Überlegungen und Vorschläge für Anwendungsszenarien
Transcription
Überlegungen und Vorschläge für Anwendungsszenarien
Technische Universität Hamburg-Harburg Arbeitsbereich Technikbewertung und Technikgestaltung WP 16 Working Papers zur Modellierung sozialer Organisationsformen in der Sozionik* Überlegungen und Vorschläge für Anwendungsszenarien im Bereich von „E-Commerce“ Michael Florian Hamburg, Dezember 2000 * Das Projekt „Modellierung sozialer Organisationsformen in VKI und Soziologie“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Schwerpunktprogramm Nr. 1077 „Sozionik: Erforschung und Modellierung künstlicher Sozialität“ unter der Kennziffer FL 336/1 gefördert Inhalt 1. Einleitung.......................................................................................................3 2. Defizite herkömmlicher Transportbörsen im E-Commerce..........................3 3. Vorschläge für die Auswahl geeigneter Anwendungsszenarien.................11 3.1. Das Basisszenario: die herkömmliche Transportbörse......................................... 13 3.2. Szenario 2: Die „Speditionskooperation“ als Beispiel für das Beziehungsmanagement zwischen kooperierenden Unternehmen ........................ 14 3.3. Szenario 3: Die „virtuelle Spedition“ als Beispiel für das Beziehungsmanagement innerhalb eines virtuellen Unternehmens ...................... 14 3.4. Szenario 4: Habitusaffine Gemeinschaftsbildung als Ausweitung der Perspektive auf „electronic communities“............................................................ 17 4. Ausblick auf zukünftige Themen der soziologischen Modellierung des elektronischen Handels per Internet ............................................................18 5. Anhang: Schematische Übersicht über die Funktionalität und Koordinationsmechanismen der Anwendungsszenarien Fehler! Textmarke nicht definiert. 6. Literatur .......................................................................................................27 2 1. Einleitung Die folgenden Überlegungen und Vorschläge zielen darauf, geeignete Anwendungsszenarien zu identifizieren, die sich als „Meilensteine“ für eine Modellierung und Implementierung im Schwerpunktprogramm „Sozionik“ eignen. Mit dem elektronischen Handel (E-Commerce) wird ein Anwendungsfeld ausgewählt, das erstens genügend Distanz zum herkömmlichen „Teletruck“-Ansatz (vgl. Bürckert et al. 1998) aufweist, der am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Saarbrücken gegen Ende der neunziger Jahre entwickelt wurde, und das dennoch nicht völlig losgelöst von der Transportdomäne und einem damit verbundenen Transportbörsenmodell ist. Zweitens bietet das Anwendungsfeld des Electronic Commerce einen sehr hohen Aktualitäts- und Aufmerksamkeitsgrad (man könnte auch von einer Modeerscheinung sprechen), verbunden mit sehr guten (vki- bzw. agententechnologischen) Entwicklungsmöglichkeiten. Und drittens gewährt dieses Anwendungsszenarien einen geeigneten Spielraum, in dessen Rahmen sich die Besonderheiten und Vorzüge der Habitus-Feld-Theorie (HFT) sehr gut entfalten und modellieren lassen. Im folgenden Beitrag sollen zunächst einige Defizite aufgezeigt werden, die herkömmliche Transportbörsen bislang im E-Commerce aufweisen (Kapitel 2). Daran anschließend werden fünf Anwendungsszenarien ausgewählt und in ihren Merkmalen skizziert (Kapitel 3). Abschließend wird ein Ausblick gegeben auf zukünftige Themenstellungen der soziologischen Modellierung des elektronischen Handels per Internet (Kapitel 4). 2. Defizite herkömmlicher Transportbörsen im E-Commerce Im Bereich des E-Commerce ist ein „elektronischer Marktplatz“ eine auf das Internet gestützte Kommunikationsplattform, mit deren Hilfe sich Anbieter von Produkten und Dienstleistungen „virtuell“ mit potenziellen Nachfragern treffen können, um in Verhandlungen über Preise, Produktions- und Lieferbedingungen zu treten und (so weit es die technische Funktionalität zulässt) den Geschäftsprozess mit elektronischer Unterstützung abwickeln zu können. In ihrer einfachsten Form funktioniert eine elektronische Transportbörse (wie jede andere Tauschbörse im E-Commerce) wie ein virtuelles „schwarzes Brett“, auf dem Anbieter oder Nachfrager ihre Angebote oder Gesuche inserieren, bei Interesse mit dem gewünschten Transaktionspartner Kontakt aufnehmen und den gewünschten Geschäftsprozess einleiten. Den Ausgangspunkte für die Szenariengestaltung bilden Defizite bisheriger Transportbörsenund E-Commerce-Modelle (vgl. zur Einführung Florian 2000). Abgesehen davon, dass eine echte Anwendung der Multiagenten-Technologie für den E-Commerce via WWW bislang noch nicht als running system realisiert worden ist, sind die Schwächen bisheriger ECommerce-Anwendungen vor allem in fehlenden „sozialen“ Funktionalitäten zu suchen, besonders was das komplexe Beziehungsmanagement innerhalb von und zwischen den kooperierenden Unternehmen betrifft. Es scheint sich aber bei den kommerziellen Transportbörsen zurzeit ein Entwicklungstrend abzuzeichnen, fehlende Funktionalitäten nachzurüsten bzw. in Aussicht zu stellen. So ist gegenwärtig eine Weiterentwicklung von herkömmlichen Transportbörsen (wie z.B. beim Marktführer Teleroute), die wie ein elektronisches „Schwarzes Brett“ für das bloße Annoncieren von Angebot und Nachfrage funktionieren, hin zu aufwendigeren, interaktiven Börsensystemen, Portalen und Transaktionsplattformen zu beobachten (vgl. z.B. die neueren Börsen von Freightwise), die über die reine Informationsfunktion hinaus auch eine elektronische Weiterverarbeitung der interaktiven Vertragsgestaltung (z.B. mittels Auktionsmechanismen für die Preisbildung) und Auftragsabwicklung (z.B. durch Übertragung der Daten in die IuK-Systeme der Beteiligten, durch Anbieten von zusätzlichen Serviceleistungen wie Sendungsverfolgung, kaufmännische Abrechnung etc.) „innerhalb“ des Transportbörsensystems ermöglichen und auch eine Art von Kooperationsbörse anbieten. Produkte und Lösungen der TradeNetOne.com AG Unser Produktportfolio umfasst: - "RoadNetOne" Internet-Dispositionssystem für Strassengüterfernverkehr - Marktinformationssysteme - Einkaufsgemeinschaften - Fachgemeinschaft In der zweiten Ausbaustufe wird das System um eine Fachgemeinschaft (Community) ergänzt werden, die den Teilnehmern eine Informationsplattform zur Verfügung stellt. „RoadNetOne“ - das Internet-Dispositionssystem für Strassengüterfernverkehr RoadNetOne ermöglicht eine internet-gestützte Disposition von Frachten und Laderaum. (...) Ihr persönlicher "Agent" informiert Sie per SMS, Email oder Telefon, wenn für Sie passende Fracht auf der Plattform verfügbar ist. Bei RoadNetOne werden die Transaktionen direkt auf der Plattform geschlossen. Das hat den Vorteil, dass alle auf der Plattform stehende Frachtgesuche und -gebote verfügbar sind. Denn sind Frachtgesuche und -gebote abgewickelt, löscht sie das System automatisch aus dem Datenbestand. Intelligente Agenten entlasten den Anwender bei der Suche und informieren ihn per SMS, Email oder Telefon, wenn passende Fracht oder Kapazität auf der Plattform verfügbar ist. Nach erfolgter Leistung können sich die Geschäftspartner gegenseitig bewerten. Diese Bewertung ist in der Plattform für alle Teilnehmer sichtbar und hilft allen bei der Auswahl eines zuverlässigen Geschäftspartners. Diese Funktionen bietet Ihnen kein anderes System. RoadNetOne ist beliebig konfigurierbar vom offenen Markt im Internet bis hin zu geschlossenen Benutzergruppen und Sub-Märkten als Intranet-Lösung (-> RoadNetOne-Intranet) „RoadNetOne Intranet“ RoadNetOne-Intranet schafft Synergien und Transparenz innerhalb eines Firmenverbundes. Alle Niederlassungen und deren Partnerunternehmen bilden einen internen Markt, indem Sie Frachten und Laderaum über das System disponieren und die jeweiligen Kapazitäten mit Ihren Kollegen ausgleichen. Bei Bedarf kann die unternehmensinterne Lösung vollständig in das Internet-Dispositionssystem für Strassengüterverkehr integriert werden. (...) http://www.tradenetone.com (Auszug aus: „produkte_rno.html“) Abb. 1: RoadNetOne – eine neuartige Transportbörse Worin liegen die Schwächen herkömmlicher Transportbörsen? Hier sind im wesentlichen folgende Defizite zu nennen, die für die Auswahl der Szenarien und für die Entwicklung des „sozionischen“ Multiagentensystems eine besondere Herausforderung darstellen. 4 • Fehlende Integration zwischen „offenen“ und „geschlossenen“ Börsensystemen Herkömmliche Transportbörsen bestehen bislang nur entweder als offene oder als geschlossene Systeme.1 Offene Systeme wenden sich an alle interessierten Speditions- und Transportunternehmen (und in Zukunft verstärkt auch direkt an die verladende Wirtschaft), mit dem Problem, dass die Beteiligten auf Grund der in den ersten Phasen der Geschäftsanbahnung erforderlichen Anonymität die Vertrauenswürdigkeit, Leistungsfähigkeit, Bonität etc. ihrer potenziellen Interaktionspartner nicht zuverlässig einschätzen können. Die für den Kundenund Datenschutz notwendige Anonymität lässt sich aber nur schwer mit der erforderlichen Transparenz des Marktgeschehens und der Partnerfindung in Einklang bringen. Bestehende Börsensysteme versuchen dieses Problem durch die Einführung von wechselseitigen Ratings und die ständige Selektion der Teilnehmer (durch Auslese der „Schwarzen Schafe“) in den Griff zu bekommen. Transportbörsen für einen geschlossenen Benutzerkreis haben dagegen zwar den Vorteil, dass die Partner sich besser kennen, ihre Stärken und Schwächen zuverlässiger einschätzen können und wegen der Vertrauenswürdigkeit der ihnen bekannten Partner eher dazu bereit sind, sich auch auf riskantere Vorleistungen einzulassen, geschlossene Börsen weisen aber gegenüber den offenen den Nachteil eines stark eingeschränkten Teilnehmerkreises und geringerer Flexibilität bei der Partnerauswahl auf. • Konflikte zwischen den Interessen nach Sicherheit und Zuverlässigkeit Transportbörsen im Internet haben das Problem, dass sie mit konträren Interessen konfrontiert sind. Einerseits sollen sie Sicherheit (im Sinne des Datenschutzes) gewährleisten, d.h. die Anonymität aller Börsenteilnehmer sichern. Andererseits sollen sie aber auch für eine angemessene Transparenz des Marktgeschehens sorgen, damit zuverlässige und leistungsstarke Partner gefunden werden können. Diese Identifizierung geeigneter Partner für die Anbahnung bzw. Stabilisierung von (temporären) Geschäftsbeziehungen einschließlich der Möglichkeit des Wiedererkennens von Wunschpartnern und der Identifizierung von „Schwarzen Schafen“ widerspricht aber dem Interesse nach Anonymität. Eine mögliche Lösung könnte sein, neuartige Mechanismen für die (Wieder-)Erkennung und Identifizierung geeigneter Geschäfts- und Kooperationspartner zu entwickeln. Die Plattform eines virtuellen Marktplatzes könnte als Zusatzleistung einen Mechanismen für die soziale Schließung und Gruppierung für die Anbahnung stabiler (oder temporär wiederkehrender) Geschäftsbeziehungen anbieten bis hin zur festen Kooperation oder virtuellen Netzwerkbildung zwischen kleinen und mittleren Unternehmen, die sich keinen kapitalintensiven „Overhead“ für die Genese und Steuerung eines Unternehmungsnetzwerkes „leisten“ können (weil ihnen das kulturelle Kapital in Form von Managementkompetenz, das ökonomische Kapital sowieso und auch noch das soziale Kapital einträglicher Bekanntschaften fehlt). 1 Eine Ausnahme bildet „RoadNetOne“ des Anbieters TradeNetOne.com AG (s. Abb. 1), das eine gemischte Konfiguration zwischen offenen und geschlossenen Nutzerkreisen zulassen soll. Da es sich hierbei um ein System handelt, das Interviewpartner aus der Hamburger Niederlassung eines großen Speditionsunternehmens derzeit im praktischen Einsatz testen sollen, ist davon auszugehen, das die volle Funktionalität der Transportbörse noch nicht für alle Kunden zur Verfügung steht. 5 • Einschränkung auf Nachbildung idealisierter Marktmechanismen Bei den gegenwärtig bestehenden Transportbörsen fällt auf, dass die soziale Komplexität der existierenden Systeme ausschließlich auf eine Nachbildung idealer Marktmechanismen (mittels virtuellem Marktplatz, Börse und Auktion) mit dem Ziel der idealen Preisbildung auf einem vollständig „transparenten“ Markt beschränkt sind (vgl. auch Florian 2000, S. 7ff.). Was diese Idealisierung des Marktes als Stärke erscheinen lässt (direkte Kostensenkung für Verlader durch Auffinden des billigsten Transportangebotes und indirekte Kostensenkung für Transportunternehmen durch Akquisition von Rückladungen) bevorzugt in erster Linie nur die Wettbewerbsstrategie der „umfassenden Kostenführerschaft“, während andere Wettbewerbsstrategien wie die „Differenzierung“ des Leistungsangebotes oder die „Konzentration auf Schwerpunkte“ durch solche Transportbörsen nicht unterstützt geschweige denn honoriert werden (vgl. zu den drei Typen von Wettbewerbsstrategien Porter 1984, S. 62ff.). Mit der Nachbildung der realen ökonomischen Bedingungen der sozialen Praxis eines Marktes hat die bislang implementierte Idealisierung des Marktmechanismus nur wenig zu tun. Hierzu wäre es erforderlich, den Markt als ein soziales Feld zu modellieren, in dem unterschiedlich starke Akteure miteinander um sehr unterschiedliche Wettbewerbsvorteile ringen, in dem sie je nach der relativen Position innerhalb des Kräftefeldes nur bestimmte Konkurrenten überhaupt als Rivalen wahrnehmen und sich bei Bedarf auch nur mit bestimmten Partnern zwecks Koalition oder Kooperation zusammentun. • Begrenzung von Wettbewerbsstrategien und Koordinierungsformen Herkömmliche Börsen lassen bislang nur eine Wettbewerbsstrategie (Kostenführerschaft) und nur einen Koordinationsmechanismus (Marktpreise) zu, weil sie zurzeit nur mit dem Preismechanismus operieren („Auktion“). Alternative Bewertungskriterien fehlen, die (besonders bei gleichen Preisen) wichtig sind. Kostenführerschaft (oder negativ formuliert: Preisdumping) ist nicht die einzige und bei weitem nicht immer die geeignetste (und erfolgreichste) Wettbewerbsstrategie. Ein möglicher Lösungsweg für diese Problemstellung könnte sein, mit Unterstützung der HFT weiterführende Aspekte, Strategien und Evaluationskriterien zu modellieren, die in der sozialen Praxis zu finden sind, um der modellierten Transportbörse zu höherer Funktionalität, Skalierbarkeit und Robustheit (und vermutlich auch „Realitätsnähe“ zu den praktischen Abläufen) zu verhelfen. • Eingeschränkte Evaluation und Klassifizierung potenzieller Kooperationspartner Herkömmliche Transportbörsen können zwar mit ihren Auktionsmechanismen zu einer beschleunigten Abwicklung der Preisfindung beitragen, eine schnelle und „zufriedenstellende“ Einschätzung der Geschäftspartner und der Qualität möglicher Vertragsabschlüsse lassen sie bislang aber nur ansatzweise zu (z.B. durch gegenseitiges Rating der Tauschpartner). Eine umfassende und differenzierte Evaluation vor dem Vertragsabschluss samt begleitender Verhandlungen wie sie vor allem in der Kontraktlogistik gefordert wird, lassen sich bisher noch nicht realisieren. Ein möglicher Lösungsweg für diese Problematik könnte ein Evaluationsund Selektionsmechanismus bieten, mit dem sich die auf dem gesamten Kapitalbesitz basie- 6 rende soziale Positionierung der jeweiligen Agenten im sozialen Kräftefeld des Marktes einschätzen ließe. • Fehlende Möglichkeiten für die Herausbildung sozialer Gruppierungen Selbst dort, wo von Transportbörsen heute schon die Entwicklung von elektronischen Einkaufs- oder Fach-„Gemeinschaften“ anvisiert wird (z.B. bei RoadNetOne), wird lediglich der elektronische Informationsaustausch unterstützt (bei „Fachgemeinschaften“ z.B. durch Einrichtung von Blackboards, speziellen Nachrichtenboxen oder Chat-Plattformen) oder es wird bloß versucht, den Preisbildungsmechanismus mittels sozialer Gruppierung (d.h. vor allem durch Stärkung der Nachfrageseite) zu beeinflussen (vgl. z.B. „Einkaufsgemeinschaften“; die Anbieter lassen sich über so genannte „virtuelle Produktkataloge“ ebenfalls zu „Verkäufergemeinschaften“ zusammenfassen). Inwieweit hier in einem soziologischen Sinne von einer sozialen Gruppierung oder gar „Gemeinschaft“ gesprochen werden kann, ist sehr zweifelhaft. Die genannten Kritikpunkte an herkömmlichen Transportbörsen deuten an, wo sozionische Innovationschancen bestehen. Wird der (elektronische) Markt im Sinne der Habitus-FeldTheorie (HFT) als ein soziales Feld begriffen, auf dem die Unternehmen als „korporative Agenten“ mit unterschiedlicher „Stärke“ (d.h. ungleicher Ausstattung mit ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital) agieren, lässt sich mit Hilfe der HFT einerseits der rein preisökonomisch ausgerichtete Marktmechanismus („ökonomisches Kapital“) durch zusätzliche Kapitalsorten erweitern, die neben dem „ökonomischen Kapital“ ebenfalls das Marktgeschehen beeinflussen und differenzierter „erklären“. Andererseits lassen sich neuartige soziale Mechanismen modellieren, die bislang im Transportbörsenszenario vernachlässigt wurden und die durch reine Marktmechanismen nicht erklärbar sind: Gemeint ist die Herausbildung und Entwicklung von sozialen Gruppierungen, d.h. die Entstehung von sozialen Gemeinschaften und die soziale Genese von Kooperationen innerhalb und zwischen Unternehmen, mitsamt des hierfür erforderlichen Grenz- und Beziehungsmanagements, mit dem die Relationen zwischen den kooperierenden Partnern reguliert werden. Den folgenden Überlegungen liegt die These zu Grunde, dass „Recht“ und „Vertrauen“ im interorganisationalen Management als komplementäre Mechanismen sozialer Koordination wirksam werden. Während sich das Recht auf eine explizite und meist auch formal mittels Vereinbarung oder Vertrag abgesicherte Spezifikation von Handlungschancen und -pflichten bezieht, setzt Vertrauen keine explizite, formale Festlegung spezifischer Handlungsweisen voraus. Max Weber (vgl. 1980, S. 395ff., 506) hat Systematisierung und Formalismus sowie logistische Abstraktion und Generalisierbarkeit als besondere Merkmale von Rechtsgarantien gegenüber den lediglich informellen Qualitäten einer Gesinnung(sethik) charakterisiert, die beim persönlichen Vertrauen auf die materiale Loyalität des Verhaltens anderer spekuliert. Die soziale Wirksamkeit eines Rechtes resultiert aus seiner von allen Beteiligten im eigenen Interesse anerkannten (notfalls aber auch mittels Sanktionen durchsetzbaren) Geltung, die Weber (1980, S. 505) zufolge durch die rein formale Eindeutigkeit der Rechtsgarantie gewährleistet wird. Vertrauen dagegen beruht geradezu darauf, dass „ostentativ“ (vor allem mit Hilfe symbolischer Darstellungsmittel) darauf verzichtet wird, den eigenen Willen durch ex7 pliziten Verweis auf verfügbare Zwangsmittel durchzusetzen oder bestehende Chancen zu nutzen, eigene egoistische Interessen auf Kosten anderer zu verfolgen. Vertrauen ist somit ein sozialer Mechanismus, der wesentlich auf der Erwartung der „Selbstbeherrschung“ und des freiwilligen Verzichts auf opportunistische Handlungsweisen beruht und dadurch erst reziproke soziale Verpflichtungen erzeugt. Der Geltungsanspruch eines Rechtes ist dagegen auf Anerkennung und Sanktionierbarkeit expliziter sozialer Normen angewiesen, die gegebenenfalls durch die „Existenz eines Erzwingungs-Stabes“ (Weber 1980, S. 18) durchgesetzt werden können. In beiden Fällen handelt es sich aber um einen Prozess „sozialer Schließung“ (Weber), der im Falle des Rechtes eine allgemeine Geltung appropriierter Chancen oder eine formale Mitgliedschaft definiert und im Fall des Vertrauens den Kreis derjenigen begrenzt, die auf Grund bestimmter Merkmale als vertrauenswürdig erscheinen.2 Unter welchen Bedingungen werden Recht und Vertrauen als Komplementärmechanismen für die Koordinierung sozialer Beziehungen wirksam? Wenn wir der Habitus-Feld-Theorie von Pierre Bourdieu (1987) folgen, dann setzt die Erzeugung jedweder sozialer Wirkungen grundsätzlich eine Verfügung über und einen Einsatz von Machtressourcen (in Form von „Kapital“) voraus. Bereits Max Weber (1980, S. 539, 541ff.) hatte soziale Herrschaft auf eine ähnlich umfassende Weise als ein zentrales „Phänomen alles Sozialen“ verstanden und „Herrschaft“ als einen Sonderfall der Macht begriffen, der auf einer Ausübung (legitimer) autoritärer Befehlsgewalt beruht. Allerdings entwickelt Bourdieu (1987, S. 228ff.) die Herrschaftstheorie von Weber in einem entscheidenden Punkt weiter, indem er Formen symbolischer Macht eine besondere Aufmerksamkeit widmet, bei denen der eigene Wille nur deshalb ohne Widerstände durchgesetzt werden kann, weil eine tatsächlich bestehende Macht- oder Herrschaftsbeziehung von den Beteiligten erst gar nicht als solche erkannt wird („symbolische Gewalt“). Diese symbolische Dimension sozialer Herrschaft wird vor allem in Zusammenhängen bedeutsam, in denen sich die wechselseitige Abstimmung der Agenten über die Koordinationsmechanismen „Recht“ und „Vertrauen“ reguliert. Wie Max Weber (1980) gezeigt hat, setzt die Geltung eines Rechtes (samt des zu seiner Erzwingung einsetzbaren Stabes) die Anerkennung einer sozialen Ordnung voraus, der sich alle Beteiligten unterwerfen. In modernen Gesellschaften werden Handlungsrechte und –pflichten meist in Form von (vertraglich fixierten) Vereinbarungen festgelegt, deren Einhaltung notfalls mit legalen Mitteln erzwungen werden kann. Dies gilt gleichermaßen für Eigentumsrechte (z.B. in Form von Kaufverträgen), die eine Voraussetzung für den freien und friedlichen Austausch ökonomischer Güter bilden, wie für Herrschaftsrechte (z.B. in Form von „Beherrschungsverträgen“), die auf der Basis einer sozialen Anerkennung legitimer Befehlsgewalten die fundamentale Bedingung für die Autorisierung von Vorgesetzten und anderen Anwei- 2 Im Anschluss an Max Weber (1980, S. 21) ließe sich die Entstehung von Vertrauen als Vergemeinschaftung einer sozialen Beziehung begreifen, bei der die Einstellung des sozialen Handelns der Beteiligten auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht, während das Recht durch Vergesellschaftung entsteht, d.h. auf einem wert- oder zweckrational motivierten Interessenausgleich (in Form von Verträgen oder Vereinbarungen) ausgerichtet ist. 8 sungsgebern darstellen.3 Neben diesen beiden klassischen Koordinationsmechanismen (ökonomischer Tausch und Herrschaft kraft Autorität), die eine zumindest implizite und fraglose Anerkennung von „Rechten“ voraussetzen, möchten wir zwei weitere Mechanismen berücksichtigen, die sich beide auf „Vertrauen“ gründen: erstens den Gabentausch als eine gegenüber dem ökonomischen Äquivalententausch unterscheidbare Form sozialen Austausches und zweitens die soziale Delegation als einer Autorisierungsform, bei der sich ein Kollektiv unter den Bedingungen der Entscheidungspartizipation und annähernder Gleichrangigkeit aller Beteiligten auf einen Bevollmächtigen oder Repräsentanten des Kollektivs einigt.4 Sowohl der Gabentausch als auch die Delegierung eines Agenten zum offiziellen Repräsentanten des Kollektivs sind dem Vertrauensmodell zuzuordnen: Beim Gabentausch geht es darum, den eigenen ökonomischen Willen (d.h. den sofort wirksamen egoistischen Nutzen) symbolisch für eine langfristige soziale Ver-Bindung auszuklammern; bei der sozialen Delegation wird ebenfalls der eigene Wille der vom Kollektiv Bevollmächtigten (nämlich: im Eigennutz zu herrschen und egoistische Interessen zu verfolgen) symbolisch verneint, um scheinbar selbstlos für das allgemeine Wohl und für die Interessen der Repräsentierten eintreten zu können. Der Unterschied zwischen Gabentausch und Delegation liegt darin, dass der Gabentausch lediglich die „Gleichheit der Ehre“ (Bourdieu 1987, S. 183) voraussetzt ohne gezwungenermaßen ein Herrschaftsverhältnis zu produzieren, während die Bevollmächtigung als solche immer eine (wenn auch vielleicht nur schwache oder temporäre) Herrschaftsbeziehung unter Gleichen erzeugt. Im Anschluss an diese Überlegungen lassen sich erstens Recht und Vertrauen als zwei komplementäre Mechanismen für die Koordination sozialer Beziehungen unterscheiden, die sich in der sozialen Praxis wechselseitig ergänzen. Zweitens sind beide Koordinierungsmechanismen nach horizontalen und vertikalen Strukturierungsformen zu differenzieren, je nachdem, ob es um bloße Austauschbeziehungen ohne weiteren Herrschaftsanspruch geht oder ob es sich um Beziehungen handelt, die sich auf Autorität oder Autorisierung gründen und dadurch vertikale Unterschiede in der sozialen Struktur (re-)produzieren. Werden alle vier Aspekte berücksichtigt, lässt sich das Verhältnis zwischen Recht und Vertrauen schematisch in Form einer Matrix darstellen (s. Abb. 2). Markt, Hierarchie und Netzwerk sind dabei als Formen 3 Der für Arbeitsorganisationen typische Arbeitsvertrag betrifft gleichermaßen den Aspekt ökonomischen Tausches (Ver-Kauf der Ware Arbeitskraft) und die Einordnung in einen Herrschaftsverband. 4 Der Gabentausch und die soziale Delegation sind theoretische Konzepte, die Pierre Bourdieu eher beiläufig als systematisch benutzt: Der Gabentausch dient bei Bourdieu dazu, die Wirkung der Zeit und die Funktionsweise des Habitus und der praktischen „Logik“ bei der Erzeugung sozialer Praxis zu illustrieren (vgl. 1987, S. 180ff., insbesondere S. 185; vgl. zum Gabentausch auch Florian 2000, S. 17ff.), während er mit dem Delegationskonzept zu erklären versucht, wie die Sprecher, Bevollmächtigten, Mandatsträger oder politischen Repräsentanten eines Kollektivs zur offiziellen Anerkennung der Existenz dieser sozialen Gruppierung beiträgt (vgl. Bourdieu 1992, S. 174ff.; 1987, S. 198ff.). Selbstverständlich hat die Geschenkökonomie in modernen kapitalistischen Gesellschaften die besondere Relevanz verloren, die ihr in traditionalen Gesellschaften (wie z.B. der von Bourdieu untersuchten kabylischen Gesellschaft) zukommt. Auch wenn die Gabe keine dominierende ökonomische Tauschform mehr ist, so folgt daraus aber nicht, dass der Gabentausch in der Moderne gar keine Bedeutung mehr hätte (zur Soziologie des Schenkens vgl. z.B. Rost 1994 und Paul 1997). Im Gegenteil: In der sozialen Praxis können sich ökonomischer Tausch und Gabentausch gegenseitig ergänzen, weshalb wir von einer Komplementarität beider Koordinierungsmechanismen ausgehen. 9 ökonomischer Aktivitäten zu begreifen, die sich idealtypisch danach unterscheiden, ob erstens ein Besitz- oder Handlungsrecht durch Austausch oder Autorisierung wirksam wird oder zweitens das für die Netzwerkbildung unerlässliche Vertrauen sich auf Gabentausch oder soziale Delegation gründet. Formales Recht Vertrauen Austausch(form) (horizontale Strukturierung) Autorisierung(sform) (vertikale Strukturierung) „Markt“ ökonomischer Tausch von Äquivalenten (ökonomische Konkurrenz, vertraglich fixierte Vereinbarungen, Kaufverträge) „Netzwerk“ (I) sozialer Austausch (Gabentausch bei Ehrengleichheit) „Hierarchie“ Herrschaft kraft Autorität unter der Bedingung sozialer Ungleichheit (Hierarchie: Rang-/Positionsunterschiede, „Beherrschungsverträge“, Sanktionsgewalt) „Netzwerk“ (II) Bevollmächtigung, Repräsentation unter der Bedingung von Partizipation (soziale Delegation) Abb. 2: Recht und Vertrauen als soziale Koordinationsmechanismen Die Entstehung von Vertrauen in (zwischen)betrieblichen Beziehungen, so unsere These, ist an bestimmte strukturelle Bedingungen des sozialen Kräftefeldes gebunden, in das die Akteure eingespannt sind (zum Begriff des sozialen Feldes vgl. z.B. Bourdieu und Wacquant 1996, S. 124ff.; Bourdieu et al. 1998, S. 33ff., 71ff. und 162ff.). Ob sich die Beziehungen zwischen und innerhalb von Unternehmen vertrauensbasiert entwickeln können, hängt aus soziologischer Sicht zunächst davon ab, wie die Akteure (und potenziellen Kooperationspartner) innerhalb des entsprechenden sozialen Feldes positioniert sind. Unter (unbewusster) Bezugnahme auf deren Feldposition und ihre bisherigen Verhaltensweisen werden die möglichen Partner als Konkurrenten eingeschätzt und/oder als prinzipiell vertrauenswürdig wahrgenommen und klassifiziert. Daraus folgt: Es gibt keine zufällige oder beliebige Eignung anderer Firmen als vertrauenswürdige Kooperationspartner. Der mögliche Gewinn aus der Zusammenarbeit wird ebenso wie das potenzielle Risiko, dass Vorleistungen durch opportunistische Verhaltensweisen enttäuscht werden und zu Kapitalverlusten führen können, mit Blick auf die relative Position und Stärke des in Frage kommenden Unternehmens innerhalb des sozialen Kräftefeldes aller hier operierenden Unternehmen eingeschätzt und bewertet (unter Bezugnahme auf die jeweils spezifischen Gewichte aller Kapitalsorten, die je nach Marktsituation und –strategie stark variieren können). Fazit: Für die Weiterentwicklung der Transportbörsenmodelle im E-Commerce fehlen erstens wettbewerbsstrategisch und organisatorisch flexiblere Börsensysteme, die je nach Bedarf Öffnung und Exklusivität des Benutzerkreises gewährleisten können, um die grundsätzlich nötige Offenheit und Flexibilität mit einer fallweise erwünschten Schließung des Teilnehmerkreises zu verbinden. Zweitens sind über die reine Börsen- und Auktionsfunktion des elektronischen Marktes hinaus noch zusätzliche „soziale“ Funktionalitäten erforderlich, damit neben dem Marktmechanismus auch die soziale Entstehung und Entwicklung von Koalitionen und Allianzen, temporären (virtuellen) Unternehmungsnetzwerken und langfristig stabilen Kooperationen zwischen Unternehmen multiagententechnologisch nachgebildet werden können. 10 3. Vorschläge für die Auswahl geeigneter Anwendungsszenarien Um eine hinreichende Ausdifferenzierung der Mikro-, Meso- und Makroebenen zu gewährleisten, muss ein hinreichend komplexer Szenarienkontext gewählt werden, in dem sich unterschiedliche soziale Organisationsformen mit Hilfe des Multiagentensystems experimentell validieren lassen. Die Auswahl der Transportbörse als Beispiel für einen virtuellen Marktplatz im World Wide Web (WWW) soll die Entwicklung einer sozialen Infrastruktur erlauben, mit deren Hilfe eine Entstehung von unterschiedlichen sozialen Organisationsformen im Dienstleistungsbereich von Transportwirtschaft und Logistik möglich wird. Im Rahmen von ECommerce zielen die Anwendungsszenarien der Transportbörse in unserem speziellen Fallbeispiel nicht nur auf den ökonomischen Tausch von Frachten und Ladungen wie ihn herkömmliche Börsen derzeit bereits bieten, sondern darüber hinaus auch auf die Anbahnung und Entwicklung von komplexeren Kooperationsbeziehungen sowie auf das mit der Stabilisierung und Robustheit solcher Beziehungen verbundene Beziehungsmanagement kooperierender Firmen. Im Anschluss an unsere Differenzierung zwischen „Recht“ und „Vertrauen“, „Austausch“ und „Autorisierung“ (vgl. Abb. 2) lassen sich vier soziale Koordinationsmechanismen für die Modellierung von Transportbörsen unterscheiden (s. Abb. 3): Markt, Herrschaft, Gabentausch und soziale Delegation. Dabei gehen wir von der These aus, dass sich formale Organisationen in der Transportwirtschaft auf der Grundlage geltenden Rechtes primär über „Markt“ und „Herrschaft“ koordinieren, während sich soziale Netzwerke vorrangig auf der Basis vertrauensvoller Beziehungen durch Gabentausch und soziale Delegation abstimmen.5 Schematisch betrachtet, ergibt sich daraus folgendes Bild (s. Abb. 3): Der rein ökonomische Marktmechanismus, der in herkömmlichen Tauschbörsen z.B. über Auktionen zur Preisfindung wirksam wird, entspricht den Leistungsangeboten derzeit bestehender Transport-, Tausch- oder Kontaktbörsen (I. Quadrant); der Herrschaftsmechanismus entspricht dem Idealtypus einer bürokratisch-hierarchischen Organisation (Anweisung, II. Quadrant); der Vertrauensmechanismus lässt sich danach differenzieren, ob es sich um die symbolische Verneinung einer ökonomischen Tauschbeziehung handelt (Gabentausch, III. Quadrant) oder um die Bevollmächtigung von Gleichrangigen, die eine symbolische Verneinung der möglichen Herrschaftschancen verlangt, um Vertrauen bilden zu können (soziale Delegation, IV. Quadrant). 5 Selbstverständlich werden sich in der Geschäftspraxis stets Mischformen aller vier Mechanismen finden. Es geht hier lediglich um eine idealtypische Unterscheidung, die den jeweiligen Schwerpunkt der Koordinierung markiert. 11 Formales Recht Vertrauen Austausch(form) (horizontale Strukturierung) Autorisierung(sform) (vertikale Strukturierung) Marktmechanismus (Börse, Auktion) Marktplatz als virtueller Raum, in dem sich potenzielle Tauschpartner treffen, um Frachten/Ladungen auszutauschen (Transportbörse) oder geeignete Kooperationspartner zu finden (Kontaktbörse) Herrschaftsmechanismus Anweisung (lat. delegatio) als soziale Differenzierung unterschiedlicher Entscheidungsbefugnisse je nach besetzter sozialer Position in der Befehl-Gehorsam-Hierarchie (herkömmliche Rollentheorie) Vertrauensmechanismus II soziale Delegation (lat. de-legare), Bevollmächtigung von Gleichrangigen durch symbolische Verneinung der dadurch ermöglichten Herrschaftsbeziehung Vertrauensmechanismus I Gabentausch als symbolische Verneinung ökonomischer Tauschbeziehungen Abb. 3: Ein Schema sozialer Koordinationsmechanismen für Transportbörsen Die Modellierung formaler Rechte in Form von Markt- oder Herrschaftsmechanismen bereitet herkömmlichen Tauschbörsen keine größere Schwierigkeiten. Die hier benutzten Auktionsformen und Anweisungsmuster dienen auch in der Verteilten KI als Vergleichsmaßstab, um die Leistungsfähigkeit von Multiagentensystemen zu evaluieren (vgl. z.B. die am Deutschen Forschungsinstitut für Künstliche Intelligenz in Saarbrücken entwickelten Architekturen und Modelle zur Realisierung agentengestützter Auktionen und Delegationsverfahren für die Vergabe oder Verteilung von Transportteilaufträgen). Was aber noch Probleme aufwirft, und was sich deshalb in besonderer Weise als Forschungsfeld eignet, ist die Modellierung von Vertrauen. Auch wenn der Vertrauensbegriff in der Verteilten Künstlichen Intelligenz (VKI) nicht unbekannt ist (vgl. z.B. Marsh 1994a/b), wurde (nach meinem Wissensstand) die Grundidee des Gabentausch-Konzeptes, durch gegenseitige Geschenke die Vertrauensbildung zu fördern und in einem Kollektiv reziproke soziale Bindungen herzustellen, bislang noch nicht in der VKI verfolgt. Auch der Delegationsbegriff, der in der Verteilten KI verwendet wird, um die Zerlegung von Aufträgen in Teilaufträge zu beschreiben, die dann an andere Agenten zwecks Ausführung „delegiert“ werden (zur Verteilung oder Weiterleitung von Aufträgen vgl. z.B. das Contract-Net-Protocol; zum Delegationsbegriff vgl. z.B. Castelfranchi und Falcone 1998), lässt sich im Anschluss an unsere Überlegungen weiterentwickeln. Dabei sind zwei unterschiedliche Definitionen von „Delegation“ zu unterscheiden: (1) „Delegation“ von Transportaufträgen in Form einer „Anweisung“ Das in der VKI verbreitete Verständnis von „Delegation“ beschreibt die Anweisung von (Teil-)Aufträgen durch Übertragung von Zuständigkeiten, Leistungen oder Befugnissen an andere (vgl. lateinisch „delegatio“ lt. Duden „Etymologie“ 1989, S. 119 sowie Duden „Fremdwörterbuch“ 1974, S. 162). (2) „Soziale Delegation“ von Agenten als Bevollmächtigte eines sozialen Kollektivs Der in unserem Zusammenhang benutzte Begriff der „sozialen Delegation“ (vgl. dazu im Lateinischen „de-legare“ im Duden „Etymologie“ 1989, S. 119) beschreibt die „Abordnung“ von Bevollmächtigten, die zu (politischen) Tagungen, Konferenzen oder in Führungsorgane entsandt werden, wo diese Delegierten die Aufgabe haben, die Interessen jener zu vertreten, die sie repräsentieren sollen. 12 Die „Bevollmächtigung“, d.h. die Autorisierung durch eine Gruppe von Agenten, im Namen dieser Gruppe zu sprechen und zu handeln oder die Ausstattung mit der Vollmacht, in Vertretung anderer zu agieren, verwendet den Delegationsbegriff nicht mit Blick auf die Übertragung von Aufträgen, sondern in Bezug auf Agenten, die als Repräsentanten anderer Agenten fungieren. Bei Bourdieu (1992, S. 174ff.) dient der Delegationsbegriff dazu, die Entstehung sozialer Gruppen als kollektive oder korporative Akteure zu erklären: Eine Gruppe ist gesellschaftlich betrachtet nur dann sozial existent, wenn sie aktionsfähig ist, d.h. Repräsentanten mit ihrer Macht ausstattet, die Interessen der Gruppe als Ganzes zu vertreten und geltend zu machen. Mit Hilfe unserer Matrix lassen sich somit „Recht“ und „Vertrauen“ sowohl unter dem Aspekt horizontaler Strukturierung (Austausch) als auch unter dem Gesichtspunkt vertikaler Strukturierung (Autorisierung) berücksichtigen. Neben dem Markt und der Hierarchie sind mit dem Gabentausch und der sozialen Delegation zwei weitere, auf Vertrauen basierende Koordinierungsmechanismen modellierbar, die sich vor allem für die Erklärung der sozialen Genese von Netzwerken eignen. Auf dieser Grundlage schlagen wir eine mehrstufige Abfolge von vier Anwendungsszenarien vor, die im Verlauf des verbleibenden Forschungsprozesses im Schwerpunktprogramm „Sozionik“ in den nächsten Jahren analysiert, modelliert und ansatzweise auch implementiert werden sollen. 6 Die Szenarien beschreiben dabei unterschiedliche Formen, Reichweiten und Ausprägungen der Zusammenarbeit zwischen den im E-Commerce (ko)operierenden Agenten. Die Anwendungsorientierung der Szenarien gründet sich auf jene vier zentralen Aufgaben, die das Beziehungsmanagement zwischen Unternehmensorganisationen (im Anschluss an Sydow 1999, S. 279ff.) realisieren muss: (1) Selektion geeigneter Kooperationspartner, (2) Allokation von Ressourcen im Netzwerk, (3) Regulierung der Netzwerkbeziehungen und (4) Evaluation der Kooperationspartner und Netzwerkbeziehungen (vgl. auch die schematische Übersicht über die Funktionalität und Koordinationsmechanismen der Szenarien im Anhang). 3.1. Das Basisszenario: die herkömmliche Transportbörse Das Modell einer reinen Transportbörse wie sie dem heutigem Stand der Forschung und Entwicklung entspricht, bildet als Basisszenario einen Vergleichsfall für die nachfolgenden Anwendungsszenarien, die eine Weiterentwicklung der technischen Funktionalität und sozialen Komplexität der Transportbörse im E-Commerce bieten. Die herkömmliche Transportbörse ist gekennzeichnet durch den Einsatz rein ökonomischer Tauschmechanismen (Auktionen). Handelt es sich um geschlossene Systeme (z.B. ein unternehmensinternes oder kooperationsübergreifendes Intranet), lässt sich der Preismechanismus des Marktes noch durch soziale Herrschaftsmechanismen flankieren, bei denen die unterschiedlichen Zuständigkeiten der Agenten je nach ihrer Stellung in der sozialen Hierarchie per Anweisung (d.h. durch Autorität 6 Die Szenarien dürfen selbstverständlich nicht in einem evolutionistischen Sinne als „Entwicklungsstufen“ missverstanden werden. Auf Grund ihrer unterschiedlichen Funktionalität und Komplexität bilden sie lediglich „Meilensteine“ für die Modellierungsarbeit in den nächsten fünf Jahren. 13 in einer Befehl-Gehorsam-Beziehung) geregelt werden. Wenn wir nach der Implementierung unterschiedliche Modelle in einer Simulation gegeneinander antreten lassen wollen, würde das Basisszenario von relativ einfachen Agententypen getragen, die nur zwei soziale Mechanismen kennen und praktisch beherrschen: die ökonomische Preisbildung auf einem virtuellen Marktplatz und die Gehorsamspflicht gegenüber einem höher gestellten Agenten, der dazu legitimiert ist, Anweisungen zu geben, denen unbedingt Folge zu leisten ist. Die nachfolgenden Anwendungsszenarien unterscheiden sich vor allem dadurch von diesem Basisszenario, dass die Agenten mit differenzierten Kapitalsorten umgehen können und über zwei weitere vertrauensbildende Sozialmechanismen verfügen (den „Gabentausch“ und die „soziale Delegation“), die eine differenziertere Gestaltung der sozialen Komplexität des Marktgeschehens und des Beziehungsmanagements erlauben. 3.2. Szenario 2: Die „Speditionskooperation“ als Beispiel für das Beziehungsmanagement zwischen kooperierenden Unternehmen Das zweite Szenario zielt auf ein Modell, bei dem die Tauschbörse in dem virtuellen Marktplatz als eine zusätzliche Option die Entstehung und Entwicklung sozialer Gruppierungen zwischen rechtlich und ökonomische selbstständigen Unternehmen ermöglicht, die sich exklusiv gegenüber dem offenen Marktgeschehen sozial schließen können („Speditionskooperation“). Das Multiagentensystem muss nicht nur die Auswahl geeigneter Partner und die Anbahnung von Kooperationsbeziehungen (z.B. auf der Grundlage einer durch Gabentausch und soziale Delegation erweiterten Kontakt- und Kooperationsbörse) unterstützen, sondern auch die Verteilung der Ressourcen zwischen allen an der Speditionskooperation beteiligten Einheiten managen und die laufenden Beziehungen zwischen den Kooperationspartnern evaluieren. Ein wichtiger Punkt ist dabei die Identifikation, das Wiedererkennen und das habitusbasierte Rating potenzieller Transaktionspartner, um die Evaluation und Auswahl geeigneter Kooperationspartner und die entsprechende permanente Bewertung der interorganisationalen Beziehungen zu ermöglichen. Je nach Kapitalstruktur und kollektiver bzw. korporativer Identität („corporate identity“) lassen sich die Selbst- und Fremdbeschreibungen der beteiligten Unternehmen zu einem spezifischen Profil bündeln und anonymisieren. Durch entsprechende Repräsentationsagenten der Unternehmen sind die Beschreibungen aber gegebenenfalls auf dem virtuellen Marktplatz auch öffentlich zugänglich. 3.3. Szenario 3: Die „virtuelle Spedition“ als Beispiel für das Beziehungsmanagement innerhalb eines virtuellen Unternehmens Bevor das dritte Szenario beschrieben werden kann, ist zunächst zu klären, was unter einer „virtuellen Spedition“ zu verstehen ist (vgl. auch Florian 2000). Definitionen zu virtuellen Unternehmensformen gibt es mittlerweile recht viele, wobei die Bestimmung der Dimensionen der Virtualität das Nadelöhr darstellt, durch das jede Definition hindurch muss. Der Begriff des Virtuellen bezieht sich auf etwas, das (nur) der Kraft oder Möglichkeit nach vorhan14 den ist und deshalb als etwas anderes erscheint (in unserem Fall: als ein einheitliches, dauerhaft operierendes Unternehmen in seiner Ganzheit), was es eigentlich gar nicht ist (weil es je nach Bedarf nur aus vielen einzelnen, voneinander unabhängigen, aber durch irgendeine Form der Selbst-Koordination lose miteinander gekoppelten Elementen nach Bedarf zusammengesetzt wird). Virtualität kann es grundsätzlich in dreierlei Hinsicht geben: (1) unter räumlichen Aspekten, wenn räumlich verstreute und voneinander unabhängige Geschäftseinheiten sich nach außen wie ein einheitliches, räumlich integriertes Ganzes präsentieren, (2) unter zeitlichen Aspekten, wenn temporär miteinander kooperierende Geschäftseinheiten sich nach außen wie ein einheitliches, auf zeitliche Dauer hin angelegtes, temporär integriertes Ganzes darstellen und (3) unter funktionalen und kulturellen Aspekten, wenn eine arbeitsteilige Aggregation zwischen lose gekoppelten, rechtlich und ggf. auch ökonomisch weitgehend autonomen Geschäftseinheiten nach außen wie eine kulturell und funktional vollständig integrierte, einheitliche „Unternehmung“ auftritt. Der organisationssoziologische Knackpunkt von „virtuellen“ Unternehmen ist somit die symbolische und materielle Erzeugung des Anscheins von sozialer Integration und Ganzheit, wie man es typischerweise von „realen“ Unternehmen (und sei es auch nur als Mythos sozialer Ordnung oder als erhoffte Handlungsorientierung) erwartet. Für die weitere Konkretisierung dieses soziologischen Knackpunktes erscheint die Arbeitsdefinition von Arnold, Faisst, Härtling und Sieber (1995)7 ganz brauchbar zu sein: Ein virtuelles Unternehmen (VU) ist danach • eine Kooperationsform rechtlich unabhängiger Unternehmen, Institutionen und/oder Einzelpersonen, • die eine Leistung auf der Basis eines gemeinsamen Geschäftsverständnisses erbringen • und dabei auf die Institutionalisierung zentraler Managementfunktionen zur Gestaltung, Lenkung und Entwicklung des VU durch Nutzung geeigneter IuK-Technologien weitgehend verzichten, • wobei sich die kooperierenden Einheiten an der Zusammenarbeit vorrangig mit ihren Kernkompetenzen beteiligen • und [trotz virtueller Präsenz in sachlicher bzw. funktionaler, räumlicher und zeitlicher Hinsicht]8 gegenüber Dritten wie ein einheitliches Unternehmen wirken. Diese Definition (mit der Ergänzung zur virtuellen Präsenz) ist deshalb geeignet, weil sie erstens alle entscheidenden Merkmale virtueller Unternehmen benennt, die VU von herkömmlichen Organisations- und Kooperationsformen unterscheiden (kursiv hervorgehoben durch 7 Arnold, O.; Faisst, W.; Härtling, M.; Sieber, P.: Virtuelle Unternehmen als Unternehmenstyp der Zukunft? In: HMD 32(1995)185, S. 8-23. 8 Der Einschub in der Klammer ist nicht in der Arbeitsdefinition von Arnold et al. (1995) enthalten, wäre aber noch zu ergänzen. Interessanterweise wird der Aspekt der zeitlichen Begrenztheit (als „temporäres Netzwerk“), der in vielen VU-Definitionen enthalten ist, von Arnold et al. nicht zu den bestimmenden Eigenschaften von virtuellen Unternehmen gezählt. 15 M.F.) und weil sie zweitens die besonderen Problemstellungen virtueller Organisationsformen (in puncto Robustheit) betont, die auch aus Sicht der Habitus-Feld-Theorie (HFT) als wesentlich erscheinen: • rechtliche Autonomie der Beteiligten (HFT: Autonomisierung des VU als ein neues soziales Feld im Feld der Unternehmen), • gemeinsames Geschäftsverständnis unter weitgehendem Verzicht auf explizite vertragliche Vereinbarungen (HFT: Gemeinsamkeiten des Habitus und des Kapitalbesitzes als Voraussetzung für eine gemeinsame Geschäftspraxis, in der ein entsprechendes Geschäftsverständnis zum Ausdruck kommt), • weitgehender Verzicht auf Institutionalisierung zentraler Managementfunktionen (HFT: soziale Genese des VU als ein soziales Kräfte- und Kampffeld miteinander konkurrierender, aber zugleich auch sozial aggregierbarer Interessen und Sichtweisen der Beteiligten; Benennung von Bedingungen für die mögliche Entstehung sozialer Ungleichheit und hierarchischer Strukturen), • Einbringen von Kernkompetenzen (HFT: Kernkompetenzen und Ressourcen als Kapitalsorten ausdifferenziert und spezifizierbar) und • virtuelle Präsenz als ein einheitliches Unternehmen trotz funktionaler Ausdifferenzierung in rechtlich unabhängige und selbstständig agierende Einheiten zur Realisierung von Teildienstleistungen, trotz räumlicher Verteiltheit und zeitlicher Begrenztheit der Zusammenarbeit (HFT: Zusammenspiel der Nutzung symbolischen und sozialen Kapitals zur Repräsentation und Vorstellung der Einheitlichkeit des Zusammenwirkens der autonomen Teile eines virtuellen Ganzen). Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass auch virtuelle Unternehmen die vier Dimensionen sozialer Koordination innerhalb und zwischen Unternehmensorganisationen (Recht und Vertrauen, Austausch und Autorisierung; vgl. Abb. 2 und 3) realisieren müssen. Die Strukturierung von virtuellen Wertschöpfungsketten zielt hierbei im wesentlichen auf einen hohen Grad an Selbstorganisation ab, da auf Grund unterschiedlicher Kernkompetenzen eine bestimmte interne Organisationsform des Netzwerkes nicht vorherbestimmbar (determinierbar) ist. Temporäre Arbeitszusammenhänge („Projektorganisation“) werfen noch zusätzliche Probleme des Grenz- und Identitätsmanagements auf wegen der virulenten Grenzziehung der Kooperation, wegen der erforderlichen Befristung der Kooperationsbeziehungen und wegen möglicherweise alternativen Modi der Grenzziehung und sozialen Identitätsbildung („Gemeinschaft“, „soziale Identität“ als kollektiver Habitus und „corporate identity“ im Sinne des „korporativen“ Habitus einer sozialen Gruppierung). Aufbauend auf dem zweiten Szenario der Speditionskooperation, ist die Grundidee des drittens Szenarios, dass sich einzelne Unternehmen, Unternehmensteile oder Einzelpersonen (Subunternehmer, Frachtführer, schein-selbstständige Lkw-Fahrer) auf dem elektronischen Markplatz einer Transportbörse temporär zu einem virtuellen Speditionsunternehmen zusammenschließen können, um entlang der Wertschöpfungskette durch die Koordinierung und 16 Kombination vieler Einzel- und Teilleistungen eine zweck- und zeitgebundene Gesamtdienstleistung wie „aus einer Hand“ zu produzieren. Die Transportbörse dient hierbei als ein sozialer Raum, in dem sich Kunden, Kooperationspartner und Konkurrenten (repräsentiert durch ihre Agenten) begegnen und (auf der Grundlage der im transportökonomischen Feld vorherrschenden sozialen Strukturen, Positionen, Kapitalverteilungen etc.) miteinander interagieren (vgl. detaillierter zur Problematik virtueller Speditionen Florian 2000). Als zusätzliche Option kann das Management interorganisationaler Beziehungen in der virtuellen Spedition auch durch eine externe, neutrale Dienstleistungsagentur („Broker“) übernommen werden. Vor allem für die relativ schwach mit Kapitalien ausgestatteten kleinen und mittleren Unternehmen, die sich keine eigene oder fremde „reale“ Geschäftsführung „leisten“ können (oder wegen Übernahmeangst nicht leisten wollen), wäre eine neutrale Service- und Beratungsagentur für die Netzwerk- und Gemeinschaftsbildung sinnvoll, um die Auswahl geeigneter Partner zu unterstützen, um eine Art „virtuelle“ Geschäftsleitung zu bilden und um durch die (Re-)Konfiguration der für den jeweiligen Auftrag erforderlichen Kompetenzen zu einer flexiblen Gestaltung der Wertschöpfungskette beizutragen. Die Regulation der Kooperationsbeziehungen und die Allokation der Ressourcen würden hierbei von der virtuellen Geschäftsführung getragen (z.B. Beziehungs- und Vertrauensmanagement, Identifizierbarkeit von bekannten Partnern, Konfliktmanagement wie z.B. Kunden- und Ressourcenschutz, Vergütungsfragen und Qualitätskontrollen). Entscheidend ist hier die Entwicklung geeigneter Mechanismen für den Gabentausch und die soziale Delegation, die ein Beziehungsmanagement in temporären, virtuellen Organisationsformen möglich machen. 3.4. Szenario 4: Habitusaffine Gemeinschaftsbildung als Ausweitung der Perspektive auf „electronic communities“ Bei dem fünften Szenario liegt die Zielsetzung darin, den Horizont der Anwendungsvisionen auf die Herausbildung von „electronic communities“ durch Einbeziehung von geschäftlichen und privaten Kunden in die laufenden Geschäftsprozesse der Unternehmen auszuweiten. Im Bereich von „business-to-business“ (B2B) wäre hier z.B. an so genannte „communities of practice“9 zwischen den lernintensiven „crossfunctional teams“ einer Organisation zu denken oder an die soziale Gruppierung zwischen habitusaffinen professionellen Subkulturen, während im „business-to-consumer“-Bereich (B2C) eine Herausbildung von habitusaffinen elektronischen Lebenstil-Gemeinschaften gemeint ist. Aus dem fünften Szenario ergeben sich eine ganze Reihe von Implikationen für die Modellierung und Implementation eines Multiagentensystems, die abschließend in Form eines Ausblicks etwas detaillierter beschrieben werden sollen. 9 „Communities of practice” (vgl. z.B. Lave und Wenger 1991; Wenger 1998, 2000; Wenger und Snyder 2000; McDermott 1999) steht für einen neuen Ansatz im Konzept organisationalen Lernens, bei dem davon ausgegegangen wird, dass die Lernpotenziale und Wissensbestände einer Organisation in sozialen „Gemeinschaften” stecken, die auf Grund ihrer praktischen Zusammenarbeit gemeinsame Werte, Überzeugungen und Kompetenzen teilen. Auf die lerntheoretischen Konsequenzen dieses Ansatzes (und seine Relation zur Habitus-Feld-Theorie Bourdieus kann hier nicht eingegangen werden. 17 4. Ausblick auf zukünftige Themen der soziologischen Modellierung des elektronischen Handels per Internet Die Agentenarchitekturen und „Gesellschaftsmodelle“, die bislang für den elektronischen Handel entwickelt worden sind, sind aus soziologischer Sicht unzureichend und gesellschaftlich „unterkomplex“, weil hier von einem fiktiven Szenario ausgegangen wird, in dem eine sozial unstrukturierte („amorphe“) Menge von einzelnen Anbietern einer ebenso sozial unstrukturierten („amorphen“) Masse von potenziellen, individualisierten Kunden gegenübersteht. Aus soziologischer Sicht sind aber weder die Anbieter noch die Kunden sozial amorph oder gleichartig, weil jedes Angebot (Produkt, Dienstleistung) nicht immer alle potenziellen Käufer gleichermaßen anspricht (wie dies die im electronic commerce übliche Fixierung auf den niedrigsten Preis und die schnellste Verfügbarkeit der Ware als Kaufpräferenz der Einheitskundschaft stillschweigend voraussetzt). Jedes Angebot wird auf der Grundlage (sub)kultureller Besonderheiten unterschiedlicher Käufergruppen10 symbolisch bewertet und durch kollektive Bedeutungssysteme „gefiltert“ wahrgenommen. Die Entstehung und Wirkungsweise solcher kollektiven Bedeutungssysteme lässt sich mit Hilfe von Bourdieus Habituskonzept begreifen: Je nach ihrer sozialen Stellung entwickeln Menschen im Verlauf ihrer Lebensgeschichten bestimmte körperliche und mentale Handlungsdispositionen, die als Wahrnehmungs-, Bewertungs-, Denk- und Handlungsschemata dafür benutzt werden, um individuelle Vorstellungen und Handlungspraktiken zu erzeugen und sinnvoll zu organisieren. Die Habitusformen sind dabei – von den Akteuren unbemerkt und weitgehend unbewusst - als ein relativ dauerhaftes Gefüge von Dispositionen wirksam, das auf die unterschiedlichsten Handlungsfelder übertragen werden kann. In verschiedenen Situationen „angewendet“, sorgt der Habitus dafür, dass die Praktiken von den Handelnden trotz unterschiedlicher Handlungsbedingungen als Ausdruck eines einheitlichen (und persönlichen) Stils erfahren und auch von anderen Akteuren entsprechend erkannt und bewertet werden können. Dieser „praktische Sinn“ für das „Selbstverständliche“, das je nach Situation als angemessen und richtig, als möglich oder als erforderlich erscheint, bringt Bourdieu (vgl. 1981; 1982; 1987) zufolge mit hoher Wahrscheinlichkeit die individuellen Erwartungen in eine Übereinstimmung mit den objektiven Möglichkeiten und führt dadurch zu einer „Selbsteinschränkung von Handlungsmöglichkeiten“ und zu einer „Neigung zum Wahrscheinlichen“ (amor fati: die Liebe zum Schicksal, die das Mögliche auf das wahrscheinlich Erreichbare reduziert). Die amorphe Masse von Anbietern und Kunden ist somit aus der Perspektive der HabitusFeld-Theorie eine Fiktion, weil die Akteure des Marktgeschehens sozial und kulturell differenziert sind (nach Geschmacks- oder Lebensstil-„Klassen“), so dass ein bestimmtes Angebot von unterschiedlichen Konsumentenklassen auch sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird (z. B auch in seiner symbolischen Qualität als ein Unterscheidungsmerkmal, 10 Im Marketing wird hier von „Zielgruppen“, „Käufersegmenten“ oder „Kundenprofilen“ gesprochen. 18 das unterschiedliche Lebensstile und Geschmacksklassen deutlich voneinander abgrenzt). Welche Vorzüge für eine multiagententechnologische Modellierung der Informationslogistik im elektronischen Handel weist dieses kultursoziologische Akteurskonzept auf, das sich mit Hilfe der Habitus-Feld-Theorie soziologisch recht gut beschreiben und erklären lässt? Die Vorteile liegen vor allem darin begründet, dass soziologische „Regeln“ formuliert werden können, nach denen sich die scheinbar amorphen Massen von Anbietern und Kunden ihrem „Habitus“ entsprechend sozial differenzieren und trotz ihres Engagements in verschiedenen sozialen Feldern (hier: Märkten oder Marktsegmenten) kollektiv gruppieren (lassen). Danach wäre ein MAS-Szenario denkbar, in dem (mobile oder stationäre) Nutzeragenten, Brokeroder Auktionsagenten sich jeweils zu virtuellen Organisationen zusammenschließen, die den unterschiedlichen Lebensstil- und Geschmacksklassen der Anbieter und Kunden entsprechen, um dann die vielen Einzelaufträge auf der Grundlage von sozialen und kulturellen Ähnlichkeiten gruppieren und ressourcensparsamer „matchen“ zu können. Die Produktkataloge (ebenso wie die Verkäufer- und Käuferverzeichnisse) müssen dann nicht mehr aufwändig „alles gegen alles“ verglichen und ausgewertet werden, sondern bestimmte Anbieter und Angebote können den kollektiven Geschmackspräferenzen der jeweiligen Käufergruppe entsprechend (d.h. nach soziologischen Kriterien) vorsortiert und nach bestimmten Wahrscheinlichkeiten einander zugeordnet werden. Die gegenwärtig im Internet verfügbaren Agententypen sind von solch einer kundenspezifischen Ausrichtung weit entfernt. So weit sie derzeit überhaupt in der Lage sind, Kundeninteressen zu speichern und miteinander zu vergleichen, um sie dann neuen Kunden als potenziellen Geschmacksgenossen (taste mates) für das cross selling zuzuordnen, erfolgt dies hochgradig schematisch und erzeugt einen fiktiven Geschmackstypus der sich einem virtuell konstruierten mainstream immer mehr annähert. Was fehlt sind Software-Agenten, die auf der Grundlage einer kultursoziologisch fundierten Wissensbasis authentischere Geschmacksstile möglichst autonom identifizieren können und die lernfähig sind, um den Wandel von Stilformen auf Seiten der Kunden zu erkennen und ihre Wissensbasis entsprechend modifizieren zu können. Wie im „wirklichen“ Leben, so gibt es auch im Internet Trendsetter, die mögliche Innovationspfade markieren für ein lebensstilsensibleres Zukunftsmodell des elektronischen Handels. Auch wenn es hier vorerst nur um den vornehmen „Life Style“ einer kleinen Avantgarde von Internetnutzern geht, darf die Diffusionswirkung derartiger Lebensstilisierungen in breitere Kundensegmente hinein nicht unterschätzt werden (vgl. die Flut von Life-Style Magazinen und Sendungen, die seit geraumer Zeit die Printmedien und das Fernsehen überfluten und vor allem jene potenten Käufergruppen ansprechen, um die auch der elektronische Handel vorrangig buhlt). Wie das folgende Beispiel des Internet-Anbieters „Stylegames“ zeigt, unterscheiden sich Konzeption, Produktkatalog und Kundschaft von jenem Kaufszenario, das wir derzeit noch üblicherweise beim elektronischen Handel im Internet vorfinden (vgl. Abb. 4). 19 DIE ZUKUNFT gehört dem E-Commerce, glaubt man den Internet-Propheten. Aber wieso sind die meisten deutschen Angebote so hüftsteif und versprühen den Charme einer Warenhausfiliale in einer Kreisstadt? Der Internet-Versand Stylegames ist hervorgegangen aus einem Kunstprojekt und bietet all das, was den meisten deutschen Angeboten fehlt: Produkte, die man woanders nicht bekommt, Style, geschichtliche Sensibilität und große Momente. Hier weiß man, wie man Pop buchstabiert, und erst recht, wie man Pop verkauft. Ein internationales Netzwerk aus 32 Regisseuren, Künstlern, Journalisten und Designern feilt am Angebot: Es gibt den Farbenfächer Color-Cards von Le Corbusier, einen Hocker von Matti Braun oder T-Shirts mit Aufschriften wie ‚Ex-Model‘ oder ‚Tony Curtis‘. Die meisten Produkte werden nach den Entwürfen des Stylegames-Netzwerks in limitierter Stückzahl angefertigt. Bald auch ein Haus von Rem Koolhaas. Alles bezahlbar per Kreditkarte. Was will man mehr? Vielleicht noch ein bisschen im Stylegames-Fotoalbum blättern? Hat man den Sinn der Produktpalette nicht verstanden, so werden diese ständig wechselnden Bilder ein ewiges Mysterium bleiben. Für die anderen mag es eine kleine Offenbarung sein. Die Semiotik des guten Geschmacks. Selten kommt StyleFetischismus so locker und entspannt daher. JÖRG KOCH Aus: Leben, Beilage zur Wochenzeitung DIE ZEIT Nr. 44, 28. Oktober 1999, S. 16 Abb. 4: Die Zukunft des E-Commerce? Das exklusive Angebot des Internet-Versands „Stylegames“ wendet sich gerade nicht an ein fiktives, sozial und kulturell homogenes Massenpublikum, das trotz der im Detail unterschiedlichen Agentenansätze von „BargainFinder“, „Fido“, „Jango“ etc. in großer Einmütigkeit die virtuellen Einkaufswelten des elektronischen Handels bevölkert. Trotz der Vielfalt der Ansätze, den elektronischen Handel (Electronic Commerce, E-Commerce) informationstechnisch in den Griff zu bekommen, weisen die üblichen Szenarios und Modelle eine grundlegende Gemeinsamkeit auf, die für den Handel und die Märkte „im wirklichen Leben“ höchst unwahrscheinlich ist: Die Marktteilnehmer, Käufer und Verkäufer, Kunden und Lieferanten, Nachfrager und Anbieter, erscheinen allesamt als gesichtslose, anonyme Einzelakteure, die nur an Preisen und Lieferzeiten interessiert sind, die offenbar nur über geringe Kenntnisse über ihre potenziellen Tauschpartner verfügen und keinerlei Überblick über eine ihren Präferenzen entsprechende Markt- und Angebotsstruktur besitzen. Der E-Commerce, so scheint es, geht von einem ökonomischen Modell aus, das einen sozial undifferenzierten Massenmarkt und eine von soziokulturellen Geschmacksstilen her völlig gleichartige, unsegmentierte Massenkultur unterstellt. In diesem Modell kommt es nur noch darauf an, einen möglichst ungehinderten Fluss von Informationen zu gewährleisten, damit alle beteiligten Akteure ihre gewünschten Transaktionen und Tauschakte zu einem zufrieden stellenden Abschluss bringen können. Das vorherrschende ökonomische Modell des elektronischen Handels erscheint aber nicht nur soziologisch als unangemessen, sondern es fördert zugleich technische Abläufe, die in hohem Grade Ressourcen vergeuden, wie es im wirklichen Leben wohl kaum möglich erscheint. Man stelle sich vor: Menschliche Käufer, die beispielsweise eine Winterjacke kaufen möchten, würden zunächst von jedem Anbieter in der Stadt oder der Region die Angebotskonditionen (z.B. Preis, Lieferzeit) einholen, um dann nach bestimmten Präferenzen (z.B. im Internet bevorzugt: der niedrigste Preis und/oder die schnellste Anlieferung) eine Auswahlentscheidung 20 treffen zu können. Der notwendige Aufwand und der hierdurch erzeugte Verkehrs- und Kommunikationsbedarf wären immens und schon aus volkswirtschaftlicher und ökologischer Sicht völlig inakzeptabel – wie das nachfolgende Gedankenexperiment zeigt.11 Stellen wir uns vor, die Nutzung des Internet und des elektronischen Handels wächst tatsächlich so rasant wie die Optimisten behaupten, dann haben wir irgendwann einmal das Problem, das der Erfolg des Internet zu einem zumindest vorübergehenden Zusammenbruch der elektronischen Kommunikation führen wird. Nehmen wir also an, dass weltweit etwa 500 Millionen Nutzer nahezu täglich im WWW stöbern und vielleicht 200 Millionen zur Weihnachtszeit auf die Idee kommen, einen großen Teil ihrer Geschenke elektronisch zu suchen und zu ordern. Würden alle Käufer sich per Surfing auf die Suche machen oder auch nur die zahlreichen Agenten beauftragen, dies stellvertretend für sie zu tun, dann ist unter den gegenwärtigen technischen Bedingungen die Gefahr gegeben, dass die elektronische Kommunikation unter der Last der unzähligen Aktivitäten und Transaktionen zusammenzubrechen droht. Ein derart immenser Datenverkehr ist nach gegenwärtigen Maßstäben technisch kaum zu bewältigen. Von der Hardwareseite her bieten sich aber Lösungsmöglichkeiten an (die heute bereits verfolgt werden), unterschiedliche Netze aufzubauen und voneinander zu trennen: Ein vergleichsweise teures und exklusives, in puncto Bandbreite und Tempo sehr gut ausgestattetes Business-Net für zahlungskräftige Kunden würde dann vielleicht neben einem Economy-Net für die große Masse existieren, die sich die teure Variante nicht leisten können oder wollen. Aber nicht nur hardwareseitig bietet sich ein „Abbild“ der menschlichen „Klassengesellschaft“ als Lösungsmuster für die Bewältigung der Ressourcenknappheit und Allokationsprobleme an. Auch auf Seiten der Agententechnologie scheint eine soziale Differenzierung nach „Klassen“ angebracht, um die Informationssuche nach geeigneten Produkten (Anbieter, Produktkataloge) je nach „Klassenposition“ und „Klassengeschmack“ zu bündeln, um die Abwicklung des elektronischen Handels möglichst ressourcensparsam und schnell zu bewältigen. Der gegenwärtige Zustand, dass sich der elektronische Handel an ein vermeintliches Massenpublikum mit einem undifferenzierten Massengeschmack wendet, das Angebote lediglich nach Unterschieden in Preis und Lieferzeit bewertet, ist der gesellschaftlichen Realität menschlichen Einkaufsverhaltens nicht angemessen. Neben dem undifferenzierten „Massenmarkt“ gibt es eine Vielzahl von Spezialmärkten, die sich nur an ein bestimmtes Kaufsegment wenden und ein vom Geschmacksstil her differenziertes Käuferprofil anzusprechen versuchen. „Im wirklichen Leben“ gibt es keine Austauschbeziehungen Aller mit Allen, sondern die Wahl geeigneter Produkte und Partner erfolgt meistens auf der Grundlage eines „Klassengeschmacks“, in dem die sozialen Unterschiede zwischen den Konsumenten als symbolische Unterscheidungen ihren stilistischen Ausdruck finden. So jedenfalls lassen sich die „feinen Unterschiede“ bei der Bewertung und Auswahl der jeweils als „geeignet“, als völlig „ungeeignet“ oder sogar als „undenkbar“ erscheinenden Waren- und Dienstleistungsangebote verkürzt dargestellt kultursoziologisch erklären (vgl. hierzu detaillierter zu den feinen Unterschieden der französischen Gesellschaft Bourdieu 1982). Die Grundidee ist dabei, dass soziale Unterschiede sich in unterschiedlichen Präferenzen und Geschmacksvarianten („Lebensstile“) äußern, die sich voneinander abzugrenzen versuchen. In Deutschland ist der Ansatz von Bourdieu, die herkömmliche soziologische 11 Auch die Beauftragung von so genannten „Preisagenturen“ würde in diesem Fallbeispiel bei der Anschaffung einer Winterjacke nicht unbedingt als sinnvoll erscheinen, zumal der jeweils niedrigste Preis in strengem Sinne nur bei völlig identischen (d.h. bei substituierbaren) Produkten das einzige Kaufkriterium bleibt. Schon das Bestehen von vermeintlichen oder tatsächlichen Qualitätsunterschieden eines Produktes, das Angebot zusätzlicher Dienstleistungen (value-added services, z.B. Garantien, kostenloses Kürzen der Ärmellänge etc.) oder eine vorhandene Vertrauensbeziehung zu bestimmten Warenhäusern eröffnet informationstechnisch hochgradig komplexe Preis-Leistungs- oder Preis-Qualitäts-Vergleiche, durch die Entscheidungen sehr kompliziert werden, von langjährigen Vorlieben (z.B. Marken-, Anbieter- oder Geschäftsbindungen) oder gar (subkulturellen) Geschmacksstilen einmal ganz abgesehen. 21 Klassentheorie mit einer kultursoziologischen Analyse von sozialgruppenspezifischen Lebensstilen zu verbinden, aufgegriffen und weiter modifiziert worden (vgl. z.B. Müller 1989 und 1992, Schulze 1992, Vester et al. 1993; zur Milieustruktur in Deutschland vgl. auch den ZEIT-Artikel von Perger 1999 in Anlehnung an Vester).12 Vor dem von keinerlei sozialen und kulturellen Unterschieden „verunreinigten“ Marktmodell des E-Commerce sind jedoch bislang alle Kunden gleich und allenfalls durch ihren derzeitigen Kaufwunsch oder auf Grund ihrer bisherigen Kaufinteressen voneinander unterscheidbar. Die Unangemessenheit dieser Modellvorstellungen fällt auch nicht weiter auf, weil die bislang im E-Commerce aktiven Kunden tatsächlich immer noch einem zumindest sozialökonomisch relativ homogenen Benutzerprofil entsprechen, von dem das Internet für etwaige Kaufaktivitäten genutzt wird (z.B. nach GVU’s 8th internet survey von November 1997: 33 Jahre alt, 60% männlichen Geschlechts, Haushaltseinkommen $ 59.000, 80% mit täglichem Internetzugriff). Dieses idealisierte Bild vom „typischen“ oder „durchschnittlichen“ Internetnutzer ist aber viel zu schematisch, wenn man die nach kultursoziologischen Maßstäben sozial und symbolisch differenzierte Kundschaft des elektronischen Handels berücksichtigt. Und auch technisch betrachtet wird das bisherige Angebot den multimedialen Möglichkeiten nicht gerecht, die das WWW auch heute schon bietet (vgl. Abb. 5). Klamotten im Internet zu kaufen ist wie ein Besuch im Briefmarkenladen: Was immer man auch verlangt – man bekommt winzige Bildchen vor gelegt, auf denen was Buntes zu sehen ist: Könnte der Umriss der inneren Mongolei sein, aber auch ein cooles T-Shirt. [...] Boo.com lautet der Name der unter Kennern hoch gehandelten Homepage. Sie empfängt einen mit vielen animierten, lebensfrohen Seiten, denen man anmerkt, dass da Leute am Werk waren, die mit dem Internet aufgewachsen sind und wissen, was man damit anfangen kann. So ist etwa die Abbildung des angebotenen '‚red Perry Beanie Hat with Fred Perry Jacquard‘ animiert, was so viel bedeutet wie, dass man die Mütze von allen Seiten ansehen, sich ganz nah an sie ranzoomen und das Ding einer kleinen Kleiderpuppe anziehen kann – damit man weiß, ob sie mit dem Tool II von Reef (einem Skate-Schuh) zusammenpasst. Weil der Erfolg von Homepages davon abhängt, ob sich ihre Besucher als Mitglieder einer verschworenen Gruppe fühlen, geben die drei Jungs ein Online-Magazin namens Boom heraus. Es bietet fröhliche Lektüre und unterscheidet sich nicht wirklich vom Shop, weil es nie so weit abhebt, dass der Leser das Kaufen aus dem Auge verlöre – genauso wie der Shop nie so platt wird, dass man sich als doofer Konsument fühlt. CHRISTIAN ANKOWITSCH Aus: Leben, Beilage zur Wochenzeitung DIE ZEIT Nr. 47, 18. November 1999, S. 12 Abb. 5: Klamottenkauf im Internet 12 Interessant ist, dass eine erste Anwendung des Lebensstilkonzeptes zunächst in der Markt- und Wahlforschung (am SINUS-Institut, allerdings unter dem Etikett „soziales Milieu“) erfolgt ist, um eine fundierte sozial-kulturelle Typologisierung von unterschiedlichen Käufersegmenten und Zielgruppen zu leisten. Vester et al. (1993) haben die neun sozialen „Milieus“ von SINUS mit einem einfachen, an Bourdieu angelehnten Klassenmodell verbunden: die konservativ-gehobenen, liberalen und alternativen Milieus werden hierbei der Oberklasse zugeordnet, die kleinbürgerlichen, aufstiegsorientierten und hedonistischen Milieus der Mittelklasse und die traditionellen und traditionslosen Arbeitermilieus ebenso wie das neue Arbeitnehmermilieu der Arbeiterklasse zugerechnet. Eine detailliertere Erörterung der Unterschiede zwischen dem Lebensstil-, Milieu- und Klassenbegriff kann hier nicht erfolgen (vgl. hierzu ausführlicher Müller 1989 und 1992 sowie Vester et al. 1993). 22 Inwieweit brauchen nun jene Nutzer, die sich gegenüber dem „doofen Konsumenten“ hervorheben möchten und sich „als Mitglieder einer verschworenen Gruppe fühlen“, auch besondere Softwareagenten, die solche subkulturellen Abgrenzungen und Unterscheidungen unterstützen und die derartige Stilbildungen im virtuellen „Cyberspace“ überhaupt erst ermöglichen und technisch umsetzen? Warum sollen sich bestimmte Zielgruppen im Internet mit einem vereinheitlichten Verkaufsgebaren „geschmackloser“ Agenten zufrieden geben, wenn sie im wirklichen Leben auch beim Einkauf auf eine Berücksichtigung ihrer besonderen, unverwechselbaren Ansprüche und auf ihr Bedürfnis auf Sonderbehandlung großen Wert legen? Die Metaphorik der „Persönlichen Digitalen Assistenten“ und die Realität von Multiagentensystemen nimmt bislang auf solche soziokulturellen Feinheiten noch keine Rücksicht. Wenn aber die Hemmnisse ernst genommen werden, die eine schnelle Verbreitung des elektronischen Handels blockieren, dann wird deutlich, dass vom Geschmacksstil her sozialkulturell differenzierte Agentengesellschaften entscheidend dazu beitragen können, dass der elektronische Handel in Zukunft ressourcensparsamer und kundenorientierter organisiert werden kann. Die geschmacksadäquate Bündelung von Nutzeragenten zu „virtuellen Unternehmen“, die konsequent auf ihr jeweiliges Kundenprofil ausgerichtet sind, dürfte eine wichtige Voraussetzung dafür bilden, unnötigen Datenverkehr einzusparen sowie ein schnelleres und gleichzeitig angemesseneres Matching zwischen „gleichgesinnten“ Käufern sowie zwischen den Kunden und den zu ihren Vorlieben und Präferenzen passenden Anbietern herzustellen. Eine entsprechende Modellierung der E-Commerce-Domäne wird allerdings nicht bei der Nachbildung von sozialen und kulturellen „Funktionalitäten“ (z.B. Habitusformen) in Agentenarchitekturen stehen bleiben können, sondern darüber hinaus müssen gesellschaftliche Prozesse und Strukturen modelliert werden, die einerseits eine Herausbildung sozialer Assoziation auf unterschiedlichen Gesellschaftsebenen ermöglichen (Entstehung und Wandel sozialer „Koalitionen“, „Gruppierungen“ und „Organisationen“) und die andererseits institutionelle Mechanismen bereithalten, die für die Realisierung elektronischen Handels als unverzichtbar erscheinen (vgl. Abb. 6).13 13 Aus Sicht der Habitus-Feld-Theorie zeigt das Beispiel die Verbindung zwischen unterschiedlichen Kapitalsorten, die nötig ist, um auf Seiten der Kundschaft „Vertrauen“ zu erzeugen: die als legitim anerkannte fachliche Kompetenz wird samt Verhaltenskodex in Form von „kulturellem“ und „symbolischem Kapital“ durch die staatlich „anerkannten“ Verbände erzeugt und institutionell gesichert und kann durch Verbandsmitgliedschaft in Form von „sozialem Kapital“ auch von den einzelnen Händlern beansprucht und akkumuliert werden. 23 Beim Kunstkauf zählt das Vertrauen Der Händler als Partner des Sammlers Anerkannte Antiquitätenhändler sind jene, die Mitglied in einem der sechs deutschen Regionalverbände des Bundesverbandes des Deutschen Kunst- und Antiquitätenhandels e.V. (BDKA) sind. Der BDKA definiert europäische Antiquitäten als Gegenstände, die vor 1840 hergestellt wurden. Ausnahmen bilden das erste Biedermeier, der ‚echte‘ Jugendstil (um 1900) sowie das Art Decor (um 1920). Wer bei einem BDKA-Mitglied sein Kunstwerk erwirbt, erhält eine schriftliche Bestätigung über alle wesentlichen Eigenschaften des Gegenstandes anhand eines Kriterienkatalogs. Für die von ihm nach bestem Wissen und Gewissen überprüften und deklarierten Eigenschaften übernimmt der Kunsthändler auch nach dem Kauf die volle gesetzliche Haftung. [...] Um als anerkannter Kunsthändler überhaupt tätig sein zu können, muss das BDKA-Mitglied eine mehrjährige Tätigkeit im Kunsthandel sowie weit reichende Kenntnisse der Kunst- und Kulturgeschichte nachweisen. Des Weiteren enthält die Satzung einen Verhaltenskodex, an den jedes Mitglied gebunden ist. Dieser garantiert u.a., dass die Herkunft der einzelnen Kunstgegenstände mit Sorgfalt geprüft werden. Jeder Landesverband veranstaltet im Frühjahr und Herbst eine Kunstmesse. Sie erlaubt dem Interessierten, sich über das Angebot und die Preise zu orientieren. Hierbei wacht eine Expertenjury darüber, dass die angebotenen Gegenstände den Anforderungen des Verbandes an den Händler genügen. Aus: DER SONNTAG IN MÜNSTER, 21. November 1999, S. 7 (Druckfehler korrigiert) Abb. 6: Über die Relevanz des Vertrauens beim Kauf Von solchen Überlegungen ist der elektronische Handel per Internet noch weit entfernt. Gleichzeitig lässt sich fragen, ob diese Beschreibung eines kultursoziologisch fundierten Modells der sozialen Strukturen internetbasierten Handels sich nur für die Marktbeziehungen zwischen den Anbietern von Verbrauchsgütern und ihren konsumierenden Endkunden eignet oder ob das Modell genügend generalisierbar ist, um auch in anderen Segmenten elektronischer Märkte und speziell im Business-to-Business-Bereich („B2B“) anwendbar zu sein. Was folgt daraus für das Forschungsprogramm der Sozionik? Muss die Sozionik überhaupt mögliche Referenzen oder sogar Analogien zwischen „künstlichen“ Agentengesellschaften und den „natürlichen“, von Menschen gebildete Gesellschaften berücksichtigen? Abschließend lassen sich einige Frage- und Problemstellungen formulieren, für die auch künftig weiterer Forschungsbedarf besteht: • Modellierung sozialer Institutionalisierungs- und Gruppierungsprozesse Unter welchen Umständen schließen sich Agenten zu kollektiven und korporativen Akteuren zusammen und inwieweit ist die Habitus-Feld-Theorie (insbesondere die Konzeption des Gabentausches und das Konzept der sozialen Delegation) als geeignetes Modell für die soziale Genese solcher Aggregationen verwendbar? • Metaphorik oder Repräsentation: Sind Agentengesellschaften mit denen der Menschen vergleichbar? Inwieweit ist die Entstehung sozialer Organisationsformen in künstlichen Agentengesellschaften mit denjenigen Formen vergleichbar, die in „menschlichen“ Gesellschaften entstehen? Lässt sich die soziale Genese solcher Organisationsformen durch jene Mechanismen erklären, 24 die von der Habitus-Feld-Theorie zur Verfügung gestellt werden? Inwieweit (und an welchen Stellen) sind hier Ergänzungen und Erweiterungen der Theorie der Praxis notwendig? • Der Cyberspace als „sozialer Raum“: Individualisierung oder Repräsentation? Ist wegen der knappen Ressourcen (Speicherplatz, Übertragungskanäle, Zeit) eine soziale Strukturierung des Cyberspace nach dem Vorbild des sozialen Raumes moderner menschlicher Gesellschaften erforderlich (und als Repräsentation menschlicher Sozialformen wahrscheinlich) oder kann sich der soziale Raum des Cyberspace auf Dauer gegenüber dem „Vorbild“ der „menschlichen“ Sozialwelt emanzipieren und sich als eine autonome Sphäre unbeschränkter Individualisierung behaupten? Welche Art von sozialen Strukturen entstehen hier im Vergleich zu den von Menschen „im wirklichen Leben“ erfundenen? Ist eine Entstehung von sozialen Feldern dafür geeignet, die Knappheitsprobleme durch eine „Ökonomie der Praxis“ zu lösen? Ist soziale Strukturbildung in Multiagentensystemen (nur) eine „Repräsentation“ der Strukturierungen in menschlichen Gesellschaften und bleibt sie deshalb eng an das Original gekoppelt oder gibt es Autonomiespielräume für die soziale Strukturierung künstlicher Agentengesellschaften? Führt dies zu einem neuen Verständnis von Hybridität in der Sozionik, das sich aus der engen Mikroperspektive der Mensch-Maschine-Interfaces löst? Auf dem gegenwärtigen Forschungsstand kann die Tragfähigkeit der Metaphorik des sozialen Raumes für Multiagentengesellschaften noch nicht eingeschätzt werden. Ganz gleich, wie eng sich die Relationen zwischen künstlichen und natürlichen Gesellschaftsformen sinnvollerweise koppeln lassen: Die Arbeit mit Anwendungsszenarien ist in jedem Fall ein geeignetes Instrument, um den interdisziplinären Forschungsprozess zwischen Soziologie und Informatik zu unterstützen. 25 5. Anhang: Schematische Übersicht über die Funktionalität und Koordinationsmechanismen der Anwendungsszenarien Funktionalität Basisszenario 1 „Transportbörse“ Szenario 3 „Speditionskooperation“ • Markt (Börse, Auktionsmechanismus für die Preisbildung) • ökonomisches Kapital • Gemeinschaftsbildung: - Partnerselektion - Anbahnung von Kooperationen • alle Kapitalsorten • Grenz- und Beziehungsmanagement: • - Ressourcenallokation - Regelung der Kooperationsbeziehungen Grenz- und Beziehungsmanagement: - Szenario 4 „Virtuelle Spedition“ • ökonomischer Tausch (Marktpreis) • Ungleichheit der Positionen (Autorität: Anweisung und Gehorsam) • Markt • Autorität • Vertrauensbildung (durch Gabentausch und soziale Delegation) • Markt • Autorität • Gabentausch (Bildung von Vertrauen) fehlende Verträge und • Institutionalisierung • Zusatzoption für KMU: - • - • Szenario 5 „Habitusaffine Gemeinschaftsbildung" temporäre und fluktuierende Konstellationen Koordinationsmechanismus „Broker“-Agentur als „virtuelle Geschäftsleitung“ Grenz- und Beziehungsmanagement zu privaten und geschäftlichen Kunden: besondere Relevanz der Vertrauensbildung („Vertrauenskultur“) • Markt • Autorität • Gabentausch - Arbeitsgruppen • („communities of practice“) - Lebensstilgruppen (Consumer als Habitus-Gemeinschaften) 26 soziale Delegation (virtuelles Management) soziale Delegation 6. Literatur Arnold, O., Faisst, W., Härtling, M.; Sieber, P. (1995): Virtuelle Unternehmen als Unternehmenstyp der Zukunft? In: HMD 32, 185, S. 8-23 Bourdieu, P. (1981): Klassenschicksal, individuelles Handeln und das Gesetz der Wahrscheinlichkeit. In: Bourdieu, P.; Boltanski, L.; de Saint Martin, M.; Maldidier, P.: Titel und Stelle. Über die Reprosuktion sozialer Macht. Frankfurt/Main, S. 169-226 Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/Main Bourdieu, P. (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/Main Bourdieu, P. (1992): Rede und Antwort. Frankfurt/Main Bourdieu, P.; Wacquant, L.J.D. (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/Main Bourdieu, P. u.a. (1998): Der Einzige und sein Eigenheim. Hamburg Bürckert, H.J.; Fischer, K.; Vierke, G. (1998): Transportation Scheduling with Holonic MAS The TeleTruck Approach. Proc. of the 3rd Int. Conf. on Practical Application of Intelligent Agents and Multiagents (PAAM’98), S. 577-590 Castelfranchi, C.; Falcone, R. (1998): Towards a theory of delegation for agent-based systems. In: Robotics and Autonomous Systems 24, S. 141-157 Duden „Etymologie“ (1989): Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. 2., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim, Wien, Zürich Duden „Fremdwörterbuch“ (1974). 3., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim, Wien, Zürich Florian, M. (2000): Vorschläge für ein Szenario „Tauschbörse und E-Commerce“. Working Papers zur Modellierung sozialer Organisationsformen in der Sozionik. WP 10, Hamburg, Juni 2000 Lave, J.; Wenger, E. (1991): Situated Learning: Legitimate Peripheral Participation. Cambridge Marsh, S. P. (1994a): Trust in Distributed Artificial Intelligence. In: Castelfranchi, C.; Werner, E. (Hg.): Artificial Social Systems. Berlin etc. (Springer Verlag: Lecture Notes in AI, Vol. 830), S. 94-112 Marsh, S. P. (1994b): Formalising Trust as a Computational Concept. Ph.D. Thesis. Department of Mathematics and Computer Science, University of Stirling McDermott, R. (1999): Learning across teams: How to build communities of practice in team organizations. In: Knowledge Management Journal, 8, May/June. 1999, S. 32-36 Müller, H.-P. (1989): Lebensstile. Ein neues Paradigma der Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 41, 1989, S. 53-71 Müller, H.-P. (1992): Sozialstruktur und Lebensstile. Der neuere theoretische Diskurs über soziale Ungleichheit. Frankfurt/Main Paul, A.T. (1997): Gabe-Ware-Geschenk. Marginalien zur Soziologie des Schenkens. Sammelbesprechung in: Soziologische Revue, Jg. 20, Heft 4, S. 442-448 Perger, W.A. (1999): Die Neue Mitte ist anders. In: DIE ZEIT Nr. 49 vom 2. Dezember 1999, S. 7 Porter, M.E. (1984): Wettbewerbsstrategie (Competetive Strategy). Methoden zur Analyse von Branchen und Konkurrenten. 2., durchgesehene Auflage. Frankfurt/Main Rost, F. (1994): Theorien des Schenkens. Zur kultur- und humanwissenschaftlichen Bearbeitung eines anthropologischen Phänomens. Essen Schulze, G. (1992): Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/New York Sydow, J. (1999): Management von Netzwerkorganisationen – Zum Stand der Forschung. In: Sydow, J. (Hrsg.): Management von Netzwerkorganisationen. Wiesbaden, S. 279-314 Vester, M. et al. (1993): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Köln Weber, M. (1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. 5., revidierte Auflage, Studienausgabe. Tübingen Wenger, E. (1998): Communities of Practice. Learning meaning and identity. Cambridge Wenger, E. (2000): Communities of Practice and Social Learning Systems. Organization Vol 7 No. 2, S. 225-246 Wenger, E.; Snyder, W.M. (2000): Communities of Practice: The Organizational Frontier. Harvard Business Review, Jan-Feb 2000. S. 139-145 27