die sich
aus der Altstadt in Sicherheit brachten.
Mehmeds Haus gehört zu den offiziell eingetragenen Bauten. Andere, die sich in den
90er Jahren in Sûr eine neue Existenz aufbauten, lebten in Gebäuden, die schnell
und illegal hochgezogen wurden. Wen das
betrifft, der hat keinen Anspruch auf Entschädigung, muss zudem eine Strafe für
illegalen Hausbau zahlen und darüber hinaus monatliche Raten für einen Neubau
aufbringen. Schließlich will die Regierung
im Interesse ihres Tourismusplanes alle
Häuser luxuriös und hochwertig neu erstehen lassen.
Einen Rückkauf seines einstigen Obdachs
werde sich unter diesen Umständen kaum
jemand leisten können, sagt Reha
Ruhavioğlu, der Vorsitzende des Vereins
für Menschenrechte Mazlumder. „Die
Mehrheit der Bevölkerung von Sûr ist arm.
Sie steht jetzt regelrecht mit leeren Händen
da.“ Offiziell gebe es zwar vollmundige Versprechen zur Entschädigung der von Enteignung Betroffenen. In der Realität sei das
jedoch eine Utopie, meint Ruhavioğlu. Er
rät den alten Eigentümern davon ab, die
Papiere der Regierung, bei denen es um
Entschädigungssummen für ihre zerstörte
Bleibe geht, zu unterschreiben. Das Geld
würde weder reichen, um die Häuser zurückzukaufen, noch, um neue zu bauen.
Außerdem würden die Bewohner den Anspruch auf ihr Eigentum preisgeben, sollten sie diese Papiere signieren.
Als die staatliche Wohnungsbaubehörde
2011 in Sûr gegen illegal errichtete Häuser
vorgehen wollte, scheiterte dies am Widerstand der Bevölkerung. Später erließ die
Regierung ein Dekret, mit dem erlaubt
wurde, auch denkmalgeschützte Gebäude
abzureißen, sollten sie „einsturzgefährdet“
sein. Waren vor den jüngsten Gefechten lediglich einige Häuser als marode eingestuft, trifft das inzwischen auf mehr als 80
Prozent zu und erleichtert die vom Staat
betriebene Enteignung.
Der Plan, Diyarbakır in eine Touristenstadt umzuwandeln, ist nicht neu – Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte Derartieges bereits 2011 verkündet, als er noch Premierminister war. Für den renommierten
Soziologen und Historiker Taner Akçam
zeugt das Vorhaben von der verhängnisvollen Kontinuität einer fatalen Bevölkerungspolitik. Dass versucht werde, ethnische
Konflikte und religiösen Hader durch
Zwangsumsiedlungen oder Vertreibungen
einzudämmen, lasse sich ein Jahrhundert
lang zurückverfolgen. Figen Yüksekdağ, die
Kovorsitzende der prokurdischen Partei
HDP, befand Ende März unumwunden,
dass der türkische Staat mit seinem Plan
zur Sanierung Sûrs die Existenzgrundlage
der Menschen zerstöre, die Tod und Massaker überlebt hätten.
An manchen Stellen der Altstadt sind bereits Bulldozer unterwegs und reißen zertrümmerte Häuser ein. Bagger laden den
Schutt auf große grüne Transporter, die außerhalb Diyarbakırs entladen werden. „Der
Staat säubert die Stadt von seinen Schandtaten“, räuspert sich der Händler Mehmed.
Er hat den Plan, wieder in sein altes Haus
zu ziehen, noch nicht aufgegeben. Wohin
sollte er sonst?
Der Menschenrechtler Reha Ruhavioğlu
lebt mit seiner Familie außerhalb von Sûr
in Gaziler, einem gutbürgerlichen Bezirk
der Neustadt. Auch wenn es dort bislang
noch nie Gefechte gab, wollen Rehas Frau
und seine Mutter weg aus Diyarbakır. Zu
gefährlich sei es, zu aufreibend der stete
Kampf mit dem Staat. Reha denkt anders:
„Gerade jetzt ist es umso wichtiger, dass
wir bleiben. So viel ist zerstört, so viele
Menschen brauchen Hilfe.“
Ari Scheunemann ist freie Autorin und auf das
Thema Fluchtbewegungen spezialisiert
Gender 11
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Männersache
Frauensache
Wenn Männer sich
im Internet mit
Kopftuch zeigen
QLilly O’Donnell
K
ann eine Feministin Vergewaltigungsfantasien haben?
Für die feministische Pornoproduzentin Pandora Blake,
die die Fetischpornoseite
Dreams of Spanking betreibt und regelmäßig Fantasien über nicht einvernehmlichen Sex beschreibt, versteht sich das von
selbst. „Absolut“, sagt sie. In der feministischen Pornobewegung ist es Konsens, dass
keine Fantasie als tabu gilt, egal wie antifeministisch ihr Gegenstand zunächst erscheinen mag. Es gibt, so lautet die Argumentation, nichts Antifeministischeres,
als einer Frau zu sagen, was sie erregen
darf und was nicht.
„Der Lust auf Hardcore-BDSM, Rape-Play
oder Age-Play – all den Tabus, die Frauen
nie haben durften – die Scham zu nehmen,
reizt mich an der feministischen Pornobewegung am meisten“, sagt Courtney Trouble, die Produzentin hinter Trouble Films
und eine der Pionierinnen der Szene.
„Wenn wir uns outen und zugeben, Vergewaltigungsfantasien zu haben, werden wir
oft als krank und kaputt denunziert“, sagt
Trouble. „Das will ich ändern.“
Feministinnen kämpfen üblicherweise
auch für das Recht einer Frau, selbst über
ihre Sexualität zu entscheiden – darüber,
wann und mit wem sie Sex hat und wann,
wenn überhaupt, sie schwanger wird. Sie
kämpfen traditionell gegen all jene Kräfte,
die diese Rechte einschränken wollen: die
puritanischen Stimmen, die meinen, eine
Frau, die Spaß an Sex hat, sei eine „Schlampe“. Oder gegen diejenigen, die den Zugang
zu Verhütungsmitteln erschweren wollen
und behaupten, wer sich aufreizend anziehe, lade dazu ein, vergewaltigt zu werden.
F O T O : C R I S T I NA G A R C I A R O D E R O / M A G N U M P H O T O S /A G E N T U R F O C U S
V
Bekleidete Männer
Daher sei es nur konsequent, auch die sexuellen Fantasien anderer nicht als schändlich darzustellen. Auch nicht diejenigen,
die Bilder von Perversion, Dominanz und
sogar Vergewaltigung beinhalten, finden
feministische Pornoproduzentinnen. „Es
gibt da einen klaren Unterschied – ob man
sich vorstellt, zu etwas gezwungen zu werden, oder ob man tatsächlich dazu gezwungen wird“, sagt Blake. Dass sie gewisse Fantasien habe und diese auch darstelle, bedeute
keinesfalls, dass sie nicht einvernehmlichen
Sex im wirklichen Leben billige.
„In manchen Fällen widersprechen die
pornografischen Vorlieben der Leute ihrer
Identität in der Realität, wo sie verantwortungsvolle Menschen sind, die sich Gerechtigkeit und Gleichheit verpflichtet fühlen“,
sagt Tristan Taormino. „Ich finde, das ist in
Ordnung.“ Taormino produziert ebenfalls
feministische Pornos, arbeitet als „Sex-Erzieherin“ und organisiert die jährliche Feminist Porn Conference.
In ihren eigenen Pornos geht es in erster
Linie um weibliche Lust, die Vielfalt und
Verschiedenartigkeit von Körpern und vor
allem auch darum, dass ihre Darstellerinnen sich wohlfühlen und ihr Ausdruck authentisch ist. Oft unterläuft sie die Stilmittel, die Zuschauerinnen in einem Porno
vielleicht erwarten. „Sicher gibt es in der
Mainstreampornografie Dinge, die ich stereotyp, repetitiv, langweilig oder sogar abstoßend finde“, sagt sie. „Aber die Antwort
darauf besteht nicht darin, keine Pornos
mehr zu machen. Sondern bessere.“
Die meisten Mainstreampornos drehten
sich um die scheinbar omnipräsente Erektion. „Das spricht Bände darüber, wie sehr
es dabei um männliches Verlangen und
männliche Fantasien geht. Also habe ich
Szenen gedreht, in denen der Mann seine
Partnerin mit seinen Händen, seinem
Mund oder einem Spielzeug zum Orgasmus bringt, ohne dabei auch nur seine
Hose auszuziehen.“
Taormino nimmt auch Szenen mit hinein, in denen die sexuelle Initiative von
Frauen ausgeht oder die Darstellerinnen
sich gegenseitig zeigen, was ihnen gefällt,
und nicht alle immer zu wissen scheinen,
was sie oder er machen soll. Es tauchen
auch keine Pizzaboten auf, die von einer
Horde kichernder Studentinnen bedrängt
werden. Tristan Taormino geht es darum,
Einvernehmlichkeit und beiderseitige Lust
zu betonen.
Auch Courtney Trouble versucht immer
wieder, die Erwartungen zu unterlaufen,
die von der Mainstreampornografie ge-
Fragen der Fantasie
Sex Feminismus und Pornografie – sind
das nicht zwei völlig unvereinbare Welten?
Drei Filmproduzentinnen klären auf
weckt werden. Als Darstellerin mit Übergröße wollten Produzenten sie oft in Filme
stecken, die ihren Körper schon im Titel als
etwas Sonderbares und Lächerliches herausstellten. Oder sie verlangten von ihr, in
Pornoszenen Kuchen zu essen. Ihr selbst
macht es Freude, Filme zu drehen, in denen
dickere Menschen als begehrenswert dargestellt werden. Während konventionelle
„lesbische Pornos“ für gewöhnlich aus Szenen bestehen, in denen stereotyp-feminine, homosexuell-weibliche Darstellerinnen
Sex miteinander haben – ganz darauf ausgerichtet, dass männliche Zuschauer sich
daran erfreuen –, hat Trouble lesbische Zuschauerinnen im Kopf, wenn sie Szenen
mit zwei Frauen dreht. Sie arbeitet deswegen genauso mit maskulinen Darstellerin-
„Das Geile am
Spanking ist
die Angst vor
dem, was
kommt“, sagt
Pandora Blake
nen wie mit femininen. Dabei beschränkt
sich der Feminismus von Troubles und Taorminos Pornografie nicht auf den Inhalt.
Die beiden kümmern sich um ein sicheres
und angenehmes Arbeitsumfeld, gerechte
Bezahlung und ein Mitspracherecht für
ihre Darstellerinnen.
Für Pornografie wie die von Pandora
Blake ist das Geschehen hinter der Kamera
besonders wichtig. Während Blake den Inhalt ihrer Arbeit sehr wohl mit feministi-
schen Haltungen im Einklang sieht, werde
es kompliziert, wenn es darum gehe, diese
Fantasien darzustellen und weiterzugeben,
ohne tatsächliche Gewalt gegen Frauen zu
fördern. In einer Welt, in der Pornos de
facto Mittel der sexuellen Erziehung sind,
müssen verantwortungsvolle Produzenten
nicht nur darüber nachdenken, was die
Leute reizen könnte, sondern auch darüber, was sie aus Pornos lernen könnten.
Blake glaubt, ein Disclaimer zu Beginn
des Films, der das einvernehmliche Handeln betont, würde die Fantasie entzaubern. Aber das Aushandeln von Grenzen,
das zu jedem gesunden BDSM gehöre, müsse dennoch stattfinden. Auf der Seite
Dreams of Spanking finden sich jede Menge
Bilder und Videos, auf denen zu sehen ist,
was passiert, wenn jemand „Cut“ oder das
vereinbarte Safeword ruft und eine Szene
abgebrochen wird. Anders als bei Interviews, in denen die Darstellerinnen oft das
Gefühl haben, sie müssten bestimmte Erwartungen erfüllen, zeigt das Material auf
Dreams of Spanking, was wirklich am Set
passiert. Man kann sehen, dass alle Beteiligten aus freien Stücken dabei sind.
Pandora Blake sagt, sie caste nur Leute,
die sie in der BDSM-Szene treffe. Sie will sichergehen, dass sie wissen, worauf sie sich
einlassen, und es ihnen tatsächlich Spaß
macht. „Auf gewisse Art filme ich eine echte BDSM-Szene.“ Im Gegensatz zu Pornoprofis, die BDSM nur performen. „Es geht
darum, deine authentische Erfahrung zu
nehmen und sie in eine Performance zu
verwandeln.“
Sie selbst habe schon immer solche Neigungen gehabt, sagt Blake. Lange bevor sie
wusste, was das letztendlich bedeutet. Sie
erinnert sich daran, wie sie von Stockschlägen in Roald Dahls Autobiografie las und
ihre eigene Reaktion sie gleichzeitig faszinierte und beschämte. „Schon damals war
mir klar, dass an dieser Reaktion etwas
falsch ist“, sagt sie. „Wir alle müssen diese
Scham ablegen, bevor wir unsere Sexualität genießen können – und wenn sie außerhalb der Norm liegt, natürlich erst recht.“
Zum ersten Mal begegnete ihr das Schlagen auf den Hintern als sexuelle Aktivität,
als sie als Teenager erotische Literatur las.
Doch erst als sie begann, die Welt der Internetpornos zu entdecken, wurde ihr klar,
dass sie nicht die Einzige war, die die Vorstellung erregend fand, mit der Hand, einer
Peitsche oder einem Stock mehr auf den Po
zu bekommen als nur spielerische Klapse.
Nach dem Unterricht
„Das Geile am Spanking ist die Angst, die
man dabei verspürt, und die Vorwegnahme
dessen, was einen erwartet“, sagt sie. Blake
entwickelt gern Szenen, in denen das Schlagen nicht aus dem Nichts kommt, sondern
in denen eine Figur es antizipiert. „Wie ein
Schulmädchen, das weiß, nach dem Unterricht bekommt es den Hintern versohlt. Sie
kann an nichts anderes mehr denken und
fragt ihre Freundinnen, wie schlimm es
wohl wird und ob es sehr wehtut.“
Es sei nicht unfeministisch, weiblich und
devot zu sein, sagt Pandora Blake. Es sei
aber unfeministisch, anzunehmen, eine
Frau aus der BDSM-Szene sei automatisch
unterwürfig, nur weil sie eine Frau ist. Die
Leute in der Szene hätten bestimmte Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit verinnerlicht, wie alle anderen
auch. Dagegen kämpfe sie mit Dreams of
Spanking an. „Auf feministische Weise mit
jemandem Sex zu haben heißt, dass es einvernehmlich geschieht, kommunikativ
und respektvoll. Und das funktioniert auch
beim BDSM.“
Lilly O’Donnell ist stellvertretende
Chefredakteurin von narrative.ly und arbeitet
als freie Journalistin u. a. für den Guardian
Übersetzung: Holger Hutt
iel Furore macht in den sozialen
Netzwerken gerade das Hashtag
#MenInHijab. Iranische Männer
mit Kopftüchern sind da zu sehen,
meist in Begleitung von Frauen ohne
Kopftuch. Gedacht ist das alles als
Protest gegen den iranischen Kopftuchzwang. Ich weiß nicht, was ich davon
halten soll. Nicht, dass ich Kopftuchzwang
befürworte. Um Himmels willen, nein!
Frauen sollen anziehen, was sie möchten.
Kopftücher kommen nur freiwillig
infrage. Es geht mir im Fall von #MenInHijab um die Wirkung. Ernten hier
nicht die Männer unverdient Lob und
Anerkennung?
Aber von vorn. Ins Leben gerufen
wurde #MenInHijab von der in New
York lebenden iranischen Journalistin
Masih Alinejad, die schon vor einiger
Zeit die Kampagne #MyStealthyFreedom
zu verantworten hatte. Beide Aktionen
sind im Grunde ähnlicher Natur: Frauen
im Iran protestieren, indem sie Bilder
von sich ohne Kopftuch ins Netz stellen.
Ob mit Kopftuchmann oder ohne,
die Frauen gehen damit ein erhebliches
Risiko ein, denn unbedecktes Frauenhaar ist in der Öffentlichkeit verboten.
Hat die Frau Pech, erwischt sie die
Religionspolizei und nimmt sie zum
Verhör mit auf die Wache. Meist passiert
am Ende nichts Schlimmes. Aber der
Iran ist ein Willkürstaat. Haben die Beamten einen schlechten Tag, können
sie sich auch einfach ein Delikt aus den
Fingern saugen und die Frau auf unbestimmte Zeit wegsperren. Das ist bei
den Männern im Hidschab natürlich
auch möglich, aber gegen geltendes Recht
verstoßen diese nicht.
Masih Alinejad wird von der FAZ mit
den Worten zitiert: „Ich wollte, dass
die iranischen Männer einmal die Erniedrigung und Entwürdigung spüren, die
Millionen von Frauen jeden Tag ertragen
müssen.“ Aber ganz ehrlich: Das können sie nicht. Das ganze Gewicht rigider,
frauenfeindlicher Gesetze und gesellschaftlicher Normen kann ein Foto mit
Kopftuch niemals erfahrbar machen.
Die Erniedrigung, die Männer vielleicht
spüren, ist, dass sie sich in Frauenkleidung lächerlich machen. Das geht wiederum nur, weil die iranische Gesellschaft
– ebenso wie unsere – geschlechterbinär
ist und die gesellschaftliche Rolle von
Frauen inklusive der damit verbundenen
Kleidung als minderwertig erachtet.
Eine eher zweifelhafte Basis. Hat #MenInHijab trotzdem einen Nutzen?
Solidarität ist allerdings gut und
wichtig. Viele Menschen, die heterosexuell oder Cisgender sind – also mit
ihrem biologischen Geschlecht übereinstimmen –, begreifen den Kampf
für die Rechte nichtkonformer Sexualitäten und Gender nicht als ihren
eigenen. Genauso ist der Kampf für
Frauenrechte aus der Sicht vieler
Männer zuallererst Frauensache. Schön
also, wenn es auch mal anders läuft.
Denn wirklich etwas ändern können
die Menschen nur, wenn sich alle
gemeinsam für die Rechte unterdrückter oder diskriminierter Gruppen
engagieren.
Es gibt nur zwei Dinge, die nicht
passieren dürfen. Erstens, dass die
Solidarität selbst mehr Aufmerksamkeit bekommt als ihr Grund. Denn
das lenkt von den Leuten ab, um die
es eigentlich geht. Zweitens ist es
mit einem Hashtag nicht getan. Wie
cool wäre es zum Beispiel, wenn
Männer im Iran mit Kopftüchern zur
Arbeit oder zur Universität gingen?
Vorbilder für solidarischen Protest in
Frauenkleidung gibt es genug, sogar
in den unmittelbaren Nachbarländern.
Vergangenes Jahr zum Beispiel
starteten Männer in Miniröcken einen
Protestmarsch durch Istanbul. Anlass
war der Fall der Studentin Özgecan
Aslan, die nach einem Vergewaltigungsversuch von einem Minibusfahrer
getötet worden war. Und in Kabul demonstrierten Männer in Burkas gegen
die zunehmende Einflussnahme der
Taliban.
Sophie Elmenthaler
12 Chronik
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
F O T O S : I M A G O, D PA ( 2 ) , A F P/ G E T T Y I M A G E S ( 2 )
Die Woche vom 4. bis 10. August 2016
Gesetzentwurf
Türkei/Österreich
Studie
Berlin
Südafrika
Schwule entschädigen
In Abneigung vereint
Reiche Umweltschweine
Wen wählt Oma Anni?
ANC-Aderlass
Es erscheint unglaublich: Noch bis zum
Jahr 1994 standen in Deutschland
homosexuelle Handlungen von Männern unter Strafe. Die Grünen wollen
eine rasche Entschädigung der Opfer
des ehemaligen Paragrafen 175 im
Strafgesetzbuch. Dazu haben sie nun
einen Gesetzentwurf vorgelegt. Im
Mai kam ein von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes beauftragtes
Gutachten zu dem Schluss, dass
Deutschland in der rechts- und sozialstaatlichen Pflicht stehe, schwule
Männer, die aufgrund ihrer sexuellen
Orientierung verfolgt wurden, zu
rehabilitieren. Nun drängen die Grünen im Hinblick auf das Alter vieler
Verurteilter auf eine schnelle Entscheidung des Bundestags.
LTB
Die Brüsseler Kommission will vorläufig an Beitrittsgesprächen mit der
Türkei festhalten. Sie weist ein Ansinnen des österreichischen Kanzlers
Kern (Foto) ab, Ankara aus dem EUKandidatenkreis zu streichen, da laufend demokratische Standards verletzt
würden. Der Vorstoß aus Wien hat in
der Regierung Erdoğan zu harschen
Reaktionen geführt. EU-Minister Çelik
verglich das Gesuch mit Forderungen
von Rechtsextremisten, was Außenminister Çavuşoğlu noch zu steigern
wusste, indem er Österreich ein
„Zentrum des radikalen Rassismus“
nannte. Beirrt hat das die SPÖ-ÖVPRegierung nicht. Sie will das Thema
Türkei auf die Agenda des EU-Gipfels
Mitte September setzen lassen.
LH
Manchmal gibt es einen Unterschied
zwischen Sein und Bewusstsein. Wer
sich für umweltbewusst hält, kann
in Wirklichkeit das Gegenteil sein, wie
eine Studie des Umweltbundesamts
zeigt. Entscheidend sei vor allem das
Einkommen. Mehr Geld fließe oft in
schwere Autos, große Wohnungen und
häufigere Flugreisen – das werde
durch Mülltrennung und Bio-Essen
nicht ausgeglichen. Bestimmte Aspekte
des nichtnachhaltigen Konsums wie
Fernreisen würden von den reichen
„Umweltbewussten“ oft unterschätzt
oder bei der Bewertung des eigenen
Verhaltens nicht berücksichtigt. Unterm Strich verursachten sie mehr
CO2-Ausstoß als Menschen mit niedrigerem Einkommen.
FW
Ein Wahlplakat der Berliner Linken
sorgt für Streit. Zu sehen ist die 95-jährige Anni Lenz, dazu der Spruch:
„Mietrebellin Oma Anni bleibt“. Die
Werbeträgerin kämpft seit Jahren mit
ihren Nachbarn gegen einen Investor,
der die Miete hochsetzen will. Anni
Lenz hat zwar eingewilligt, dass sie auf
dem Linken-Plakat abgebildet wird,
aber sie wählt eine andere Partei, wie
sie dem Berliner Kurier gesagt hat. „War
immer SPD, das bleib ich auch.“ Die
Sozialdemokraten gestalteten daraufhin ihr eigenes Plakat. Der Slogan:
„Oma Anni bleibt SPD-Wählerin“. Die
Linken konterten per Twitter: Der Mietrebellin werde von der SPD doch im
Zweifel „in den Arsch getreten“, schrieb
Landeschef Klaus Lederer.
FW
Bei Kommunalwahlen hat der ANC in
nahezu allen Großstädten die Mehrheit verloren, so in Johannesburg, Pretoria, Port Elizabeth, Kapstadt. Die
Regierungspartei kam zwar landesweit
auf 56 Prozent, profitierte damit aber
vom Sympathiebonus in den ländlichen Regionen, während sich in
den Metropolen die schwarze Mittelschicht ebenso abwandte wie die
Bevölkerung der Townships. Als Gegner des ANC hat mit diesem Votum
besonders die liberale Democratic Alliance unter Führung des schwarzen
Politikers Maimane an Statur gewonnen. Die DA kam in urbanen Wahlbezirken teils auf über 40 Prozent. Mehr
denn je gilt nach der Abstimmung
Präsident Zuma als angeschlagen. LH
1991 Das Streichholz
QLutz Herden
E
s konnte sein, dass Michail Gorbatschow, ein Freund des taktischen
Lavierens, Gefallen an der bonapartistischen Verlockung fand. Allerdings musste in der Sowjetunion
unverkennbar Endzeitstimmung herrschen,
damit es dazu kam. So wurde Anfang November 1991 Verteidigungsminister Jewgenij Schaposchnikow in den Kreml gebeten, um vom
sowjetischen Präsidenten mit dem Ansinnen
konfrontiert zu werden, die Armee möge die
Macht übernehmen, eine Militärregierung
bilden, den Staat UdSSR vor dem Verschwinden bewahren und – nach erreichter Stabilisierung – den Rückzug antreten. Das klang
kaum nach rationalem Kalkül, mehr nach
waghalsigem Abenteuer. Schaposchnikow soll
sich mit der Bemerkung aus der Affäre gezogen haben, schreibt der amerikanische Autor
William E. Odom in seinem Buch The Collapse
of the Soviet Military, dann könne er sich ja
gleich – ein forsches Lied pfeifend – in Richtung „Matrosenstille“ abmelden.
Im Moskauer Gefängnis Matrosskaja Tischina sitzen um diese Zeit hochkarätige Sowjetpolitiker in Untersuchungshaft, darunter
Schaposchnikows Vorgänger, Marschall
Dmitri Jasow. Sie haben sich – kein viertel
Jahr ist es her – zwischen dem 19. und 21. August 1991 als Rettungskommando für den
moribunden Staat versucht und sind gescheitert. Dass der im Spätherbst 1991 weitgehend
entmachtete Gorbatschow plötzlich selbst
den autoritären Ausweg sucht, scheint zu bestätigen, was einst Karl Marx in seinem 18.
Brumaire des Louis Bonaparte über die Wiederholung historischer Geschehnisse schrieb.
Das erste Mal ereigneten sie sich als Tragödie,
das zweite Mal als Farce. Was zu der Frage
führt, war der „Augustputsch“ vor 25 Jahren
eine „Tragödie“? Verdienen es seine Urheber,
„tragische Helden“ genannt zu werden, weil
sie dem Rad der Geschichte in die Speichen
griffen, das sie zu überrollen drohte? War dieser Aufstand der Nomenklatura ein selbstmörderisches Unternehmen, wie heute geurteilt und vollendete Geschichte mit einstiger
Gegenwart verwechselt wird?
Es ist ein Sonntag, als am 18. August 1991 die
ZK-Sekretäre Oleg Baklanow, Waleri Boldin und
Oleg Schenin sowie General Walentin Warennikow zum Kap Foros auf der Krim fliegen. Sie
wollen Gorbatschow in seiner Sommerresidenz treffen und drängen, die für den 20. August anberaumte Unterzeichnung des neuen
Unionsvertrages aufzuschieben oder ganz abzusagen. Der sieht vor, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in eine Union
Souveräner Staaten (USS) zu überführen. Litauen hat sich davon distanziert, desgleichen Georgien, das Anfang April 1991 seinen Austritt
aus der Union erklärt. Estland und Lettland
dürften folgen. Da jedoch Belarus, die Ukraine,
Usbekistan, Tadschikistan, Armenien, Turkmenistan und Kasachstan einen Staatenbund erhalten wollen, wird es den wohl geben. Woran
auch der russische Präsident Boris Jelzin interessiert scheint, der seiner Sowjetrepublik zwar
ein Maximum an Souveränität verschaffen,
mit der Sowjetunion aber nicht völlig brechen
will. Schließlich soll Russlands Anspruch keinen Schaden nehmen, im Fall des Falls ein privilegierter Erbe zu sein, den ständigen Sitz im
UN-Sicherheitsrat wie das Kernwaffenarsenal
zu übernehmen. Überdies hat am 17. März 1991,
beim ersten Referendum der Sowjetgeschichte,
eine Mehrheit von 76,4 Prozent für den Erhalt
der Union gestimmt.
Die Abordnung aus Moskau wird in Foros
vorgelassen, aber vertröstet. Gorbatschow
habe mit einem Bandscheibenvorfall zu
kämpfen, beim Spaziergang mit Frau Raissa
sei es passiert, er müsse den Arzt bemühen. Es
dauert bis zur Audienz, die Gorbatschow mit
dem schmissigen Einstieg eröffnet, auch wenn
man ihm das linke Bein amputiere, werde ihn
nichts daran hindern, am 20. August in Moskau zu sein, um den Unionsvertrag zu unterschreiben. Baklanow und Genossen könnten
nun getrost zum Airport Belbek fahren und
wieder abfliegen. Gorbatschow denkt nicht
daran, von einem Vorhaben zu lassen, das den
Schwanengesang einer Weltmacht bestenfalls
verzögern, nicht bannen wird. Deren Ökonomie nähert sich dem Kollaps und verzeichnet
im ersten Halbjahr 1991 einen Produktionsausstoß, der bei 80 Prozent des Niveaus von
1966 (!) liegt. Betriebe werden willkürlich geschlossen oder unterbrechen die Fertigung. In
FOTO: IMAGO
Zeitgeschichte In Moskau verkündet ein Notstandskomitee der
Nomenklatura den Ausnahmezustand, um die Sowjetunion vor
dem Untergang zu retten – das Gegenteil wird erreicht
Der russische Präsident Jelzin am 19. August 1991 vor seinem Amtssitz
Gorbatschow
will nicht
glauben,
wie sehr ihm
entglitten
ist, was er
zu regieren
meint
Russland riecht das häufig nach Sabotage.
Dazu ist die Armee durch einen überstürzten
Abzug aus dem Osten Deutschlands verunsichert. Die geostrategische Parität mit den USA
ging ebenso verloren wie das eigene Bündnissystem. Um den Warschauer Pakt ist es seit
dem 1. Juli 1991 geschehen. Entgegen aller
Rhetorik hat Gorbatschow kein europäisches
Haus erbaut, sondern sich durch konziliante
Vorleistungen um ein Wohnrecht in einem
solchen Haus beworben, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie sehr das eigene – das
sowjetische – in sich zusammenfällt.
All das kommt in Foros zur Sprache. Je alarmierender die von Baklanow und Warennikow beschworenen Katastrophenszenarien
ausfallen, desto entrückter wirkt Gorbatschow. Als wollte er nicht wahrhaben, wie sehr
ihm entglitten ist, was er zu regieren meint.
Wozu in den Abgrund schauen, wenn das zum
Absturz führt? Der Ausnahmezustand könnte
die Rettung sein, die einzig realistische, wirft
Warennikow ein. Gorbatschow steht auf und
verabschiedet sich. Er ist nun Mitwisser, will
aber kein Täter sein.
Erst als die Emissäre am 18. August gegen
22.00 Uhr wieder in Moskau landen, in den
Kreml fahren und bei Sowjetpremier Walentin Pawlow berichten, fällt die Entscheidung,
das Staatskomitee für den Ausnahmezustand
zu bilden, denselben auszurufen und Gorbatschow aus „gesundheitlichen Gründen“ abzusetzen. Außer Pawlow entschließen sich Vizepräsident Janajew, Verteidigungsminister Jasow, Innenminister Pugo, KGB-Chef
Krjutschkow und Parlamentspräsident Lukjanow zum Handeln. Sie stehen auf der Bühne,
während der Vorhang fällt. Im Appell des
Staatskomitees, den Gennadi Janajew bei einem Auftritt – halb Pressekonferenz, halb Regierungserklärung – am Vormittag des 19. August mit zitternder Hand und Stimme verliest,
heißt es: „Die Inflation der Macht zerstört
schlimmer als jede andere Inflation unseren
Staat und unsere Gesellschaft.“
Zu diesem Zeitpunkt sind Truppen des Moskauer Militärbezirks in die Hauptstadt eingerückt, sie patrouillieren, sichern das Fernsehzentrum Ostankino wie einen Teil der Ministerien. Ihnen ist befohlen, von der
Schusswaffe nur im Notfall Gebrauch zu machen. „Die Situation glich der vor dem Anzünden eines Streichholzes neben einem Pulverfass“, wird sich später Marschall Jasow bei seiner Vernehmung erinnern. Als in der
Innenstadt Barrikaden errichtet werden und
Molotow-Cocktails fliegen, brennt das Streichholz lichterloh, als sich Menschen um das
Weiße Haus scharen, damals der Sitz Jelzins,
um das Gebäude zu schützen, flackert es noch.
Als die Soldaten abziehen und das Staatskomitee am 21. August abdankt, ist es erloschen.
Es gibt keine Helden, schon gar keine tragischen, stattdessen drei Opfer, drei junge Moskauer, überfahren von Militärfahrzeugen.
Die Sowjetunion lässt sich im August 1991
nicht mehr retten, jedenfalls nicht so. Die Aufrührer haben den Staatsapparat unabsichtlich
gezwungen, Verfall und Ohnmacht zu offenbaren. Boris Jelzin weiß nun, dass Russland
die Sowjetunion nicht mehr fürchten muss.
Instinktsicher nutzt er die Gunst des Augenblicks, hält sich an den Urlaubsheimkehrer
Gorbatschow und verbietet in dessen Gegenwart am 22. August die KPdSU auf russischem
Territorium, was einem Verbot des Sowjetstaates gleichkommt. Dem bleibt noch eine
Gnadenfrist von vier Monaten. Sie werden zur
Farce, weil Gorbatschow als Präsident ausharrt, anstatt zurückzutreten. Warum nicht
Marx’ Theorie weiterdenken und auf den
Übergang vom tragischen zum komischen
Helden beziehen?
Buchtipp: Der Augustputsch 1991. Acht Akteure
erinnern sich. Edition Berolina 2016, 256 S., 14,99 €
13
Widerstreit Wie Theaterbühnen mit Geflüchteten arbeiten S. 15
Erhabenheit Eduard Engels Stilkunde der deutschen Sprache S. 16
Kinderzeit Der Ärzte-Bassist Rodrigo González reist nach Chile S. 19
In Bielefeld
präsentiert die
Musikerin
Anohni bildende
Kunst – ihre
eigene und die
ihrer Idole S. 14
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Kulturkommentar
Christine Käppeler
Der Traum von Rio:
Wenn ein Werbespot
Realitäten schafft
F O T O S : F O S S I P H O T O / I M A G O, I N G O B U S T O R F ( O B E N )
A
Proletarische Identität: Ernst Thälmann in Magdeburg
Wo bleibt der Stolz?
Klassenkampf Wenn die Linken die „kleinen Leute“ noch erreichen wollen, müssen sie ihre Sprache ändern
QNils Markwardt
D
onald Trump, Front National
oder AfD: Fast überall in der
westlichen Welt sind Rechtspopulisten auf dem Vormarsch. Dabei verbindet sie
vor allem eins: Sie stoßen besonders in den
unteren Einkommensschichten auf Resonanz. Stellt sich die Frage: Warum? Genauer gesagt: Auch wenn die Arbeitermilieus
historisch keine „natürliche“ Klientel der
Linken bilden, da sie auch immer schon in
konservativen Kreisen verankert waren,
bleibt zu klären, warum linke Parteien nun
so erschreckend eindeutig von rechtspopulistischen abgelöst werden.
Risse in Familien
Eine erste Antwort liefert Didier Eribon in
seinem jüngst auf Deutsch erschienenen
Buch Rückkehr nach Reims: „So widersprüchlich es klingen mag“, heißt es dort,
„bin ich mir doch sicher, dass man die Zustimmung zum Front National zumindest
teilweise als eine Art politische Notwehr
der unteren Schichten interpretieren muss.
Sie versuchten, ihre kollektive Identität zu
verteidigen, oder jedenfalls eine Würde, die
seit je mit Füßen getreten worden ist und
nun sogar von denen missachtet wurde,
die sie zuvor repräsentiert und verteidigt
hatten.“ Das sind starke Worte, die, stammten sie von einem Rechtsausleger, von
manchem schon als Relativierung von
Fremdenfeindlichkeit gedeutet werden
könnten. Aber sie stammen eben von Eribon, einem linken Philosophen, LGBT-Aktivisten und Biografen Michel Foucaults.
Der 1953 geborene Denker kommt selbst
aus einer Arbeiterfamilie. In Rückkehr nach
Reims, einer Mischung aus erzählender Autobiografie und soziologischer Studie, beschreibt Eribon, wie er, der alle Verbindungen gekappt hatte, wieder Kontakt zu seiner Heimat aufnimmt. Und dabei treibt ihn
vor allem eins um: Wie konnte es passieren, dass seine Eltern, Brüder und Cousinen, die früher selbstverständlich die Kommunistische Partei wählten, zu Anhängern
des Front National wurden? Nun werden
dafür in der Regel eine Reihe von Gründen
angeführt: vom Siegeszug des Neoliberalismus über den ökonomischen Strukturwandel bis zur Kritik, die Linke beschäftige sich
heute nur noch mit postmaterialistischen
Identitätsfragen statt mit wirtschaftlichen
Verteilungskonflikten. Bei Eribon steht das
alles im Hintergrund – er hebt vor allem
auf den Aspekt der Identität ab.
Denn in dem Moment, wo Teile der Linken den „Dritten Weg“ beschritten und
plötzlich von Eigenverantwortung und IchAG sprachen, manifestierten sie ja nicht
nur eine Dauerprekarisierung ganzer Milieus, sie zerstörten auch die letzten Reste
eines Klassenbewusstseins. Das zeigt sich
schon sprachlich. Aus Arbeitern wurden
„Geringverdiener“, aus Proletariern „sozial
Schwache“. Aus einem Kollektivsubjekt, das
Rechte einforderte, wurde ein Sammelsurium von Opfern und Hilfsempfängern.
Welchen psychopolitischen Effekt das
hatte, wird klar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass kommunistische und sozialdemokratische Parteien historisch nicht
nur als nüchterne Interessenvertreter der
Arbeiterschaft dienten, sondern immer
auch proletarische Identitätsmaschinen
bildeten. Mit einem Repertoire an Symbolen und Narrativen, von der roten Fahne
bis zur Internationale, gaben sie ihren Anhängern zurück, was im Fabrikalltag zu verloren zu gehen drohte: Stolz und Würde.
Die rote Fahne
markierte
einst Würde
und Identität.
Wir brauchen
dringend
neue Symbole
Und das war nicht zuletzt deshalb möglich, weil der Marxismus, ob nun revolutionär oder reformistisch, das dialektische
Versprechen barg, mit der „Philosophie des
Elends“ Schluss zu machen: Aus dem
Knecht sollte schließlich irgendwann der
Herr werden. Fragt man sich also, warum
Trump so viele blue-collar workers begeistert, 86 Prozent der Arbeiter bei der Stichwahl zum österreichischen Präsidenten für
FPÖ-Kandidat Norbert Hofer votierten
oder die AfD der Linkspartei Wähler abwirbt, besteht eine Antwort darin, dass die
Rechtspopulisten schlicht eine Lücke füllen. Obschon deren ökonomische Programme den Interessen der unteren Schichten
bisweilen sogar widersprechen, die AfD ist
in dieser Hinsicht ja weitestgehend noch
jene neoliberale Honoratiorenpartei, als
die sie einst startete, geben sie sich als Repräsentanten der „kleinen Leute“. Und im
Gegensatz zur Linken haben sie obendrauf
vor allem noch ein Identitätsangebot: jenes
völkische Phantasma, das Stolz bereits aus
der Nationalität und Hautfarbe ableitet.
Und es ist ja nicht so, dass alle, die für
Front National oder AfD stimmen, damit
schlagartig rassistisch würden. Allein deshalb nicht, weil viele es schon vorher waren.
Eribon beschreibt etwa eindrücklich, wie
stark der Alltagsrassismus in seiner Familie
bereits in jener Zeit war, als diese noch für
die Parti Communiste votierte. „Mit der
Entscheidung für linke Parteien wählte man
gewissermaßen gegen seinen unmittelbaren rassistischen Reflex an, ja gegen einen
Teil des eigenen Selbst, so stark waren diese
rassistischen Empfindungen.“ Parlamentarisch übersetzt sich Fremdenfeindlichkeit
also vollends erst dann, wenn der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit von
der politischen Bühne verschwindet.
Neben der von Eribon aufgeworfenen
Frage der Identität ließe sich aber noch ein
weiterer Aspekt anbringen. Und zwar die
Tatsache, dass linke Diskurse oft nur noch
von dem bestimmt sind, was der italienische Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli „Opferideologie“ nennt. Nun muss
man bei dem Wort Opferideologie erst einmal schlucken. Hört sich das doch zunächst
nach einem jener Rülpser aus der Maskulinistenhölle an, wonach es gar keine Opfer
von Rassismus, Sexismus oder Homophobie gebe, sondern es genau andersherum
sei. „Gender-Ideologie“ und Political Correctness bildeten ideologische Waffen im
Feldzug gegen den weißen Mann.
Es ist jener gleichermaßen reaktionäre
wie perfide Ethos, den Clint Eastwood kürzlich im Interview mit Esquire auf den Punkt
brachte, als er sich darüber mokierte, dass
wir in einer „pussy generation“ leben, in
der Menschen andere Menschen tatsächlich des Rassismus bezichtigen. „Als ich
groß wurde“, sagte Eastwood, „hat man solche Sachen nicht rassistisch genannt.“
Im Gegensatz zu diesem reaktionären
Diskurs, der sich ja deshalb wieder in die
50er Jahre wünscht, weil da Frauen, Schwarze und Homosexuelle eben noch die
Schnauze zu halten hatten, geht es Giglioli
in seinem Essay Die Opferfalle um etwas
anderes. Wenn die Formulierung einer
Opferposition nicht mehr mit der Idee der
Ermächtigung verbunden sei, drohe die
Kultivierung von Passivität, schreibt Gigliolo. Das heißt: Wird das Ausstellen der eigenen Erniedrigungen zum Selbstzweck,
bindet sich der Mensch an seine eigenen
Verletzungen. Dann wirfd er zur bloßen
Summe seiner Kränkungen. „Das Opfer
ordnet das Sein hinter das Haben, reduziert
das Subjekt auf einen Träger von Eigenschaften (und nicht etwa von Handlungen),
verlangt von ihm auf schmerzhafte, aber
stolze Weise das zu bleiben, was es ist.“
Es fehlt eine Idee des Guten
Die Kritik zielt also nicht darauf, dass Menschen kein Zeugnis von ihrem erlittenen
Unrecht dieses Zeugnis ablegen sollten. Sie
zielt darauf, dass ohne politisches Projekt
in einer bloßen Ontologie des Mangels
münden kann. Und das führt nicht nur
dazu, dass der Konflikt immer öfter durch
den Skandal, Politik durch Moral ersetzt
wird, sondern auch, sagt Giglioli, zum „Verlust einer allgemeinen, positiven Idee des
Guten“. Dass dieser Verlust real ist, erkennt
man bereits daran, dass linke Kampagnen
ihre argumentative Schlagkraft oft nur
noch aus der Verhinderung von Rechtspopulisten ziehen können.
Was also tun? Ein bloßes Zurück zum alten Klassenkampf kann es freilich nicht
sein. Schon deshalb, weil der klassische
Marxismus historisch ja bewiesen hat, dass
er jene emanzipatorischen Diskurse, ohne
die eine offene Gesellschaft nicht zu denken ist, Feminismus oder den Kampf für
die Rechte von Homosexuellen, nicht ausreichend integrieren konnte, ja ihnen bisweilen sogar widersprach. Eribon beschreibt zum Beispiel, wie sehr ihm bei
seinem politischen Engagement immer
wieder Homophobie entgegenschlug. Vielleicht wäre es aber ein Anfang, wenn die
Linke jenes Bonmot von Karl Marx beherzt,
wonach es zunächst nicht darum geht, alle
gesellschaftlichen Widersprüche aufzuheben, sondern darum, ihnen eine Form zu
geben, in der sie sich bewegen können. Die
Rechtspopulisten tun das nämlich bereits.
Rückkehr nach Reims Didier Eribon
Suhrkamp 2016, 240 S., 18 €
Die Opferfalle Daniele Giglioli
Matthes & Seitz 2015, 126 S., 14,90 €
ls 1988 die Olympischen Sommerspiele in Seoul stattfanden,
war ich neun und ein fantasievolles Kind. Jedes Provinzbad, in dem
ich mit meinem Schwimmverein
Bahnen zog, wurde damals für mich zur
olympischen Wettkampfstätte. Diese
Strahlkraft haben die Spiele lange schon
verloren, aber ich erinnerte mich
jetzt daran, als ich einen Spot mit der
südsudanesischen Sprinterin Margret
Rumat Rumar Hassan sah. Es ist ein Werbeclip von Samsung, Hauptsponsor in
Rio. Wir sehen die Leichtathletin in den
Katakomben eines Stadions, vor ihrem
inneren Auge taucht ein Mädchen auf,
das sie vor einer Wand mit Zeitungsartikeln anfeuert. „Local Girl Dreams of
Rio“ steht als Schlagzeile über einem
Foto der Sprinterin. Wir sehen dann Schüler in einer Dorfschule, Männer in
einer Dorfkneipe, staubige Straßen und
immer mehr Menschen, die Margret
Rumat Rumar Hassan anfeuern, sie steigen in Busse und auf Motorräder,
manche rennen nur ein Stück mit, ein
paar steigen dann in ein Flugzeug.
Als Hassan aus den Katakomben ins
Stadion tritt, steht das Mädchen natürlich unter den Fans auf den Rängen.
„For those who defy barriers“ lautet
der Slogan des Sponsors – für alle, die sich
über Hindernisse hinwegsetzen. Man
kann das zynisch finden, 60.000 Menschen sind Anfang August wieder
binnen drei Wochen aus dem Südsudan
geflohen, und natürlich stehen keine
Flugzeuge für sie bereit. Laut Berichten
des UNHCR wurden viele mit Waffengewalt daran gehindert, auch nur ins
Nachbarland Uganda zu gelangen.
Aber es ist nicht die Aufgabe von Werbespots, die Realität abzubilden.
Das eigentliche Problem dieses Spots
ist ein anderes: Er hat Realitäten geschaffen. Recherchen des Guardian zufolge liegt es auch an diesem Clip, dass
Hassan überhaupt für Südsudan in Rio
antritt. Der nationale Leichtathletikverband hatte sie nicht nominiert. Ausgewählt worden war der Sprinter
Mangar Makur Chuot. Chuots Vater, der
sich für die Unabhängigkeit des Südsudan einsetzte, wurde ermordet, als er
vier Jahre alt war. Mangar wuchs in
einem kenianischen Flüchtlingslager
auf, 2005 erhielt er Asyl in Australien.
In Perth befand ein Leichtathletikcoach,
er laufe „wie eine Gazelle auf Amphetamin“. Chuot, der die doppelte Staatsbürgerschaft besitzt, wollte sich 2012 für
das australische Olympiateam qualifizieren. Er wurde überfallen, die Einbrecher,
Sudanesen, prügelten gezielt auf seine
Beine ein. Seine Achillessehne riss, er
fiel monatelang aus. 2014 wurde er australischer Meister über 200 Meter.
Im Dezember 2015 eröffnete ihm der
südsudanesische Leichtathletikverband, dass er in Rio das Land vertreten
wird, für das sich sein Vater eingesetzt
hatte. In dem Brief standen sogar schon
die genauen Wettkampfzeiten. Das
Nationale Olympische Komitee entschied
acht Tage vor Beginn der Spiele anders.
Sein Generalsekretär räumte im Radio
ein, dass Margret Rumat Rumar Hassans Werbedeal mit ausschlaggebend
für ihre Nominierung war.
Mangar Makut Chuots komplizierte
und tragische Geschichte lässt sich
schwer auf 1:43 Werbeminuten verdichten. Noch weniger sponsorentauglich
ist ihre traurige Pointe: Was die Schläger
2012 nicht erreichten, ist nun vollbracht. Chuot verkündete vergangenen
Freitag seinen endgültigen Abschied
vom Sport. Das Nationale Olympische
Komitee bot ihm an, als Gast nach Rio
zu reisen. Wie peinlich das ist, versteht
nun wirklich jedes Kind.
Der Sprinter im Porträt: freitag.de/chuot
14 Kultur
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
ßen. Das zeigt sich nicht nur in der lebensgroßen, verkitschten Skulptur eines weinenden Eisbären, sondern vor allem auch
in ihren Fundstücken. „She told me I was
one of her children“, hat Anohni auf einer
Buchseite neben der Abbildung eines getöteten Rhinozeros notiert. „We were the
same“, steht dort als Kommentar zu einem
Medientagebuch
Den Chefposten zu
verlieren, scheint ein
großes Glück zu sein
Neben einem
an den Läufen
aufgehängten
Wildschwein
steht: „We were
the same“
K L E I NA N Z E I G E
Kur an der poln. Ostseeküste in Bad Kolberg!
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F O T O S : I N G O B U S T O R F, G U N T E R L E P K O W S K I ( U N T E N )
N
icole Zepter möchte in Zukunft
eigene Projekte vorantreiben.
Da hat sie so große Lust drauf,
dass sie partout nicht länger Chefredakteurin der Gruner+Jahr-Zeitschriften
Neon und Nido bleiben kann. Zwar hat
sie den Posten erst im Mai 2015 angetreten. Aber der Wunsch nach eigenen
Projekten ist stärker.
So ähnlich erging es auch schon Zepters
Vorvorgängern Vera Schroeder und
Patrick Bauer. Als der Verlag entschied,
die Redaktionen der beiden Zeitschriften von München nach Hamburg
zu verlegen, war nicht etwa dieser
Umzug der Grund für ihren Ausstieg.
Sie wollten schlichtweg neue berufliche
Wege gehen. Und auch ihr Nachfolger
Oliver Stolle, der nach 16 Monaten Umzugsmanagement Platz für die oben
erwähnte Nicole Zepter machte, zog
ausschließlich sein Heimweh zurück
nach München und damit weg vom
Posten des Chefredakteurs.
Gründe, an diesen Aussagen zu zweifeln,
gibt es nicht. Schließlich stammen sie
vom Verlag selbst – und ein Unternehmen,
das sein Geld mit Journalismus und
damit dem Kampf für die Wahrheit verdient, würde doch niemals beschönigen
oder gar lügen.
Dass die verkaufte Auflage von Neon
in den vergangenen zwei Jahren von
178.000 auf 123.000 gerauscht ist, die
Stimmung in der Redaktion denkbar
schlecht und Zepter ihrem Job als Chefin
nicht gewachsen gewesen sein soll:
Das sind nur langweilige Fakten und
Gerüchte von „Redaktionsmitgliedern,
die ihren Namen nicht in der Zeitung
lesen mögen“. Und nur weil Zepters
Vorgesetzte, die in der Gruner+Jahr-Pressemitteilung zitiert wird, ihren Beruf
mit „Publisherin“ angibt und als solche
einer community of interest vorsteht,
heißt das noch lange nicht, dass man
ihr nicht glauben kann. Auch wenn
man dank der seltsamen Fremdwörter
gar nicht versteht, was diese Frau
eigentlich macht.
Zudem sind die Chefs von Neon und
Nido nicht die einzigen im deutschen
Medienmarkt, die aus freien Stücken
ihre Führungsposition aufgeben.
Hans-Jürgen Jakobs zum Beispiel, bis
Ende 2015 zusammen mit Sven Afhüppe
Chefredakteur des Handelsblatts, gab
sich in der offiziellen Mitteilung sehr
erfreut, als die redaktionelle Verantwortung komplett seinem Kompagnon
übertragen wurde. Er selbst darf sich
schließlich seitdem Senior Editor, Mitglied im Beirat der Bildungsinitiative
der Dieter von Holtzbrinck Stiftung und
Herausgeber von Orange by Handelsblatt nennen. Letztgenanntes ist das
junge Angebot der Wirtschaftszeitung,
mit genau so vielen Fans, wie man
unter jungen Menschen für Wirtschaftsthemen vermutet. 3.455 haben die
Seite bei Facebook geliked; ein stolzes
Dreiundfünfzigstel der Fanzahlen
des Handelsblatts.
Noch glücklicher dürfte nur Ulrich
Reitz gewesen sein, als er im März als
Chefredakteur des Nachrichtenmagazins
Focus abtreten und an Robert Schneider von der Superillu übergeben durfte.
Nach eineinhalb Jahren als Chef ist
Ulrich Reitz nun Editor-at-large – ein
Job, der in seiner Keine-Ahnung-wasdas-ist-igkeit von Gruner+Jahr erdacht
sein könnte. Dort gibt es auch das
Frauenmagazin Barbara mit Editor-atlarge Barbara Schöneberger. Sie darf
der Zeitung nicht nur ihren Namen leihen,
sondern auch das Editorial schreiben,
Interviews führen und bei jeder Ausgabe
den Titel zieren. Folglich dürfte der
Focus bald als Ulrich mit Reitz auf dem
Cover erscheinen; in alter Focus-Tradition ist er vermutlich nackt. Für solche
Aussichten räumt man doch gern den
Chefsessel.
Juliane Wiedemeier
James Elaine lässt Bohnenpflanzen aus „Britannica“-Enzyklopädien sprießen
Am Fenster
Ausstellung Die Musikerin Anohni zeigt in Bielefeld Kunst, die sie beeinflusst
hat, zusammen mit eigenen Werken. Es ist eine Welt voller Mitgefühl
QCara Wuchold
T
here is a black river / It passes
by my window“ – so beginnt
der Song River of Sorrow von
Antony and the Johnsons, der
im Jahr 2000 auf dem Debütalbum der Band erschien. Ein Requiem für
Marsha P. Johnson, Namensgeberin der
Band, deren Leiche am 6. Juli 1992 im Hudson River gefunden wurde. Die afroamerikanische, transsexuelle Aktivistin für die
Rechte von Homosexuellen taucht nicht
nur in der Musik von Antony Hegarty auf
– selbst Transgender und inzwischen unter
dem Namen Anohni aktiv –, sondern auch
in Anohnis bildnerischem Werk. Ihre Collagen, Zeichnungen, Malereien und Skulpturen sind derzeit in der Kunsthalle Bielefeld zu sehen. Die deutsch-amerikanische
Bildhauerin Kiki Smith hatte den Kontakt
zwischen Anohni und dem Ausstellungshaus hergestellt.
Marsha P. Johnsons lachendes Porträt –
ein textiler Siebdruck, aufgenäht auf einer
weißen Bluse – ist ebenso Teil der Schau
wie eine Kopie ihrer Sterbeurkunde. „Suicide“ wurde darauf von der Polizei vermerkt, obwohl Johnsons Tod nie vollständig aufgeklärt wurde. „Disabled“ ist als Angabe zur Berufstätigkeit notiert. Zwei
Stichworte, die in aller Härte verdeutlichen,
wie es damals um die Rechte der LGBT
stand. Rechts und links flankiert wird das
Schriftstück von schwarz übertünchtem
Papier, dem Anohni mit Flächen aus hellem
Blau etwas entgegenzusetzen versucht.
Die britische Künstlerin lebte zu Beginn
der 90er Jahre bereits in New York, angezogen von ebenjener queeren Szene. Es ist
ihr Lebenskosmos, in dem sie sich auch
künstlerisch bewegt. Ob in der Musik oder
der bildenden Kunst, macht hier nicht den
entscheidenden Unterschied. Es gehe ihr
nicht so sehr um die einzelnen Kunstwerke, sagte Anohni kürzlich dem Magazin
Interview. „Die Arbeiten haben für mich
etwas Spirituelles. Produziert habe ich sie
nur, um eine Umgebung für mich selbst zu
schaffen, eine Umgebung, die mir mein
Überleben sichert.“
Und dazu zieht sie auch andere Künstler
heran. Im ersten Stock der Kunsthalle sind
Schwarzweißfotografien von Peter Hujar zu
sehen. Darunter sein berühmtes Porträt
Candy Darling on her Deathbed (1973) der
todkranken Dragqueen und Warhol-Muse.
Oder jenes von Charles Ludlam, Schauspie-
ler, Filmemacher und Dramatiker, der wie
Hujar selbst Ende der 80er an Aids starb.
Hujar förderte ein neues Selbstverständnis
der Szene und wurde zum Chronisten der
Opfer des tödlichen Virus, an dem viele von
Anohnis Idolen damals starben.
Eine Kopie des Fotos von Candy Darling
findet sich wieder in einem der Totempfähle, die Anohni an anderer Stelle aus verschiedenen Versatzstücken direkt an die
Wand geklebt hat. Es sind Identitätssymbole, bestehend aus privaten Essensquittungen, einem Buchcover wie Die kleine Enzyklopädie der Frau, einem Nachruf auf einen
Gay-Aktivisten und Zeilen wie „I got to B a
boy“, die auf das musikalische Werk verweisen. „For today I am a boy / One day I’ll grow
up, I’ll be a beautiful woman“, hieß es in einem Song von Antony and the Johnsons.
Drei Säulenheilige
Dann sind da die Werke des US-amerikanische Künstlers James Elaine. Er rettet Bücher vor der Bedeutungslosigkeit und lässt
Bohnenpflanzen aus alten Britannica-Enzyklopädien sprießen, die heute niemand
mehr zu Rate zieht. In seinen Animal Books
wiederum drapiert er von Autos überfahrene Tiere – Mäuse, Vögel, Reptilien – wie
zwischen Buchseiten getrocknete Pflanzen
und verschafft ihnen so einen Ort des Gedenkens. Zudem sind Teile seiner sogenannten blood series ausgestellt, darunter
zerbrochene Porzellanvasen, die der Künstler mit Kunstharz und roter Tinte wieder
zusammengefügt hat. Blut steht für ihn
weniger für Verletzung als für Leben und
Heilung. James Elaine ist Mitbegründer des
Künstler-Lofts Arcadia in Brooklyn, in dem
Anohni – damals noch als Antony Hegarty
– regelmäßig performt hat.
Der Tod spiegelt sich auch wider in der
Filminstallation ihres dritten Säulenheiligen: des Japaners Kazuo Ohno, der als einer
der Väter des Butoh-Tanzes gilt, einer japanischen Form des Ausdruckstanzes. Die Installation basiert auf dem Film Mr. O’s Book
of the Dead von 1973, in Butoh-Manier tanzt
Kazuo Ohno hier weiß geschminkt und fast
nackt. „Er schien im Angesicht von etwas
Geheimnisvollem und Schöpferischem zu
tanzen; mit jeder Geste verkörperte er das
Kind und das weiblich Göttliche. Er ist so
etwas wie ein Elternteil meiner Kunst“, wird
Anohni im Ausstellungsheft zitiert. Schon
auf dem Cover des Albums The Crying Light
(2009) von Antony and the Johnsons war
Kazuo Ohno abgebildet.
Wie Antony Hegarty aka Anohni in den
Songs von Antony and the Johnsons Weltschmerz in ultrawarme Töne taucht, so
verwandelt sie in der Ausstellung My Truth
todtraurige Szenarien in eine Hommage.
Und schafft sich auf diese Weise gleichzeitig Orte der Selbstvergewisserung, Orte, an
denen sie sich aufgehoben zu fühlen
scheint. Es ist eine Welt voller Mitgefühl,
die Anohni in Bielefeld kreiert. Und das
gilt für Menschen und Tiere gleicherma-
Die Aktivistin
Marsha P.
Johnson taucht
auch im
bildnerischen
Werk auf
Anohni, „Turning (Chloe)“, 2008
an den Vorder- und Hinterläufen aufgehängten Wildschwein.
Ihre kleinformatigen Collagen, in Wachs
gebundenen Farbmalereien und filigranen
Zeichnungen bleiben da meist kryptischer.
Sie sind die stärksten Arbeiten in der vielfältigen Ausstellung. Form, Farbe und Material finden hier inuitiv und treffend zusammen. Einige größere Malereien wirken
dagegen einfach nur flach.
Diese Werke sind in den vergangenen 15
Jahren jenseits der Öffentlichkeit entstanden. In einem Interview sagte die Transgender-Künstlerin kürzlich, sie empfinde
das bildnerische Arbeiten als einen „würdevolleren Prozess“, da es – anders als ihre
Musik – nicht in direktem Zusammenhang
mit ihrem eigenen Körper stehe.
Ihr aktuelles Album Hopelessness – das
erste, das sie im Mai dieses Jahres als
Anohni veröffentlichte – hat sie radikal in
den Dienst ihrer politischen Botschaften
gestellt. Da geht es um Überwachung, globale Erwärmung und Drohnenkrieg. Um
ihre Enttäuschung gegenüber Barack Obamas Politik. Themen wie die Folgen des Klimawandels scheinen auch in ihrer bildenden Kunst immer wieder durch. Doch die
Werkschau in der Kunsthalle Bielefeld wirkt
weniger wie eine Anklage, sondern vielmehr wie eine Einladung: in einen künstlerisch aufgeladenen Resonanzraum, in dem
all jenes zu seinem Recht kommt, was in
der Welt da draußen aufs Äußerste gefährdet zu sein scheint.
My Truth. James Elaine, Peter Hujar,
Kazuo Ohno Anohni Kunsthalle Bielefeld,
bis 16. Oktober
Kultur 15
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Drama mit Trauma
„Es entsteht
immer ein
Abhängigkeitsverhältnis“,
bekräftigt ein
Psychologe
Konfliktstoff Wie Theater
mit Geflüchteten arbeiten,
ist umstritten. Über die
Grenzen zwischen Kunst,
Ausbeutung und Therapie
QAnn Esswein
Rund um die Uhr
Die Antwort von Maher Draidi wäre „Ja“.
Der Leiter von Travellers 3 ist Schauspieler
und Theaterpädagoge, Regisseur und noch
weit mehr für die Jugendlichen. Es ist Juni,
Draidi hat zum Fastenbrechen in seine
Neuköllner Wohnung geladen. Wie ein Familienoberhaupt sitzt er am Tischende,
weiße Haare ziehen sich durch seinen
schwarzen Pferdeschwanz. Um Punkt zehn
Uhr öffnet er die Colaflaschen. Die Jugendlichen stürzen sich hungrig auf das Büfett,
für das Draidis Frau den ganzen Tag gebacken und gekocht hat. Für einen Moment
legt er den Kopf schief und mahnt die Jungs
zur Ruhe, dann lächelt er gutmütig.
Eigentlich arbeitet der Palästinenser drei
Stunden die Woche fest angestellt im Theaterbüro. Er schreibt Stücke und feilt an ihrer Inszenierung. Nebenbei spricht er mit
Lehrerinnen, wenn es Ärger in der Schule
gibt, und er regelt bürokratische Angelegenheiten für die Jugendlichen. Wie Samer
kamen viele als unbegleitete Minderjährige
nach Deutschland. „Dieser Ort ist neu, und
ich bin der Link zwischen der alten Heimat
und hier“, sagt Draidi leise. Ständig hat er
sein Handy in den Händen. Sie haben eine
Whatsapp-Gruppe, dort sei er rund um die
Uhr erreichbar, oft genug auch nachts.
In seiner Ausbildung als Theaterpädagoge warnten die Dozenten ihn vor der Arbeit
mit traumatisierten Jugendlichen. Es kön-
F O T O : M A H E R D R A I D I / T R AV E L L E R S 3
E
rst mal ist da nur die Erinnerung.
Die drei auf drei Meter große
Fläche bleibt gedankliche Kulisse. Schwere Filzvorhänge dunkeln die Fensterfront des Jugendzentrums ab. Es ist so leise, dass man Samer schlucken hört, als er auf die
beleuchtete Fläche tritt. Wie ein Fußballspieler nach dem Tor triumphiert der
16-Jährige, er rennt durch das Quadrat, albert herum. Einen Moment später versteckt er sich schreiend hinter den Vorhängen. Aus dem arabischen Monolog stechen
zwei Worte hervor: „Europa“, und noch
deutlicher: „Mama“. Samer schlägt mit der
Faust gegen die Wand, als ein Handy klingelt. „Alemanja“, wiederholt er ungläubig.
Jetzt schießen dem zierlichen Jungen Tränen in die Augen. Er muss verlegen grinsen. Während seine Freunde applaudieren,
fallen seine Schultern.
„Wir brauchen keinen Arzt und keinen
Psychologen, wir brauchen nur eine Bühne.“ So beschreibt es später in der Reflexionsrunde Samers Freund Abdil Karim. „Jeder hat eine Geschichte, die er mit sich
schleppt“, sagt der 18-Jährige, die anderen
nicken. Die größtenteils syrischen Jugendlichen gehören der Theatergruppe Travellers 3 an. Seit acht Monaten proben sie zusammen. Nach ihrer Ankunft war es für
viele das Erste, was sie taten, wenn sie nicht
täglich vor Berliner Ämtern kampierten.
Der Verlust einer geliebten Person, angeknackstes Selbstbewusstsein, das unverständliche neue Deutschland und immer
wieder die Heimat – diese Themen ziehen
sich durch die Improvisationen, die sich
später zu einem Theaterstück formieren.
Ein Laientheater könnte man die Gruppe
des Interkulturellen Theaterzentrums in
Neukölln nennen oder auch eine sozialpädagogische Maßnahme. Ein Gegenentwurf
zum Repräsentationstheater der etablierten Häuser. Spätestens seit vergangenem
Sommer ist das Thema Flucht und Migration aus den großen Theatersälen und den
Kulturprogrammen der Berliner Hinterhöfe nicht mehr wegzudenken. So unterschiedlich ihr Publikum ist, sie haben eines
gemeinsam: Scheinbar inflationär bedienen sie sich der realen Erinnerungen der
Geflüchteten. Seit diese selbst auf der Bühne stehen, verschwimmen die Grenzen
zwischen Laien- und professionellem Theater. Sogar ein Genrebegriff hat sich etabliert. Das sogenannte Geflüchtetentheater
möchte alles, Ästhetik, Authentizität, Aktionismus und Aufarbeitung, am besten
gleichzeitig. Kann Theater das leisten?
Laientheater und sozialpädagogische Maßnahme: die Gruppe Travellers 3 aus Berlin-Neukölln
ne schädlich sein, die Traumata ohne professionelle Begleitung eines Psychotherapeuten hervorzuholen. Er widersprach.
„Theater ist die beste Therapie“, davon ist er
auch heute überzeugt. Er spricht von einem „save space“ – einem geschützten
Raum – und meint dabei viel mehr als das
Theaterbüro oder sein Wohnzimmer.
„Das grundlegendste Bedürfnis der Ankommenden ist Sicherheit“, betont auch
der Psychologe Boris Friele vom Berliner
Zentrum Überleben. Dem Deutschen Ärzteblatt zufolge leidet etwa jeder zweite Geflüchtete aufgrund von traumatischen Erlebnissen an einer psychischen Erkrankung. Ein Teil der Belastungsstörungen
werde jedoch erst in Europa durch das Asylsystem verursacht, durch angedrohte Abschiebungen und prekäre Situationen in
den Notunterkünften. Friele spricht in diesem Zusammenhang von „retraumatisierenden Erlebnissen“. Diese könnten auch in
der Theaterarbeit auftreten. Für manche sei
der kreative Rahmen eine Befreiung. Für
andere könne die Konfrontation mit dem
eigenen Schicksal traumatische Gefühle
von Angst und Ohnmacht wiederbeleben.
Dem Theater attestiert er grundsätzlich
therapeutisches Potenzial, gleichzeitig
warnt er: „Es entsteht immer auch ein Abhängigkeitsverhältnis.“ Kritisch sieht er die
Instrumentalisierung der Geflüchteten für
künstlerische Zwecke. „Sie haben es schwer,
die kulturelles Codes unserer Gesellschaft
zu verstehen“, fügt er hinzu. Entscheidend
sei, dass man achtsam und sensibel mit
den Geschichten der Betroffenen umgehe,
um ungewollte Bloßstellungen zu vermeiden. Für ihn ist bezeichnend, dass viele Regisseure sich zwar der Geschichten der Geflüchteten bedienen, sie aber von professionellen Schauspielern vortragen lassen.
Bestes Beispiel dafür sind die Asyl-Dialoge.
Die dokumentarische Theaterreihe der
Bühne für Menschenrechte hat in den ver-
„Ich bin für die
Jungs der Link
zwischen ihrer
alten Heimat
und hier“, sagt
der Regisseur
gangenen Jahren großen Zuspruch erfahren. Stoff der schlichten Inszenierungen
sind die Geschichten Geflüchteter, die um
ihren Aufenthaltsstatus bangen, sowie von
Unterstützern und Aktivisten. Schauspieler
tragen sie wortgetreu vor, sie sprechen auf
den Bühnen kleiner Theaterhäuser und
Kulturkneipen. Am Ende jeder Inszenierung folgt ein Publikumsgespräch. Das dokumentarische Theater will politisieren
und das Publikum direkt ansprechen, „als
Komplize“. „Dafür leihen wir uns die Geschichten der Geflüchteten“, sagt Initiator
Michael Ruf und scheint dabei Angst vor
dem Wort „bedienen“ zu haben.
pulse, er verband das aktivistische Laientheater mit der Hochkultur. Das Berliner
Maxim-Gorki-Theater stellte ihm ein Büro,
vier weitere Theater engagierten den ehrgeizigen Pakistaner für ein Jahr.
„Wir haben nicht genug Jobs, geht zurück
in euer Land“, schreit Ullah auf der Bühne.
Der stämmige Mann zittert. Seine Augen
sind weit geöffnet. Für seinen Tobsuchtsanfall erntet er spontanen Applaus. Es ist
eine Aufzeichnung des Stücks Do Butter-
flies have Borders?, mit dem Ullahs unerwartete Laienkarriere begann, als er 2013
sein persönliches Feindbild spielte: den Beamten, der ihn täglich ernüchterte. Monatelang wartete Ullah auf eine Arbeitserlaubnis. Zufällig traf er in der Notunterkunft auf eine Theatergruppe. Als loser
Zeitvertreib gegen das Warten begann es,
dann entdeckte er, wie ihm das Spielen
half. Die Kunst habe ihm ermöglicht, Dinge
zu sagen, die er sonst nie losgeworden
wäre, sagt er. Im März diesen Jahres sprach
Samee Ullah 90 Minuten lang im Bundestag als Gesandter des Refugee Club Impulse
zum Thema Flucht und Migration. Von der
Theaterbühne hatte er es auf die politische
geschafft. Medien berichteten über den
„Vorzeigeflüchtling“. Ein Star wollte Ullah
nie sein. Was er in Deutschland suchte, war
Normalität. Sicherheit fand er im Theater.
Während die syrische Gruppe Travellers 3
noch im geschützten Raum des Jugendbüros probt, strebt die Truppe um den Refugee Club Impulse nach draußen. Für ihr
aktuelles Projekt Caravan Al-Hakawati nutzen die Theatermacher die Kunst der arabischen Geschichtensammler und -erzähler.
In einem bunten Zug durch die Straßen –
die „Welt der Grenzen“ – erzählen fiktive
Figuren die „Geschichten dieser Welt“. Wer
hinter den pompösen Masken steckt, ist
nicht zu erkennen, und es ist auch nicht
wichtig. Die heterogene Gruppe besteht
aus Laienschauspielern und Professionellen, Geflüchteten und ihren Mitstreitern.
Die normative Bühne ist aufgelöst, unters
Volk gemischt, dort, wo sie laut Ullah hingehört. Nicht in elitären Cliquen über Geflüchtete reden, lautet die resümierende
Forderung der Aktivisten nach drei Jahren
Theaterarbeit. Oder, um es mit Stemanns
resignierter Abänderung in den Schutzbefohlenen zu sagen: „Ich kann nicht für euch
sprechen, macht das lieber selbst.“
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Kommt Ironie an?
„Wir können euch nicht helfen, wir müssen
euch doch spielen“, heißt es in Nicolas Stemanns Inszenierung der Schutzbefohlenen.
Angelehnt an die griechische Tragödie Die
Schutzflehenden geht es in dem Stück von
Elfriede Jelinek um die Rolle der Geflüchteten im öffentlichen Diskurs. Das Hadern,
wie mit ihnen auf der Bühne umzugehen
sei, wird zum subtilen Leitmotiv. Stemann
probiert sich seit der Uraufführung 2014
mit verschiedenen Versionen aus, immer
abwägend, wer die artifiziellen Texte in
perfektem Deutsch sprechen kann und wie
authentisch die Inszenierung trotzdem
sein soll: Mal rezitieren weiß, mal schwarz
geschminkte Schauspielprofis Jelineks Zeilen, dann wieder hellhäutige Schauspieler
mit weißen Masken. Stemann wurde deshalb auch Exotismus vorgeworfen. Als Klagechor holt er die Geflüchteten selbst auf
die Bühne. Sie spielen in zweiter Reihe, oft
nur für wenige Minuten. Die moralischen
Tücken dieser Darstellung stilisiert Stemann zu einer Analogie zum Stand der Geflüchteten in Deutschland. „Die Flüchtlinge
spielen eben auch nur eine Rolle. Auf der
Bühne wie in der Gesellschaft“, sagte er in
einem Interview. Die Bühne als Metapher
für die realen Verteilungskämpfe in der Gesellschaft. Kommt diese Ironie bei den Geflüchteten an?
Samee Ullah machte Stemanns Inszenierung nicht nur ratlos, sondern wütend. Die
metaphorischen Verteilungskämpfe auf
der Bühne sind für ihn tatsächliche. Er hält
nichts von Projekten, bei denen „Geflüchtete sich auf der Bühne so bewegen sollen,
wie es ein privilegierter Regisseur will“,
sagt der 33-Jährige frustriert. „Wir sind keine Kunstobjekte.“ Drei Jahre lang war er
Mitstreiter des Kollektivs Refugee Club Im-
Milliarden:
Betrüger
Das Debütalbum ab 12.08.16
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www.milliardenmusik.de
16 Literatur
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Schreiben nach Gehör
Sprache Eduard Engels Meisterwerk „Deutsche Stilkunst“ war lange vergessen. Nun erscheint es in einer Neuauflage
träge auf Englisch zu halten“. Stil und Sprache sind „Gedankenform“, wird Engel nicht
müde zu erklären. Sprechen und Denken
stehen in engem Zusammenhang, den
Griechen schon galten sie als so untrennbar verbunden, dass sie für beides nur einen Begriff kannten: logos. „Die Sprache ist
gleichsam die äußerliche Erscheinung des
Geistes der Völker, ihre Sprache ist ihr Geist
und ihr Geist ihre Sprache, man kann sich
beide nicht identisch genug denken“, sagte
Wilhelm von Humboldt.
Und gilt diese Einsicht nicht auch für unseren alltäglichen Sprachgebrauch? Aber
natürlich, antwortet Engel und weist damit
ausdrücklich den Verdacht zurück, sein
Kampf gegen die „Fremdwörterei“ verdanke sich etwa „schrullenhaftem Hass“ oder
bloßer „Schulmeisterei“. Ihm geht es nicht
um Verdeutschung um jeden Preis, sein
Grundsatz lautet: „Kein Fremdwort für das,
was deutsch gesagt werden kann.“ Die Wir-
QGert Ueding
W
er Eduard Engels Deutsche Stilkunst nur als
Lehrbuch oder Nachschlagewerk für den
besseren Ausdruck benutzt, hat seine Größe und wahre Absicht
nicht verstanden. Es ist das schönste und
zugleich genaueste Porträt der deutschen
Sprache, das wir besitzen. Von den kleinsten Einheiten, den Wörtern, bis zu Satz, Periode, Rede und Schrift entsteht das Bild
einer reichen, geschmeidigen, unterscheidungsstarken, aber auch nicht ungefährdeten Sprache – und dieses Bildnis ist bezaubernd schön, weil der Autor nicht nur als
souveräner Kenner, sondern auch als Liebender schreibt. An ihrem „unerschöpflichen Wortreichtum“, ihrer „ganz einzigen
Freiheit von Wortstellung und Satzbau“ erfreut er sich und lässt auch auf die Zeichensetzung nichts kommen, ist sie doch „für
das leichte Verstehen notwendig“.
Man merkt jedem Satz des Autors Begeisterung und scharfsinnige Empfindlichkeit
an. So ist ein Prosawerk ersten Ranges entstanden, das an Ort und Stelle die Tugenden selber vorführt, die es beschreibt. 1911
erschien die erste Auflage, 30 weitere folgten bis zur letzten 1931. Damit verschwand
das Buch vom Markt – nicht etwa, weil es
keine Leser mehr fand, sondern weil der
jüdische Gelehrte Engel nicht mehr veröffentlichen durfte. Das besorgte ab 1943 für
ihn ein Autor, den wir alle aus dem
Deutschunterricht kennen: Ludwig Reiners.
Aus ihm wurde so etwas wie ein geistiger
Kriegsgewinnler auf Kosten des verfemten,
1938 verstorbenen Engel, bei dem er
manchmal auch abschrieb. Reiners’ Stilkunst ist bis heute Standardwerk.
Sein Grundsatz
lautet: „Kein
Fremdwort für
das, was
deutsch gesagt
werden kann“
Engel, dessen Stilkunst nun bei der Anderen Bibliothek in einer schönen Neuausgabe erschienen ist, kannte die gesprochene
deutsche Sprache wie kein anderer aus seiner täglichen Arbeit. Von 1871 bis 1919 war
er amtlicher leitender Stenograf im Deutschen Reichstag, hat also, schreibt er, „mehr
Reden als irgend ein andrer mitangehört“,
„zehntausende lange und kurze Reden (…)
auf ihre Form geprüft“. Das Ergebnis in fast
50 Jahren: „formvollendete Redner nur vier
oder fünf, sprachlich und künstlerisch
schöne Reden vielleicht zwanzig, gewiss
nicht dreißig“. Die niederschmetternde Erfahrung hat ihn nicht verzweifeln lassen,
sondern sie wurde zum kräftigen Motor
seiner Stilkunst.
Dass sie sein Bild von der deutschen
Sprache nicht einschwärzte, verdankte er
seiner immensen literarischen Bildung, die
weit über die deutschen Grenzen hinausging. Er kannte Shakespeare so gut wie Byron oder E. A. Poe, verkehrte freundschaftlich mit Fontane, Zola oder Daudet. Der
oberste Heilige in seinem literarischen Ka-
A B B . : A K G - I M A G E S / D PA
Verbrüderung
Verschloss sein inneres Ohr nicht in der Nachttischschublade: Eduard Engel (1851 – 1938)
lender aber war und blieb Goethe, mit dem
er beinah wie mit einem Zeitgenossen umging, ihm gelegentlich auch mal eine Ungeschicklichkeit einräumte. Durch das familiäre Verhältnis zu „seinen“ Autoren (zu
denen besonders noch der Prosakünstler
Nietzsche gehörte) gewinnt seine Stilkunst
ihre Lebendigkeit. Man kann das Buch auch
als Wegweiser durch das Schatzhaus der
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Film-Konzepte
Herausgegeben von Michaela Krützen,
Fabienne Liptay und Johannes Wende
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auch als
eBook
Johannes Wende (Hg.)
Heft 43
François Ozon
etwa 100 Seiten, zahlreiche farbige
und s/w-Abbildungen
ca. €€ 20,– (D)
ISBN 978-3-86916-511-0
François Ozon (*1967) steht in der Tradition des französischen
Autorenfilms, wobei er im zeitgenössischen Kino einer der wenigen ist,
deren Namen auch hierzulande einem größeren Kinopublikum bekannt
sind. 6HLQ bisheriges Werk LVWäußerst vielfältig und reicht von
aufsehenerregenden Kurzfilmen über bunte Publikumserfolge wie
»8 Frauen« bis hin zu psychologischen Dramen wie »Jung und Schön«.
deutschen Literatur seit Luther lesen. Engel
war ein Meister des Zitierens, wie es – Jean
Paul ausgenommen – sonst keinen in unserer Literatur gibt. Er leitet jedes Kapitel
mit einem Zitat ein, bringt es als Beleg oder
Glanzlicht, als ironischen Kommentar oder
abschreckendes Beispiel. Niemals aufgesetzt, niemals, um mit Namen und Belesenheit zu prunken.
„An einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“, lässt er Nietzsche uns vorsprechen und folgt ihm überhaupt im Lobpreis des Hörens als Bedingung des guten
Schreibens. Das sei bei uns so selten, weil
der Deutsche sein inneres Ohr in der
Nachttischschublade verschlossen habe.
Dieser Akzent ist für den heutigen Leser
die erste große Überraschung. Engel geht
es um nichts Geringeres als „das Überwinden des Buches“; für die „gute Schreibe“
kennt er „keinen bessern Rat als den des
möglichsten Annäherns an die gute Rede“.
Ja, dass die Deutschen trotz ihrer unvergleichlich entwickelten Sprache so schlecht
schrieben, liege daran, dass sie das Schreiben vor dem Reden lernten; schon Leibniz
hatte diese Überzeugung vertreten. Und
wirklich: Engels Stilkunst ist eigentlich eine
Was den Leser
überrascht:
Letztlich geht
es um die
„Überwindung
des Buches“
Redekunst, und wenn er zum Beistand
fremde Autoritäten braucht, lässt er nicht
etwa eine der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Stillehren zu Wort kommen, sondern Aristoteles mit seiner Rhetorik, Cicero
mit seinem Buch Über den Redner oder
Quintilian mit seiner Institutio oratoria.
„Man schreibt nicht für sich, sondern für
einen anderen“, lautet Engels wichtigste
Maxime, die Wirkungsabsicht darf man
nicht aus dem Auge verlieren, und sie erfüllt sich nicht in einer stummen, sondern
in einer beredten Sprache. Daher muss
man einen Satz hören, also laut sprechen,
wenn man seine Schönheit spüren will.
Wer „auf die Tonwirkung des Geschriebenen verzichtet, beraubt sich eines der
stärksten Eindrucksmittel“.
Verluderung
Wie ein Bildnis Caravaggios gewinnt Engels Sprachporträt Tiefe und Körperlichkeit auch durch dunkle Kontraste. Durch
diesen Widerspruch kommt eine dramatische Note ins literarische Spiel. Denn nicht
bloß die „Schreibsamkeit“ der Deutschen
bedroht ihre Sprache, sondern auch die so
sprachverlassenen Wissenschaften und die
kaum noch zu bändigende „Fremdwörterei“. Beide Gesichtspunkte spielen in der
heutigen Sprachdiskussion eine wichtige
Rolle; Engel hat Bedenkenswertes dazu
beizutragen.
Wie verräterisch wirkt im Lichte seines
Buches doch ein Appell deutscher Wissenschaftler, auf Tagungen im eigenen Lande
„neben Englisch immer auch (!) Deutsch“
vorzusehen, oder die Aufforderung an
deutsche Wissenschaftler vor einer germanistischen Tagung in New York, „ihre Vor-
kungsabsicht ist auch in diesem Punkt wieder sein wichtigstes Kriterium, bestehe sie
nun in formelhafter „Scheinklarheit“, im
bewusst gebrauchten „Nebelwesen des
Fremdworts“, in „Wissensprotzerei“, gezielter Unverständlichkeit oder der Sprachilloyalität der deutschen Sprecher. In diesen
Kapiteln verwandelt sich der Sprachliebhaber in den beißenden Polemiker. Besonders
lustvoll nimmt er sich der Germanisten an,
die deshalb so heißen, weil sie nichts von
der deutschen Sprache verstehen: Wenige
von ihnen sind in der Lage, „zwei Sätze hintereinander nur in deutscher Sprache zu
schreiben“ oder selbst „um ihr Leben zu
retten die Hauptbegriffe eines längeren
deutschen Satzes deutsch auszudrücken“.
Kurz: „Vielen Germanisten versagt das
Deutsche bis zum Lallen.“
Was würde ihm angesichts heutiger
Schöpfungen aus geisteswissenschaftlicher
Werkstatt wohl einfallen? Er hätte jedenfalls
noch sehr viel mehr Grund als zu seiner
Zeit zu fragen: Welches Recht haben eigentlich die Deutschen, „die Sprache anderer
Völker zu bestehlen und die gestohlenen
Wörter pöbelhaft verunstaltet in die eigene
Sprache einzuflicken“? Und: „Mit welchem
Recht untersteht sich ein Deutscher, Wörter
der ihm anvertrauten Sprache zu verdrängen, zu unterdrücken, auszurotten, um an
ihre Stelle die verpöbelten, gestohlenen
Wörter fremder Sprache zu setzen?“
Eine Ausrichtung seines Themas hat Engel trotz der Zeitgenossenschaft zur „Lingua Tertii Imperii“, zur Sprache des „Dritten
Reiches“, nicht gesehen, die für uns heute
eine so wichtige Rolle spielt: die bewusste
Sprachpolitik zur Durchsetzung politischer
Ansprüche. „Die Globalisierung läuft nach
dem Vorbild der USA ab“, stellte schon vor
Jahren der Leiter der Pariser Zweigstelle
von McKinsey befriedigt fest – nicht unbeteiligt an diesem Erfolg sei die Dominanz
des Englischen.
Wer durch unsere Fußgängerzonen wandert, mit dem Computer arbeitet oder die
Populärkultur nutzt, bekommt einen Eindruck von der wirklichen Dimension der
Verluderung der deutschen Sprache und
ihrer Auslieferung an ein Pidgin-Englisch,
das noch dazu zur „Unternehmenskultur“
hochgejubelt wird. Immer wieder aber berichten auch Beobachter, dass die Umstellung von nationalen Konzernsprachen aufs
Englische, ob bei Bertelsmann, Nissan oder
Aventis, vom „kulturbedingten Widerstand
unter den Beschäftigten“ behindert werde.
Engel hätte ihnen den deutschen Sprachpreis verliehen.
Deutsche Stilkunst Eduard Engel Die Andere
Bibliothek 2016, 976 S., 78 €
Literatur 17
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Wenn die Dinge
zornig werden
Erzählband Martin Lechner wirft einen Blick in die
grotesken, bedrohlichen Abgründe des Alltags
QAndreas Böhme
F O T O : E L M E R M A R T I N E Z /A F P/ G E T T Y I M A G E S
M
Das Krankenhaus in Nicaragua, wo die Romanheldin zuletzt im Einsatz war, verzichtet fortan lieber auf ihre Dienste
Zug um Zug
Roman Katja Lange-Müller steckt eine Ex-NGO-Mitarbeiterin in eine Erinnerungsschleuder
QJörg Magenau
V
ermutlich ist Asta keine Frau,
die sich hinsetzen würde, um
Nietzsche zu lesen. Das passt
nicht zu ihr. Und doch hat
Katja Lange-Müller ihrem Roman – und damit ihrer Romanfigur – ein
Zitat des Mitleid-Verächters und Nächstenliebe-Überwinders Nietzsche als Motto
mitgegeben: dass der allerbeste Wille
nichts nützt, wenn er „unbescheiden genug
ist, denen nützen zu wollen, deren Geist
und Wille ihm verborgen ist“.
Ums Helfen in all seiner Vergeblichkeit
und die oft kontraproduktiven Folgen geht
es in diesem Buch. Nach 22 Jahren
Auslandseinsatz in diversen Hilfsdiensten
und Krankenhäusern ist Asta wieder in
Deutschland gelandet. Sie steht einigermaßen derangiert am Münchner Flughafen in
einer Drehtür, zwischen drinnen und draußen, aber doch eher draußen, weil sie unbedingt rauchen muss, und zwar nicht nur
eine, sondern ganz viele Zigaretten.
Schließlich hat sie eine ganze Stange aus
dem Duty-free-Shop in ihrer Plastiktüte.
Mit dem Rauchen kommen die Erinnerungen, ausgelöst durch Passanten, die dieser
oder jener Figur aus ihrem Leben ähneln.
Mit jedem Zug steigert sich ein anfangs
noch diffuses Unwohlsein. Dass Rauchen
tödlich ist, steht ja auf jeder Zigarettenpackung; die Geschichten aber, die sich einstellen, die sind pures Leben. Erzählen ist
nicht bloß in Tausendundeiner Nacht ein
Überlebensmittel.
Die Versuchung ist groß
Asta ist da, und sie ist nicht da. Sie ist angekommen, aber ohne Ziel. Mit den deutschen Worten tut sie sich schwer, die sogenannte Muttersprache ist ihr fremd geworden. Hauptwort? Aufhören? Aufhorchen?
Kettenglied? Donnergrollen? Was haben
die Worte und die Dinge, die sie bezeichnen, miteinander zu tun? Also beschließt
sie, erst einmal nichts zu sagen, in ihren
Gedanken zu verschwinden. Asta ist 65 Jahre alt, Zeit für Rente und Ruhestand, und da
steht sie nun, eher unruhig, weil die titelgebende Drehtür nun mal kein Platz ist, an
dem man zur Ruhe kommen könnte.
Asta ist altersmäßig, nikotintechnisch,
DDR-geschichtsbezüglich, mit einem UlanBator-Aufenthalt und sicherlich auch manchen anderen Erlebnissen ein Alter Ego der
Autorin. Die Versuchung, Bücher von Katja
Lange-Müller als autobiografische Auskünfte zu lesen, ist immer groß, weil sie darin
so deutlich enthalten ist. Sie selbst bezeichnete ihr Schreiben einmal als „Konglomerat aus Erlebtem, Gehörtem und Erdachtem“ – was auch sonst? Das macht zwar in
der Summe ein Leben aus, hat aber nichts
mit biografischer Linientreue zu tun. Umso
mehr aber mit einer Gefühls- und Wahrnehmungsauthentizität, die ihrer Prosa
stets eine besondere, menschenfreundliche Wärme gibt. Weil das so ist, lässt Katja
Lange-Müller ihre Asta dann auch beiläufig
über dieses Problem nachdenken, so als ob
ihre Figur schon selbst nicht mehr wüsste,
was sie sich ausgedacht und was sie tatsächlich gehört oder erlebt hat. Bei einer
guten Geschichte ist das ja sowieso vollkommen egal.
Tatsächlich ist Drehtür eher eine Geschichtensammlung als ein Roman. Die
Tür funktioniert wie eine Art Propeller, der
Erinnerungen aufwirbelt, manchmal ist
Asta auch bloß die Referentin, die andere
Stimmen zum Sprechen bringt. So in der
eindrucksvollsten Geschichte, die durch
den Anblick einer Flughafen-SupermarktKassiererin ausgelöst wird, die an die einstige Kollegin Tamara Schröder erinnert,
Tamara, wie Tamara Bunke, als Folge der
Kuba-Revolutionsbegeisterung des Vaters.
Etwas umständlich referiert Tamara deshalb zuerst die traurige Geschichte von Tamara Bunke und Che Guevara, bevor sie auf
ihre eigene kommt: dass sie einmal geschrieben habe, eine Erzählung, in der eine
Singer-Nähmaschine eine Rolle spielte, was
ihr auf dem Umweg über die Frankfurter
Buchmesse eine Indienreise einbrachte.
Dort geriet sie in eine finstere Baracke, in
der Hunderte entstellter Frauen an Nähmaschinen saßen. Vor denen sollte sie lesen,
konnte aber nur weinen über ihre eigene
Hilflosigkeit und tat ihnen mit dieser als
Mitleid aufgefassten Geste den größeren
Gefallen. Diese vernarbten, verkrüppelten
Ein Koch aus
Nordkorea hat
Zahnweh, und
der Geliebte
taugt nichts
Frauen waren, so stellte sich heraus, von
ihren Schwiegermüttern angezündet worden, weil sie zu wenig Mitgift eingebracht
oder eine Tochter geboren hatten. Helfen
hieß nun, mindestens 150 Nähmaschinen
zu organisieren und nach Indien zu schicken, ein Auftrag, den Tamara erfolgreich
absolvierte und der sie zugleich dem
Schreiben nachhaltig entfremdete. Helfen
und Schreiben – das scheint auch eine Botschaft zu sein – passen nicht zusammen.
Man muss sich für eines davon entscheiden. Schreiben setzt Distanz und vielleicht
auch Mitleidlosigkeit voraus.
Die anderen Geschichten sind weniger
sozialkritisch eingefärbt. Es gibt eine Begegnung mit einem nordkoreanischen
Koch, der unter Zahnschmerzen leidet, einen immer schriller missratenden Aufenthalt in einer tunesischen Ferienkolonie mit
einem Freund, der zum Geliebten nicht
taugt. Auch das ist ein wiederkehrendes
Motiv: Mit der Liebe klappt es bei Asta
nicht. Freundschaft ist ihr sowieso wichtiger, sagt sie einmal, was vermutlich gelogen ist. Vielleicht ist es mit der Liebe wie
mit dem Erzählen, wenn Asta feststellt,
dass es „Geschichten gebe, die offen bleiben würden, deren Fortgang und Ende ich
mir, falls ich das nicht ertragen könnte,
schon selbst zusammenreimen müsste“.
it Kleine Kassa legte Martin
Lechner 2014 einen virtuosen
Debütroman vor. Er schickte einen modernen Simplicissimus auf einen
Hindernisparcours durch seine Heimatstadt Lüneburg, wobei die hyperbolische
Sprache in dem naiv-klugen Protagonisten
stets ein Zentrum hatte, alle narrativen Fäden liefen dort zusammen. Auf einen solchen identifikatorischen Anhalt muss der
Leser in seinem neuen Erzählungsband
Nach fünfhundertzwanzig Weltmeertagen
verzichten. Trägt und bewegt Lechners
rhythmische Sprache, die gleichermaßen
von Verdichtung wie von arabesker Verzweigung lebt, auch kurze Texte?
Der Autor entwirft Experimentier-Anordnungen, Un-Fälle zwischen Menschen,
zwischen Menschen und Dingen. Der Leser steht vor einer Absperrung. Er weiß:
Dies ist ein Tatort. Oder eine Parade von
Freaks. Es treten auf: ein lebensmüder
See, der sich durch den Fund eines abgetrennten Kopfs in einem Koffer nun wieder etwas animiert fühlt, ein Duschvorhang, der um aktive Sterbehilfe bittet,
bevor ihn der Schimmel überzieht, eine
Socke, ein Ohr, ein abgetrennter Finger,
ein Knie, ein Fuchs, eine Schraube, verschiedenste Städte, diese und jene Menschen auch. Es ist sicher keine Etikettierung, wenn man diese Erzählungen im
Genre der Groteske verordnet.
Tatsächlich zieht sich das Thema der
Höhlen-, Grotten- und Abgrundgeschichten durch den ganzen Band. In der ersten
Erzählung Mainz bemerkt ein Hotelbesucher „eine leichte Kuhle in der Mitte des
Empfangsteppichs“, die ein „menschengroßes Loch anzudeuten“ schien. In Der
Schacht erweitert sich die „Kuhle“ zu einem Abgrund, einem Krater gleich hinter
der Hausschwelle, der das Haus unbewohnbar macht und den Eigentümer zu
der Frage verleitet, „ob er sich nicht kopfüber in die Schwärze stürzen“ sollte. In
Feierabend findet ein Pendler in der Zugtoilette einen Zugang zu einem Keller, der
aus wildem, offenem Fleisch besteht, das
ihn zu verschlingen droht.
Immer wenn Menschen sich fallen oder
gehen lassen, wenn sie sich erlauben,
nicht zu funktionieren, tut sich ihnen
eine groteske, bedrohliche Abgründigkeit
auf. Grotesken haben vordergründig einen hohen Unterhaltungswert. Lechner
aber stärkt das analytische Moment. Und
zwar im wörtlichen Sinn: Er zergliedert,
zerlegt. Der Blick schärft sich für das, was
sich im Alltäglichen verrenkt, entfremdet,
deformiert. Wenn die isolierten Dinge zu
sprechen beginnen, erzählen die Geschichten zweierlei. Zum einen, wie müde,
verzweifelt und zornig die Dinge in der
Menschenwelt geworden sind. Zum anderen spiegeln sie unser Selbstverhältnis.
Ästhetik des Trickfilms
Lechner erzählt Missbrauchsgeschichten.
Das Abgründige baut keinen Sinn für Erhabenes auf, das Hässliche provoziert
nicht. Der Untergang taugt nicht, um
Furcht und Schrecken zu erregen, die Katharsis ist perdu. Es geht einfach weiter:
Ein Selbstmord in Schulzeit: „Ach nein,
die Kugel jagte ihm bloß durch die Frisur,
und er lebte noch Jahrzehnte dumm dahin.“ Was den ganzen Kuddelmuddel zusammenhält, ist Lechners Sprache. Sie
bindet, was sie selbst trennt. Das analytische wird durch das stilistische Moment
aufgefangen. Die Genauigkeit, die sich in
der Sparsamkeit zeigt, qualifiziert auch
die übermütigen Texte. Zuweilen aber
verliert sie sich, kippt das Virtuose ins
Verspielte.
Das erinnert dann an die Ästhetik eines
Trickfilms. Da liegt der dicke Mann plattgewalzt auf der Straße, springt im nächsten Augenblick wieder auf, und weiter
geht’s: Keiner lernt etwas, die Eskapaden
bleiben folgenlos. Aber vielleicht ist auch
dies der Spiegel des Zeitgeists. Man denke
etwa an die Börsenberichterstattung nach
den Attentaten in Paris. Dort hieß es: „Wir
lassen uns nicht beirren, wir machen weiter!“ Wie soll man da nicht ins Fach der
Groteske greifen?
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E I N
F I L M
V O N
N A H U E L
L O P E Z
im
KINO
Asta bräuchte Hilfe
Dass Helfen womöglich nur ein Reflex ist,
immer auch dem Helfer hilft, dass er Macht
ausübt über den Hilfsbedürftigen, dass
Mitleid tatsächlich eine zutiefst fragwürdige Empfindung ist – all diese Reflexionen
sind weder neu noch originell. Sie dienen
eben dazu, die disparaten Geschichten zusammenzuhalten.
Asta steht am Ende des Buchs immer
noch an der Drehtür, kämpft nun aber mit
Schwindel und Übelkeit. Die Erinnerungsschleuder tut ihr offensichtlich nicht gut.
Denn all die Geschichten führen nirgendwohin. Sie hat zwar noch eine Wohnung in
Leipzig, aber was soll sie da? Eine Entwicklung findet nicht statt – wie auch, wenn die
Drehtür die Bewegungsrichtung vorgibt?
Asta bräuchte Hilfe. Sie begreift nichts, sie
erzählt bloß. Das ist ihr Problem. Das ist
am Ende aber auch das Problem dieses auf
der Stelle tretenden Romans.
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18 Film
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
„Wie sollte ein
neues Kino
aussehen ohne
eine gehörige
Zahl an Filmen
von Frauen?“
FOTOS: BRITISH FILM INSITUTE, LONDON, WIKIMEDIA CC (OBEN)
Laura Mulvey hat ihre avantgardistischen
Positionen auch in eigenen Arbeiten wie
„Riddles of the Sphinx“ (1977) ausgeführt
Wiederholt
abspielen
Aktualisierung Laura Mulvey ist feministische
Filmtheoretikerin der ersten Stunde. Ein Dialog
über Gestern und Heute zu ihrem 75. Geburtstag
QIsabella Reicher
E
ngland im Sommer nach dem
Brexit-Votum. „Ein Albtraum“,
sagt Laura Mulvey, nicht nur weil
die tief greifenden Folgen für den
Bildungsbereich, für internationale Kollaborationen, Forschungsgelder
oder Austauschprogramme für Studierende noch gar nicht abzuschätzen seien. Mulvey, die dieser Tage ihren 75. Geburtstag
feiert, ist Professorin für Film- und Medienwissenschaft am Birkbeck College der
University of London. Außerdem ist sie
wahrscheinlich die einzige feministische
Filmtheoretikerin, deren Name in einem
Songtext auftaucht (in Still England von
Viv Albertine, die nach dem Ende ihrer
Band The Slits selbst bei Mulvey studierte).
Vor allem hat Laura Mulvey mit Visual Pleasure and Narrative Cinema (Visuelle Lust
und narratives Kino) vor 41 Jahren einen
kurzen Essay verfasst, der lange Wirkung
entfaltete und heute als ein Schlüsseltext
gilt. Gerade ist er im Gender & Medien-Reader von Kathrin Peters und Andrea Seier in
neuer deutscher Übersetzung wiederveröffentlicht worden.
Im Zuge der Frauenbewegung hatte sich
Mulvey in den frühen 70er Jahren einem
Lesekreis angeschlossen, der sich Werke
von Friedrich Engels, Claude Lévi-Strauss
oder Sigmund Freud vornahm. Als Ergebnis dieser Lektüren unterzog sie ihr „geliebtes Hollywoodkino“ einer kritischen Betrachtung. 1975 veröffentlichte das renommierte britische Magazin Screen das
Resultat dieser Auseinandersetzung, den
besagten Artikel. Die Autorin argumentierte darin unter Bezugnahme auf die
Freud’sche Psychoanalyse, dass Frauen im
klassischen Erzählkino auf der Leinwand in
ein männlich formatiertes Blickregime eingespannt werden („die Frau als Bild, der
Mann als Träger des Blicks“). Eine eigenständige Zuschauerinnenposition und visual pleasure, visuelle Lust, blieben ihnen
auch vor der Leinwand verwehrt. Nur in
Avantgardepraktiken würden sich Möglichkeiten eröffnen, dieses Verhältnis auszuhebeln. (Mulvey und ihr Partner Peter Wollen
führten dies wenig später mit eigenen Essayfilmen wie Riddles of the Sphinx aus.)
Diese These ging mitten in den Kern des
Kinos. Die sich daraus ergebenden Fragestellungen (und produktiven Einwände)
prägten die sich etablierende Filmwissenschaft und die feministische Filmtheorie
als eine ihrer zentralen Positionen.
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Mulveys Forschungsinteresse, das immer
wieder um den (symbolischen) Besitz des
Bildes, um Fetischisierung und die Lust daran kreist, hat sich seither auch in Bezug auf
den technologischen Wandel des Mediums
entwickelt: In Death 24x a Second etwa fand
sie 2006 in digitalen Möglichkeiten des Zugriffs auf Filme das Versprechen einer „neuen Cinephilie“, eines „nachdenklichen Zuschauers“, der Bilder anhalten, wiederholt
abspielen, besitzen, aber eben auch analytisch durchdringen kann. Wie sieht sie diese
Einschätzung heute? „Jemand von meiner
Generation kann sich leicht intellektuell
verunsichert und persönlich entfremdet
fühlen angesichts der Explosion von Kommunikationskanälen im Netz oder der An+4%*'4 sammlung von Screens und Plattformen.
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Aber es sind Dinge entstanden, die meine
Idee einer neuen Cinephilie weiter beflügeln. Ich denke an die videographic essays:
Leute, die Filme lieben oder ein wissen
schaftliches Interesse haben, machen Analysen, indem sie diese Werke zitieren, Bilder
und Sequenzen neu ordnen, wiederholen,
Audio- oder Textkommentare hinzufügen
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„Es ist traurig,
aber nach wie
vor scheint
die Quote das
sicherste
Mittel zu sein“
können. Es ist sehr faszinierend, was da
etwa bei (in)Transition. Journal of Videographic Film and Moving Image Studies erscheint. Mit der Etablierung der Filmwissenschaft ist ja auch eine gewisse Trennung
vom ,Machen‘ einhergegangen, die wird
nun wieder etwas zurückgenommen.“
Mulvey ist nicht nur in dieser Hinsicht
eine neugierige Denkerin geblieben, sie
mag auch in die Klage übers Ende des (analogen) Kinos nicht einstimmen: „Zelluloid
überlebt ja, aber eben in sehr spezifischen
Zusammenhängen. Es ist kein Massenmedium mehr. Ich begrüße in jedem Fall, wie
die digitale Technik – noch viel grundlegender als einst 16 Millimeter – den Zugang
zum Filmemachen demokratisiert hat. Gerade Frauen können heute viel spontaner
und billiger ihre eigenen Filme machen als
je zuvor – und das machen sie auch!“
Schon 1972 war sie an der Erstellung einer Frauenfilmreihe fürs Filmfestival Edinburgh beteiligt. Damals hätten sie und ihre
Mitstreiterinnen einfach eine Woche Programm gefüllt mit allen Filmen von Regisseurinnen, die ihnen bekannt und die erhältlich waren. Und sie seien, erzählt Mulvey heute gern, selbstverständlich davon
ausgegangen, dass bis zur Jahrtausendwende die Hälfte der Filme von Frauen gemacht würden.
Weil das bekanntermaßen nicht eingetreten ist, gibt es immer noch genug zu
tun. Am Birkbeck College, Mulveys langjähriger Wirkungsstätte, ist derzeit ein
breit angelegtes Forschungsprojekt zum
weiblichen Filmschaffen im Gange. Es soll
nicht nur die entsprechende Produktion,
sondern auch Verleih, kritische Rezeption,
Einspielergebnisse oder Publikumsresonanz berücksichtigen. Den Anstoß dazu
gab die im Vorjahr am Londoner Institute
of Contemporary Arts (ICA) gestartete Retrospektive Onwards and Outwards. Diese
versammelte Arbeiten von Andrea Arnold,
Sally Potter, Lynne Ramsay, Joanna Hogg
und anderen britischen Regisseurinnen
aus den letzten 50 Jahren, das begleitende
Symposion hat Laura Mulvey mitkonzipiert: „Wie man bei der Schau sehr gut sehen konnte, gibt es in Großbritannien eine
kleine Gruppe Regisseurinnen, die in den
vergangenen Jahrzehnten hochinteressante Arbeiten gemacht haben. Viele sind mit
Fördergeldern entstanden, denn Frauen
haben eindeutig bessere Chancen, Filme
zu machen, wenn sie sich um staatliche
Förderungen bewerben können. Im Umkehrschluss sagt das auch etwas über die
Diskriminierung von Frauen in der Filmindustrie aus. Das ist ein weiterhin anhaltender Kampf. In Schweden gibt es im Fördersystem inzwischen eine Quote, die auf 50
Prozent Frauenanteil abzielt – es ist traurig, aber das scheint nach wie vor die verlässlichste Antidiskriminierungsmaßnahme zu sein. Es gibt jetzt Druck aufs British
Film Institute, die britische Förderinstitution, sich in diese Richtung zu bewegen.“
Konstruktiv, alternativ
Das scheint darauf hinzudeuten, dass es im
Moment wieder mehr um aktivistische
und empirische Zugänge zum Filmschaffen
von Frauen geht und weniger um die Frage
nach der Darstellung von Frauen in den Filmen von Männern. „Sie könnten recht haben, schließlich ist auch die Frage: Wie lange will man weiter Kritik üben – oder will
man stattdessen nicht lieber an konstruktiven Alternativen arbeiten? Ich weiß jedenfalls nicht, wie wir uns ein neues Kino vorstellen sollten ohne eine ausreichend große Zahl an Filmen von Frauen.“
Gender & Medien-Reader Kathrin Peters, Andrea
Seier (Hg.) Diaphanes 2016, 600 S., 29,95 €
Film 19
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Vor dem Punkrock
Dokumentation Rodrigo
González, der Bassist der
Band Die Ärzte, reist nach
Chile und sucht Spuren
der Musik seiner Kindheit
schen Zwischentöne nahezu völlig ausklammert. Was gezeigt wird, ist hingegen
ein beeindruckend breites, anarchisch-rebellisches, offenes, surreal anmutendes experimentelles Musikspektrum, das aber
mit Agitprop nichts zu tun hat. Unklar
bleibt auch, was und wie Rodrigo González
dieses musikalische Spektrum in Einklang
mit seinem eigenen Repertoire in Deutschland bringt. Man kann gespannt sein.
QHugo Velarde
M
anchmal sind Zwischenwelten eine glückliche
Folge des Exils. Für den
deutsch-chilenischen
Musiker Rodrigo González trifft das genau zu. Davon zeugt der Dokumentarfilm El Viaje – González’ Reise
nach Chile, auf den Spuren der Musik seiner Kindheit.
Doch oft bleiben auch in der Folge des
Exils nur geschiedene, einsame, entzweite,
in sich unvermittelte Gegenwelten, die ihm
einen traurigen Stempel aufdrücken: „Du
hast alles vereinnahmt / und lässt mich
nackt durch die Welt irren … / Ich jedoch
hinterlasse dich … stumm! … / Und wie willst
du das Korn einbringen / und das Feuer nähren, / wenn ich den Gesang mitgenommen?“
So stirbt 1968 einsam und gebrochen der
spanische Dichter León Felipe in Mexiko.
FOTO: MI NDJAZZ PICTU RES
Was bleibt als
Erbe jener
Folk-Gruppen
aus den
70er Jahren?
Hamburger Jungs
Immer wieder das Exil, ein tödlich paralysierendes Unglück oder ein befreiend
fruchtbares Unterfangen – eingebettet in
doppelte Perspektiven. Gegen- und Zwischenwelten. Doppelte Bindungen als Daseinsformen des Exils – quer zwischen sich
zuweilen umkehrenden eigenen und fremden Bezugspunkten. Müssen sie unbedingt
in einem Entweder-oder verharren? Oder
gelingt es, sie durch einen gegenseitigen
Wechsel bedingbar zu machen, sie damit
vermittelt zu einer Balance zusammenzufügen, die die scheinbar unentrinnbaren
Lebens- und Erlebenspolaritäten überwindet? Kann sich also die Not des Exils zu einer dialektischen Tugend wandeln?
Am Anfang hatte sich der Himmel grau
gefärbt. Keiner aus der Familie González
hatte es sich so vorgestellt – den Weg von
Valparaíso, der pittoresken Hafenstadt im
Süden Chiles, ins Hamburger Exil, eingeleitet durch Pinochets faschistischen Putsch
vom 11. September 1973. So entflieht 1974 der
sechsjährige Rodrigo – heute der bekannte
Rodrigo González und Nueva-Canción-Legende Eduardo Yáñez in der Gedenkstätte für die Opfer der chilenischen Diktatur
Bassist und Sänger der deutschen PunkrockBand Die Ärzte – mit seiner Familie der mörderischen Maschinerie der Militärdiktatur.
Aus dem chilenischen Kind wird bald auch
ein deutsches. Doppelt gebunden, wird es
erwachsen. Chile bleibt dennoch im Herzen.
Pablo Neruda oder Violeta Parra sind beredt
genug, selbst in der Fremde identitätsstiftend nachzuwirken. Die alte Sprache ist tägliches Brot, die Witze kommen von chilenischer Zunge. So tritt die Familie der drohenden Entwurzelung energisch entgegen.
Rodrigos Vater gehörte zur Protestmusikbewegung der Nueva Canción Chilena,
salopp gesagt, einer Art Politpop, die einst
weltweit großes Aufsehen erregte: Victor
Jara oder die Gruppen Quilapayún und IntiIllimani – die ganze Welt hörte ihre Lieder.
Kein Wunder, dass Rodrigo Musiker wird.
Sein bester Freund, der etwa gleichaltrige
Nahuel Lopez (der Regisseur dieses Films),
teilt mit ihm die Erinnerung an Chile und
das neue Leben in Hamburg. Zwei Welten.
Hamburger Jungs mit dem Antlitz des chilenischen Exils.
Lenin scheint passé zu sein
Aber nicht nur Chile bleibt im Herzen, sondern auch die musikalische Synthese, die
Chile aus ganz Lateinamerika erzeugt
habe: aus Argentinien, Bolivien, Brasilien,
Kolumbien oder Kuba. Camila Moreno,
eine der bekanntesten Musikerinnen der
neuen Generation, ist kategorisch: „Wir
müssen das antinationalistische Punkgefühl von Violeta Parra zurückholen.“ Auch
„Chinoy“, der Komponist Mauricio Castillo
Moya, fühlt sich diesem Kosmopolitismus
verpflichtet. Politischer wird es mit Alonso
Núñez. Der Musiker und vielfach ausgezeichnete Menschenrechtler teilt sich derweil die Bühne mit Quilapayún.
Politpop und Punkrock – reine Kontinuität? Oder hatte die Musik mit der Zeit nicht
ihre Ausstrahlung verloren? Was bleibt als
Erbe jener Folk-Gruppen aus den 60er und
70er Jahren, die zu Agitprop-Zwecken instrumentalisiert wurden? Und was ist mit
dem Entweder-oder einer an Carl Schmitt
erinnernden politischen Romantik geworden, die einst, als besonders „radikal-chic“
sinnhaft, eine übergenerationelle Brücke
zu sein versprach?
Leider erfährt man in El Viaje so gut wie
nichts über diese zwingenden Fragen. Die
große Schwäche des Films ist seine narrative Linearität, die bei der Kontinuität und
Diskontinuität der „rebellischen“ Generationenfolge die musikalischen und politi-
Ein ebenso schönes wie pikantes Fazit
bleibt, dass gegenüber der einstigen Tragik
des Exils, nur entzweit oder im unentrinnbaren, auch politisch bestimmten Entweder-oder leben zu müssen (was übrigens
der Logik des Kalten Kriegs entsprach), das
kosmopolitische Leben als Sinnbild einer
neuen Ethik angepriesen wird. Eduardo
Carrasco, schon seit langem mit Frankreich
eng verbunden, der Kopf von Quilapayún,
bezeichnet sich nämlich als „Bürger mehrerer Länder“. Aber: „Es war sehr hart, nach
Chile zurückzukommen!“ Dort liest er leidenschaftlich Nietzsche oder Heidegger.
Lenin scheint passé zu sein. Wie hatten damals seine politischen Mitstreiter – und
wahrscheinlich er selbst – diese bourgeoise
Luxusleichtigkeit bekämpft!
Dennoch: Die Produktion von Schönheit
war und ist weiterhin Eduardo Carrascos
Metier. Dem großen Musiker sei Dank.
Rodrigo „Rod“ González steht ihm in
nichts nach; er ist nun Protagonist eines
schönen Films geworden.
El Viaje – ein Musikfilm mit Rodrigo González
Nahuel Lopez Deutschland 2016, 92 Minuten
Hugo Velarde ist Autor, Musiker, Übersetzer
und Verleger (BasisDruck Verlag) in
Berlin. Er wurde in La Paz, Bolivien, geboren
und kam 1977 nach Ostberlin
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Chor der Chinesinnen
30.6. – 28.8. Dresden
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Trilogie Der zweite Teil von Miguel Gomes’ Erzählprojekt im krisenhaften Portugal
QStefanie Diekmann
D
er zweite Teil ist im Allgemeinen
der, in dem eine Erzählung fortgesetzt wird. In Der Verzweifelte, Teil 2
des Projekts 1001 Nacht von Miguel Gomes
(Teil 1: Freitag 30/2016), ist das etwas anders. Aber das liegt nur daran, dass die Geschichten, die zu erzählen wären, alle schon
bereitliegen. Verknüpft, wie in der Episode
über „Die Tränen der Richterin“, oder nebeneinandergelagert, wie in der Episode,
die sich um „Die Besitzer von Dixie“ und
ihre Nachbarn dreht. Fortsetzung ist unter
dergleichen Bedingungen kein Thema
mehr, viel weniger noch ein Problem. Eher
geht es darum, wie das Erzählen denn begrenzt oder zu Ende geführt werden könnte, wenn die Welt voller Geschichten ist
und jede einzelne von ihnen so unweigerlich zu einer anderen führt, dass man darüber in Verzweiflung geraten muss wie die
Richterin, die irgendwann den Kopf auf den
Tisch legt und zu heulen beginnt.
„Der Fall ist einfach“, hat sie zuvor noch
gesagt. Aber das ist der Fall eben nicht,
ebenso wenig wie das dazugehörige Urteil,
das nicht gesprochen werden kann, solange
noch jemand das Wort ergreift, sich erklärt
oder verteidigt, eine Anekdote beiträgt oder
eine Information, die wieder die Form einer Anekdote annimmt, auf die dann eine
weitere folgt – bis nicht mehr zu übersehen
ist, dass in dieser Verhandlung wirklich alles mit allem zu tun hat. Wie im ersten Teil,
Der Ruhelose, ist die Wucherung der Erzäh-
lung und der Erzählinstanzen dadurch
markiert, dass schlichtweg nichts existiert,
was nicht die Stimme erheben könnte. Es
sprechen: die Angeklagten und die Kläger,
eine Kuh und ein Olivenbaum, ein Geist,
der böse sein könnte, vielleicht aber auch
gut, eine Taubstumme, ein Chor von Chinesinnen, vier Einbrecher mit geschnitzten
Masken, ein Anwalt, ein Schuldiger, der Vater des Schuldigen und viele mehr.
Die Einblendungen, die zu Beginn davon
in Kenntnis setzen, dass das Erzählte nicht
nach dem Inhalt der arabischen Märchen,
sondern nach „Ereignissen in Portugal vom
August 2013 bis zum Juli 2014“ gestaltet sei,
werden später darüber informieren, dass
die Geschichten, die hier begonnen und
verzweigt werden, einer 470., einer 484.
und einer 497. Nacht zugehörig sind (aber
wessen Nacht, und in welcher Zeit?). Sie siedeln damit zwischen dem, was bereits erzählt wurde, fast als hätte sich mehr als
genug Platz gefunden, um andere Stimmen, andere Orte in die Textur einzufügen,
oder als wäre der Raum der Erzählung, einmal eröffnet, groß genug, um unzählige
Die Episode um
Hund Dixie ist
wie eine Studie
über dauernde
Vereinzelungen
Geschichten aufzunehmen und wieder
freizusetzen. Wer dann heult, hätte besser
erst gar keine Fragen gestellt.
Wenn dabei die Episode der weinenden
Richterin als eine Studie in aufhörlicher
Verknüpfung und Verkettung erscheint, ist
die Episode um Dixie, den Hund, der von
einem Besitzer an den nächsten weitergegeben wird, eine Studie in Vereinzelungen,
in der jede Verbindung punktuell bleibt.
Die Erzählung von Simão wiederum, der
gleich zu Beginn des Films auf der Flucht
ist und den Mund vor allem aufmacht, um
zu essen oder zu fluchen, exerziert das Erzählen als Kunst, die darin besteht, zu berichten, ohne etwas zu verraten. Was zu
Simãos Flucht geführt hat, warum er ein
„Dreckskerl“ genannt, warum die Suche
nach ihm so ernst genommen wird und
was ihn dazu bewegen könnte, sich zu stellen, ist gegen Ende beinahe so unklar wie
am Anfang. Ein Mord, wenn es einer war,
erklärt nicht viel. Und warum er gemordet
hat, wird von niemandem verraten.
Scheherazade, in Der Ruhelose mit dem
Boot unterwegs, um an entlegenen Orten
Geschichten einzusammeln, wird in Der
Verzweifelte nur als Silhouette zu sehen
sein. Wieder in einem Boot, diesmal in umgekehrter Richtung und bei Einbruch der
Nacht, was wohl bedeutet, dass sie sich bereits auf dem Weg in den dritten Teil der
Trilogie befindet.
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20 Post
Eren Güvercin
Präsident auf Augenhöhe
Warum die Mehrheit der türkischen
Community in Deutschland zur
AKP-Regierung steht
der Freitag 30 vom 28. Juli 2016
Bei allem Verständnis für die Befindlichkeiten hier lebender
Deutsch-Türken können sie nicht
erwarten, dass aus Höflichkeit
ihnen gegenüber nicht auch scharf
kritisiert wird, dass sich Erdoğan
als Despot betätigt, der die türkische
Opposition ausschaltet, sich die
Justiz gefügig macht und wie ein
Berserker auf den Menschenrechten derjenigen herumtrampelt, die
nicht für ihn sind. Dafür kann es
hierzulande weder Sympathie noch
Verständnis geben. Dies zu akzeptieren, kann den Deutsch-Türken
nicht erspart werden.
Balsamico, Freitag-Community
Gefährliches Denken
Michael Girke
„Es sind unsere Kinder“
Vor dem Hintergrund der jüngsten
Anschläge analysiert die Philosophin
Bettina Stangneth die Abgründe
des Bösen
der Freitag 31 vom 4. August 2016
Eine kluge Frau, ein kluger Artikel.
Wen wundert da noch der Zustand
unserer Bildungssysteme? Denken
ist gefährlich, für wen? Charakter
und Klugheit hat nur jemand, der
Andersdenkende nicht verachtet,
sondern versucht zu verstehen
und diskutiert. Die Menschen werden seit 2000 Jahren in die Irre
geführt. Sie haben sich wohl dran
gewöhnt.
Rita, Freitag-Community
Mit zwei einfachen
Gesetzen
Florian Schmid
Keine große Zukunft mehr
Patrick Spät stellt die Mythen des
Kapitalismus bloß. Da ist er nicht der
Erste, selten aber kommt die Kritik
so unerbittlich und leichtfüßig zugleich
daher
der Freitag 30 vom 28. Juli 2016
Der Kapitalismus wird nicht scheitern, weil er keine Gesellschaftsordnung ist, sondern eine Organisationsform von Gier. In jedem
Handel gibt es einen, der eine Ware
für mehr Geld an den Kunden
bringen will, als die Ware wert ist.
Das ist der Beginn jeglicher von
der Warenwirtschaft abgekoppelter
Geldwirtschaft. Und solange Geld
Die besten Zitate aus den Kommentaren auf freitag.de/community
litischen Möglichkeiten, sowie einem
auf Vergünstigungen hoffenden
Wahlvolk nicht mal bis zur Vereidigung der neuen Regierung brauchen. Da ist mir eine (klein)bürgerliche Koalition lieber, wenn sie
beeinflusst werden kann, die wirklich
dringlichen Aufgaben anzugehen,
wie zum Beispiel die Vermeidung
einer kriegerischen Konfrontation
in Europa mit Russland. Dafür
müsste sich doch eine parteiübergreifende friedliebende und
stabile Mehrheit finden lassen.
G.A., Freitag-Community
„Gossip ist die neue
Analyse 2.0“
Karamasoff
„Trump beleidigt alles,
was nicht weiß, amerikanisch,
männlich und ungebildet ist“
Thomas Sauer
freitag.de/community
das Konvertierungsmittel bleibt,
wird es Kapitalismus geben, nur
seine Tarnungen werden sich ändern.
Wenn der Kapitalismus scheitert,
dann nur um den Preis der Selbstausrottung der Menschheit. Dabei
wäre es so einfach, man könnte ihn
mit zwei Gesetzen von weltweiter
Gültigkeit sofort und ein für alle
Mal erledigen: 1) Verbot von Geld
als Ware; 2) Verbot von Zins und
Zinseszins.
Lethe, Freitag-Community
Türkische Exklusivität
Lutz Herden
Jede Menge Maskeraden
EU und NATO tolerieren den autoritären
Kurs Tayyip Erdoğans. Sie wissen
um die geostrategische Exklusivität der
Türkei
der Freitag 30 vom 28. Juli 2016
Tigerstaat, sagte einst der BastaKanzler, sei die Türkei. Auch der in
Istanbul geborene Herr Zetsche
schließt sich dem an. Nun, Politik
und Wirtschaft sprechen aus
einem Munde, wie immer. Das ist
auch heute so unter Angela
Merkel. Doch das Wichtigste ist dabei die Rücksicht auf die US-Doktrin, auf den Lehrsatz von Brzeziński.
Geopolitisch denken, geostrategisch handeln, Weltmacht Nr. 1 sein
und bleiben. Alles (aus)nutzen,
was diesem alleinigen Ziel dient.
EU und NATO sind dabei nur
Mittel zum Zweck. Durch die
Flüchtlingskatastrophe wird nun
vieles neu durchdacht. Die Achse
des Bösen (Russland) erscheint am
paranoiden US-Horizont. Nie war
der Türke sich seiner Exklusivität
so bewusst wie heute.
Rioja, Freitag-Community
Erdoğan und Putin? Islam und die
russisch-orthodoxe Kirche? Nein,
das ist beim besten Willen beider
Staaten keine gute Idee. Das wäre
langfristig ein Machtverlust beider
Despoten, denn sie würden ihre
religiösen Stützen nach und nach
verlieren. Die EU sollte jetzt Position beziehen und der Türkei unmissverständlich klarmachen, dass
es unter den jetzigen Bedingungen
niemals zur Visa-Freiheit oder zu
einem EU-Beitritt kommen kann
und wird. Flüchtlingsdeal canceln,
jawohl.
Wenn Erdoğan sich entschließt,
das Schleppertum wieder aufleben
zu lassen, ist er schuld am Tod
etlicher Menschen. Flüchtlingsboote
werden von Frontex abgefangen
und umgehend zurück zur türkischen
Küste gebracht. Die EU-Außengrenzen gegenüber der Türkei zu
schützen, muss möglich gemacht
werden. Da darf Geld keinerlei Rolle
spielen. Erdoğan darf nicht das
Schicksal von Menschen als Druckmittel gegenüber der EU einsetzen
dürfen.
Roger11, Freitag-Community
Spöttische Inszenierung
Peter Rehberg
Macht und Weiblichkeit
Melania, Michelle, Hillary – in der Politik
müssen Frauen Mütter verkörpern
der Freitag 31 vom 4. August 2016
In der Politik wird alles und jede(r)
inszeniert, egal ob Mann oder
Frau. Die Inszenierungen sind unterschiedlich, aber authentische
Menschen wird man in den Medien
kaum finden. Ich bin mir nicht
mal sicher, ob es da Frauen wirklich
schwerer haben. Vielleicht reagiert
die feministisch angehauchte Öffentlichkeit auch nur empfindlicher,
wenn Frauen Zielscheibe abwer-
tender Zuschrei-bungen werden.
Was musste Helmut Kohl wegen
seiner unbeholfenen Ausdrucksweise und seiner Figur an Häme
über sich ergehen lassen! Auch
bei Gabriel wird regelmäßig seine
Körperfülle zum Anlass für spöttische Bemerkungen genommen. Es
ist auch fraglich, ob Männer und
Frauen tatsächlich noch die beiden
Gruppen sind, anhand derer sich
Unterschiede in den Machtoptionen
besonders häufig zeigen.
Unwissender, Freitag-Community
Armutstourismus im
Sonderangebot
Jo Griffin
Eine Favela ist kein Zoo
Die Bewohner des Viertels Babilônia
in Rio de Janeiro haben das Gefühl,
einen verdammt hohen Preis für das
Mega-Event Olympia zu zahlen
der Freitag 26 vom 30. Juni 2016
Die EU sollte
Position
beziehen und
der Türkei
klarmachen,
dass es unter
den jetzigen
Bedingungen
nicht zum
EU-Beitritt
kommen kann
Und nun gibt es auch noch den
gruselig-traurigen Armutstourismus als Special im Angebot
manch eines Reiseunternehmens
für die Abenteurer unter den
Reichen, die mal ihr Näschen für
ein Stündchen ins Elend stecken
wollen, um sich dann zu bekreuzigen,
wie gut sie es doch im Leben angetroffen haben. Abgesehen von
korrupten Politikern, illegalen
Deals, schießwütigen Banden und
unter Drogen stehenden Bevölkerungsschichten ist die „Besichtigung des Elends“ durch Touristen
die nächste Unmenschlichkeit, die
den Armen die Würde zu nehmen
droht … und dass sie dies nicht einmal selbst noch realisieren.
Nashira, Freitag-Community
Begrenzte Haltbarkeit
Ulrike Baureithel
Konzert der Koalitionsaussagen
Lieber ein breites linkes Bündnis oder
mit der Union zusammenarbeiten?
Die Spitzenpolitiker der Grünen sind
unterschiedlicher Meinung
der Freitag 30 vom 28. Juli 2016
Die Linke steht selbsterklärterweise in der öffentlichen Meinung
gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr. Sollte die Linke sich für
eine Koalition Rot-Rot-Grün entscheiden, wäre das ein Punkt,
den sie definitiv aufgeben müsste.
So dumm werden die Linken
nicht sein.
Heinz, Freitag-Community
K A R I K AT U R : K L A U S S T U T T M A N N F Ü R D E R F R E I TA G
Kein Verständnis
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Stellen wir uns mal vor, Rot-RotGrün hätte tatsächlich eine realistische Mehrheit und würde eine
Regierungskoalition bilden. Welche
gemeinsamen Ziele sollte diese
haben und wie lange würde diese
Verbindung halten?
Nur so lange, wie das Establishment braucht, um eine Alternative
möglich zu machen. Das würde
mit deren ökonomischer Macht ,
einer innigen Freundschaft
mit den USA mit ihren medienpo-
Erst mal auf Eis legen
Michael Krätke
Kreisen in der Warteschleife
TTIP und CETA könnten eigentlich zu
den Akten gelegt werden, solange die
Brexit-Konditionen nicht ausgehandelt
sind
der Freitag 30 vom 28. Juli 2016
Das werden sie mit Sicherheit
nicht. Sie werden in den Hinterzimmern intensiv weiter verhandeln, und uns anschließend
noch mehr belügen! Demokratie
ist für sie ein Fremdwort. Wo
sind Umweltverbände, Kultur und
die Vertreter der Bevölkerung?
Da wundern sie sich noch, dass
immer mehr von deren lobbygesteuerten Politik die Nase voll
haben.
Gmeinke, Freitag-Community
CETA ist die Blaupause von TTIP.
Allein die Tatsache, dass sich die
USA aufgrund ihrer NSA-Aktivitäten
einen unfairen Verhandlungsvorteil bei den Freihandelsabkommen (TTIP, TISA …) verschafft, wäre
schon Grund genug, diese Verhandlungen erst mal auf Eis zu legen.
SigismundRuestig,
Freitag-Community
Die Redaktion behält sich vor,
Leserbriefe zu kürzen
Impressum
Chefredaktion Jakob Augstein (V.i.S.d.P.),
Philip Grassmann, Katja Kullmann
Verantwortliche Redakteure
Jan J. Kosok (Online), Jan Pfaff (Titelthema)
Redaktion Michael Angele, Ulrike Baureithel
(FM*), Matthias Dell (FM), Lutz Herden,
Michael Jäger (FM), Christine Käppeler, Maxi
Leinkauf, Juliane Löffler, Nils Markwardt,
Sebastian Puschner, Felix Werdermann
CvD Marco Rüscher
Gestaltung Reinhild Ischinski, Maximilian
Sauerbier (Art Direction), Felix Velasco (Titel),
Niklas Rock (Bild), Lisa Kolbe
Redaktionelle Übersetzer
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Der Superstar
unter den sachsenanhaltinischen
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Himmelsscheibe
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der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Die Kosmopolitin
Lena Gorelik
Ich habe keine Angst
vor Terror. Ich habe
Angst vor dem Trotz
F O T O S : M A R C A / I M A G O, N B L B I L D A R C H I V/ I M A G O ( O B E N )
I
Sie
zieht’s
durch
Caster Semenya wird seit Jahren
als Mann verhöhnt, weil ihr Körper
viel Testosteron produziert. Bei
Olympia könnte sie den Weltrekord
im 800-Meter-Lauf brechen S. 23
ch habe Angst. Ich habe Angst vor
dem Zahnarzt, ich habe Angst
davor, etwas zu verpassen, ich habe
Angst im Flugzeug. Ich habe keine
Angst vor dem Anderssein, aber davor,
dass meine Kinder an ihrem Anderssein leiden könnten. Ich habe keine Angst
vor Terror, aber ich habe Angst vor
dem Menschen.
Als der Amokläufer in München im
OEZ schoss und den ersten Angaben
zufolge noch weitere Täter unterwegs
waren, saß ich in den Kammerspielen,
einem Münchner Theater, fest. Das Projekt, das ich mit leitete und das gerade
auf der Bühne war, wurde abrupt abgebrochen, die Polizei bat alle Anwesenden,
den Raum nicht zu verlassen, weil das
den Saal umgebende Foyer verglast
sei und somit eine Einladung für einen
Schützen. Das sagten sie so, eine Einladung für einen Schützen, und bis zu
diesem Moment hatte ich in den vorangegangenen Probetagen bei „verglast“
hauptsächlich „Hitze“ gedacht.
Diese Tage, in denen den Begriffen
die Bedeutung entrissen wird und
den Menschen ein Lebensgefühl, ein
Glaube an das Fortwähren des eigenen
Lebens. In dem Raum, in dem wir
bleiben mussten, war es stickig, und in
dem Raum war Angst. Jemand drehte
ohne Vorwarnung die Lüftungsanlage
an, die Ventilatoren hörten sich an
wie Flugzeugturbinen, und ein Schrecken
ging durch den Raum, ein Aufschrei,
ein Zusammenzucken der Masse. Jemand
von den Kammerspielen ergriff das
Mikro, gab die Regeln der Polizei durch
und machte sich besondere Mühe,
hinzuzufügen: Es ist ein Terrorangriff.
Das war, während die Polizei via
Twitter inständig darum bat, weder den
Begriff Terror noch weitere Gerüchte
zu verbreiten. Ich hörte auf, die weinenden Menschen zu zählen. Ich weiß
nicht, warum ich keine Angst hatte.
Zwei Tage nach dem Amoklauf war es
heiß, stickig und blauhimmelig in
München, meine Kinder und ich fuhren
durch die Innenstadt, und sie baten
mich darum, durch den Stachus-Springbrunnen rennen zu dürfen. Ich überlegte nicht lang: Wir hatten keine Ersatzklamotten dabei, ich trug ein weißes
T-Shirt, und einen Parkplatz in der Münchner Innenstadt zu finden, ist eine
große Herausforderung, auch wenn
man nicht solch ein talentfreier
Autofahrer ist wie ich. Genug Gründe
also, um genau das zu tun: durch
den Springbrunnen zu laufen. Wir zählten
bis drei, im Springbrunnen glitzerten
Regenbögen, der Kleinste schrie, weil er
Wasser in den Augen nicht mag, alles
an mir triefte, alles lachte, ich freute mich
an diesem Pippi-Langstrumpf-Gefühl.
Zwei Tage zuvor hatte es hier an dem
Springbrunnen eine Massenpanik
gegeben, weil jemand Gerüchte in die
Welt gesetzt hatte, auch hier würde
geschossen. Wir rannten durch das Wasser,
feierten Sommer und Kindheit, und
nichts davon war ein Trotz. Ich blickte
nicht nach rechts, nicht nach links
und fragte mich nicht, ob und wer und
warum. Ich war nass von oben bis
unten und wieder zurück. Im Laufe des
Wochenendes hörte ich von vielen
Veranstaltungen, sowohl privater als
auch öffentlicher Art, die trotzdem
stattfanden. Trotzdem.
Ich habe keine Angst vor Menschen,
die am Stachus schießen oder sich
selbst und andere in die Luft jagen. Ich
habe Angst vor dem Trotz. Das Trotz
hat eine einfache Ableitung, die nennt
sich Um nicht. Um nicht in einem
Trotz leben zu müssen, darf man zum
Beispiel Menschen in Länder abschieben, in denen Krieg herrscht. Man darf
pauschalisieren. Man darf im Stich
lassen. Ich habe Angst vor dem Menschen.
Und ich habe Angst vor dem Trotz.
22 Alltag
Steak
sucht
Bulette
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
Storyboard
Zynismus Bei Meatface
machen Nutzer sich über
das Datingportal Tinder
lustig. Nur: Was soll das?
QMarisa Janson
I L L U S T R AT I O N : A P F E L Z E T F Ü R D E R F R E I TA G
A
Nicht in Berlin In Sachsen-Anhalt lässt sich die Steinzeit-Astronomie entdecken. Wenn man den Weg findet
Die Vermessung des Himmels
N
achdem die Geschichte dann ein
gutes Ende nahm, muss man den
Raubgräbern dankbar sein, dass sie
dieses Artefakt ans Licht gezerrt hatten.
Denn sie entdeckten, im Juli 1999, eine
Sensation: die Himmelsscheibe von Nebra,
die zuvor rund 3.600 Jahre auf dem Mittelberg unter der Grasnarbe ruhte. Dabei ist
sie nur eines der vielen Relikte im SaaleUnstrut-Land, die zeigen, wie der Blick auf
die Himmelsbewegungen vergangene Kulturen beschäftigt hat, lange bevor die Gegend Sachsen-Anhalt hieß.
Vergangenheit ist das richtige Stichwort.
Zumindest kulturpolitisch dominiert in
Sachsen-Anhalt nämlich der Blick zurück,
das Tourismusmarketing lebt vor allem
von Restauration. Erst am letzten Juliwochenende wurde zum Beispiel in Wernigerode ein Bismarck-Gedenkstein enthüllt.
(Der spätere Reichskanzler soll dort 1846
bei einer Harz-Tour seine Frau Johanna
von Puttkamer kennengelernt haben.) Und
gleich eine ganze Dekade wird dem Geburtstag der Reformation gewidmet.
Zieleinlauf der erinnerungspolitischen
Tour de Force ist im Oktober 2017.
Zehn Jahre Gedenken, da bleibt in Sachsen-Anhalt für die Gegenwart kaum Luft.
Dementsprechend schien es auch fast
sinnbildlich, als Ministerpräsident Reiner
Haseloff (CDU) die Wiedereröffnung von
Martin Luthers Sterbehaus im Jahr 2013 einen „Meilenstein in der Geschichte“ des
Landes nannte.
Endlich angekommen, entschädigt aber
gleich der erste Blick. Wie die goldene Barke auf der Himmelsscheibe thront das
multimediale Besucherzentrum Arche Nebra über dem Unstruttal.
Die archaisch anmutende Konstruktion,
die 2007 eröffnet wurde, zeigt sich an diesem Wochentag menschenleer. Vielleicht
sind alle Bismarck gucken? Bei freier Platzwahl im digitalen Planetarium erfährt
man, wie die Menschen vor drei Jahrtausenden mit der Vermessung des Himmels
begannen. Dabei wird anschaulich, wie die
Himmelsscheibe – das Original wird eine
halbe Autostunde entfernt im Museum für
Vorgeschichte in Halle verwahrt – der Orientierung im Jahreskreis diente.
Sichel- und Vollmond sowie Plejadenhaufen bestimmen Aussaat- und Erntetermine. An den links und rechts angebrachten Horizontbögen lassen sich Sommerund Wintersonnenwende ablesen. Der
Vorteil der Kopie: Man darf sie anfassen
und staunt über das Gewicht von gut zwei
Kilogramm. In Kupfer und Gold dokumen-
tiert die älteste konkrete Himmelsdarstellung der Welt den Lauf von Sonne und
Mond. Dabei relativiert sie en passant auch
die Vorstellung von den primitiven Früheuropäern, die lange im Schatten sumerischer und ägyptischer Hochkultur standen. Denn das bronzezeitliche Relikt muss
einer arbeitsteiligen Gesellschaft entsprungen sein. Zusammen mit seinen Beifunden deutet es kulturelle und ökonomische Beziehungen bis in den Mittelmeerraum an.
Zur Sonne
Skizziert wird auch die Kriminalgeschichte
des Funds. Nach ihrer illegalen Bergung im
Jahr 1999 und einer dreijährigen Odyssee
konnte die Schweizer Polizei die Scheibe
schließlich sicherstellen. Zudem zeigt die
Ausstellung Handwerkskunst und Naturwissen der Bronzezeit, zieht Parallelen zu
anderen Artefakten der Frühzeit-Astronomie und informiert über das Sonnenobservatorium von Goseck. Durchs große
Zur goldenen Barke
Die Himmelsscheibe passt also gut in die
anhaltinische Kulturlandschaft. Macht
man sich auf den Weg zu ihr, ist man aber
zunächst einmal mit ungeahnten Schwierigkeiten konfrontiert. Denn im Gegensatz
zur Klarheit der Himmelsscheibe fällt die
Straßenausschilderung miserabel aus.
Zwar wird Nebra an der A 38 zwischen Göttingen und Leipzig schon vor der angepeilten Abfahrt ausgewiesen, doch folgt man
dann den weiteren Wegweisern, verliert
man sich nach Dutzenden Kilometern im
Dreieck Naumburg-Weißenfels-Querfurt.
F O TO: KÖ H N/I M AG O
uf Tinder war ich noch nie. Das
Einzige, was ich darüber weiß,
ist, dass dort Gesichter nach „Gefällt“ oder „Gefällt nicht“ sortiert werden können, durch ein Wischen nach
rechts oder links auf dem Smartphone.
Es ist extrem einfach, das doof zu finden. Im Vergleich zu anderen Internetportalen, auf denen die Userinnen und
User neben ihrem Profilbild zumindest
noch ihre Lieblingsbands oder Lieblingsurlaubsorte angeben können, bevor sie
sich in den Sympathiewettbewerb begeben, ist die Tinder-App an Oberflächlichkeit wohl kaum zu überbieten.
Das finden jetzt auch die Macher von
meatface.me: Sie bieten Menschen an,
Selfies auf die gleichnamige Webseite
hochzuladen. Mitten auf das Gesicht
wird dann ein grafisches Steak geklatscht.
Das derart veränderte Profilbild soll
schließlich den Tinder-Account des Users
oder der Userin zieren, um ein Statement
gegen die dort praktizierte „Fleischbeschau“ zu setzen. Irgendwie witzig.
Zugegeben, auch ich habe kurz überlegt, diesen kleinen Protestspaß mitzumachen. Aber warum genau sollte ich
das tun? Datingseiten an sich sind nichts
Neues. Und sie haben durchaus ihre Berechtigung. Menschen suchen Partner.
Ich sehe zwar die Gefahr, dass sich der
Rückzug auf Onlineportale irgendwann
negativ auf den Alltag auswirken kann,
jedenfalls wenn man es damit übertreibt. Doch auch in der dreidimensionalen Außenwelt sind wir umgeben von
ständiger Konkurrenz, es wird einem
suggeriert, dass man schöner, erfolgreicher und liebenswerter sein könne,
wenn man dies oder das konsumiere.
Wir lernen, uns zu optimieren, uns in
Gesprächen „richtig zu verkaufen“, bei
Begegnungen zu verstellen. Genau dort,
im real life, liegt das Kernproblem. Und
dort entsteht auch die Sehnsucht nach
Echtheit, Offenheit und Liebe.
Selbst wenn man Tinder im Speziellen
vorwerfen mag, bloß eine Plattform für
schnellen Sex zu sein, kann ich nur mit
den Schultern zucken. Ich mache das
zwar nicht mit – aber es ist doch vollkommen legitim, wenn sich zwei Erwachsene „nur“ für den Geschlechtsverkehr verabreden. Und wenn sich doch
einige in der Hoffnung auf „wahre Liebe“
bei Tinder & Co anmelden, finde ich das
nicht verachtenswert, sondern vor allem
traurig. Es sind Unternehmen wie Tinder, die gewohnt marktförmige „Lösungen“ anbieten. Die Botschaft: Die Möglichkeit des Glücks liegt direkt vor dir,
wenn du nicht zugreifst, bist du selbst
schuld. Pathologisiert wird das Individuum – nicht die Gesellschaft. Und jetzt
soll ich mich bei Meatface über Leute,
die ihre Hoffnungen dahinein setzen,
lustig machen?
Klar: Erwachsene sollten in der Lage
sein, sich von all dem Druck freizumachen. Doch so einfach ist es nicht. Der
Mensch ist eben auch ein soziales Wesen, von dem beeinflusst, was um ihn
herum geschieht. Genau das zeigt auch
Meatface wieder: Es ist eine – verständliche – Reaktion auf eine gesellschaftliche
Entwicklung. Doch sie bietet auch keine
Lösung. Im Gegenteil. Sie hackt ebenso
oberflächlich auf empfindsamen Menschen herum und bringt damit eine kurze Bedürfnisbefriedigung für solche, die
sich als „kritische Beobachter“ sehen.
Damit ist Meatface nur eine weitere Erfindung unseres Oberflächlichkeitszeitalters. Ich finde es traurig, in einer so
kalten Umgebung zu leben. Denn sie beeinflusst auch mich, ob ich will oder
nicht. Und wenn ich mich dann doch
mal darüber lustig mache, dann nur, um
diese Realität ein wenig von mir wegzudrücken. Mit anderen Worten: Meatface
hätte auch von mir sein können.
Thront über dem Unstruttal: das Besucherzentrum Arche Nebra
Panoramafenster erspähe ich den Fundort
der Scheibe. Die wenige Minuten entfernte
Hügelkuppe kann direkt per Busshuttle erreicht werden, wo über Baumkronen hinweg ein Aussichtsturm den Blick bis zum
Harz freimacht.
Am Brocken nordeten die Menschen die
Himmelsscheibe einst als Sonnenkalender
ein, mutmaßen Archäologen. Für den Aufstieg im offenen Treppenhaus sollte man
ziemlich schwindelfrei sein, sonst sorgen
das Übermaß an Transparenz nach unten
und die sich verdreht gegeneinander verkeilenden Wände für weiche Knie. Der
Rückweg zum Parkplatz, der von köstlichen
Walderdbeeren gesäumt wird, macht jedoch alles wieder gut.
Mit dem Nachgeschmack der Beeren im
Mund steuere ich zwischen Naumburg
und Weißenfels eine weitere Stätte prähistorischer Astronomie an. Da die Beschilderung abermals zu wünschen übrig lässt,
passiere ich in meiner ratlosen Herumkurverei zunächst unzählige Weltkriegsdenkmäler, bis mir eine halbfreundliche Kioskverkäuferin den Weg weist. Auf grünem
Acker breitet sich das Sonnenobservatorium Goseck aus. Im 7.000 Jahre alten, aus
rundem Erdwall und innerem Pfahlkreis
bestehenden Heiligtum wird dank wissenschaftlicher Rekonstruktionen der steinzeitliche Sonnenkult erlebbar. Drei Tore
durchbrechen die Ringanlage. Am Tag der
längsten Nacht kann man im Südwesttor
beobachten, wie die Sonne untergeht und
am nächsten Morgen im Südosttor wieder
aufsteigt. Auch die Sommersonnenwende
am 21. Juni lässt sich präzise ablesen.
Ob Observatorium und Himmelsscheibe
in direktem Zusammenhang stehen, ist bis
dato ungeklärt; die räumliche Nähe aber erstaunt – und erfreut das Tourismusmarketing. Ende Juni hat in der Gegend noch eine
weitere Attraktion der Steinzeit-Archäologie
eröffnet: Die Kreisgrabenanlage von Pömmelte wird bereits als „Stonehenge SachsenAnhalts“ beworben. Den Ausflug dorthin
werde ich verschieben müssen. Sogar die
Lokalzeitung warnte schon: „Es mangelt
noch an der notwendigen Ausschilderung
an den Wegen.“
Tobias Prüwer
Porträt 23
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
„Die Politiker warfen sie den
Wölfen zum Fraß vor“
Caster Semenya stürzte nach ihrem Weltmeistertitel 2009 in eine tiefe Krise. Jetzt ist sie zurück – und damit die Feindseligkeit
QDonald McRae
D
as Ganze ist eine tickende
Zeitbombe“, sagt der Sportjournalist Daniel Mothowagae bei unserem Treffen in
Johannesburg. Er meint damit den Aufruhr, der losbrechen dürfte,
wenn Caster Semenya bei den Olympischen
Spielen an den Start geht. Abgesehen davon, dass Südafrikas Mittelstreckenläuferin
in Rio als sichere Siegerin des 800-MeterLaufs der Frauen gilt, wird sie erneut zu leiden haben: An Semenya werden all die
komplexen Fragen festgemacht, die in Zusammenhang mit Geschlechtstests im
Sport stehen. Wer eine Weile in Südafrika
unterwegs war, versteht, was Daniel Mothowagae meint: Im Fall Caster Semenya
gehen die Meinungen weit auseinander.
Mothowagae ist mit Semenya befreundet
und klingt arglos, wenn er sagt: „Caster ist
doch nur ein Tomboy“, ein burschikoses
Mädchen. Sein Sportjournalistenkollege
Wesley Botton, der Semenyas Karriere so
genau verfolgt hat wie kein anderer, seit sie
2009 in Berlin überraschend Weltmeisterin
wurde, beklagt, dass sie zum „weiblichen
Aushängeschild für Hyperandrogenämie“
geworden sei, die körpereigene erhöhte
Produktion männlicher Hormone.
Ihr Trainer Jean Verster sagt, Caster sei
„ein fantastischer und bodenständiger
Mensch und eine große Athletin. Für einige
Mädchen in unserer Trainingsgruppe ist
sie wie eine Mutter.“ Derweil bedauert der
südafrikanische Sportwissenschaftler Ross
Tucker die starke Personalisierung des Themas. Ihm graut vor Olympia, „denn Caster
Semenya wird gewinnen. Und das wird
ziemlich ungute Auswirkungen haben.“
Ein offenes Geheimnis
Alle vier sind überzeugt, dass Semenya in
Rio ihr ganzes Leistungsvermögen abrufen
und den seit 33 Jahren bestehenden Weltrekord brechen wird. Und sie sind sich einig,
dass Semenya ganz allein unter Beobachtung stehen wird, ohne jede Rücksicht auf
ihre Privatsphäre, und das, obwohl es als
offenes Geheimnis gilt, dass mehrere potenzielle Finalistinnen über 800 Meter in
Rio intersexuell sein könnten. „Sie sagt immer zu mir, dass sie antreten wird, solange
es ihr die Regeln erlauben“, sagt Mothowagae. „Rio wird zeigen, wie viel die Verantwortlichen aus ihrem Martyrium bei der
Weltmeisterschaft von 2009 gelernt haben.
Wenn Caster das mit 18 durchstehen konnte, steckt sie heute, mit 25, alles weg.“
Im August 2009 hatte Semenya in Berlin
mit der fulminanten Zeit von 1:55,45 Minuten den Weltmeistertitel geholt. Der Weltleichtathletikverband (IAAF) hatte tags zuvor bereits verkündet, dass Semenyas spektakulärer Auftritt auf der Weltbühne des
Sports nichts mit Doping zu tun habe, und
bestätigte, dass sie in Südafrika und
Deutschland „Geschlechtstests“ unterzogen worden war. Ein Endokrinologe, ein
Gynäkologe und ein Psychologe hatten
versucht herauszufinden, ob Semenya, die
ihr ganzes Leben als Mädchen gelebt hatte,
nicht in Wirklichkeit ein Mann war. Sie
wurde für das Finale zugelassen. Der IAAF
ließ durchblicken, dass weitere Tests durchgeführt worden waren, gab die Ergebnisse
aber nie bekannt.
Eine andere Finalistin, Elisa Cusma aus
Italien, verhöhnte Semenya als Mann. Der
südafrikanische Verband warf dem IAAF
Rassismus und Sexismus vor, Südafrikas
Sportminister warnte vor einem „dritten
Weltkrieg“, sollte Semenyas Status als Intersexuelle bestätigt werden. „Ich habe gehört,
dass sie beschlossen hatten, sie noch vor
den Vorläufen herauszunehmen“, erzählt
Wesley Botton. „Aber die Politiker zwangen
„Am Telefon
dachte ich,
da spricht ein
Mann mit
mir“
W. Botton, Journalist
sie zu laufen. Sie wollten den ersten internationalen Titel einer schwarzen Südafrikanerin in der Leichtathletik. Also warfen
sie Caster den Wölfen zum Fraß vor.“
Was damals neben einer erst nach elf
Monaten aufgehobenen Sperre geschah,
beschreibt Botton so: „Caster benötigte Hilfe und geriet an Leute, denen sie nicht hätte vertrauen sollen. Für den Artikel in einem Magazin steckten sie sie in ein Kleid,
wie eine Puppe, obwohl sie so etwas sonst
nie trägt. Es war unmöglich. Caster wurde
völlig aus der Bahn geworfen. Im Lauf der
nächsten Jahre ließen ihre Leistungen aus
verschiedenen Gründen nach, nicht allein
wegen der Medikamente, zu deren Einnahme sie gezwungen war, um den Testosteronspiegel zu senken. Sie war weit weg von
Der Sport und die Frage nach dem Geschlecht
Die ersten Tests in Bezug auf
das Geschlecht gab es in der
Leichtathletik 1966. Frauen
mussten sich nackt vor ein
Gremium aus Ärzten stellen,
um ihre Genitalien abtasten
zu lassen – wer nach Meinung
der Ärzte eine Vagina hatte,
war eine Frau. Die spätere
Goldmedaillengewinnerin im
Fünfkampf, Mary Peters
aus Großbritannien, beschrieb
dies als „die härteste und
demütigendste Erfahrung
meines Lebens“.
Bei den Winterspielen 1968
in Grenoble führte erstmals
das Internationale Olympische
Komitee (IOC) Geschlechtstests durch – wegen des vor-
herigen Protests von Athletinnen per Speichelabstrich.
Wer zwei X-Chromosomen
hatte, durfte offiziell als Frau
teilnehmen. Aufgrund
wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Vielzahl von
Geschlechterfaktoren wurde
es in der Folgezeit immer
schwieriger, eine klare Trennlinie zwischen „männlich“
und „weiblich“ zu ziehen. Das
IOC aber rang sich erst vor
der Olympiade in Sydney
2000 dazu durch, die
generelle Überprüfung von
Frauen zu beenden. 2004
in Athen war transsexuellen
Sportlerinnen und Sportlern
erstmals offiziell der Start
erlaubt, der Internationale
Leichtathletikverband (IAAF)
zog mit einer ähnlichen Regel
nach, doch Überprüfungen
in Einzelfällen wie dem Caster
Semenyas blieben möglich.
2011 führte der Verband den
Testosterontest mitsamt einer
Obergrenze von zehn Nanomol pro Liter Blut ein; der
Durchschnittswert bei Frauen
beträgt bis zu 3,3 Nanomol.
2015 verbot der Internationale
Sportgerichtshof einstweilen
den Test: Der IAAF soll bis
zum Jahr 2017 erst einmal belegen, dass sich mit dem
Verfahren Leistungssteigerungen durch hohe Testosteronwerte wissenschaftlich
nachweisen lassen.
MJ
zu Hause, einer ländlichen Gegend im Norden Südafrikas, und stand auf einmal im
internationalen Rampenlicht. Dann überwarf sie sich mit ihrem alten Trainer und
fing allem Anschein nach an, in der Hauptstadt Pretoria richtig Party zu machen. Ihr
Ex-Trainer sagt, sie habe mehr Zeit mit ihrer Freundin verbracht als beim Training.“
Doch alles veränderte sich schlagartig,
als sie nach Potchefstroom zog, knapp 200
Kilometer nördlich von Pretoria. Die kleine
und abgelegene Universitätsstadt gilt als
ideales Trainingszentrum, bei Athleten aus
aller Welt beliebt, nicht zuletzt, weil Jean
Verster dort arbeitet. „Im Oktober 2014 rief
Caster mich an und fragte, ob sie bei uns
mit trainieren könne“, erzählt er. „Ich sagte
‚Kein Problem‘ – wusste aber nicht, was
mich erwartet. Ich hatte von ihrer Knieverletzung gelesen, und es war schrecklich,
mitanzusehen, wie sie sich abmühte. Sie
hinkte regelrecht, wenn sie rannte, litt an
Übergewicht und machte eine schwierige
Zeit durch. Ich war überrascht, als sie anrief, und erstaunt, was für ein großartiger
Mensch sie ist. Sie brachte neuen Schwung
in die Gruppe, hatte immer ein Lächeln im
Gesicht, obwohl sie so außer Form war.“
Die zuvor oft mürrische Athletin, die so
viel über sich hatte ergehen lassen müssen,
schien wie ausgewechselt. Botton erinnert
sich: „Ich hatte sie seit Ewigkeiten nicht
mehr lächeln sehen. Sie war überhaupt
nicht mehr ruppig und aggressiv. Manchmal war sie mir gegenüber recht unhöflich
gewesen, aber ich habe ihr das nie wirklich
übelgenommen, weil ich wusste, was sie
durchgemacht hat. Sie kann aggressiv sein
und dich wüst beschimpfen. Aber seit sie
bei Jean Verster ist, wirkt sie wie befreit.“
Im Dezember gingen Bilder von Semenyas
Hochzeit mit ihrer langjährigen Freundin
durch die sozialen Netzwerke.
Endlich ohne Medikamente
Dieses Jahr ist Semenya in blendender
Form. An einem unvergesslichen Nachmittag im April, bei den südafrikanischen
Meisterschaften, gewann sie souverän die
400, die 800 und die 1.500 Meter. Im Juli
lief sie die 800 Meter in Monaco in 1:55,33
– die schnellste Zeit einer Frau seit 2008.
„Sie ist der Beweis dafür, dass intersexuelle
Athletinnen von Testosteron profitieren“,
sagt der Sportwissenschaftler Tucker.
Am 27. Juli 2015 war Semenya von den
Auflagen zur Einnahme von Testosteron
unterdrückenden Medikamenten befreit
worden. An jenem Tag gewann Dutee
Chand, eine 19-jährige indische Sprinterin,
ihren wegweisenden Fall beim Internationalen Sportgerichtshof CAS und wurde wieder zu Wettkämpfen zugelassen. Ihre Anwälte hatten argumentiert, es sei diskriminierend, sie aufgrund von Geschlechtstests
auszuschließen, die allein auf ihrem Testosteronspiegel basierten. Alle Bestimmungen in Bezug auf Hyperandrogenämie wurden bis Juli 2017 ausgesetzt. Semenya konnte nun wieder ganz normal und natürlich
laufen – ohne Medikamente.
Tucker ist mit dem Urteil des CAS nicht
einverstanden, aus wissenschaftlichen und
aus sportlichen Gründen. „Die grundsätzliche Frage lautet, warum es überhaupt getrennte Wettbewerbe für Frauen gibt. Wenn
es die nicht gäbe, hätten Frauen keinerlei
Chance, im Sport jemals etwas zu gewinnen. Es geht nicht nur um Testosteron.
Aber die meisten Unterschiede zwischen
Männern und Frauen – fettärmere Muskelmasse, größeres Lungen- und Herzvolumen – können auf Testosteron zurückgeführt werden. Es wird immer Frauen geben,
die schneller sind als manche Männer. Aber
die besten Männer sind immer schneller
als die besten Frauen.“
Von 2:01 Minuten 2015 auf 1:55 in diesem
Jahr – Tucker ist sich sicher, worauf Semenyas Leistungsexplosion zurückzuführen
ist: „Sie durfte die Medikamente absetzen.
Seitdem die Auflagen aufgehoben sind, ist
sie etwa sechs Sekunden schneller als in
den vergangenen zwei Jahren.“ Andere
führen eher persönliche Gründe für Semenyas verbesserte Form an. Botton erinnert
an ihren Durchbruch in Mauritius im Juli
2009: „Sie kam aus dem Nichts und lief
1:56“, erinnert sich der Sportjournalist. „Ich
bemühte mich um ein Interview und war
zunächst recht verwirrt. Sie hat eine derart
tiefe Stimme, besonders am Telefon, dass
ich dachte, ich spreche mit einem Mann.
Erst als ich ihren Namen im Internet suchte, stieß ich auf all die kontroversen Informationen über sie. Das erste Interview mit
ihr gestaltete sich schwierig, weil Caster
nicht nur sehr jung, sondern auch sehr
schüchtern war.“
„Wir ziehen
so spät wie
möglich ins
olympische
Dorf“
J. Vester, Trainer
War sie selbst von ihrer Zeit überrascht?
„Nein, sie wusste, dass sie solche Zeiten
laufen konnte. Caster läuft immer eher für
sich, bis ein großer Wettkampf kommt. Erst
dann gibt sie richtig Vollgas und geht ganz
aus sich heraus.“ Auch Trainer Jean Verster
argumentiert gegen die Behauptung, allein
das Absetzen der Medikamente sei ausschlaggebend. „Die Leute fragen, warum
Caster 2015 nicht gut gelaufen sei – dabei
lief sie gut, wenn man alles bedenkt. Wir
haben Fortschritte gemacht, aber im April
verletzte sie sich am Knie und konnte dann
den ganzen Mai und Juni über kaum trainieren. Im Juli flogen wir für zwei Rennen
nach Europa. Caster überraschte sich selbst,
als sie sich für die WM in Peking qualifizierte.“ Jetzt, in Rio, besteht die Möglichkeit,
dass Caster auch die 400 Meter läuft. Vers-
ter allerdings tut alles, um ihr das auszureden. „Ich habe ihr schon vor Monaten gesagt, dass wir bei südafrikanischen oder
afrikanischen Meisterschaften zwei oder
drei Wettkämpfe bestreiten können. Aber
das hier ist Olympia.“
Seiner Meinung nach sollte sich Semenya allein auf die 800 Meter konzentrieren.
„Die Olympischen Spiele finden nur alle
vier Jahre statt, und wir sollten das nicht
auf die leichte Schulter nehmen. Wir werden in Kürze endgültig entscheiden. Ich
hoffe, dass es nur die 800 Meter werden.“
Verster zweifelt nicht, dass sie über diese
Distanz den Weltrekord der tschechischen
Läuferin Jarmila Kratochvílová von 1983
schlagen kann: 1:53,28. „Aber unser Hauptziel ist die Goldmedaille.“ Zwar liegt Caster
Semenya mit ihrer persönlichen Bestzeit
derzeit nur auf Platz 22 der Liste der
schnellsten 800-Meter-Läuferinnen aller
Zeiten. Doch die meisten der schnelleren
Zeiten kamen durch Doping zustande. Die
Südafrikanerin ist sauber. Doch ihr eigener,
natürlicher Testosteronspiegel wird dafür
sorgen, dass sie angefeindet werden wird.
„Caster ist da sehr klar und unverblümt,
,Wir ziehen unser Ding durch, pfeif auf den
Rest‘, das sind ihre Worte“, sagt Verster. „In
Rio werden wir uns abschotten. Ich glaube,
es ist wichtig, so spät ins olympische Dorf
zu ziehen wie möglich.“ Am 17. August starten die 800-Meter-Vorläufe, am 21. August
findet das Finale statt.
Zurück in Johannesburg, spricht Daniel
Mothowagae in warmen Worten von seiner
Freundschaft zu Semenya. „Sie hat einen
weiten Weg zurückgelegt – wie wir alle. Die
meisten Südafrikaner werden sie unterstützen. Wir hier wissen, dass sie einfach
nur ein Tomboy ist. Und die Leute sind begeistert, weil sie jedes Mal gewinnt, wenn
sie antritt. Es ist ihnen egal, was die Wissenschaft über Caster Semenya sagt.“
Donald McRae ist Sportjournalist.
Der Südafrikaner schreibt für den Guardian
Übersetzung: Holger Hutt
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24 A – Z
der Freitag | Nr. 32 | 11. August 2016
A–Z Wahlwerbung
K
Kiffen Das Adjektiv alternativ kann mittlerweile ja unterschiedlich ausgelegt werden. Wer früher an Hippies oder an Reggae dachte, hat 2016 wohl Rechtspopulisten (¬Nationalismus) im Kopf. Nun
besinnt sich die AfD womöglich auf den
ursprünglichen Inhalt ihres Namens. In
Berlin versucht sie, neue Wählerkreise für
sich zu gewinnen. Nicht nur konservative WHM („white heterosexual males“),
auch die jungen, urbanen Unzufriedenen sollen dazugehören.
Die neue Strategie offenbart sich deshalb in Form einer Kifferkampagne. „Mein
marokkanischer Dealer kriegt sein Leben
komplett vom Staat finanziert. Irgendwas
ist in Deutschland oberfaul, und deshalb
wähle ich die Alternative“ ist nur einer
der Sprüche, mit denen derzeit Werbelastwagen durch Berlin fahren – ganz ohne
AfD-Logo. Subtiler Rassismus durch subtile Manipulation. Fragt sich nur, warum
der marokkanische Dealer eigentlich
noch Drogen dealen muss.
LTB
FOTO: K. HOFFMANN/LAI F
L
Politik Während in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern Landtagswahlen
anstehen, geht auch das Rennen um die US-Präsidentschaft in die heiße Phase.
Und wer Wahlkämpfe gewinnen will, braucht die richtigen Werbemittel: zum
Beispiel Kondome, Protestsongs oder Spitzensoziologen. Unser Wochenlexikon
A
Adbusting Es ist ja in Mode gekommen,
Slogans auf Wahlkampfplakaten professionell zu überkleben. Anstatt „Gute Arbeit
und neue Ideen“ steht dann „Rassismus
und Ausbeutung“ vor dem CDU-Claim „So
bleibt Deutschland stark“. Das ist redlich,
manchmal tut es aber auch eine hingekritzelte Pimmelnase. Der Klassiker unter
den entstellenden Gesichtsmodifikationen bleibt indes der Hitlerbart.
Für den, so ließ sich neulich in Wien begutachten, reicht ein Bleistift: Zwischen
Nase und Oberlippe des FPÖ-Kandidaten
Norbert Hofer schimmerte es so dezent
wie unmissverständlich. Ambitionierte
Bildstörer arbeiten aber längst in 3-D. Als
die NPD (¬Nationalismus) letzten Winter ihren Stand in die malerische Kulisse
eines schwäbischen Wochenmarkts
stellte, organisierte der Bürgermeister
davor eine Leistungsschau städtischer
Schneepflüge und Müllfahrzeuge. Der
Kehraus könnte gewirkt haben: 15 Wähler
weniger verbuchte die NPD bei der folgenden Landtagswahl. Christine Käppeler
B
Bayern Wo Werbung der parlamentarischen Opposition kaum Aussicht auf Erfolg hat, dort kommen die originellsten
Aktionen von außerhalb des Parlaments.
Lange lieferten sich die Landesschülervertretung Bayern und die CSU-Regierung
Kämpfe um das Schulsystem des Freistaats und dessen Demokratiedefizite:
Bayern war lange das letzte Bundesland
ohne gesetzlich verankerte Schülervertre-
tung auf Landesebene. Die als Verein organisierte LSV verteilte (¬Give-aways)
um 2002 herum Kondome mit dem Aufdruck: „Keine Kinder in dieses Bildungssystem!“ Ein Erfolg: In den Folgejahren
hatte Bayern rückläufige Geburtenzahlen.
Zuletzt sind diese wieder gestiegen, was
damit zu tun haben könnte, dass das bayrische Erziehungs- und Unterrichtsgesetz
seit 2008 einen Landesschülerrat vorsieht, den Kritiker zu gefällig gegenüber
der CSU finden.
Sebastian Puschner
D
Design Kritische Geister wissen: Das Design bestimmt das Bewusstsein. Ab und
zu erinnert auch der Wahlkampf daran.
Hans-Christian Ströbele etwa wirbt seit
2002 mit Postern des Comiczeichners
und Karikaturisten Gerhard Seyfried. Die
zeigen den Grünen-Politiker in einer bunten Kreuzberger Welt voller Revolte und
Leben. Doch Design kennt keine ideologischen Grenzen. Das Plakat aus dem Jahr
1953, das unter dem Slogan „Alle Wege
des Marxismus führen nach Moskau“
für die CDU (¬Flüchtlinge) warb, hat
durchaus gestalterischen Eigenwert.
Die roten Linien, die hin zu einem düster dreinschauenden Mann mit Sowjetmütze führen, gleichzeitig aber wie dessen dämonischer Blick wirken, avancierten zum ästhetischen Inbegriff des
Antikommunismus. Unvergessen ist auch
das von Shepard Fairey gestaltete „Hope“Plakat der Obama-Kampagne 2008. Ein
Pop-Art-Porträt, das in Blau-, Rot- und
Pastelltönen gehalten und mit den Slogans „Hope“, „Change“ und „Progress“
versehen war. Obama wurde zum Heilsbringer stilisiert, das Plakat zum Bild der
Kampagne und zu einem Höhepunkt politischer Ikonografie. Benjamin Knödler
F
Flüchtlinge Angela Merkels „Wir schaffen
das“ war schon vor 70 Jahren Aushängeschild der Union (¬Design). Vor allem das
der CSU. 1946 richtete diese sich mit dem
Slogan „Gemeinsam schaffen wir’s“ an
Heimatvertriebene und forderte Geflüchtetenwahlkreise, keine geschlossenen
Grenzen. Das war kein Widerspruch zum
Nationalkonservatismus. Bei den Flüchtlingen handelte es sich zum großen Teil
um Menschen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Noch weiter trieb es
die CDU 1949: „Das ganze Deutschland
soll es sein“ stand auf einem Plakat, das
die Wiedervereinigung mit den unter polnischer oder tschechischer „Besatzung“
stehenden Gebieten forderte: „zum ungeteilten Vaterland“. Louisa Theresa Braun
G
Give-aways Neben Feuerzeugen und Kugelschreibern wird im Straßenwahlkampf
oft auch Abseitiges verteilt. Originell war
die SPD-Streichholzbox mit zwei abgebrannten Zündhölzern und dem Spruch:
„Auch hier sind wieder nur die Roten zu
gebrauchen.“ „Damit nichts anbrennt“, ließ
die CSU (¬Bayern) auf Holzgrillzangen
schreiben. Ebenso mäßig war das Skatspiel
mit „Grün sticht“. Noch peinlicher erschien der Piraten-Sticker zum Christopher Street Day: „Solidarische Hete“. Statt
Kondomen verschenkte die Linke einst
rote Strampler („Mit LINKS gemacht“). Und
mit Hanf-Setzlingen verlieh sich das alternative Bündnis „Wien Anders“ den Ruch
des, nun ja: Andersseins. Tobias Prüwer
Luhmann „Am Montag, den 18. 05. 1998
unterschrieb Niklas Luhmann vor der
Humboldtuni überraschend das Unterstützungsformular“ hieß es in einer Meldung von CHANCE 2000. Das klang unwahrscheinlich. Die von Christoph Schlingensief gegründete Partei, die bei der
Bundestagswahl 1998 0,058 Prozent der
Zweitstimmen erhielt, fiel sonst nämlich
durch Aktionen auf, die nicht gerade zum
Doyen der Systemtheorie passten.
Etwa durch den Aufruf an Millionen Arbeitslose, im Wolfgangsee zu baden, um
das Ferienhaus Helmut Kohls zu überschwemmen (¬Satire). Da sich die Meldung aber auch in einem Gesprächsband
Luhmanns findet, stimmt sie wohl. Luhmann „begeisterte sich spontan für die
Schlingensiefsche Variante der Systemtheorie“, wonach „System 1“ durch „System 2“ ersetzt werden müsse. Da das aber
wiederum das Ende von Luhmanns Theorie wäre, heißt es am Ende der Meldung
auch: „Schön, daß Niklas CHANCE 2000
trotzdem unterstützt!“ Nils Markwardt
N
Nationalismus Anspruch und Wirklichkeit klaffen bei der AfD oft auseinander: In
einer Wahlwerbung zum Beispiel gab sie
rumänische Models als eigene Anhänger
aus. Von solchen Peinlichkeiten kann die
NPD ein Lied (¬Zeitgeschichte) singen.
2013 zeigte sie in einem Spot eine Familie,
mit der zuvor ein finnischer Quarkhersteller warb. Die Forderung „Konsequent abschieben“ untertitelte sie mit „Unser Volk
zuerst“. Ähnlich bei der Schweizer SVP:
Deren Vizepräsidentin Nadja Pieren hielt
in einem Clip ein Schild mit „Zuwanderung begernzen“ hoch. Mit der Sprache
hadert wiederum auch die AfD. Auf einem
aktuellen Plakat heißt es: „Ich möchte,
dass mein Sohn richtig deutsch sprechen
lernt, weil das die Voraussetzung ist, für
einen guten Beruf.“
TP
R
Regeln Loriot wird der Satz zugeschrieben, das Wahlplakat sei der beste Ort für
einen Politiker: Dort sei er tragbar, geräuschlos und leicht zu entfernen. Aber
so einfach ist es nicht. In Nordrhein-Westfalen werden Autofahrer vor verkehrsge-
fährdender Ablenkung (¬Kiffen) geschützt: Plakatwerbung darf nur in den
drei Monaten vor der Wahl erfolgen und
ist „unzulässig im Bereich von Kreuzungen und Einmündungen, vor Bahnübergängen und am Innenrand von Kurven“.
In dieser Hinsicht kann man sogar rechte
Parteien loben. Die bringen ihre Plakate
häufig in enormer Höhe an – wenn auch
eher aus Angst vor Vandalismus. In Zukunft werden sie wohl an Hochspannungsmasten hängen, dann müssen Regelungen zum Schutz des Luftverkehrs
getroffen werden.
Uwe Buckesfeld
S
Satire Noch vor der Gründung der Partei
für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative (PARTEI) machten ihre Gründer durch
spektakuläre Aktionen (¬Luhmann) von
sich reden: Unter anderem griffen sie der
SPD in Landtagswahlkämpfen unter die
Arme. Da 2003 der hessische Spitzenkandidat Gerhard Bökel laut Umfragen den
Wählern unbekannt war, schickten die
PARTEI-Gründer sieben verschiedene Bökels, darunter eine Frau, zum Klinkenputzen – und alle wurden von den Angesprochenen als Bökel wiedererkannt. Anschließend unterstützten sie die bayrische SPD
mit Slogans wie „Mit Anstand verlieren.
SPD“ oder „Wir geben auf. Dabei sein ist
alles. SPD“.
Andrea Wierich
T
The Simpsons Das Drama, das wir im USWahlkampf erleben, ist ein doppeltes. Entgegen allgemeiner Panikmache besteht
nicht nur eine geringe Chance, dass mit
Trump ein lupenreiner Antidemokrat an
die Macht kommt. Auch radikalisieren sich
die Fronten zwischen Gut und Böse über
jede Verhältnismäßigkeit hinaus. Anders
ist kaum zu erklären, wie auch auf liberaler
Seite der Hass auf Clinton gewachsen ist –
inklusive der bigotten Einschätzung, zwischen ihr und Trump gebe es letztlich keinen relevanten Unterschied.
Wenn nun auch die „Simpsons“ mit
einem eilig produzierten Zweiminüter
aktiv in den Wahlkampf einsteigen, um
Schlimmstes zu verhindern, ist das nett
gemeint, gut gemacht (¬Adbusting)
und natürlich nachvollziehbar. Wenn
aber ein Unterhaltungsformat sich gezwungen sieht, bei seinem Stammpublikum offene Türen einzurennen, indem es
die drohende Wahl zur Alternativlosigkeit
erklärt, ist das weder progressiv noch mutig, sondern Symptom einer akuten Krise
der Demokratie.
Timon Karl Kaleyta
Z
Zeitgeschichte Joseph Beuys war nicht nur
Künstler, er gehörte auch zu den Gründungsmitgliedern der Grünen, kandidierte 1979 für das Europaparlament und
nahm 1982 an deren Bundesparteitag teil.
Mehr noch: Im gleichen Jahr spielte er mit
Musikern von BAP ein friedensbewegtes
Lied ein, das implizit auch Wahlwerbung
war. Eigentlich sollte Wolfgang Niedecken
den Text schreiben, der hielt Beuys’ Anfrage aber für einen Witz (¬The Simpsons).
Es übernahm ein Werbetexter. Heraus
kam der Song „Sonne statt Reagan“. Ungelenk intonierte Beuys den eigenwilligen
Text. Da heißt es: „Hau ab mit deinen Nuklearstrategen / deinen Russenhassern, deinem Strahlenregen / Mensch Knitterface,
der Film ist aus / nimm die Raketen mit
nach Haus!“ Und im Refrain schließlich:
„Wir wollen: Sonne statt Reagan /ohne
Rüstung leben! / Ob West, ob Ost /auf Raketen muss Rost!“
NM