Fachdossier DE mdl II - Pädagogische Hochschule Luzern

Transcription

Fachdossier DE mdl II - Pädagogische Hochschule Luzern
Ausbildung – Vorbereitungskurse
Deutsch mündlich
Fachdossier Niveau II
weiterwissen.
Anforderungen
im
Fachbereich
Deutsch
mündlich
für
die
Eintrittsprüfung Niveau II an die Pädagogische Hochschule Luzern
(PHLU)
1
Lernziele
Die Kandidatin / der Kandidat:
•
•
•
•
•
2
kann komplexe Texte interpretieren
beherrscht literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit und verschiedene Analysemethoden
kann Texte in einen grösseren literaturgeschichtlichen Zusammenhang einordnen
kann literarische Texte ästhetisch beurteilen
kann eigene Lektüreerfahrungen überzeugend darlegen
Inhalte
Die mündliche Prüfung Deutsch dauert 20 Minuten. Sie bezieht sich inhaltlich auf vier umfangreichere
literarische Werke (Epik/ Dramatik) und drei Gedichte, welche die Kandidaten vorab auswählen und gründlich
lesen.
Die persönliche Vorbereitungslektüre basiert für alle auf einer vorgegebenen Lektüreliste (siehe S. 7 ff.). Die
ausgewählten Werke müssen verschiedenen Gattungen angehören - drei Gedichte, mindestens ein Drama,
mindestens ein episches Werk - und aus sieben verschiedenen literarischen Epochen stammen.
Die Kandidaten erarbeiten einige Wochen vor der Eintrittsprüfung selbstständig Thesen zu ihren ausgewählten
Werken (je drei Thesen zu den epischen Werken und zum Drama, je zwei Thesen zu den Gedichten) und geben
die Thesen einen Monat vor der Prüfung der Dozentin ab.
Ausgangspunkt für die Prüfung ist immer ein durch das Los bestimmter kurzer Text aus einem der gewählten
Werke. Um welches der Werke es sich handelt, wird auf dem Prüfungsblatt angegeben. Der Text wird dem
Seite 2 / 31
jeweiligen Kandidaten/der Kandidatin 20 Minuten vor Prüfungsbeginn zusammen mit den Thesen abgegeben
und die Kandidaten haben Zeit, die vorbereiteten Thesen am Prüfungstext zu verifizieren. An der Prüfung tragen
sie das Ergebnis vor. Anschliessend an das Referat findet ein Prüfungsgespräch statt, in dem die Examinatorin
weiterführende Fragen zum Textausschnitt, zum Werk, zu den Epochen und den übrigen ausgewählten Büchern
stellt.
3
Anforderungen und Ablauf
Die Kandidaten sollen nicht angeeignetes Wissen reproduzieren, sondern eigene Ideen und Erkenntnisse
erarbeiten, eigene Werturteile formulieren und begründen, komplexe Gedankengänge überzeugend entwickeln
und belegen.
Ungefährer Ablauf der Prüfung:
1. Vorlesen
2. Textausschnitt zusammenfassen und inhaltlich situieren
3. Textausschnitt analysieren
4. Textausschnitt in Bezug zum ganzen Werk setzen
5. Thesen verifizieren
6. anderes Werk / andere Werke
4
Empfohlene Vorbereitung
Um ausreichend auf die Formulierung der Thesen und das Prüfungsgespräch vorbereitet zu sein, sind folgende
Aspekte der Lektüre mit Hilfe von Sekundärliteratur zu klären:
1. Epik und Dramatik
a) Stil/Sprache:
Seite 3 / 31
•
Sprachliche Besonderheiten des Textauszugs und des ganzen Werks anhand von Beispielen zeigen
b) Erzählsituation
•
Erzählsituation und Perspektive erklären und anhand von Beispielen belegen
c) Inhalt
•
Inhalt des Werkes gut kennen
•
Zentrales Thema/Problem darstellen und analysieren/Interpretation
•
Weitere wichtige Themen/Seitenstränge (falls vorhanden) kennen und deuten
•
Wichtigste Figuren, ihre Charaktere, ihre Stellung im Werk beschreiben und Veränderungen
aufzeigen, falls vorhanden
•
Aufbau und Gliederung des Werkes/Spannungsbogen darstellen
d) Interpretation
•
Interpretation(sansätze) erklären
•
Eigenes Lese-Erlebnis reflektieren; eigenes Urteil zum Buch formulieren, Bezug zu heute schaffen
e) Literaturgeschichte/Gattung
•
Bezug zur Epoche herstellen und belegen (inhaltlich/formal)
•
Rezeptionsgeschichte
•
Bezug zur Gattung schaffen, durch Bezüge zum Text belegen
2. Lyrik
a) Formale und inhaltliche Analyse
•
Inhalt gut kennen
Seite 4 / 31
•
Lyrisches Ich erläutern
•
Formale Aspekte analysieren können: Strophen, Verse, Reim, Rhythmus etc.
•
Sprachliche Aspekte analysieren können: Metaphern, Wortspiele, Wortschöpfungen etc.
b) Interpretation
•
Formale, sprachliche und inhaltliche Aussagen in die Interpretation integrieren (Abhängigkeiten sichtbar
machen)
•
Interpretation(sansätze) erklären
•
Eigenes Lese-Erlebnis reflektieren; eigenes Urteil zum Gedicht formulieren, Bezug zu heute schaffen
c) Literaturgeschichte/Gattung
5
•
Bezug zur Epoche herstellen und belegen (inhaltlich/formal)
•
Rezeptionsgeschichte
•
Eigenes Lese-Erlebnis reflektieren; eigenes Urteil zum Gedicht formulieren, Bezug zu heute schaffen
Thesen
Die These kann behauptenden, empfehlenden oder beurteilenden Charakter haben. Wichtig ist, dass die Thesen
an einem Textausschnitt belegt werden können. Thesen müssen unbedingt selbst formuliert werden, denn erst
das eigenständige Erfassen ermöglicht ein grundlegendes Verstehen. Aus der Sekundärliteratur sollten nur
Schlüsselbegriffe und evtl. Fachbegriffe übernommen werden.
Beispiele für Thesen:
•
Durch die Wahl der Gattung Briefroman kommt die Selbstbestimmung der Stürmer und Dränger zur
Geltung.
•
Im Gedicht wird das Weltbild der Aufklärer anhand der Natur aufgezeigt, zugleich finden sich auch
barocke Elemente.
Seite 5 / 31
6
•
Die Struktur von „Homo Faber“ zeigt, dass Frisch auch als Autor Architekt geblieben ist.
•
Das regelmässige Rhythmus- und Reimschema verdeutlicht die Sehnsucht des Barock nach Ordnung.
Empfohlene Vorbereitung / Literatur
Um ausreichend auf das Prüfungsgespräch vorbereitet zu sein, sind die oben genannten Analyse- und
Interpretationskompetenzen mit Hilfe geeigneter Lehrmittel und von wissenschaftlicher Literatur zu
erarbeiten.
Empfohlen für die Vorbereitung wird: Wucherpfennig, W.: Deutsche Literaturgeschichte - Von den
Anfängen bis zur Gegenwart
aber auch:
-
Gigl, Claus J.: Deutsche Literaturgeschichte. Abiturwissen Deutsch (Literaturgeschichte für die
Mittelschule)
-
Kindlers Literaturlexikon (Autoren und ihre Werke)
-
Klett Lektürehilfen (Lernhilfen)
-
Königs Erläuterungen (Lernhilfen)
-
Reclams Erläuterungen (Lernhilfen)
-
Sammlung Metzler (Monographien zu Epochen oder Themen)
-
Text + Kritik (Sammelbände mit Einzelbeiträgen zu Autoren oder Themen)
-
Texte, Themen und Strukturen (Lehrmittel für die Mittelschule mit Kapiteln zu Literaturgeschichte
und Gattungen)
7
Beurteilungskriterien
Die Kandidatin / der Kandidat:
•
kann komplexe Texte interpretieren
•
beherrscht literaturwissenschaftliche Begrifflichkeit und verschiedene Analysemethoden
•
kann Texte in einen grösseren literaturgeschichtlichen Zusammenhang einordnen
Seite 6 / 31
•
kann literarische Texte ästhetisch beurteilen
•
legt eigene Lektüreerfahrungen überzeugend dar
•
erkennt Schlüsselaussagen eines Textes
•
ist kompetent in sprachlicher Darstellung (Gliederung, Wortwahl, Satzbau etc.) und Aussprache
www.phlu.ch
August 2016 / Andrea Grüter
PH Luzern · Pädagogische Hochschule Luzern
Ausbildung
Vorbereitungskurse
Pfistergasse 20 · Postfach 7660 · 6000 Luzern 7
T +41 (0)41 228 72 16 · F +41 (0)41 228 79 18
[email protected] · www.phlu.ch
Seite 7 / 31
Lektüreliste 2016/17
Die persönliche Vorbereitungslektüre basiert für alle auf dieser Lektüreliste. Es müssen sieben Werke ausgewählt werden, die
verschiedenen Gattungen angehören - drei Gedichte (s. S. 10 ff.) , mindestens ein Drama, mindestens ein episches Werk - und aus
sieben verschiedenen literarischen Epochen stammen.
Abkürzungen: SCH: Schauspiel / T: Tragödie / K: Komödie / E: Erzählung / R: Roman / N : Novelle I G : Geschichten / L: Lyrik/ Gedicht
(in Klammern ungefähre Anzahl Seiten)
AUFKLÄRUNG (18. Jh.)
Barthold Heinrich Brockes
Gotthold Ephraim Lessing
Gotthold Ephraim Lessing
Kirschblüte bei der Nacht, 1727 (L)
Emilia Galotti, 1772 (T) (40)
Nathan der Weise, 1779 (SCH) (80)
STURM UND DRANG (1770-1785)
Sophie von La Roche
Geschichte des Fräuleins von Sternheim, 1771 (R) (350)
Johann Wolfgang von Goethe Die Leiden des jungen Werther, 1774 (R) (150)
Johann Wolfgang von Goethe Rastlose Liebe, 1776 (L)
Johann Wolfgang von Goethe Der Erlkönig, 1778 (L)
Friedrich Schiller
Die Räuber, 1782 (SCH) (150)
Friedrich Schiller
Kabale und Liebe, 1784 (T) (110)
KLASSIK (1786-1805/32)
Johann Wolfgang von Goethe
Johann Wolfgang von Goethe
Johann Wolfgang von Goethe
Johann Wolfgang von Goethe
Friedrich Schiller
Friedrich Schiller
Iphigenie auf Tauris, 1787 (SCH) (62)
Das Märchen, 1795 (E) (40)
Novelle, 1797 (N) (30)
Faust I, 1808 (T) (135)
Die Bürgschaft, 1798 (L)
Wilhelm Tell, 1804 (T) (130)
ROMANTIK (1795-1835)
Friedrich de la Motte-Fouqué
Joseph von Eichendorff
Joseph von Eichendorff
Adalbert von Chamisso
Adalbert von Chamisso
Ludwig Uhland
E.T.A. Hoffmann
E.T.A. Hoffmann
Undine, 1811 (E) (95)
Waldgespräch, 1811/15 (L)
Das Marmorbild, 1818 (N) (60)
Peter Schlemihls wundersamer Geschichte, 1814 (E) (80)
Tragische Geschichte, 1831 (L)
Fräuleins Wache, 1815 (L)
Der goldne Topf, 1814/18 (N) (160)
Das Fräulein von Scuderie, 1821 (N) (80)
Seite 8 / 31
FRÜHREALISMUS (1815-1850)
Heinrich Heine
Heinrich Heine
Georg Büchner
Georg Büchner
Annette von Droste-Hülshoff
Annette von Droste-Hülshoff
Jeremias Gotthelf
Adalbert Stifter
Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, 1823/24 (L)
Die Stadt Lucca, Die Bäder von Lucca, 1831 (E) (150)
Woyzeck, 1836 (T, Fragment) (30)
Leonce und Lena, 1836 (K) (40)
Die Judenbuche, 1842 (N) (60)
Der Knabe im Moor, 1841/42 (L)
Die Schwarze Spinne, 1842 (N) (120)
Brigitta, 1844 (E) (65)
REALISMUS (1850 -1890)
C.F. Meyer
C.F. Meyer
Theodor Storm
Theodor Storm
Theodor Storm
Marie v. Ebner-Eschenbach
Theodor Fontane
Theodor Fontane
Der Schuss von der Kanzel, 1877 (N) (55)
Der schöne Tag, 1892 (L)
Der Schimmelreiter, 1888 (N) (130)
Immensee, 1849/51 (N) (55)
Ein Doppelgänger, 1887 (N) (80)
Das Gemeindekind, 1887 (R) (205)
Irrungen, Wirrungen, 1888 (R) (180)
Effi Briest, 1895 (R) (340)
NATURALISMUS (1880-1900)
Frank Wedekind
Frühlingserwachen, 1891 (T) (80)
Gerhard Hauptmann
Die Weber, 1891 (SCH) (80)
Gerhard Hauptmann
Die Ratten, 1911 (TK) (140)
GEGENSTRÖMUNG ZUM NATURALISMUS / 1. WELTKRIEG
Hugo von Hofmannsthal
Vorfrühling, 1892 (L)
Hugo von Hofmannsthal
Jedermann, 1911 (SCH) (70)
Rainer Maria Rilke
Herbsttag, 1902 (L)
Hermann Hesse
Unterm Rad, 1905 (E) (160)
Stefan Zweig
Angst, 1910 (N) (120)
Thomas Mann
Tod in Venedig, 1912 (N) (80)
Thomas Mann
Buddenbrooks, 1901 (R) (750)
Heinrich Mann
Der Untertan, 1914 (R) (490)
EXPRESSIONISMUS I DADA (1910 -1925) / ZWISCHENKRIEGSZEIT
Gottfried Benn
Morgue (Kleine Aster, Schöne Jugend, Kreislauf), 1912 (L)
Gottfried Benn
Gehirne, 1916 (fünf N) (50)
Franz Kafka
Die Verwandlung, 1912 (N) (60)
Alfred Döblin
Die Ermordung einer Butterblume, 1913 (zwölf E) (120)
Hermann Hesse
Der Steppenwolf, 1927 (R) (230)
Annemarie Schwarzenbach
Lyrische Novelle, 1933 (N) (100)
Seite 9 / 31
EPOCHE DES NATIONALSOZIALISMUS / EXILLITERATUR (1930-1945)
Kurt Tucholsky
Schloss Gripsholm, 1931 (E) (160)
Irmgard Keun
Gilgi, 1931 (R) (260)
Erich Kästner
Fabian, 1931 (R) (230)
Klaus Mann
Mephisto, 1936 (R) (390)
Stefan Zweig
Schachnovelle, 1941 (N) (50)
Anna Seghers
Der Ausflug der toten Mädchen, 1944 (drei E) (125)
Else Lasker-Schüler
Die Verscheuchte, 1943 (L)
ZEIT DES KALTEN KRIEGES (1945-1989)
Bertold Brecht
Das Leben des Galilei, 1955 (SCH) (180)
Max Frisch
Homo Faber, 1957 (R) (200)
Günter Grass
Die Blechtrommel, 1959 (R) (780)
Marie Luise Kaschnitz
Lange Schatten, 1960 (E) ganzer Band (170)
Hans Magnus Enzensberger
fränkischer kirschgarten im januar, 1962 (L)
Heinrich Böll
Ansichten eines Clown, 1963 (R) (250)
Max Frisch
Biografie - Ein Spiel, 1967 (SCH) (110)
Christa Wolf
Nachdenken über Christa T., 1968 (R) (180)
Peter Handke
Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, 1970 (E) (100)
Fritz Zorn
Mars, 1977 (R) (250)
AIfred Andersch
Der Vater eines Mörders, 1980 (E) (100)
LITERATUR NACH DER WENDE (nach 1990)
eigene Wahl
Seite 10 / 31
Barthold Heinrich Brockes
Kirschblüte bei der Nacht (1727)
Ich sahe mit betrachtendem Gemüte
Jüngst einen Kirschbaum, welcher blühte,
In kühler Nacht beim Mondenschein;
Ich glaubt', es könne nichts von größrer Weiße sein.
Es schien, ob wär ein Schnee gefallen.
Ein jeder, auch der kleinste Ast
Trug gleichsam eine rechte Last
Von zierlich-weißen runden Ballen.
Es ist kein Schwan so weiß, da nämlich jedes Blatt,
Indem daselbst des Mondes sanftes Licht
Selbst durch die zarten Blätter bricht,
Sogar den Schatten weiß und sonder Schwärze hat.
Unmöglich, dacht ich, kann auf Erden
Was Weißers aufgefunden werden.
Indem ich nun bald hin, bald her
Im Schatten dieses Baumes gehe,
Sah ich von ungefähr
Durch alle Blumen in die Höhe
Und ward noch einen weißern Schein,
Der tausendmal so weiß, der tausendmal so klar,
Fast halb darob erstaunt, gewahr.
Der Blüte Schnee schien schwarz zu sein
Bei diesem weißen Glanz. Es fiel mir ins Gesicht
Von einem hellen Stern ein weißes Licht,
Das mir recht in die Seele strahlte.
Wie sehr ich mich an Gott im Irdischen ergetze,
Dacht ich, hat Er dennoch weit größre Schätze.
Die größte Schönheit dieser Erden
Kann mit der himmlischen doch nicht verglichen werden.
Seite 11 / 31
Johann Wolfgang von Goethe
Rastlose Liebe (1776)
Dem Schnee, dem Regen,
Dem Wind entgegen,
Im Dampf der Klüfte,
Durch Nebeldüfte,
Immer zu! Immer zu!
Ohne Rast und Ruh!
Lieber durch Leiden
Möcht ich mich schlagen,
Als so viel Freuden
Des Lebens ertragen.
Alle das Neigen
Von Herzen zu Herzen,
Ach, wie so eigen
Schaffet das Schmerzen!
Wie soll ich fliehen?
Wälderwärts ziehen?
Alles vergebens!
Krone des Lebens,
Glück ohne Ruh,
Liebe, bist du!
Seite 12 / 31
Johann Wolfgang von Goethe
Der Erlkönig (1778)
Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind;
Er hat den Knaben wohl in dem Arm,
Er fasst ihn sicher, er hält ihn warm.
Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif? Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif. "Du liebes Kind, komm, geh mit mir!
Gar schöne Spiele spiel ich mit dir;
Manch bunte Blumen sind an dem Strand,
Meine Mutter hat manch gülden Gewand."
Mein Vater, mein Vater, und hörest du nicht,
Was Erlenkönig mir leise verspricht? Sei ruhig, bleibe ruhig, mein Kind;
In dürren Blättern säuselt der Wind. Willst, feiner Knabe, du mit mir gehn?
Meine Töchter sollen dich warten schön;
Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn,
Und wiegen und tanzen und singen dich ein."
Mein Vater, mein Vater, und siehst du nicht dort
Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Mein Sohn, mein Sohn, ich seh es genau:
Es scheinen die alten Weiden so grau. "Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt;
Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt."
Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!
Erlkönig hat mir ein Leids getan! Dem Vater grausets, er reitet geschwind,
Er hält in Armen das ächzende Kind,
Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
In seinen Armen das Kind war tot.
Seite 13 / 31
Friedrich Schiller
Die Bürgschaft (1798)
Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich
Damon, den Dolch im Gewande:
Ihn schlugen die Häscher in Bande,
"Was wolltest du mit dem Dolche? Sprich!"
Entgegnet ihm finster der Wüterich.
"Die Stadt vom Tyrannen befreien!"
"Das sollst du am Kreuze bereuen."
"Ich bin", spricht jener, "zu sterben bereit
Und bitte nicht um mein Leben:
Doch willst du Gnade mir geben,
Ich flehe dich um drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
Ich lasse den Freund dir als Bürgen,
Ihn magst du, entrinn' ich, erwürgen."
Da lächelt der König mit arger List
Und spricht nach kurzem Bedenken:
"Drei Tage will ich dir schenken;
Doch wisse, wenn sie verstrichen, die Frist,
Eh' du zurück mir gegeben bist,
So muss er statt deiner erblassen,
Doch dir ist die Strafe erlassen."
Und er kommt zum Freunde: "Der König gebeut,
Dass ich am Kreuz mit dem Leben
Bezahle das frevelnde Streben.
Doch will er mir gönnen drei Tage Zeit,
Bis ich die Schwester dem Gatten gefreit;
So bleib du dem König zum Pfande,
Bis ich komme zu lösen die Bande."
Und schweigend umarmt ihn der treue Freund
Und liefert sich aus dem Tyrannen;
Der andere ziehet von dannen.
Und ehe das dritte Morgenrot scheint,
Hat er schnell mit dem Gatten die Schwester vereint,
Eilt heim mit sorgender Seele,
Damit er die Frist nicht verfehle.
Da giesst unendlicher Regen herab,
Seite 14 / 31
Von den Bergen stürzen die Quellen,
Und die Bäche, die Ströme schwellen.
Und er kommt ans Ufer mit wanderndem Stab,
Da reisset die Brücke der Strudel hinab,
Und donnernd sprengen die Wogen
Des Gewölbes krachenden Bogen.
Und trostlos irrt er an Ufers Rand:
Wie weit er auch spähet und blicket
Und die Stimme, die rufende, schicket.
Da stösset kein Nachen vom sichern Strand,
Der ihn setze an das gewünschte Land,
Kein Schiffer lenket die Fähre,
Und der wilde Strom wird zum Meere.
Da sinkt er ans Ufer und weint und fleht,
Die Hände zum Zeus erhoben:
"O hemme des Stromes Toben!
Es eilen die Stunden, im Mittag steht
Die Sonne, und wenn sie niedergeht
Und ich kann die Stadt nicht erreichen,
So muss der Freund mir erbleichen."
Doch wachsend erneut sich des Stromes Wut,
Und Welle auf Welle zerrinnet,
Und Stunde an Stunde entrinnet.
Da treibt ihn die Angst, da fasst er sich Mut
Und wirft sich hinein in die brausende Flut
Und teilt mit gewaltigen Armen
Den Strom, und ein Gott hat Erbarmen.
Und gewinnt das Ufer und eilet fort
Und danket dem rettenden Gotte;
Da stürzet die raubende Rotte
Hervor aus des Waldes nächtlichem Ort,
Den Pfad ihm sperrend, und schnaubet Mord
Und hemmet des Wanderers Eile
Mit drohend geschwungener Keule.
"Was wollt ihr?" ruft er vor Schrecken bleich,
"Ich habe nichts als mein Leben,
Das muss ich dem Könige geben!"
Und entreißt die Keule dem nächsten gleich:
"Um des Freundes willen erbarmet euch!"
Und drei mit gewaltigen Streichen
Erlegt er, die andern entweichen.
Seite 15 / 31
Und die Sonne versendet glühenden Brand,
Und von der unendlichen Mühe
Ermattet sinken die Knie.
"O hast du mich gnädig aus Räubershand,
Aus dem Strom mich gerettet ans heilige Land,
Und soll hier verschmachtend verderben,
Und der Freund mir, der liebende, sterben!"
Und horch! da sprudelt es silberhell,
Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen,
Und stille hält er, zu lauschen;
Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell,
Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell,
Und freudig bückt er sich nieder
Und erfrischet die brennenden Glieder.
Und die Sonne blickt durch der Zweige Grün
Und malt auf den glänzenden Matten
Der Bäume gigantische Schatten;
Und zwei Wanderer sieht er die Strasse ziehn,
Will eilenden Laufes vorüber fliehn,
Da hört er die Worte sie sagen:
"Jetzt wird er ans Kreuz geschlagen."
Und die Angst beflügelt den eilenden Fuß,
Ihn jagen der Sorge Qualen;
Da schimmern in Abendrots Strahlen
Von ferne die Zinnen von Syrakus,
Und entgegen kommt ihm Philostratus,
Des Hauses redlicher Hüter,
Der erkennet entsetzt den Gebieter:
"Zurück! du rettest den Freund nicht mehr,
So rette das eigene Leben!
Den Tod erleidet er eben.
Von Stunde zu Stunde gewartet' er
Mit hoffender Seele der Wiederkehr,
Ihm konnte den mutigen Glauben
Der Hohn des Tyrannen nicht rauben."
"Und ist es zu spät, und kann ich ihm nicht,
Ein Retter, willkommen erscheinen,
So soll mich der Tod ihm vereinen.
Des rühme der blut'ge Tyrann sich nicht,
dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht,
Seite 16 / 31
Er schlachte der Opfer zweie
Und glaube an Liebe und Treue!"
Und die Sonne geht unter, da steht er am Tor,
Und sieht das Kreuz schon erhöhet,
Das die Menge gaffend umstehet;
An dem Seile schon zieht man den Freund empor,
Da zertrennt er gewaltig den dichten Chor:
"Mich, Henker", ruft er, "erwürget!
Da bin ich, für den er gebürget!"
Und Erstaunen ergreifet das Volk umher,
In den Armen liegen sich beide
Und weinen vor Schmerzen und Freude.
Da sieht man kein Auge tränenleer,
Und zum Könige bringt man die Wundermär';
Der fühlt ein menschliches Rühren,
Lässt schnell vor den Thron sie führen,
Und blicket sie lange verwundert an.
Drauf spricht er: "Es ist euch gelungen,
Ihr habt das Herz mir bezwungen;
Und die Treue, sie ist doch kein leerer Wahn So nehmet auch mich zum Genossen an:
Ich sei, gewährt mir die Bitte,
In eurem Bunde der Dritte!"
Seite 17 / 31
Josef von Eichendorff
Waldgespräch (1811)
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Was reitst du einsam durch den Wald?
Der Wald ist lang, du bist allein,
Du schöne Braut! Ich führ dich heim!
»Groß ist der Männer Trug und List,
Vor Schmerz mein Herz gebrochen ist,
Wohl irrt das Waldhorn her und hin,
O flieh! Du weißt nicht, wer ich bin.«
So reich geschmückt ist Ross und Weib,
So wunderschön der junge Leib,
Jetzt kenn ich dich – Gott steh mir bei!
Du bist die Hexe Lorelei.
»Du kennst mich wohl – von hohem Stein
Schaut still mein Schloss tief in den Rhein.
Es ist schon spät, es wird schon kalt,
Kommst nimmermehr aus diesem Wald!«
Seite 18 / 31
Ludwig Uhland
Fräuleins Wache (1815)
Ich geh all Nacht die Runde
Um Vaters Hof und Hall'.
Es schlafen zu dieser Stunde
Die trägen Wächter all.
Ich Fräulein zart muß streifen,
Ohn' Wehr und Waffen schweifen,
Den Feind der Nacht zu greifen.
O weh des schlimmen Gesellen! Nach Argem steht sein Sinn. Würd' ich nicht kühn mich stellen, Wohl stieg' er über die Zinn'. Wann ich denselben finde, Wie er lauert bei der Linde, Ich widersag ihm geschwinde.
Da muß ich mit ihm ringen Allein die Nacht entlang; Er will mich stets umschlingen, Wie eine wilde Schlang'; Er kommt vom Höllengrunde, Wie aus eins Drachen Schlunde, Gehn Flammen aus seinem Munde.
Und hab ich ihn überwunden, Halt ihn im Arme dicht: Doch eh' die Sterne geschwunden, Entschlüpft mir stets der Wicht. Ich kann ihn niemand zeigen, Muß meinen Sieg verschweigen Und mich in Trauer neigen.
Seite 19 / 31
Heinrich Heine
Die Heimkehr (1823/24)
Ich weiß nicht was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.
Die Luft ist kühl und es dunkelt,
Und ruhig fließt der Rhein;
Der Gipfel des Berges funkelt
Im Abendsonnenschein.
Die schönste Jungfrau sitzet
Dort oben wunderbar;
Ihr goldnes Geschmeide blitzet,
Sie kämmt ihr goldenes Haar.
Sie kämmt es mit goldenem Kamme
Und singt ein Lied dabei;
Das hat eine wundersame,
Gewaltige Melodei.
Den Schiffer im kleinen Schiffe
Ergreift es mit wildem Weh;
Er schaut nicht die Felsenriffe,
Er schaut nur hinauf in die Höh.
Ich glaube, die Wellen verschlingen
Am Ende Schiffer und Kahn;
Und das hat mit ihrem Singen
Die Lore-Ley getan.
Seite 20 / 31
Adelbert von Chamisso
Tragische Geschichte (1831)
's war einer, dems zu Herzen ging,
Daß ihm der Zopf so hinten hing,
Er wollt es anders haben. So denkt er denn: "Wie fang ichs an?
Ich dreh mich um, so ists getan" -
Der Zopf, der hängt ihm hinten. Da hat er flink sich umgedreht,
Und wie es stund, es annoch steht –
Der Zopf, der hängt ihm hinten. Da dreht er schnell sich anders 'rum,
's wird aber noch nicht besser drum –
Der Zopf, der hängt ihm hinten. Er dreht sich links, er dreht sich rechts, Es tut nichts Guts, es tut nichts Schlechts -
Der Zopf, der hängt ihm hinten. Es dreht sich wie ein Kreisel fort, Es hilft zu Nichts, in einem Wort -
Der Zopf, der hängt ihm hinten. Und seht, er dreht sich immer noch, Und denkt: "Es hilft am Ende doch" -
Der Zopf, der hängt ihm hinten.
Seite 21 / 31
Annette von Droste-Hülshoff
Der Knabe im Moor (1841/42)
Oh schaurig ist’s übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ists übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!
Fest hält die Fibel das zitternde Kind Und rennt, als ob mann es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind –
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.
Vom Ufer starret Gestumpf hervor, Unheimlich nicket die Föhre, Der Knabe rennt, gespannt das Ohr, Durch Riesenhalme wie Speere; Und wie es rieselt und knittert darin! Das ist die unselige Spinnerin, Das ist die gebannte Spinnlenor´, Die den Haspel dreht im Geröhre!
Voran, voran! nur immer im Lauf, Voran, als woll es ihn holen! Vor seinem Fuße brodelt es auf, Es pfeift ihm unter den Sohlen Wie eine gespenstische Melodei; Seite 22 / 31
Das ist der Geigemann ungetreu, Das ist der diebische Fiedler Kanuf, Der den Hochzeitheller gestohlen!
Da birst das Moor, ein Seufzer geht Hervor aus der klaffenden Höhle; Weh, weh, da ruft die verdammte Margret: "Ho, ho, meine arme Seele!" Der Knabe springt wie ein wundes Reh; Wär nicht Schutzengel in seiner Näh, Seine bleichenden Knöchelchen fände spät Ein Gräber im Moorgeschwele.
Da mählich gründet der Boden sich, Und drüben, neben der Weide, Die Lampe flimmert so heimatlich, Der Knabe steht an der Scheide. Tief atmet er auf, zum Moor zurück Noch immer wirft er den scheuen Blick: Ja, im Geröhre wars fürchterlich, O schaurig wars in der Heide!
Seite 23 / 31
Conrad Ferdinand Meyer
Der schöne Tag (1982)
In kühler Tiefe spiegelt sich
Des Juli-Himmels warmes Blau,
Libellen tanzen auf der Flut,
Die nicht der kleinste Hauch bewegt.
Zwei Knaben und ein ledig Boot Sie sprangen jauchzend in das Bad.
Der eine taucht gekühlt empor.
Der andre steigt nicht wieder auf.
Ein wilder Schrei: "Der Bruder sank!"
Von Booten wimmelts schon. Man fischt.
Den einen rudern sie ans Land,
Der fahl wie ein Verbrecher sitzt.
Der andre Knabe sinkt und sinkt
Gemach hinab, ein Schlummernder,
Geschmiegt das sanfte Lockenhaupt
An einer Nymphe weisse Brust.
Seite 24 / 31
Hugo von Hofmannsthal
Vorfrühling (1892)
Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.
Er hat sich gewiegt,
Wo Weinen war,
Und hat sich geschmiegt
In zerrüttetes Haar.
Er schüttelte nieder
Akazienblüten
Und kühlte die Glieder,
Die atmend glühten.
Lippen im Lachen
Hat er berührt,
Die weichen und wachen
Fluren durchspürt.
Er glitt durch die Flöte,
Als schluchzender Schrei,
An dämmernder Röte
Flog er vorbei.
Er flog mit Schweigen
Durch flüsternde Zimmer
Und löschte im Neigen
Der Ampel Schimmer.
Es läuft der Frühlingswind
Durch kahle Alleen,
Seltsame Dinge sind
In seinem Wehn.
Durch die glatten
Kahlen Alleen
Treibt sein Wehn
Blasse Schatten
Und den Duft,
Den er gebracht,
Seite 25 / 31
Von wo er gekommen
Seit gestern Nacht.
Seite 26 / 31
Rainer Maria Rilke
Herbsttag (1902)
Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
27
Gottfried Benn
Morgue (1912)
I KLEINE ASTER
Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den Tisch gestemmt.
Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt
Als ich von der Brust aus
unter der Haut
mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt,
muss ich sie angestoßen haben, denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn
Ich packte sie ihm in die Brusthöhle
zwischen die Holzwolle,
als man zunähte.
Trinke dich satt in deiner Vase!
Ruhe sanft,
kleine Aster!
II SCHÖNE JUGEND
Der Mund eines Mädchens, das lange im Schilf gelegen hatte,
sah so angeknabbert aus.
Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löcherig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!
28
III KREISLAUF
Der einsame Backzahn einer Dirne,
die unbekannt verstorben war,
trug eine Goldplombe.
Die übrigen waren wie auf stille Verabredung ausgegangen.
Den schlug der Leichendiener sich heraus,
versetzte ihn und ging für tanzen.
Denn, sagte er,
nur Erde solle zur Erde werden.
29
Else Lasker-Schüler
Die Verscheuchte (1943)
Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt,
Entseelt begegnen alle Welten sichKaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild.
Wie lange war kein Herz zu meinem mild...
Die Welt erkaltete, der Mensch verblich.
Komm bete mit mir - denn Gott tröstet mich.
Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich?
Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild
Durch bleiche Zeiten träumend - ja ich liebte dich...
Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt?
Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich
Und ich vor deine Tür, ein Bündel Wegerich.
Bald haben Tränen alle Himmel weggespült,
An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestilltAuch du und ich.
30
Hans Magnus Enzensberger
fränkischer kirschgarten im januar (1962)
1
was einst baum war, stock, hecke, zaun:
unter gehn in der leeren schneeluft
diese winzigen spuren von tusche
wie ein wort auf der seite riesigem weiß:
weiß zeichnet dies geringfügig schöne geäst
in den weißen himmel sich, zartfingrig,
fast ohne andenken, fast nur noch frost,
kaum mehr zeitheimisch, kaum noch
oben und unten, umsichtig
die linie zwischen himmel und hügel,
sehr wenig weiß im weißen:
fast nichts –
2
und doch ist da,
eh die seite, der ort, die minute
ganz weiß wird,
noch dies getümmel geringer farben
im kaum mehr deutlichen deutlich:
eine streitschar erbitterter tüpfel:
zink-, blei-, kreideweiß, gips, milch, schlohweiß und schimmernd
jedes von jedem distinkt:
so vielstimmig, so genau,
in hellen gesprenkelten haufen,
der todesjubel der spuren:
wieviel büschel von winzigen weißen schreien
vor der gähnenden siegerin ewigkeit!
3
zwischen fast nichts und nichts
wehrt sich und blüht weiß die kirsche.
31