Hinweise für Schüler
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Abitur 2009 Deutsch Seite 2 Hinweise für Schüler Aufgabenauswahl: Wählen Sie von den vorliegenden vier Aufgaben e i n e aus und bearbeiten Sie diese vollständig. Bearbeitungszeit: Für den Prüfungsteil A beträgt die Arbeitszeit 240 Minuten. Für beide Prüfungsteile A + B beträgt die Arbeitszeit insgesamt 300 Minuten. Die Bearbeitung von A + B erfolgt in einem geschlossenen Aufsatz. Es stehen Ihnen zusätzlich 30 Minuten für das Einlesen und für die Wahl der Prüfungsaufgabe zur Verfügung. Hilfsmittel: Sie dürfen ein Nachschlagewerk zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung verwenden. Die jeweilige Ganzschrift erhalten Sie, wenn Sie im Block II oder III die Aufgaben A und B bearbeiten. Hinweis: Die den Aufgaben zu Grunde liegenden Texte wurden nicht in jedem Fall der neuen Rechtschreibung angepasst. Sonstiges: Geben Sie auf der Reinschrift die bearbeitete Aufgabe an und nummerieren Sie die Seiten fortlaufend. Für die Bewertung gilt die Reinschrift. Entwürfe können nur dann ergänzend herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa drei Viertel des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs beträgt. Abitur 2009 Deutsch Seite 3 Aufgabenblöcke im Überblick Block I Peter Bieri: A Wie wollen wir leben? Analysieren Sie den Text und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungsweise. B Erörtern Sie Peter Bieris Auffassung zum Verhältnis von Sprache und Welt. ___________________________________________________________________ Block II Max Frisch: Max Frisch: A Andorra (Zehntes Bild, Textauszug) Zitat – nur für Teil B! Interpretieren Sie den Textauszug. B Erörtern Sie das Zitat. ___________________________________________________________________ Block III Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (erster Textauszug) Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (zweiter Textauszug) – nur für Teil B! A Interpretieren Sie den ersten Textauszug. B Vergleichen Sie die beiden Textauszüge. ___________________________________________________________________ Block IV Annette von Droste-Hülshoff: Georg Trakl: Der Knabe im Moor Am Moor – nur für Teil B! A Interpretieren Sie die Ballade von Annette v. Droste-Hülshoff. B Vergleichen Sie das Gedicht von Georg Trakl mit der Ballade von Annette v. Droste-Hülshoff anhand ausgewählter Aspekte. Abitur 2009 Deutsch Seite 4 Block I Peter Bieri: Wie wollen wir leben? A Analysieren Sie den Text und bewerten Sie seine Gestaltungs- und Wirkungsweise. B Erörtern Sie Peter Bieris Auffassung zum Verhältnis von Sprache und Welt. Text zu Block I Peter Bieri (geb. 1944) Wie wollen wir leben? Der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri sucht in seiner Kolumne nach Antworten auf Fragen, die uns immer wieder beschäftigen – diesmal: Was die Sprache mit uns macht 5 10 15 20 25 30 Die Sprache macht uns zu Wesen, die des Verstehens fähig sind. Bevor wir über Worte und Sätze verfügen, sind wir blind den kausalen Kräften der Welt ausgesetzt und werden von ihnen herumgestoßen. Mit dem Erlernen von Sprache ändert sich das grundlegend: Weil wir auf die Welt nun mit einem System von Symbolen reagieren können, wird sie zu einer verständlichen Welt, die wir uns gedanklich anzueignen vermögen. Sprache gibt uns eine begriffliche Organisation von Erfahrung. Begriffe sind Prädikate, also Wörter in Aktion. Sie helfen uns, das Erfahrene zu klassifizieren. Anschauung ohne Begriffe und also ohne Sprache ist blind. Erst wenn wir ein Repertoire von Prädikaten haben, können wir etwas als etwas sehen und verstehen: als Maschine, als Geld, als Revolution. Sprache gibt uns ein System von Kategorien, das gedankliches Licht auf die Dinge wirft. Indem wir eine Sprache lernen, lernen wir auch die Idee des Begründens. Begründen heißt schließen, und richtig schließen bedeutet, von einem Satz so zu einem anderen überzugehen, dass Wahrheit erhalten bleibt. Durch Sprache werden wir zu Wesen, die begründen können, was sie sagen – also zu denkenden, vernünftigen Wesen. Als solche sind wir fähig, das, was uns begegnet, aus seinen Bedingungen heraus verständlich zu machen. Bedingungen kennen heißt, Gesetzmäßigkeiten zu kennen, und die Idee der Gesetzmäßigkeit können wir nur haben, wenn wir darüber nachdenken können, was möglicherweise und was notwendigerweise der Fall ist. Auf diese Weise ist Sprache die Quelle von gedanklich transparenter Erfahrung einer verständlichen Welt. Auch für das Verstehen anderer Menschen ist Sprache entscheidend. Einmal die eigene, in der wir uns die Gründe ihres Tuns zurechtlegen, dann aber auch die der Anderen, in der sie uns bestätigen oder korrigieren können. Sprache ist sowohl Ausdruck eines fremden Geistes als auch Brücke zu einem fremden Geist. Dabei sind wir auf Erzählungen angewiesen, auf die sprachliche Vergegenwärtigung einer Situation und ihrer Entstehungsgeschichte. Das Verstehen eines Naturphänomens besteht darin, dass ich es als Fall eines Naturgesetzes darstellen kann. Anders bei Handlungen und ihren Gründen: Hier geht es nicht um die Anwendung von Gesetzen, sondern darum, die Handlung und ihre Gründe aus einer konkreten Abitur 2009 Deutsch 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Seite 5 Situation heraus verständlich zu machen. Das kann ich nur, wenn ich die Situation durch eine Erzählung transparent mache, die auch erklärt, wie es dazu gekommen ist, sowohl was die Handlung als auch was die Gründe anlangt. Jede Handlung ist eine Episode in einer Lebensgeschichte und bezieht ihren Sinn und ihre Vernünftigkeit aus dieser Geschichte. Und die Vergegenwärtigung einer solchen Geschichte ist nur im Rahmen einer Erzählung möglich – und also nur für ein Wesen, das der Sprache mächtig ist. Wir können nicht nur die Natur und die Anderen, sondern auch uns selbst verstehen. Sprechende und schreibende Wesen haben ein ganz besonderes Verhältnis zu sich selbst, und ihr Erleben wird durch dieses besondere Verhältnis geprägt. Auch wenn es sich vor allen Worten auf bestimmte Weise anfühlen mag, etwas zu denken, zu wünschen und zu empfinden: Was genau wir denken, wünschen und empfinden, wissen wir erst, wenn es uns gelingt, die Inhalte des Geistes in Worte zu fassen. Und mehr noch: Indem wir die Gefühle und Wünsche beschreiben, wandeln sie sich zu etwas, das genauere Erlebniskonturen hat als vorher. Durch sprachliche Artikulation kann aus Gefühlschaos emotionale Bestimmtheit werden und aus Unbewusstem Bewusstes. Auch das Erinnern wird durch Sprache geprägt. Natürlich haben auch Wesen, die nicht über Sprache verfügen, Erinnerungen. Aber sie können unter ihnen nicht die Art von Zusammenhang herstellen und erleben, die im sprachlich verfassten Erinnern möglich wird. Wenn sprechende Wesen sich an etwas erinnern, bleibt es selten beim isolierten Aufblitzen einer vergangenen Episode. Meist wird die Episode als Teil einer Geschichte gesehen: Sich erinnern heißt, die erlebte Vergangenheit zu erzählen. In diesem Prozess bildet sich unsere seelische Identität heraus. Ein Selbst ist ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft: Ich bin derjenige, um den sich all meine Erzählungen der erlebten Vergangenheit drehen. Erkennbar wird dieses Zentrum auch dann, wenn es um erfundene Erzählungen geht. Die Sprache ist auch ein Medium der Einbildungskraft, sie beflügelt die Phantasie und lässt uns Geschichten erzählen, durch die wir uns selbst ausdrücken und besser verstehen lernen. Ich bin derjenige, dessen Erzählungen sich in Thema und Form unweigerlich in eine bestimmte Richtung bewegen. Auf einer Reise notiert Max Frisch: „Ich kanns nicht lassen, ich habe eine kleine Schreibmaschine gekauft ohne literarische Absicht … Diese Obsession, Sätze zu tippen –“ Woher kommt die Energie hinter dieser Obsession? Aus der Erfahrung der besonderen Wachheit, die entsteht, wenn wir das, was wir fühlen und denken, in Worte fassen. Vieles, was wir erleben, taucht auf und verschwindet wieder, ohne dass wir es recht bemerken, und nicht selten wuchert es in uns gerade deshalb besonders heftig. Eine Erfahrung zur Sprache zu bringen verhindert, dass wir nur ihre Opfer sind; wenn wir Worte dafür finden, entsteht eine erkennende Distanz, die wir als befreiend erleben. Auch das zeigt: Sprechende Tiere leben mit sich selbst ganz anders als stumme Tiere. Was ich bis jetzt beschrieben habe, könnte man die positive Macht der Sprache nennen. Es gibt auch ihre negative Macht. Sie ist dort wirksam, wo die Wörter das Verstehen verstellen und verhindern, statt es zu fördern. So geschieht es, wenn Wörter zu leeren Worthülsen werden und Sätze zu Parolen gerinnen. Sie sind dann nicht mehr eingebunden in den logischen Raum von Begründung, Kritik und Revision, sondern haben die unerbittliche Dumpfheit und Lautstärke von Fäusten, die auf den Tisch schlagen. Und auch die leise Variante gibt es: scheinbar unauffällige, harmlose Wendungen und Metaphern, die uns gefangen halten, ohne dass wir es Abitur 2009 Deutsch 85 90 95 Seite 6 merken. Dazu gehört auch die verlogene Sprache der Diplomatie mit ihren Euphemismen, Schönfärbereien und sanften Lügen. Ob es am Stammtisch ist oder auf dem glänzenden Parkett der Diplomaten und Politiker: Hier wird alles getan, um kritisches Nachfragen und das Bedürfnis des besseren Verstehens zu ersticken und den Geist zu verkleben. Neben Parolen gibt es noch eine andere Form, in der die Sprache das Verstehen und die Aufklärung verhindern kann: durch leeres Geschwätz und etwas, das man sprachlichen Schutt nennen könnte: klebrige Sprachgewohnheiten, tradierte Kategorienfehler, verrutschte Bilder, leer laufende logische Partikel, unerkannte Redundanzen und ganz allgemein: das Fehlen von sprachlicher Wachheit und Übersicht. Warum ist das ein Übel? Weil es die Sprecher von sprachlichem Müll zu bloßen Schauplätzen des Geredes und bloßen Durchgangsstationen für Geplapper macht statt zu wachen Personen, die in der sprachlichen Artikulation die Chance der Selbstbestimmung wahrnehmen. Das gilt auch für den Jargon von Cliquen, dem sich jeder fügen muss, der dazugehören will. Und es gilt auch, wenn die Cliquen angesehen und weitläufig sind und sich den Anstrich des Intellektuellen geben. Schließlich sprachliche Tabus: Es gibt die Wörter, aber man darf sie nicht gebrauchen. Nur sprechende Wesen können etwas auf diese gefährliche Weise verschweigen. 100 105 Vieles, was an unserer Erfahrung als Menschen besonders – besonders interessant und besonders wertvoll – ist, hat damit zu tun, dass wir über Sprache verfügen. Sie macht uns zu denkenden Wesen und gibt uns die Erfahrung einer verständlichen Welt. Sie lässt uns in erzählerischer Vergegenwärtigung das Tun der Anderen verstehen. Sie trägt zum Verstehen und der Konturierung der eigenen Innenwelt bei. Sie lässt ein Zentrum erzählerischer Schwerkraft und damit eine seelische Identität entstehen. An all diese Dinge kann man denken, wenn man bei Wilhelm von Humboldt liest: „Der Mensch ist nur Mensch durch Sprache.“ Aus: Zeit Magazin Leben. Die Zeit, 19.12.2007, Nr. 52 Abitur 2009 Deutsch Seite 7 Block II Max Frisch: Max Frisch: Andorra (Zehntes Bild, Textauszug) Zitat – nur für Teil B! A Interpretieren Sie den Textauszug. B Erörtern Sie das Zitat. Text zur Aufgabe A Max Frisch (1911 - 1991) Andorra Zehntes Bild 5 10 15 20 25 30 […] LEHRER Ich habe keine Ahnung, was jetzt geschieht. ANDRI Das blaue Wunder. LEHRER Was sagst du? ANDRI Lieber tot als untertan. Wieder das Gedröhn des fahrenden Lautsprechers KEIN ANDORRANER HAT ETWAS ZU FÜRCHTEN. Hörst du’s? RUHE UND ORDNUNG / JEDES BLUTVERGIESSEN / IM NAMEN DES FRIEDENS / WER EINE WAFFE TRÄGT ODER VERSTECKT / DER OBERBEFEHLSHABER / KEIN ANDORRANER HAT ETWAS ZU FÜRCHTEN … Stille Eigentlich ist es genau so, wie man es sich hätte vorstellen können. Genau so. LEHRER Wovon redest du? ANDRI Von eurer Kapitulation. Drei Männer, ohne Gewehr, gehen über den Platz. Du bist der letzte mit einem Gewehr. LEHRER Lumpenhunde. ANDRI Kein Andorraner hat etwas zu fürchten. Vogelzwitschern Hast du kein Feuer? Lehrer starrt den Männern nach. Hast du bemerkt, wie sie gehen? Sie blicken einander nicht an. Und wie sie schweigen! Wenn es dann soweit ist, merkt jeder, was er alles nie geglaubt hat. Drum gehen sie heute so seltsam. Wie lauter Lügner. Zwei Männer, ohne Gewehr, gehen über den Platz. LEHRER Mein Sohn – ANDRI Fang jetzt nicht wieder an! LEHRER Du bist verloren, wenn du mir nicht glaubst. ANDRI Ich bin nicht dein Sohn. LEHRER Man kann sich seinen Vater nicht wählen. Was soll ich tun, damit du’s Abitur 2009 Deutsch 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Seite 8 glaubst? Was noch? Ich sag es ihnen, wo ich stehe und gehe, ich hab’s den Kindern in der Schule gesagt, daß du mein Sohn bist. Was noch? Soll ich mich aufhängen, damit du’s glaubst? Ich geh nicht weg von dir. Er setzt sich zu Andri. Andri – Andri blickt an den Häusern herauf. Wo schaust du hin? Eine schwarze Fahne wird gehißt. ANDRI Sie können’s nicht erwarten. LEHRER Woher haben sie die Fahnen? ANDRI Jetzt brauchen sie nur noch einen Sündenbock. Eine zweite Fahne wird gehißt. LEHRER Komm nach Haus! ANDRI Es hat keinen Zweck, Vater, daß du es nochmals erzählst. Dein Schicksal ist nicht mein Schicksal, Vater, und mein Schicksal ist nicht dein Schicksal. LEHRER Mein einziger Zeuge ist tot. ANDRI Sprich nicht von ihr! LEHRER Du trägst ihren Ring – ANDRI Was du getan hast, tut kein Vater. LEHRER Woher weißt du das? Andri horcht. Ein Andorraner, sagen sie, hat nichts mit einer von drüben und schon gar nicht ein Kind. Ich hatte Angst vor ihnen, ja, Angst vor Andorra, weil ich feig war – ANDRI Man hört zu. LEHRER sieht sich um und schreit gegen die Häuser: – weil ich feig war! Wieder zu Andri: Drum hab ich das gesagt. Es war leichter, damals, ein Judenkind zu haben. Es war rühmlich. Sie haben dich gestreichelt, im Anfang haben sie dich gestreichelt, denn es schmeichelte ihnen, daß sie nicht sind wie diese da drüben. Andri horcht. Hörst du, was dein Vater sagt? Geräusch eines Fensterladens Sollen sie zuhören! Geräusch eines Fensterladens Andri – ANDRI Sie glauben’s dir nicht. LEHRER Weil du mir nicht glaubst! Andri raucht. Du mit deiner Unschuld, ja, du hast den Stein nicht geworfen, sag’s noch einmal, du hast den Stein nicht geworfen, ja, du mit dem Unmaß deiner Unschuld, sieh mich an wie ein Jud, aber du bist mein Sohn, ja, mein Sohn, und wenn du’s nicht glaubst, bist du verloren. ANDRI Ich bin verloren. LEHRER Du willst meine Schuld!? Andri blickt ihn an. So sag es! ANDRI Was? LEHRER Ich soll mich aufhängen, Sag’s! Marschmusik in der Ferne ANDRI Sie kommen mit Musik. Er nimmt eine nächste Zigarette. Abitur 2009 Deutsch 85 90 95 100 105 Seite 9 Ich bin nicht der erste, der verloren ist. Es hat keinen Zweck, was du redest. Ich weiß, wer meine Vorfahren sind. Tausende und Hunderttausende sind gestorben am Pfahl, ihr Schicksal ist mein Schicksal. LEHRER Schicksal! ANDRI Das verstehst du nicht, weil du kein Jud bist – Er blickt in die Gasse. Laß mich allein! LEHRER Was siehst du? ANDRI Wie sie die Gewehre auf den Haufen werfen. Auftritt der Soldat, der entwaffnet ist, er trägt nur noch die Trommel, man hört, wie Gewehre hingeworfen werden; der Soldat spricht zurück: SOLDAT Aber ordentlich! hab ich gesagt. Wie bei der Armee! Er tritt zum Lehrer. Her mit dem Gewehr. LEHRER Nein. SOLDAT Befehl ist Befehl. LEHRER Nein. SOLDAT Kein Andorraner hat etwas zu fürchten. Auftreten der Doktor, der Wirt, der Tischler, der Geselle, der Jemand, alle ohne Gewehr. LEHRER Lumpenhunde! Ihr alle! Fötzel! Bis zum letzten Mann. Fötzel! Der Lehrer entsichert sein Gewehr und will auf die Andorraner schießen, aber der Soldat greift ein, nach einem kurzen lautlosen Ringen ist der Lehrer entwaffnet und sieht sich um. – mein Sohn! Wo ist mein Sohn? Der Lehrer stürzt davon. JEMAND Was in den gefahren ist. Im Vordergrund rechts, am Orchestrion, erscheint Andri und wirft eine Münze ein, so daß seine Melodie spielt, und verschwindet langsam. (e 1961) Aus: M. Frisch. Andorra. Stück in zwölf Bildern. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 1961 Text zur Aufgabe B Max Frisch (1911 - 1991): „Es braucht kein Anti-Illusionismus gezeigt zu werden, aber der Zuschauer muss daran erinnert bleiben, dass ein Modell gezeigt wird, wie auf dem Theater eigentlich immer.“ (1961) Aus: M. Frisch. Andorra. Text und Kommentar. Suhrkamp Basis-Bibliothek 8. Frankfurt am Main 1999 Abitur 2009 Deutsch Seite 10 Block III Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (erster Textauszug) Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (zweiter Textauszug) – nur für Teil B! A Interpretieren Sie den ersten Textauszug. B Vergleichen Sie die beiden Textauszüge. Text zur Aufgabe A Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) Die Wahlverwandtschaften (Erster Teil, Zwölftes Kapitel) 5 10 15 20 25 30 […] Als Eduard ans Ufer springend den Kahn vom Lande stieß, Gattin und Freund dem schwankenden Element selbst überantwortete, sah nunmehr Charlotte den Mann, um den sie im stillen schon soviel gelitten hatte, in der Dämmerung vor sich sitzen und durch die Führung zweier Ruder das Fahrzeug in beliebiger Richtung fortbewegen. Sie empfand eine tiefe, selten gefühlte Traurigkeit. Das Kreisen des Kahns, das Plätschern der Ruder, der über den Wasserspiegel hinschauernde Windhauch, das Säuseln der Rohre, das letzte Schweben der Vögel, das Blinken und Widerblinken der ersten Sterne: alles hatte etwas Geisterhaftes in dieser allgemeinen Stille. Es schien ihr, der Freund führe sie weit weg, um sie auszusetzen, sie allein zu lassen. Eine wunderbare Bewegung war in ihrem Innern, und sie konnte nicht weinen. Der Hauptmann beschrieb ihr unterdessen, wie nach seiner Absicht die Anlagen werden sollten. Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns, daß er sich leicht mit zwei Rudern von einer Person bewegen und regieren lasse. Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung, manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Fähr- und Steuermann zu sein. Bei diesen Worten fiel der Freundin die bevorstehende Trennung aufs Herz. ‚Sagt er das mit Vorsatz?‘ dachte sie bei sich selbst. ‚Weiß er schon davon? vermutet ers? Oder sagt er es zufällig, so daß er mir bewußtlos mein Schicksal vorausverkündigt?‘ Es ergriff sie eine große Wehmut, eine Ungeduld; sie bat ihn, baldmöglichst zu landen und mit ihr nach dem Schlosse zurückzukehren. Es war das erstemal, daß der Hauptmann die Teiche befuhr, und ob er gleich im allgemeinen ihre Tiefe untersucht hatte, so waren ihm doch die einzelnen Stellen unbekannt. Dunkel fing es an zu werden; er richtete seinen Lauf dahin, wo er einen bequemen Ort zum Aussteigen vermutete und den Fußpfad nicht entfernt wußte, der nach dem Schlosse führte. Aber auch von dieser Bahn wurde er einigermaßen abgelenkt, als Charlotte mit einer Art von Ängstlichkeit den Wunsch wiederholte, bald am Lande zu sein. Er näherte sich mit erneuten Anstrengungen dem Ufer, aber leider fühlte er sich in einiger Entfernung davon angehalten; er hatte sich festgefahren, und seine Bemühungen, wieder loszukommen, waren vergebens. Was war zu tun? Ihm blieb nichts übrig, als in das Wasser zu steigen, das seicht genug war, und die Freundin an das Land zu tragen. Glücklich brachte er die liebe Bürde hinüber, stark genug, um nicht zu schwanken oder ihr einige Sorgen zu geben; aber doch hatte sie ängstlich ihre Arme um seinen Hals geschlungen. Abitur 2009 Deutsch 35 Seite 11 Er hielt sie fest und drückte sie an sich. Erst auf einem Rasenabhang ließ er sie nieder, nicht ohne Bewegung und Verwirrung. Sie lag noch an seinem Halse; er schloß sie aufs neue in seine Arme und drückte einen lebhaften Kuß auf ihre Lippen; aber auch im Augenblick lag er zu ihren Füßen, drückte seinen Mund auf ihre Hand und rief: „Charlotte, werden Sie mir vergeben?“ […] (e 1809) Aus: J. W. v. Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 6. Romane und Novellen I. Deutscher Taschenbuchverlag. München 1998 Text zur Aufgabe B Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832) Die Wahlverwandtschaften (Zweiter Teil, Dreizehntes Kapitel) 5 10 15 20 25 30 […] Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr nach der einen Seite und, wie sie sich erhalten will, Kind und Buch nach der andern, alles ins Wasser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingts, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen. In dem Augenblicke kehrt ihre ganze Besonnenheit zurück, aber um desto größer ist ihr Schmerz. Der Kahn treibt fast in der Mitte des Sees, das Ruder schwimmt fern, sie erblickt niemanden am Ufer, und auch was hätte es ihr geholfen, jemanden zu sehen! Von allem abgesondert, schwebt sie auf dem treulosen, unzugänglichen Elemente. Sie sucht Hülfe bei sich selbst. So oft hatte sie von Rettung der Ertrunkenen gehört. Noch am Abend ihres Geburtstags hatte sie es erlebt. Sie entkleidet das Kind und trocknets mit ihrem Musselingewand. Sie reißt ihren Busen auf und zeigt ihn zum erstenmal dem freien Himmel; zum erstenmal drückt sie ein Lebendiges an ihre reine nackte Brust, ach! und kein Lebendiges. Die kalten Glieder des unglücklichen Geschöpfs verkälten ihren Busen bis ins innerste Herz. Unendliche Tränen entquellen ihren Augen und erteilen der Oberfläche des Erstarrten einen Schein von Wärme und Leben. Sie läßt nicht nach, sie überhüllt es mit ihrem Schal, und durch Streicheln, Andrücken, Anhauchen, Küssen, Tränen glaubt sie jene Hülfsmittel zu ersetzen, die ihr in dieser Abgeschnittenheit versagt sind. Alles vergebens! Ohne Bewegung liegt das Kind in ihren Armen, ohne Bewegung steht der Kahn auf der Wasserfläche; aber auch hier läßt ihr schönes Gemüt sie nicht hülflos. Sie wendet sich nach oben. Knieend sinkt sie in dem Kahne nieder und hebt das erstarrte Kind mit beiden Armen über ihre unschuldige Brust, die an Weiße und leider auch an Kälte dem Marmor gleicht. Mit feuchtem Blick sieht sie empor und ruft Hülfe von daher, wo ein zartes Herz die größte Fülle zu finden hofft, wenn es überall mangelt. Auch wendet sie sich nicht vergebens zu den Sternen, die schon einzeln hervorzublinken anfangen. Ein sanfter Wind erhebt sich und treibt den Kahn nach den Platanen. (e 1809) Aus: J. W. v. Goethe. Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd 6. Romane und Novellen I. Deutscher Taschenbuchverlag. München 1998 Abitur 2009 Deutsch Seite 12 Block IV Annette von Droste-Hülshoff: Georg Trakl: Der Knabe im Moor Am Moor – nur für Teil B! A Interpretieren Sie die Ballade von Annette v. Droste-Hülshoff. B Vergleichen Sie das Gedicht von Georg Trakl mit der Ballade von Annette v. Droste-Hülshoff anhand ausgewählter Aspekte. Text zur Aufgabe A Annette von Droste-Hülshoff (1797 - 1848) Der Knabe im Moor 5 10 15 20 O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Heiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritte ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt als ob man es jage; Hohl über die Fläche sauset der Wind – Was raschelt drüben am Hage? Das ist der gespenstige Gräberknecht1, Der dem Meister die besten Torfe verzecht; Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind! Hinducket das Knäblein zage. Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin1, Das ist die gebannte Spinnlenor’, Die den Haspel dreht im Geröhre! Aus: 25 30 35 40 45 Voran, voran, nur immer im Lauf, Voran als woll’ es ihn holen; Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespenstige Melodei; Das ist der Geigemann1 ungetreu, Das ist der diebische Fiedler Knauf, Der den Hochzeitheller2 gestohlen! Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margreth1: »Ho, ho, meine arme Seele!« Der Knabe springt wie ein wundes Reh, Wär’ nicht Schutzengel in seiner Näh’, Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Ein Gräber im Moorgeschwele. Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimatlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre war’s fürchterlich, O schaurig wars in der Heide! (1842) B. Plachta/W. Woesler (Hg.). A. von Droste-Hülshoff. Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bd. 1. Gedichte. Deutscher Klassiker Verlag. Frankfurt/M. 1994 _______________________ Gräberknecht, Spinnerin, Geigemann, verdammte Margreth: phantastische, im Volksglauben verankerte Gestalten; auch: Verbrecher, aus der Gesellschaft Verstoßene, deren Seelen ruhelos im Moor umhergeistern 2 Hochzeitheller: Geschenk zur Verlobung, das die Treue symbolisiert und vor Armut schützen soll 1 Abitur 2009 Deutsch Text zur Aufgabe B Georg Trakl (1887 - 1914) Am Moor Wanderer im schwarzen Wind; leise flüstert das dürre Rohr In der Stille des Moors. Am grauen Himmel Ein Zug von wilden Vögeln folgt; Quere über finsteren Wassern. 5 10 Aufruhr. In verfallener Hütte Aufflattert mit schwarzen Flügeln die Fäulnis; Verkrüppelte Birken seufzen im Wind. Abend in verlassener Schenke. Den Heimweg umwittert Die sanfte Schwermut grasender Herden, Erscheinung der Nacht: Kröten tauchen aus silbernen Wassern (e 1915) Aus: W. Killy/H. Szklenar (Hg.). G. Trakl. Dichtungen und Briefe. Bd. 1. Otto Müller Verlag. Salzburg 1987 Seite 13