“Es war einmal”

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“Es war einmal”
Marianne Simonis
Es war einmal …
Privatdruck
München 2004
Alle Rechte liegen beim Autor
Herstellung: Books on Demand GmbH
Vorwort
s ist gut und sinnvoll, wenn man in meinem Alter, in dem die Jahre dahinrasen
wie der Abspann eines Filmes, noch einmal in
die Kindheit wandert:
Es war eine bayerische Kindheit in Kriegsund Nachkriegszeit mit vielen Ängsten, Nöten und Einschränkungen, die wir hinzunehmen und zu überleben hatten.
Trotzdem kam die Heiterkeit nicht zu kurz.
Und es war keine, die direkt vom Galgen kam.
In diesem Sinne habe ich ein kleines Buch
geschrieben – zum 40. Geburtstag meiner geliebten Tochter Andrea.
Es ist eine Lektüre zum Schmunzeln und
Nachdenken für alle, die sich die Mühe machen, darin zu blättern.
Den Nobelpreis hatte ich dabei nicht im Visier, aber viele liebe, charismatische Menschen, die ein Stück des Weges mit mir gingen
und diese Kindheit so ungemein bereicherten.
E
München, im März 2004
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enn ich versuche, in meinen Kindheitserinnerungen den für mich entferntesten Punkt zu erreichen, komme ich fast immer bei Herrn Weinzierl an, und zwar in seiner Funktion als »Luftschutzwart« für unser
Haus.
Das dürfte im ersten Kriegsjahr 1939 gewesen sein. Ich war also vier Jahre alt. Herr
Weinzierl erklärte uns die nach Einbruch der
Dunkelheit streng vorgeschriebene Fensterverdunkelung. Und das weiß ich halt noch.
Nun kann ich nicht behaupten, daß die ersten Kriegsjahre meine Kindheit verdunkelten.
Die Erwachsenen sagten, wenn sie vom Krieg
redeten, »der Russ«, der »Engländer«, der
»Franzos«. Ich stellte mir daher jeweils einen
einzelnen Soldaten vor, der mit einem großen
Gewehr im Hausgang auf mich wartete, wenn
ich noch einen vorabendlichen Kurzbesuch
bei meinen Freundinnen im Parterre machte.
Etwas sonderlich Bedrohliches hatte das
trotzdem nicht. Der Vater war bei der Polizei
und konnte notfalls die Seinen mit der
Dienstpistole verteidigen. Schlimmer als die
Furcht vorm »Wuwu«, der sein ständiges
Quartier in den Kellerräumen hatte, war es in
keinem Fall.
Dieses Wuwu-Gespenst wurde im übrigen
von den Erziehungsberechtigten mit durchschlagendem Erfolg eingesetzt, wenn man
W
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einmal nicht folgte. »Wart nur, glei kummt da
Wuwu und holt Di!«
Alle Kinder meiner Generation – sogar der
Sigi Sommer – kannten ihn, obwohl er stets
unsichtbar blieb. Aber ich wußte es genau: Er
hat einen mörderischen Appetit auf kleine
Kinder, vor allem auf Mädchen, die keinen
Spinat mögen.
Ich fürchte mich noch heute vor ihm. Spinat
liebe ich inzwischen sehr …
Das Mietshaus in Schwabing war damals
voller Kinder. Zusammen mit meinen beiden
sechs und acht Jahre älteren Brüdern waren
wir eine äußerst muntere Bande, unschlagbar
im Erfinden von immer wieder neuen Spielen.
Gekaufte Spiele kannten wir kaum.
Die Sommer unserer Kindheit waren endlos
lang und glühend heiß. Die Hausbesitzer oder
Hausmeister mußten – das war Vorschrift –
das Trottoir mehrmals am Tag bewässern,
wenn die Hitze einen bestimmten Celsiusgrad
überschritten hatte.
An solchen Tagen gingen wir – zwischen
»Fangsterl« und »Verstecksterl« allzu gerne
auf die damals noch wenig befahrene Georgenstraße. Wir kratzten uns weiche Teerbatzen aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters und
formten wunderbare Bälle daraus, mit denen
wir uns bewarfen.
»Heislhupfa« (Häuschenhüpfen) war beson7
ders beliebt. Mit Kreide oder Ziegelsteinresten
wurden etwa zwölf numerierte Quadrate in
T-Form auf das Pflaster gezeichnet. Wer an
der Reihe war, warf einen Stein in eines der
»Heisl« und mußte dieses nun auf einem Bein
erhüpfen. Wer hinfiel, war »draußen«. Wer
das Quadrat erreichte, merkte sich die Zahl
und hatte die Chance, beim nächsten Mal weiterzupunkten.
Einmal aß ich während dieses Spiels einen
Apfel. Aus einem Parterrefenster des Nachbarhauses winkte mich plötzlich eine alte Frau
zu sich und schenkte mir ein kleines Obstmesser. Ich nahm es freudig an und hüpfte mit
Apfel und Messer in je einer Hand meine
nächste Runde ab, bis ich hinfiel und mir das
noble Geschenk ins Hirn rammte.
Blutüberströmt und weinend stand ich vor
meiner Mutter, die so viel Dummheit – die
der Nachbarin und in angemessener Quantität auch meine eigene – zunächst kaum verkraftete.
Die Verursacherin des Unheils wollte sie
sich schon noch kaufen. Die Leidtragende
erhielt einen Schnellverband. Sie sah zu, die
zornige Samariterin so schnell wie möglich
wieder verlassen zu können.
»Schpuist weida?« fragten mich die Freunde. Mein »freili« hatte zu Recht eine leicht
heroische Einfärbung.
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Wenn ich meinen Pony hebe, sieht man
ganz deutlich noch die Narbe. Aber das mache ich äußerst selten, um mein Meiserl nicht
zu inkommodieren.
Mein zweiter »Kindheitsunfall« ereignete sich
am letzten Schultag vor den großen Ferien. Es
hatte das wichtige Abschlußzeugnis für den
Übertritt ins Gymnasium gegeben.
Zur Feier des Tages brauchte ich den langen
Heimweg von der Simmernschule in die
Georgenstraße nicht zu Fuß zu gehen. Die
Eltern holten mich ab. Das war eine sehr hohe
Auszeichnung!
Sie waren mit den Rädern gekommen. An
meines Vaters Rad hing sein selbstgefertigter
Anhänger, weil er halt immer etwas zu transportieren hatte. Meistens war es Ruinenholz
für den Winter und sehr oft Mist aus den polizeilichen Reitställen für unseren Garten Eden
hinter dem Schwabinger Krankenhaus.
Auch die Koffer von länger bei uns verweilenden Gästen gelangten vom Hauptbahnhof
aus mit dieser dezent nach gewissen Äpfelchen duftenden Rikscha an ihr Ziel.
Damals mußte man in der Trambahn für einen Koffer noch extra ein Zehnerl berappen.
Für derlei sinnlose Ausgaben war mein Vater
nicht zu haben. So eine Verschwendung machte ihn geradezu fuchtig.
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In unserem Garten hinter dem Schwabinger Krankenhaus: in der Mitte meine Großmutter mit meinen Brüdern, eingerahmt von Tante Hedl und Tante Rosa, dahinter meine Eltern und ein befreundetes Ehepaar.
Dieses Mal aber wollte er der schulisch so
erfolgreichen Tochter eine triumphale Heimfahrt bereiten, bis er eine Kurve so scharf
nahm, daß es mich in hohem Bogen aus dem
komfortablen Gefährt schleuderte.
Das war meinem Vater schon recht arg. Zudem erhielt er von meiner Mutter einen ziemlichen Landler.
Es waren gottlob nur Schürfwunden, die im
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Angesicht der bevorstehenden Ferien erstaunlich schnell heilten.
Ich meine auch, daß solcherlei Vorkommnisse bei uns daheim recht unsentimental
behandelt wurden.
Sentimentalität, hat einmal ein kluger Mann
gesagt, sei das Alibi der Herzlosen …
Maikäfer flieg,
Dei Vadda is im Krieg,
Dei Muadda is in Pommerland,
Pommerland is abgebrannt,
Maikäfer flieg!
Ja, wie sollte er denn bei dieser Einstimmung
noch Lust zum Fliegen bekommen? Die von
uns gefangenen Genossen brauchten das vorübergehend auch gar nicht anzustreben.
Im Wonnemonat Mai befanden sich auf
dem Küchenfensterbrettl drei Schuhkartons.
Meine beiden Brüder und ich bewahrten darin
»unsere« Maikäfer auf.
Liebevoll auf Kastanienblätter gebettet und
durch reichlich in den Kartondeckel gestanzte
Löcher auch gut mit Sauerstoff versorgt, verbrachten sie darin einige Zeit zu unserer allergrößten Freude und ihrem vermutlich fragwürdigen Vergnügen.
Wir ließen sie über unsere Arme und Hände
krabbeln, sahen gebannt zu, wenn sie sich
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aufpumpten und einer neuen Freiheit zuflogen, obwohl sie es bei uns doch so gut hatten.
Nachschub war damals kein Problem.
Wenn wir einen Kastanienbaum schüttelten,
fielen sie uns in den Schoß wie unverdientes
Glück.
An jeder Straßenecke befand sich ein Wirtshaus. Höchstes Kinderglück, wenn das Pferdefuhrwerk mit den Eisbalken kam. Beim
Umladen in den Wirtshauskeller fielen die
herrlichsten Eissplitter in unsere begehrlichen
Hände. Natürlich hoben wir sie auch vom
Boden auf. Sie schmeckten wunderbar. Kein
Kind wurde davon krank oder bekam die
Ruhr, welche uns erwachsenerseits immer
wieder in Aussicht gestellt wurde.
In diesen Sommern kam kaum ein Schuh an
meine Füße. Sogar in die Maiandacht gingen
wir täglich barfuß, genossen das glattkalte
Pflaster in der Josefskirche, bis diese einem
verheerenden Tagesangriff zum Opfer fiel.
Wir hatten kräftige Stimmen und liebten
den Gesang. Mitunter sandte der Pater mahnende Blicke in unsere Richtung. War ihm das
»Ave Maria zart, du edler Rosengart« zu fortissimo?
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Die Diem Liesi und ich spielten gottlob nicht nur
Sterben, sondern recht gerne auch Heiraten.
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Daheim gab es einen schönen Hausaltar mit
Betschemel, den wir von der frommen Großmutter geerbt hatten. Als er noch in ihrem
Schlafzimmer stand, durften meine Kinderfreundin, die Diem Liesi, und ich ab und zu
davor beten.
Aber kaum war die Oma außer Reichweite,
haben die Diem Liesi und ich Messen »zelebriert«. In unseren Schürzltaschln (damals
trugen alle Kinder Schürzln und es gab sogar
extra noch eines nur für den Sonntag) befanden sich vorgefertigte, meistens schon bräunlich angelaufene Apfelscheibchen, die wir uns
dann gegenseitig feierlich als Hostien spendeten.
Manchmal spielten wir Sterben. Ich legte
mich auf den Fußboden. Die Liesi nahm alle
Heiligenfiguren und Kandelaber vom Altar
und stellte sie um mich herum auf. Wenn ich
dann gestorben war und meine Leichenstarre
zu echt gedieh, kullerten der Liesi echte Tränen aus ihren besonders großen blauen Augen. Kam in solchen Momenten die Oma dazu, gab es ein riesiges Donner und Doria.
Dann wandten wir uns um so mehr und für
lange Zeit wieder unserem prallen irdischen
Kinderleben zu.
Zur Maienzeit, als der Hausaltar dann in
unserer Wohnung stand, schmückten wir ihn
hingebungsvoll mit gestohlenen Blumen aus
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der benachbarten Gartenanlage. Aus der gleichen Quelle stammte der jeweilige Muttertagsstrauß.
Wir wurden nie erwischt und erstaunlicherweise daheim auch nicht geschimpft. Vielleicht nahm der Vater unsere kleinen Sünden
mit, wenn er zur Beichte ging. Ich würde es
ihm zutrauen.
In der gleichen Gartenanlage gab es einen
bestimmten Strauch, den wir aus anderen
Gründen zu herbstlicher Zeit sehr zu schätzen
wußten. Seine dürren Ästchen schnitten wir
uns in Zigarettenlänge zurecht und rauchten
sie sehr heimlich und sehr genußvoll. Wir
haben keinen gesundheitlichen Schaden davongetragen. Mir wurde nie schlecht, schon
wegen der Brüder …
Damals gab es unter den Menschen noch viele
wirkliche Originale. Die Originale meiner
Kindheit waren u.a. der Micherl und der
Gnacke.
Den Micherl liebten wir. Er war zwergwüchsig und hatte einen ziemlichen Buckel,
der von der Arbeit beim Schneidermeister
gegenüber sicherlich noch manchen Neigungsgrad dazu gewonnen hatte.
Wenn wir ihn sahen, liefen wir ihm nach
und bettelten: »Micherl, sing’ uns was vor!« Er
sang immer für uns – und immer das gleiche
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Lied vom »Brüderlein fein«, das gleichermaßen ihn und uns jedes Mal aufs Neue beglückte. Seine Stimme höre ich nicht mehr. Sein
Gesicht habe ich vor mir: Gescheit und durchfurcht von Leid und Güte.
Natürlich war der Gnacke kein richtiges
Original im Sinne vom Micherl. Er hatte ein
steifes Genick, aber dafür fast keinen Hals. Er
war extrem häßlich und kam sehr oft mit einem ziemlichen Wurf aus einem der umliegenden Wirtshäuser.
Wir betrachteten ihn immer wieder eingehend, sozusagen von allen Seiten, auf der Suche nach einer Andeutung von Hals, nach einer Gurgel, durch die das viele Bier ja schließlich seinen Weg nehmen mußte. Wir wunderten uns sehr, daß er ein ganz passables Weib
sein Eigen nannte und wir erzählten uns, daß
er es in schöner Regelmäßigkeit verdrosch.
Dabei fallen mir die Deinzers ein. Dieses
damals schon etwas betagte Ehepaar wohnte
bei uns im gleichen Stockwerk. Auch Herr
Deinzer ging ebenso gerne wie oft ins Wirtshaus. Fast immer gab es anschließend Zoff mit
der Frau. Oft bat sie dann meinen Vater um
Hilfe. Da dies in die frühen Abendstunden
fiel, lag der Herr Kommissar schon längst im
Schlafanzug auf dem Küchenkanapee, wo er
gerne seine Tage ausklingen ließ und manches
Problem mittels dicker Zigarrenwolken zu16
mindest vorübergehend seiner Realität beraubte.
Um bei Herrn Deinzer die gewünschte Einschüchterung zu erwirken, mußte er jedoch
noch einmal in die Uniform.
Unser Vater war ein durch und durch praktischer Mensch. Er wußte, daß es vollends
genügte, wenn er bei diesem Einsatz nur die
Dienstjacke anzog und die Mütze aufsetzte.
Herr Deinzer hat kein einziges Mal die Schlafanzughose bemerkt und immer Reue gezeigt –
bis zum nächsten Mal.
Der Herr Kommissar mußte nicht nur das
bierwütige Deinzerchen zur Ordnung rufen.
An Fronleichnam war er als Begleitschutz
für den Herrn Kardinal auserwählt.
Die Jonasin war unsere Milchfrau, hatte ihren
Laden direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Sie war eigentlich alles andere als
eine propere Geschäftsfrau, ein dickliches
Jungferl, eine permanente Zielscheibe für unseren Spott und manche Bosheit.
Zum Aufschreiben und Zusammenzählen
der kleinen Einkäufe ihrer Kunden benutzte
sie einen Tintenstift, den sie vor dem jeweiligen Einsatz immer zuerst abschleckte, damit
er »anging«. Spätestens nach dem Zwölf-UhrLäuten hatte sie eine blaue Zunge und »ums
Mei rum« war sie ebenfalls bläulich, wie ihre
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Auf dem Bild:
Kardinal Faulhaber, das zerbombte München und
mein Vater. Natürlich in kompletter Uniform.
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Magermilch. Außerdem zierte sie ein stattlicher Damenbart.
Meine Brüder besaßen im übrigen die
Fähigkeit, unser blau-emailliertes Ein-LiterMilchküberl mit Inhalt und ohne Deckel vertikal im Kreis zu schwingen, ohne daß es auch
nur einen einzigen Tropfen verlor. Dieses
praktische Lehrbeispiel der Zentrifugalkraft
hat mich immer wieder aufs Neue tief beeindruckt.
Manchmal fuhr die Jonasin am Abend noch
mit ihrem Radl weg. Es stand immer vor ihrem Laden.
Tagsüber ging den Reifen bisweilen die Luft
aus … In solchen Fällen waren meine Brüder
echte Kavaliere: »Frau Jonas, derf ma Eana s
Radl aufpumpn?«
Sie pumpten, bis sich die Reifen gegen jede
weitere Luftzufuhr sperrten. Dann warteten
sie wie aufs Christkindl, bis die Jonasin übers
Trambahngleis in der nahen Schleißheimer
Straße fuhr. Es krachte immer, denn es waren
halt Kriegsreifen …
Noch ein Original.
Unser damaliger Zahnarzt Dr. Josef Sepp,
von den Erwachsenen »Sepp Sepp«, von uns
Kindern »Depp Depp« benannt, gehörte zur
Familie. War doch schon meine Großmutter
bei seinem Vater in Behandlung.
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Vom Vater Sepp wissen wir, daß er einmal
einen jungen Laboranten beim Geldstehlen
erwischte. Er verabreichte ihm daraufhin ein
solches Trumm Watschn, daß dieser durch
zwei Behandlungszimmer hindurch in die
angrenzende Küche flog und dort noch so viel
Wucht hatte, um einen Küchenkasten mit
bleibenden Eindrücken zu versehen.
Sohn Sepp war ein kleiner rundlicher Urbayer, der den unaufhörlichen Dialog mit seinen Patienten einer Spritze vorzog.
Über unsere Familienangelegenheiten war
er stets im Bilde. Er nahm liebevoll Anteil am
Heranwachsen der Jugend, ließ uns beharrlich
unregelmäßige französische Verben aufsagen,
während er fröhlich seinen Folterungen nachging.
Seine Lieblingsgeschichte kannten alle Patienten. Er wiederholte sie mit immer neuen
Ausschmückungen, denen ein guter Erzähler
bekanntlich nicht widerstehen kann:
Auf der abendlichen Heimfahrt mit seiner
Frau ärgerte es ihn maßlos, daß ein entgegenkommendes Fahrzeug nicht abblendete.
Auf gleicher Höhe mit dem Verkehrssünder
rief er ein stimmgewaltiges »Pfundhamme«
aus dem Fenster, weil es ihn sonst »zrißn«
hätte, wie er an dieser Stelle stets anmerkte.
Kurz danach informierte ihn seine Frau,
daß das Auto gewendet habe, ihnen folge und
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eine Funkstreife sei. Dr. Sepp mußte schließlich anhalten. Natürlich gab es zunächst ein
riesiges Palaver. Aber Bayern unter sich reden
so etwas ganz einfach aus. Letztendlich fielen
versöhnliche Halbsätze, wie »ned so gmoant«
und »näxts Moi a bißerl freindlicher« und
dann war der Fall erledigt.
An diesem Abend spielte Dr. Sepp mit einem befreundeten Mediziner Schach. Es läutete – ein Notfall für den Arzt. Die Funkstreife
wartete schon vor dem Haus. Plötzlich sah
einer der Polizisten Dr. Sepp und rief zutiefst
erfreut aus: »Da sitzt ja unser Pfundhamme!«
Man mußte auch als langjährige Kennerin
dieser Pointe immer wieder mitlachen, vor
allem dann, wenn das neue Plomberl schon
fertig installiert war.
Dr. Sepp überstand seinen eigenen Lachkrampf, indem er sich wie ein Kreisel mehrfach um seine eigene Achse drehte. Nur mittels dieser Balletteinlage bekam er wieder
Luft.
Eine weitere Geschichte hat Dr. Sepp mindestens doppelt so oft erzählt: Als er meinem
Bruder Hans das erste Mal ans kindliche Gebiß wollte, zog dieser eine kleine Pistole aus
der Hosentasche und rief: »Halt, oder ich
schieße!« Bei seinem Zahnarzt hat er sich mit
dieser Einlage ins Herz gegraben.
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Ein anderer Hans fügt sich hier noch recht
harmonisch ein.
Es ist der Sohn meiner Cousine Anni und
war damals ein kleiner (naja) Lausbub. Aus
unerfindlichen Gründen wollte er unbedingt
meine Mutter zum Zahnarzt begleiten. »Aber
nur, wennst ganz brav bist«, machte die Tante
zur Bedingung und Hansi gelobte es feierlich.
Das Wartezimmer war voll. Es dauerte und
dauerte. Hansi war mucksmäuschenstill.
Plötzlich zeigte die Kuckucksuhr eine volle
Stunde an und der Kuckuck tat seine Pflicht.
So etwas hatte der Bub noch nicht gesehen.
Er war überwältigt, was sich in einem begeisterten »Ja, leck mi am Arsch« Luft machte …
Als ich das letzte Mal bei Dr. Sepp war, um
vor der schicksalsbedingten Überquerung des
Weißwurstäquators noch schnell meine Beißerchen überprüfen zu lassen, konnte er es
nicht fassen, daß ich nun definitiv »zu de
Preißn auswandern« wollte. »Hots jetz da bei
uns koan Mo für Di gebn?«
Ich sagte bockig »naaa« und ging – um wiederzukehren.
»Extra Bavaria nulla vita« hatte einmal ein
feines, wohlhabendes, bayerisches Herrchen
an sein barockes Jagdschloß geschrieben: Außerhalb Bayerns kein Leben!
Das mußte ich mir nicht mehr auf die Fahne
schreiben. Es ist so und bleibt so.
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Als ich 1942 fassungslos weinend vor meinem geliebten Schulhaus in der Schwindstraße stand, das infolge eines Tagesangriffs lichterloh brannte, war der Krieg Bestandteil meines, unseres jungen Lebens geworden.
Nur in den Anfängen waren Nachtangriffe
für uns Kinder eine Attraktion, teils wegen der
nächtlichen Spielstunden im Luftschutzkeller,
teils wegen des späteren Schulbeginns am folgenden Tag. Diese eingekürzten Unterrichtstage genossen wir sehr. Ich höre uns noch sagen:
»Hoffentlich kummt heid nacht a Angriff …«.
Wir ausgebombten Schwind-Schüler kamen
in die Elisabeth-Schule. Das war für uns ein
weiter Weg.
Die Klassenkameradin und Freundin Elli
Wutzer und ich hatten beschlossen, bei Voralarm keinesfalls in einen der Luftschutzkeller
rund um die Schule zu gehen, was strengstens
angeordnet war. Wir rannten die lange, lange
Georgenstraße hinauf. Wir rannten um unser
Leben. Oft fielen die ersten Bomben und wir
waren immer noch nicht am Ziel. Unser gefährliches Ausbüchsen ist übrigens nie aufgekommen.
In der Elisabeth-Schule hatten wir eine
Handarbeitslehrerin, die mich nicht mochte.
Ich erwiderte diese Abneigung zutiefst. Dazu
muß ich ausführen, daß diese Lehrkraft eine
denkbar unsympathische Erscheinung war
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und einen strengen Geruch verbreitete. Sogar
schon in aller Herrgottsfrüh. Sie hatte einen
»Boboscheitel« (Mittelscheitel) und einen
kümmerlichen Haarknoten im schwelligen
Nacken.
Einmal stand ich hinter ihr auf dem Pult und
hielt mir demonstrativ die Nase zu. Die Klasse
lachte. Ruckartig drehte sie sich um und erwischte mich. Damals gab es noch Tatzen.
Um meine angeborene Linkshändigkeit
machte sie ein Riesentrara. Auch wenn mein
Stramin noch so schön bestickt war, »mit
links« gab es verklopfte, rot anschwellende
Finger. Als wir kurze Zeit später nur noch
graue Soldatensocken strickten, hatte sich
dieses Problem von selbst gelöst.
Eines Tages beschloß ich, dem Handarbeitsunterricht fernzubleiben. Das war noch in
der Stramin-Phase. Die jeweils am Montagmorgen erforderliche Entschuldigung tippte
ich auf unserer Schreibmaschine. Da diese für
mich schon lange ein beliebtes Spielzeug war,
beherrschte ich die Technik mühelos.
Die Unterschrift meiner Mutter, »Paula Fischer«, habe ich lange und mit Erfolg geübt.
Die Wutzer Elli war der stets verschwiegene
Kurier.
Für den Montag-Vormittag aber brauchte
ich einen sicheren Unterschlupf. Wo war man
besser aufgehoben als beim lieben Gott?
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So verbrachte ich manches Stündchen vor
einem der Seitenaltäre in der Josefskirche – bis
ich eines Tages die liebe fromme Helene (Tante Hedl) in einer der Bänke knien sah. Ich
mußte umdisponieren.
Was für ein Glück ist eine große Familie!
Mir fiel die Tante Babett ein. Sie hatte in der
Farinellistraße ein Bügelgeschäft und mein
ganzes Vertrauen.
»Bleib nur da«, sagte sie liebevoll und entschieden zugleich. Meine Begründung für den
»Besuch« war ausreichend gewesen. Es ging
nur zweimal gut.
Eines Montags schaute ich der Tante Babett
wieder beim Bügeln zu, als die Tür aufging
und meine Mutter hereinkam.
Voller Entsetzen und mit einem tollen
Hecht war ich unter dem Bügeltisch, mit einem Weitsprung im Laden und dann im Freien. Meine Mutter verfolgte mich. Ich hatte
einen ziemlichen Vorsprung, war schon in der
Schwere-Reiter-Allee, als uns eine Frau entgegen kam.
»Halten S des Kind auf«, schrie meine Mutter. Der Frau gelang es, das zerrend Zappelnde mit Polizeigriff zu halten und der keuchenden Mutter zu überstellen.
Ich hatte noch »gebeten«: »Lassen S mi aus,
Sie Rindviech!« Es half nicht.
Natürlich wurde mütterlicherseits der Fall
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in der Schule vorgetragen. Wie mich meine
Mutter damals aus der Urkundenfälschung
herausholte, weiß ich natürlich nicht mehr. Es
hieß jedenfalls, daß ich ein liebes, kluges und
fleißiges Kind sei und es keinerlei Beanstandungen gebe.
Am darauffolgenden Montag lieferte mich
der Vater persönlich in der Schule ab. Auf
dem Weg dorthin war ich ihm aber doch noch
vorübergehend ausgekommen. Er holte mich
erstaunlich schnell ein und es gab eine kräftige Watschn. Das erste und das letzte Mal übrigens.
Eine in unserer Nähe stehende Frau hatte
diese Szene gesehen und »angemerkt«: »Sie
Tyrann! Eana ghört des Kind ja gnomma!«
Und das ärgerte meinen lieben Vater noch
lange und heftig.
Später auf dem Gymnasium gab es nur nette Handarbeitslehrerinnen, wenn sich auch
herausstellte, daß ich z w e i linke Hände
besitze, zumindest auf diesem Gebiet.
Nachtrag zu Tante Babett:
Sie war eine der vielen Schwestern meines
Großvaters mütterlicherseits. Wir Kinder liebten sie sehr und nicht nur, weil sie am Silvesterabend immer zu uns kam und ein herrliches Tartar zuzubereiten wußte.
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Tante Babett
Bei ihr machten wir Station, wenn wir nach
dem Schlittenfahren auf dem »Schusterbergl«
(heutiges Olympiagelände) abgeschlafft und
hungrig heimwärts trotteten. Dann klopfte sie
erst einmal die größten Schneefladen von unseren Strickanzügen (Pullover und Gama27
schenhose) und stärkte uns je nach Kriegsvorrat noch für den restlichen Heimweg.
Sie war nie verheiratet. Lange Jahre hatte sie
einen Freund. Als Vertreter von Singer-Nähmaschinen sicherte er seine bescheidenen Ansprüche.
Auch Tante Babetts Reichsmark-Säckel war
bestimmt meistens magersüchtig. Obwohl
sich das Paar fast immer stritt, wurde für
gemeinsame Ausflüge ein Tandem angeschafft.
Als sie sich bei einer ihrer Touren wieder
einmal heftig ins Gehege kamen, sprang die
Tante Babett – noch dazu auf abschüssiger
Bahn – einfach vom Tandem herunter.
»S Knödlessn is leichter« wird sich der verlassene Freund gedacht haben, als mit so einer
auf einen grünen Zweig zu kommen, geschweige denn auf die erstrebte Kugleralm.
Einer ihrer Träume war es, einmal den riesengroßen Nerzmuff ihrer Mutter zu erben.
Als es soweit war, hatten ihn aber schon die
Motten gefressen. Das restliche Gewebe fiel in
sich zusammen, als es nach langen dunklen
Schubladenjahren wieder das Tageslicht »erblickte«.
Das Haus in der Farinellistraße brannte ab –
und damit auch Babettens Existenz. Die letzten Kriegsjahre verbrachte sie teils in Dingolfing, teils in Griesau, wo nicht nur ihr
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Schweinsbraten sondern auch sie selbst allerhöchste Anerkennung fand.
Die schlimmste Strafe in unserer Kindheit war
nicht die Watschn. Die gab es – immer von der
Mutter – schnell einmal: für eine läßliche Sünde, für eine freche Antwort.
Größere Vergehen wurden mit Hausarrest
und Verweigerung des Dialoges geahndet.
Hausarrest war furchtbar. Er konnte sich
auf einige Tage erstrecken. Schulzeiten natürlich ausgenommen. Dann saß man »am Fenster zum Hof« oder am Wohnzimmerfenster
und schaute sehnsüchtig auf die Straße, wo
sich die »Gäng« vergnügte und halfterlose
Freiheit genoß.
Einzige, aber stets hochwillkommene Abwechslung, wenn die Frau Weinzierl im Stockwerk unter uns sich ein bißchen aus dem
Fenster lehnte und wir ihr aus unseren Geranientöpfen Erde auf den sauberen Scheitel
streuen konnten. Es glückte dies auch, wenn
sie nur schnell einmal ihr Staubtuch auswedelte.
Wie oft hat sie sich bei unserer Mutter, ihrer
einstigen Schulfreundin, bei der fast allabendlichen Visite über uns beklagen müssen: »Mei,
Pauline, Deine Kinder …!«
Wir mochten die Frau Weinzierl erst viel
später, als eine der Wohltaten des Älterwer29
dens ihr Gehör desensibilisierte und sie insgesamt ruhiger wurde.
Das Linoleum (man betonte das »e«) blokken, das Messing putzen und Treppenwischen
gehörten sehr früh zu meinen häuslichen
Pflichten. Geschirr abtrocknen sowieso. Meine
Brüder haben sich da schon eher einmal drükken können, obwohl auch sie in die ein oder
andere Pflicht genommen wurden. Kohlen,
Briketts und Holz vom Keller herauftragen
fiel sicher in ihre Zuständigkeit. Ganz bestimmt auch das Helfen beim Wäscheaufhängen im Speicher, welches im Winter blaurot
angefrorene Bubenfinger mit sich brachte. Sogar die »Glubberl« (Wäscheklammern) fühlten sich an wie kleine Eiszapfen.
Ich weiß das noch so genau, weil ich ab und
zu dabei sein wollte, um zwischen den langen
Bettuch- und Plumeaureihen hin und her zu
hopsen.
Die fertig behängten Wäschestricke wurden
mit einer langen Holzstange, die oben eingekerbt war, in die Höhe gehoben, damit das so
mühselig Gereinigte keinerlei Kontakt mit
dem rußigen Speicherboden bekommen
konnte.
Einmal habe ich so eine Stange umgerannt.
Das war ein großer »Sachschaden« und ich
bin im Ansehen der Familie tief gesunken.
Fürs Erste nahm ich Reißaus.
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Die Waschtage der Mutter haben wir tief
gehaßt. Den ganzen Tag verbrachte sie in den
weißgrauen Dampfnebeln des Waschkellers.
Mittags wurde uns nur eine schnelle Erbsensuppe offeriert; dann war die Wohnung wieder entseelt.
Irgendwann einmal bauten meine Brüder
Stelzen aus den Wäschestangen. In kürzester
Zeit brachten wir es in der Hinterhof-Arena
zu sportlichen Höchstleistungen. Ohne aufgeschlagene Knie traf man uns ohnehin kaum
an.
Natürlich gab es in unserem Haushalt keinen Eisschrank. Erst die Währungsreform
bescherte uns das Wunder Kühlschrank.
Bis es aber soweit war, mußten wir Kinder
im Sommer das zum Aufwärmen bestimmte
Essen in den Keller tragen und zu gegebener
Zeit wieder heraufholen.
Der Butter (»die« Butter gibt es im bayerischen Sprachgebrauch nicht) dümpelte in der
warmen Jahreszeit in einer Wasserschüssel
vor sich hin, die auf dem Küchenfensterbrett
stand, zwischen riesigen Fuchsienstöcken gerade noch Platz fand. Aber er war immer
»streichzart«!
Ganz dick hatten wir es übrigens, Eier vom
Keller heraufzuholen. In einem Kübel mit
kaltglitschiger Kalklösung harrten sie dort
ihrer Bestimmung. Ein solcher Auftrag war
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für uns – heute würden wir sagen »echt ätzend«.
Wenn meine Mutter eine gewisse, ordinär
stinkende Käsesorte gekauft hatte, die sie besonders gerne mochte, hängte mein Vater diese kleine Leidenschaft, die er nicht mit ihr
teilte, an einem langen Schnürl aus dem Küchenfenster.
Die Länge des Schnürls war so bemessen,
daß es fast bis zum Fenster der Weinzierlin
reichte. Auch das führte zu Beanstandungen:
»Mei, Pauline, Dei Kas …!«
Gar nicht aber mochte es die Weinzierlin,
wenn mein Vater Zigarrenrauch im Stiegenhaus verbreitete. Da war sie so empfindlich,
daß er ihr bisweilen ein feines Wölkchen
durchs Schlüsselloch blies, um sie daran zu
gewöhnen.
Eine Erweiterung dieser Fürsorge gab es am
Dreikönigstag. Auf einer eisernen Kehrschaufel lag die fromme Düfte verbreitende Weihrauchglut, mit der er feierlich alle (!) Räume
unserer Wohnung durchschritt und dann eben
noch einen liebevollen Abstecher zum weinzierlschen Briefkastenschlitz machte.
Die Faschingstage, vor allem der Faschingsdienstag, waren für uns Kinder einfach nur
herrlich. Meine Brüder gingen als Indianer, als
Clowns. Sie hatten wunderschöne Kostüme
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mit Halskrausen, spitz zulaufende schwarze
Hüte mit weißen »Bomberln«.
Ich selbst besaß kein richtiges Kostüm,
wollte aber unbedingt auch »maschgara« gehen. Ja, so versteckt sich das Wort »Maskera33
de« in unserem wunderschönen bayerischen
Dialekt.
Es wurde ganz einfach die »Tirolerin« erfunden. Ein Sommerdirndl von der Mutter,
fürsorglich über zwei dicke Winterpullover
gestülpt, ein Tirolerhut, rote Bäckchen, rote
Lippen (herrlich!) – und ab durch die Mitte.
In großen Scharen (heute überhaupt nicht
mehr vorstellbar) trieben wir uns auf der
Straße und in den angrenzenden Hinterhöfen
herum. Wir genossen das Verkleidetsein, zu
dem ja alle Kinder eine tiefe Beziehung haben.
Ich verfügte über die besten »connections«
zu den zahlreichen Cowboys und Indianern.
Hätten mich vor allem letztere nicht freiwillig
zumindest als Halbblut anerkannt, meine Brüder würden das schon für mich gerichtet
haben.
Einmal, es war wohl gleich in den ersten
Nachkriegsjahren, veranstalteten meine Eltern
einen Hausball. Meine Mutter ging als Ritterfräulein und hatte dazu nur ihr schönstes
Nachthemd angezogen.
Den Vater verkleideten wir als Stubenmädchen: Schwarzes Kleid (von Schwester Helene), weißes Zierschürzchen, weißes Spitzenhäubchen, rotgeschminkte Lippen, soweit sie
der Schnurrbart freigab.
Dem Onkel Sepp, der immer sehr spät vom
Musikmachen heimkam, legten wir einen
34
Luftballon aufs Kopfkissen. Vorher hatten wir
ihm ein ziemlich furchterregendes Gesicht
verpaßt. Der sollte einmal richtig »dakemma«!
Meine Mutter mußte bei der Vorstellung
des brüderlichen Entsetzens so lachen, daß sie
ihr Wässerchen nicht mehr halten konnte und
das schöne Nachthemd hinten einen großen
Flecken bekam. Das hat die Stimmung ungeheuer aufgeheizt.
Später kamen dann noch ein paar Leute
vom Haus und wir haben in der Küche getanzt.
Chronik einer Kindheit: Da nimmt meine
Oma – Großmutter mütterlicherseits – einen
Ehrenplatz ein. Ich denke oft an sie.
Sie nannte mich »Weibi« – oder vielmehr
»Weiwe«. Ganz unglaublich geliebt hat sie
ihre drei Enkel. Nur meine Linkshändigkeit
war ihr ein großer Dorn im Auge. Manchmal
band sie mir die linke Hand auf den Rücken.
Es nützte nichts.
Sie wohnte im Rückgebäude unseres Nebenhauses. Abwechselnd durften wir Kinder
bei ihr übernachten. Da sie in das riesige
Ehebett aber immer nur einen von uns aufzunehmen gewillt war, gab es vorher einen
heftigen Ausscheidungskampf. Die schier
endlosen Abendgebete nahmen wir gerne in
Kauf.
35
In der Mitte Oma mit Weiwe, rechts meine Mutter,
links zwei Freundinnen
Meine Oma mütterlicherseits
36
Mit »Weiwe« wurde ich von allen Familienmitgliedern angesprochen, gerufen, verwarnt …, bis ich mich als Teenager dagegen
wehrte.
Heute würde ich sehr gerne wieder so heißen und es macht mich zufrieden, daß ich auf
dem besten Wege bin, wenigstens noch ein
altes »Weiwerl« zu werden.
Als junges Mädchen ist meine Oma zu einer
Wahrsagerin gegangen. Sie prophezeite ihr die
Ehe, zwei Kinder und den Tod mit 68 Jahren.
Alles ist so eingetroffen.
Das Leben hat sie nicht auf Rosen gebettet.
Schon in sehr jungen Jahren kam sie aus dem
niederbayerischen Osterham (bei Mallersdorf)
nach München »in Stellung«, wie so viele
Mädchen vom Lande, für die es auf dem elterlichen Hof kein Auskommen gab.
In München lernte sie den Großvater kennen und lieben, der aus Eslarn an der bayerisch-tschechischen Grenze stammte. Er arbeitete bei den Deutschen Werken, hatte dort
sozusagen die Heizkessel unter sich. Im Jahr
1900 heirateten sie.
Der Großvater kam aus einer riesigen Familie. Er hatte acht Geschwister, die nach und
nach alle nach München gingen und dort auf
die Füße fielen. Es war ein lebenstüchtiger
Schlag.
Die Ehe der Großeltern war nicht besonders
37
glücklich, aber sicher auch nicht besonders
unglücklich. Der Großvater war ein schöner
Mann, zumindest in den Augen seiner Frau.
Wenn sie Kummer mit ihm hatte, rief sie klagend aus: »Weils hoid unbedingt a scheena
Mo sei miassn hat …!«
Er war ein überaus strenger Vater. Meine
Mutter hat ihn mehr gefürchtet als geliebt.
Wurde die Suppe etwas zögerlich gelöffelt,
kam sofort noch ein weiterer Schlag in den
Teller. Hatten die beiden Kinder einen noch
so harmlosen Streit miteinander, stieß er ihnen kraftvoll die Köpfe zusammen.
Auch »scheidlknien« mußten sie nach vorausgegangener Untat. Aufstehen durften sie
erst, wenn sie mehrmals um Verzeihung gebeten hatten.
Alles aber war gut, wenn die beiden musizierten. Meine Mutter mit der Zither, mein
Onkel mit der Geige. Da ist ihm das Herz aufgegangen. Da hat ihm das Bier gleich noch
besser geschmeckt. Denn Durst hatte er – berufsbedingt – schon viel, der Großvater Paul
Schnabl, wenn er auch alles andere als ein
Trinker war.
Er hatte einen tiefen Baß und konnte sehr
weit »hinuntersingen«. Aus Erzählungen weiß
ich sein Lieblingslied: »Im tiefen Keller sitz ich
hier bei ei-ei-einem Glas voll Reben«.
Wer das schöne Lied kennt, kann sich viel38
leicht vorstellen, daß bei den »Reben« sein
Maßkrug wackelte. Ein bißchen halt.
Im Alter von 39 Jahren verstarb er an einer
Lungenentzündung. Die Großmutter mußte
die beiden Kinder alleine großziehen.
Jetzt war Tapferkeit angesagt.
»Tapferkeit ohne Gerechtigkeit ist ein Hebel
des Bösen« sagte der heilige Ambrosius vor
eineinhalb tausend Jahren.
Der Oma widerfuhr Gerechtigkeit, als die
beiden Kinder gut gerieten, der Sohn sogar
ein durchgehender Einserschüler war und mit
fünf Jahren schon ein recht gutes Geigerlein.
Ein musischer Tapezierer aus der Hausgemeinschaft erteilte ihm kostenlos den ersten
Unterricht. So kannte der Bub die Noten lange bevor er sich mit dem ABC anzufreunden
hatte.
Der Tapferen widerfuhr Gerechtigkeit, als
sie zwei »Schwieger« bekam, die sie tief verehrten.
Natürlich hatte sie Sorgen mit dem Sohn,
als er in sehr jungen Jahren und sehr weit weg
von daheim ein wildes Musikerleben führte.
Als er ihr dann unsere Tante Elli als seine
zukünftige Frau vorstellte, war alles gut. »Jetz
kriagt der greisliche Kerl a so a nette Frau«,
resümierte sie in ausklingendem Groll.
Der ebenso fürsorgliche wie erfinderische
Schwiegersohn in Gestalt meines Vaters hatte
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sogar – über zwei Hinterhöfe führend – eine
Verbindung geschaffen, mit der die Oma zu
uns übers Radio sprechen konnte, wenn es
denn eingeschaltet war und wenn sie wegen
ihrer schweren Zuckerkrankheit rascher Hilfe
bedurfte.
Und dann die drei Enkelkinder: So brav …,
so anhänglich, gleich im nächsten Haus und
so voller Leben, das in das ihre strömte wie
ein frisches Gebirgsbacherl.
Die Hausmeisterei (Vordergebäude mit
zwei Rückgebäuden) und das Bügeln »für d
Leit«, waren hartes Brot, aber doch so einträglich, daß es keine Not gab.
Für ein Paradekissen, dessen Rüschen sie
mit einer Spezialbrennschere sorgsam behandelte, erhielt meine Oma gerade mal ein Zehnerl. Trotzdem hat sie bei der Arbeit immer
gesungen.
Mit dem Hausbesitzer hatte sie ein überaus
gutes Einvernehmen. Hochachtungsvoll sprach
sie vom »Herrn Ingenieur«.
Ihre Wohnung bestand aus einer großen
Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem
Kammerl. Letzteres wurde vermietet oder
diente vorübergehend und natürlich kostenlos
als Unterschlupf für »gefallene Mädchen«
vom Land, wenn sie ein lediges Kind bekamen und sich nicht mehr heim trauten.
Dafür wurden sie von meiner Großmutter
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gewiß nicht gelobt, aber ganz bestimmt liebevoll getröstet: »Kummt s Haserl, kummt s
Graserl …«
Mit ganz besonderem Vergnügen denke ich
an einen langjährigen Untermieter meiner
Oma, an den Herrn Hasenöhrl, den wir Kinder »Hasebe« nannten. Er war ein Junggeselle
par excellence, hat aber dann in seinen reiferen Jahren doch noch ein Weib gefunden und
es nach dem Krieg als Immobilienhändler zu
ziemlicher Wohlhabenheit gebracht.
Nie hat er die Verbindung zu unserer Familie abgebrochen. Er ist zu den Beerdigungen
noch so entfernter Verwandter gekommen.
Mitunter tauchte er sogar an den Geburtstagen meines Vaters auf, als dieser die Neunzig
schon überschritten hatte.
Ein anderer Untermieter war »der Lehrer«.
Er hat meine Großmutter wohl ein bißchen
umworben. Meine Mutter sagte später, er sei
unglaublich schrullig gewesen. Da fiel wohl
ein kleiner Schatten auf ihre Jungmädchenzeit.
Nun, das war sicher keine Affäre, kein Verhältnis. Da bereicherte halt ein Mannsbild den
Haushalt, noch dazu ein gebildetes, das beratend an allen Problemen Anteil nahm, zur
Seite stand. Denn die beiden Kinder wuchsen
heran und wurden – wie alle – nicht einfacher.
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In ihren Wechseljahren hatte meine Oma
große Herzprobleme. Oft saß sie erschöpft auf
einer Treppenstufe im Stiegenhaus, schafft es
nicht mehr bis zu ihrer Wohnung im ersten
Stock. Als dieser Spuk vorüber war, attestierte
ihr der Arzt das Herz einer Zwanzigjährigen,
was sie mit großem Stolz überall herumerzählte.
Dann kam die Zuckerkrankheit. Das Insulin
spritzte sie sich selbst. Manchmal durften es
ihr meine Brüder verabreichen, was sie als
hohe Auszeichnung empfanden.
Peinlich genau wurden die Mahlzeiten abgewogen. Das von der Oma bevorzugte dunkle Grahambrot mochten auch wir Kinder sehr
gerne, so daß sie nach mancher unserer Visiten kein Bröserl mehr davon besaß.
Am 17.8.1943 ist sie an einer Bruchoperation verstorben, erlebte es gottlob nicht mehr,
daß »ihre« Häuser in Flammen aufgingen und
mein Bruder Heinz nicht mehr aus dem Krieg
zurückkam.
Mein Bruder Heinz mußte ganz am Ende des
Krieges noch Soldat werden.
Im Württembergischen kam er in amerikanische Gefangenschaft. In einem Ulmer Lazarett ist er im April 1945 an Tetanus verstorben.
Eine Spritze hätte sein junges Leben gerettet.
Er war 18 Jahre alt.
42
Erst im Dezember 1945 erhielten wir von
der Militärregierung diese entsetzliche Nachricht. Es war tiefster Winter und ich kam gerade vom Schlittenfahren heim …
Das Leid, das damals in unsere Familie einbrach, ist im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich.
Unser auch in einer solchen Lage praktischer
Vater sammelte immer wieder die vollgeweinten Taschentücher ein, wusch sie aus und
hängte sie über den Küchenofen. In noch
feuchtem Zustand brauchten wir sie aber schon
wieder, denn die Tränen hörten nicht auf.
Nie werde ich den ersten Besuch mit den
Eltern und Bruder Hans auf dem Heldenfriedhof in Ulm vergessen. Fassungslos standen wir vor einem winzigen Grab mit einem
Eisenkreuz. Wir pflanzten einen Rosenstock.
Trotz allem sind wir dann noch auf den
Turm des Ulmer Münsters gestiegen und haben auf den total in Schutt und Asche liegenden Münsterplatz herabgeschaut.
Heinz war der Ruhigste, Besonnenste von
uns Dreien. Nach Abschluß der Mittleren Reife trat er eine Banklehre an. Von seinem Lehrherrn bekam er eine hohe Auszeichnung, als
er bei einem Dachstuhlbrand besondere Umsicht und Tapferkeit zeigte. Seine Bank liebte
und verteidigte er.
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Natürlich gibt es auch von ihm Kindheitsgeschichten. Folgende finde ich anrührend:
Er war noch ABC-Schütze, als meine Mutter
den sonst überaus Pflichtbewußten wieder
einmal zur Schule weckte. Er verweigerte das
Aufstehen mit folgender Begründung: »Ja
moanst denn Du, i geh acht Jahr lang alle
Dog?«
Am liebsten lag er mit einem Buch auf dem
Küchendiwan, wobei er immer wieder mit
größter Zufriedenheit feststellte: »Gell, Mama,
schee is dahoam!« …
Chronik einer Kindheit: Das sind viele Erinnerungen an die Mitglieder der damaligen Großfamilie, in der man so geborgen aufwuchs.
Der Tante Hedl, Schwester meines Vaters,
unverheiratet, bei uns im Haus in Untermiete
bei Frau Weinzierl geduldet, sei ein längeres
Kapitel gewidmet.
In der Steinheilstraße, wo sie eine kleine
Wohnung hatte, war sie ausgebombt worden.
Sie war eine große, schlanke, grobknochige
Frau und – heute würde man sagen – bekennende alte Jungfer. Männer waren ihr nicht
geheuer, ausgenommen die sehr geliebten
Brüder und die Herren des geistlichen Standes.
Man erzählt, daß sie als junges Mädchen
einmal panische Angst vor einer Schwanger44
Tante Hedl
schaft gehabt habe, weil sie ein junger Mann
geküßt hatte.
Beim Metzger Wimmer, ihrer Arbeitsstelle,
war sie Mädchen für alles. Ein sicherlich knallharter Job!
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Es war zu einer Zeit, als viele Menschen es
schon ahnten oder gar wußten, was dieser
Herr Hitler aus Braunau im Schilde führte.
Tante Hedls Antennen signalisierten jedenfalls
Alarmstufe 1. Nun war sie wirklich kein übermäßig politisch interessierter Mensch, aber sie
hatte – jetzt nicht bildlich gesprochen – ein feines Näschen für Gefahren, ein Gespür halt.
Sie kannte Hitler persönlich. Sie bediente
ihn, wenn er bei ihrem Brotgeber seine Wurst
einkaufte.
Eines Tages war ihr plötzlich ganz klar, wie
leicht es für sie wäre, dieses Scheusal ins Jenseits zu befördern, das heißt, ihn zu vergiften.
Kannte sie sich da ein bißchen aus? Hatte
die Oberpfälzerin eine besonders knackige
»Rengschburger« mit entsprechender Anreicherung im Visier?
Bruder Georg, der gütig-fromme Gärtner
bei den Salesianern zu Overbach, von dem sie
sich erstaunlicherweise eine Art Rückendekkung mit anschließender Generalabsolution
erhoffte, erklärte sie für verrückt. Um Gottes
Willen, Helene, tu das nicht!
Ich darf es mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn der einschlägige geschwisterliche Briefwechsel von der Gestapo entdeckt
worden wäre.
Es gab jedoch keinen Menschen, dem sie höriger war, als ihrem Bruder »Bruder Georg«.
46
Schon zu seinen Lebzeiten verehrte sie ihn
wie einen Heiligen. Immer, wenn er zu Besuch
im heimatlichen Griesau weilte, reiste sie sofort an, damit sein irdisches Wohl in jedweder
Beziehung gesichert war.
Daß sie, um die damalige Griesauer Jugend
in gebührende Ehrfurcht zu verweisen, bisweilen auch ihre allseits gefürchteten Fäuste
einsetzte, muß nicht betont werden.
Waren es nun die vom Ordensmann fachmännisch geschilderten Höllenqualen, die
eine Mörderin im Jenseits zu erwarten hatte,
oder genügte ganz einfach das strikte brüderliche Verbot: Hedl ließ Hitler leben, das heißt
weiterleben.
Sie griff nicht ein in den Lauf der Geschichte. Es war ihr sozusagen nicht vergönnt.
Von dieser Geschichte habe ich erst viele
Jahre nach dem Krieg erfahren. Während der
Nazizeit wurde sie in der Familie mit keiner
Silbe erwähnt. Heute ist mir klar: Ein unbedachtes Wort an falscher Stelle – und die ganze Familie wäre der rigoros praktizierten Sippenhaft anheimgefallen.
Unserer Tante wäre jede postume Ehrung
»zwider«. Sie hat ein Denkmal in unseren
Herzen. Längst ist sie mit ihren Geschwistern
in der Ewigkeit und sitzt bestimmt neben
Bruder Georg, der ihr beschwichtigend die
Hand hält.
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Nach dem Krieg war sie der Metzgerei aus
gesundheitlichen Gründen nicht mehr gewachsen. Sie brachte sich ganz gut mit häuslicher Flickarbeit durch und konnte sogar neue
Krägen auf alte Herrenhemden montieren.
Reichte der jeweilige »Stoß« nicht aus, war sie
in der Auswahl des Stoffersatzes nicht zimperlich. Wir haben uns oft gewundert, daß sie
sich nicht laufend mit Reklamationen herumschlagen mußte.
Sie konnte (mußte) ungeheuer sparen. Im
Winter ließ sie sich regelmäßig in ein Krankenhaus einweisen, um die teuren Kohlen für
ihr Kanonenöferl zu sparen. Sie genoß unsere
Besuche und grinste zufrieden aus dem warmen Bett.
In der ersten Nachkriegszeit, als es die allabendlichen Stromsperren gab, spielten wir
immer Rommé.
Tante Hedl hatte eine unglaubliche Freude
am »Bscheißn«. Begünstigt durch die kärgliche Beleuchtung, legte sie beispielsweise
Kreuz 7, 8, 9 auf und sagte voller Unschuld:
»Bube, Dame, König«. Für meine preußischüberkorrekte Tante Elli war das jedes Mal zu
viel. Zum schier unermeßlichen Vergnügen
der Hedl ging sie auf wie eine Dampfnudel:
»Was hast Du da wieder aufgelegt?«
Tante Hedl ergötzte sich allabendlich am
Zorn der Mitspielerin, die sie wegen ihres
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protestantischen Glaubensbekenntnisses ohnehin diskreditierte. Nach ihrer Überzeugung
wartete auf die »Evangöllischen« Herr Satan
persönlich.
Den Hang zum Schwarzfahren habe ich leider von ihr geerbt. Die dazu erforderliche
Kaltblütigkeit nicht im vollen Umfang.
Vielfach machte sie Besorgungen für andere
Leute, ein kleiner Nebenverdienst. Gerne
nahm sie mich dabei mit.
In den damaligen Trambahnen saß man sich
auf zwei langen Bänken gegenüber. Der Trambahnschaffner ging prüfend in der Mitte auf
und ab: »Hat alles?«
Meistens hatten wir nicht und ich wurde
zappelig. Dann spürte ich die Hand der Tante
auf meinem Arm, vernahm die beruhigende
Stimme: »Sei nur schdaad!«
Es ging immer gut.
Als der Krieg immer schlimmer wurde und
mein junges Nervensystem zerrüttet war, riet
der Arzt, mich aufs Land zu schicken. So kamen meine Mutter und ich nach Griesau, auf
den Bauernhof meines Onkels, Bruder meines
Vaters.
Wir verbrachten dort das letzte Schreckensjahr, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist.
Erst im Juli 1945 kehrten wir nach München
zurück, das nicht wiedererkennbar war.
49
Die Griesauer Großfamilie
Die Tante Hedl führte nunmehr den Haushalt
für meinen Vater und die beiden Brüder. Die
beste Schilderung dieses Interims stammt von
meinem Bruder Hans.
Allein das Weckzeremoniell (Hans schlief
mit seiner Tante im Ehebett) – wenn ihr noch
nachtschwerer Arm, den sie einfach nur hob
und auf ihn niedersenkte wie ein Fallbeil, seinen Träumen ein ebenso schmerzvolles wie
jähes Ende bereitete – ist uns immer wieder
Anlaß für heiteres Erinnern.
Als uns die Tante Hedl einmal ein Griesau
besuchte, spielten wir ihr einen bösen Streich,
wofür meine Cousins, Cousinen und auch ich
stets zu haben waren.
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Wir wußten, daß sie jeden Abend, ehe sie
sich zur Ruhe bettete, vorsorglich unter ihr
Bett schaute. Es könnte ja mal ein schlimmer
Geselle ihrer harren …
Wir fertigten eine Art Strohmandl in Lebensgröße an, bekleideten es mit Stallgewand,
gaben ihm ein riesiges Schlachtmesser in die
Pfote und legten es zu gegebener Zeit unters
Bett der Tante.
Wie gut, daß sich meine Mutter in der Nähe
des Tatortes aufhielt, als das Ungeheuer von
der Tante entdeckt worden war. Laut um Hilfe
schreiend stob sie aus ihrem Zimmer im ersten Stock und wäre – ohne meine Mutter –
kopfüber die Treppe hinuntergestürzt.
Das hat sie uns lange nicht verziehen, zumal auch die Erwachsenen nicht ganz uneingeweiht waren.
Es war eine rauhe Zeit.
Tante Hedl und Tante Rosa waren gute
Freundinnen. Tante Rosa, etwa gleichaltrig,
Familienstand ebenfalls »nv«, Verkäuferin bei
einem Bäcker, über sieben Ecken mütterlicherseits mit uns verwandt, kam jeden Samstag
mit Tante Hedl samt Metzgerhund zu uns
zum gemeinsamen Abendessen.
Sie brachte die im Laden übrig gebliebenen
Semmeln in einer großen Stranitzn (»Tüte«
sagte man erst viel später) mit, die sie mit
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freudiger Gönnermiene in die Mitte des Küchentisches legte und sofort weit aufriß.
Zu unseren Füßen wartete brav der schöne
Schäferhund auf ein tieffliegendes Wurstradl.
Die beiden Damen hatten zumindest eine
gemeinsame Leidenschaft: Das waren die
Komiker (sie betonten nicht das »o« sondern
das »i«) in der Gaststätte »Scharfes Eck« in der
Schleißheimer Straße. Da gingen sie jeden
Samstag hin und hatten ihren Spaß. Ich finde,
sie waren richtige Emanzen.
Im Jahr 1960 fand in München der »Eucharistische Kongreß« statt, ein großes Ereignis für
die Stadt. Sogar der Papst kam. Die Bürger waren aufgerufen, das Äußerste an Gastfreundschaft aufzubieten und Privatquartiere für die
Gäste aus der ganzen Welt bereitzuhalten.
Onkel Georg, dem Leser schon ein Begriff,
schickte uns – beinahe fraglos – drei Padres
aus Overbach, unter denen sich der wirklich
vornehme Pater Provinzial befand. Vor ihm
hatten wir Federn, was sich gottlob bald als
unnötig herausstellte.
Unsere Helene war in ihrem Element. Drei
echte Pfarrer als Gäste für eine ganze Woche –
das kam nie wieder. Sie waren fröhliche
Rheinländer und lachten jedes Mal aus tiefstem Herzen, wenn die Hedl vom »Eukalyptischen Prozeß« schwärmte.
52
Onkel Georg
Die Großveranstaltungen dieses Kongresses
fanden auf der Theresienwiese statt. Daß Petrus keinen Sinn für Open-air-Events hat, ist
hinlänglich bekannt. So regnete es oft Schusterbuben, wenn sich die Frommen aus aller
53
Welt dort einfanden. Nur der Papst hatte ein
Dachl.
Bisweilen waren die schwarzen Priesteranzüge am nächsten Morgen noch nicht trocken.
Dann stand meine Mutter schon sehr früh in
der Küche, um diese trocken zu dämpfen. Die
hohen Herren mußten ja beizeiten zur Messe.
Bis gut über die Mitternacht wurde jeden
Abend nach reichlich bayerischer Brotzeit und
viel Bier erzählt und gelacht. Es war eine Heiterkeit, die man bis hinunter zu den Weinzierls hörte. Bei nächster Gelegenheit klagte
dann die einstige Schulfreundin: »Mei, Pauline, Dei Bsuach!« Und ich höre meine Mutter
antworten: »Mare, dees geht ned anders. Da
miaß ma jetz alle durch!«
Auch Tante Hedl hatte eine Beanstandung,
und zwar das nach ihrem Empfinden viel zu
kurz ausfallende Tischgebet des Provinzials.
»Na ja«, meinte sie dann aber begütigend,
»wenig mit Liebe.« Er nahm es schmunzelnd
zur Kenntnis.
Nach Abreise der Padres sanken wir alle in
eine zufriedene Erschöpfung. Lange Jahre noch
schrieb uns der Provinzial die herzlichsten
Briefe aus Rom, wohin er versetzt worden war.
Weil es hier so schön hinpaßt:
Einmal schickte uns der Onkel Georg einen
Missionspfarrer. Er kam aus Afrika und wir
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stellten ebenso erstaunt wie verunsichert fest,
daß er sein Bedürfnis nach menschlicher, vor
allem weiblicher Nähe, nicht in die unsererseits doch sehr von ihm erwartete Form zu
bringen wußte. Er war uns allen ein bißchen
suspekt.
Trotzdem ließen wir es nicht an Gastlichkeit
fehlen. Wie schnell ist etwas ungerecht interpretiert.
Auch die Tante Hedl war an sich recht
glücklich, daß wir wieder einmal hohen Besuch hatten, bis der Unglückselige versuchte,
ihr ein kleines Küßchen zu verabreichen. Da
war aber dann der Bär los! Entsetzt stieß sie
ihn von sich und rief: »Weiche, Satan!«
Sicherlich war der Pater kein übler Sexgangster. Bestimmt neigte die gute Tante in
puncto puncti zur Überempfindlichkeit. Aber
wir waren alle froh, als wir diesen komischen
Heiligen von hinten sahen. Bruder Georg
wurde angewiesen, bei der Auswahl der uns
künftig Zugeteilten sorgfältiger zu verfahren.
»Weiche, Satan!« blieb in der Familie ein geflügeltes Wort. Man glaubt kaum, wie oft es
anwendbar ist.
Es war eine fromme Kindheit mit Morgenund Abendgebet sowie Tischgebet am Sonntag; letzteres nur täglich, wenn der Onkel Georg aus dem Kloster bei uns zu Besuch war.
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Vor dem Mittagessen, das schon dampfend
auf dem Tisch stand, wurde ein Vaterunser für
die Verstorbenen angehängt und dazu ein
bißchen geweint.
Am Schluß beim Kreuzzeichen habe ich
immer zu meiner Tante Elli hingeschielt. Sie
machte nicht, wie wir alle, das kleine Kreuz
auf Stirne, Mund und Brust, sondern schlug,
weil sie eigentlich Tragödin werden wollte,
mit der Hand einen riesigen Bogen von ihrer
Stirn zum Bauch, um dann ebenso ausholend
den zweiten Bogen von der linken zur rechten
Schulter zu vollziehen.
Auch in Griesau hat man regelmäßig gebetet; beim mittäglichen Zwölf-Uhr-Läuten
den »Engel des Herrn«, das der dörfliche
Messner nie vergaß, auch als er schon sehr
betagt und tief gebeugt den Weg zur kleinen
Kapelle nahm, in der er auch die Maiandachten hielt.
Immer wieder bekam ich Lachkrämpfe,
wenn die Cousins statt »Vater unser« »unser
Vadda« und am Ende nicht »in Ewigkeit
Amen«, sondern »im Möberlbräu Amen« »beteten«. Man muß halt am meisten lachen,
wenn man es überhaupt nicht darf.
Die Diem Liesi und ich hatten unsere größten Lachanfälle in der Josefskirche. Wir
brauchten uns nur kurz anzuschauen …
Stets hatten wir Weihwasser daheim. Der
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Vater zapfte es in ein Limonadenflaschl aus
einem großen Kessel in der Josefskirche. Gerne verwendete er dazu auch die leeren Gesichtswasserfläschchen der eitlen Tochter, die
er dem häuslichen Abfall entnahm und in
allen Größen in das Vorratsregal im Gang sortierte.
Das Auffüllen der Weihwasserkessel neben
der Eingangstür und im Schlafzimmer, wo
man sich ausgiebig besprengte, ehe man sich
der dunklen Nacht überließ, gehörte zu seinen
Obliegenheiten.
Ich sehe ihn vor mir bei diesem Ritual: Zigarre im Mund, sein »Arbeitslied« brummend
summen. Das war immer nur ein Ton, sagen
wir mal jeweils eine halbe Note lang.
Wie oft hat uns die Mutter an der Wohnungstür noch schnell ein Weihwasserkreuz
auf die Stirn gezeichnet, wenn wir einen
schwierigen Weg antraten oder wenn sie instinktiv eine Gefahr für uns spürte, auch als
wir schon erwachsen waren.
Wunderschön war das Osterfest in unserer
Kindheit. Freilich, den Karfreitag mochten wir
gar nicht. Es durfte nicht einmal das Radio
angestellt werden.
Dafür gab es mittags den köstlichsten Fisch.
Die Erwachsenen erhielten nur eine kleine
Portion, denn der Karfreitag ist ein Fast- und
Abstinenztag.
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Am Nachmittag ging die ganze Familie
sonntäglich gekleidet in mindestens fünf Kirchen, wo der Heiland aufgebahrt war unter
einem großen Lichterbogen aus bunten Glaskugeln. Die Erstkommunikantinnen, die
»weißen Mäderln« wie man damals sagte,
durften Wache halten.
Die Auferstehungsfeier war am Ostersamstag um fünf Uhr nachmittags. Das mit violettem Stoff bedeckte Kreuz wurde nach und
nach enthüllt. Die Erinnerung an dieses
mehrmalige »Christus ist erstanden« des Priesters geht mir heute noch sehr nahe. Da war
dann einfach jeder froh, daß er seinen Herrgott wieder hatte.
Am Ostersonntag nahm man ein Körbchen
mit bunten, natürlich selbst gefärbten Eiern,
Brot, Zopf, Salz, Geräuchertem und Meerrettich mit ins Hochamt, nach dessen Ende die
Speisenweihe erfolgte.
Daheim gab es dann gleich das Osterfrühstück. Es schmeckte uns allen immer so ganz
besonders gut. Der Hunger war groß. Damals
ging man noch nüchtern zur Kommunion.
Die österliche Feier zog sich bei den Kapuzinern in St. Josef besonders lang hin. Dafür
waren sie bekannt.
Vielleicht ist es ein bißchen ketzerisch,
wenn ich glaube, daß das »Großer Gott, wir
loben Dich« am Ende des Hochamtes auch
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deshalb so ergreifend klang, weil mindestens
tausend knurrende Mägen dazu beitrugen.
Nach dem Frühstück wurden die Eierschalen nicht in den Abfall geworfen, sondern verbrannt, weil sie geweiht waren.
Das Geweihte hatte einen unnachahmlichen
Geschmack. Ungeweihtes hätten wir sofort
erkannt – zumindest meine Brüder und ich.
Es folgte ein fast nahtloser Übergang zu den
Vorbereitungen für das mittägliche Festessen.
Der Hausherr hatte nicht einmal Zeit, den
feinen Zwirn auszuziehen, obgleich dieser
stets größter Schonung sicher sein durfte.
So band er sich nur ganz schnell seinen
grünen Schaber um und rieb sich, wie meistens am Sonntag, wenn es Kartoffelknödel
gab, die Knöchel wund. Da fehlte ihm eigenartigerweise die passende Erfindung.
Viel, viel später, als meine beiden Neffen
aus der Schweiz mit ihren Eltern – wie jedes
Jahr – das Osterfrühstück mit uns genossen,
hatten sie das rote, hölzerne Stopfei ihrer
Großmutter ins Eierkörbchen geschmuggelt.
Wie von oben gelenkt, ausgerechnet der
Onkel Sepp, der das Ei nicht mit dem Löffel,
sondern mit einem kräftigen Schlag gegen
sein Hirn aufzuschlagen pflegte (was die Buben natürlich wußten), erwischte das Holzei
und war dann nebst rotem Binkerl auf der
Denkerstirn schon recht sauer. Wie glücklich
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sind Lausbuben in solchen Augenblicken. Sie
dürfen nie aussterben!
Auf dem Land erlebt man nicht nur die Jahreszeiten, sondern auch das Kirchenjahr viel
intensiver.
Damals, letztes Ostern vor dem Kriegsende,
radelten wir trotz permanenter Tieffliegergefahr am Karfreitag-Nachmittag von Griesau
nach Pfatter in die Pfarrkirche.
Nach gewissenhafter Osterbeichte sind wir
von der letzten Kirchenbank aus im Mittelgang auf den Knien zum Hochaltar gerutscht,
wo der Gekreuzigte auf den Stufen zum
Hochaltar lag.
Wir küßten seine Wunden und gingen dann
ganz ungewöhnlich brav aus dem Gotteshaus.
Freilich haben wir uns nach so viel Frommsein richtig austoben müssen, indem wir beim
Heimradeln auf der Landstraße kunstvolle
Kurven fuhren – und im Graben landeten.
Zu dieser Zeit gab es – zumindest in ländlichen Gegenden – noch streng getrennt die
»Manna-« und die »Weibaseitn«, rechts im
Kirchenschiff die »Manna«, links die »Weiba«.
Bei den Sonntagsmessen in Pfatter hielt ich
oft Ausschau nach den männlichen Familienmitgliedern aus Griesau. Vater und Söhne
standen immer ziemlich nahe bei der Kirchentür, bei milder Witterung auch schon einmal
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ein bißchen »außerhalb«. Wenn die Predigt
anfing, waren sie schon im nahen Wirtshaus.
Gibt es etwas Schöneres als einen sonntäglichen Frühschoppen?
Daheim beim Mittagessen fragte dann »d
Muadda« hinterhältig nach dem Thema der
Predigt. Der »Vadda« ließ seine Söhne erst gar
nicht zu Wort kommen bzw. ins Bratenmesser
laufen. Schnell erfand er eine Kurzform der
etwaigen priesterlichen Ausführungen, für die
er das Prädikat »oida Esl« erhielt, was aber
seinen Sonntagsfrieden in keiner Weise einschränkte – und schon gleich gar nicht seinen
Appetit.
Mir fällt meine erste Beichte ein. Ich hatte alle
meine Sünden am Leitfaden des Beichtspiegels akribisch aufgelistet – und dann dieses
Dokument meines verworfenen Lebens verloren. Das verfolgte mich noch jahrelang.
Erste heilige Kommunion in St. Benno, wo
wir kirchensprengelmäßig hingehörten. Ich
sehe mich in einem wunderschönen weißen
Kleid mit weißem Mantel, in letzter Minute
erstanden, »second hand« natürlich.
Nach dem langen Sitzen in der Kirche erlösendes Wettrennen mit den Brüdern die lange
Lothstraße hinunter; sehr hinderlich die Kerze
und die neuen Schuhe. Aber die Brüder ließen
mich gewinnen an diesem Tag.
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Das Kommunionkind
(Foto und Dekoration von meinem Vater)
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Ins Straßenbild unseres Viertels gehörten
die Kapuziner der nahen Josefskirche. Immer
eilten sie und trugen schwarzlederne Aktentaschen mit sich. Sie gingen mindestens so viel
zu Fuß wie unser Vater, wenn er »Streife«
hatte.
Es kam uns kein Kapuziner aus. Immer liefen wir ihnen nach oder entgegen, gaben ihnen die »schöne Hand« (die rechte war das
natürlich), machten einen Knicks, wohlerzogene Buben einen Diener, und flüsterten »Gelobt sei Jesus Christus«. Dafür erhielten wir
ein feierliches »in Ewigkeit Amen« und ein
Kreuzl auf die Stirn, worauf wir ungeheuer
scharf waren. Segen verjährt nicht …
Ein absoluter Beweis für unseren Glauben
war es, während eines heftigen Gewitters auf
dem Küchenfensterbrett zu sitzen, gegen die
Blitzgefahr das Kreuz zu schlagen – vor allem
beim Donner – und furchtlos auszuharren.
Sehr oft haben die Diem Liesi und ich auf
solche Weise die Himmelsmächte erprobt und
für zuverlässig befunden.
Wenn uns meine Mutter manchmal eine
Tasse Kakao stiftete und dabei stets warnte
»Kichert werd hernach«, bekam die Liesi automatisch einen ihrer großartigen Lachanfälle,
wobei ihr die an sich von ihr sehr geschätzte
Flüssigkeit wieder bei den Nasenlöchern herausfloß. Ich hoffe, daß ihr Leben so verlaufen
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ist, daß ihr in heiter-glücklichen Augenblicken
auch immer wieder einmal Champagner aus
dem feinen Näschen perlte.
Nach dem Krieg sind wir in den Ferien viel
ins Dantebad gegangen und immer, wenn es
blitzte und donnerte, ins Wasser. Die Bademeister waren noch in Kriegsgefangenschaft –
und unsere Schutzengel schon recht verzweifelt.
Diese tiefe, vertrauensselige Frömmigkeit
erhielt die ersten kleinen Risse, als wir einige
Jahre später zum ersten Mal der Liebe begegneten und der Herrgott kein Einsehen für unsere Träume und Nöte zu haben schien.
Er hat uns den ersten Heißgeliebten, Einzigartigen, Überlebenswichtigen, mit dem
wir durch ein langes, wunderbares Leben
gehen wollten, schlicht und einfach verweigert.
Zu diesem Zeitpunkt hatten wir allerdings
schon sehr viele Hollywood-Filme gesehen,
schwarzweiß mit deutschen Untertiteln.
Wenn der Film ein »Achtzehner« war (Zutritt ab 18 Jahre; es gab auch »Vierzehner«),
standen wir vor der Kinokasse auf Zehenspitzen. Ein mütterlicher »Dietsche« (Hut) hat uns
stets auf wundersame Weise vor schmachvoller Zurückweisung bewahrt.
In Kindheitstagen gingen wir gerne ins
»Hubertus« in der Schleißheimer Straße. Es
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war ein richtiges Flohkino. Der Rasierplatz in
der ersten Reihe kostete fünfzig Reichspfennige, a »Fuchzgerl« halt.
Mein allererster Film – die großzügigen
Brüder hatten mich mitgenommen – hieß:
»Die Finanzen des Großherzogs«. Mein Bruder Hans tratzt mich noch heute. An den unmöglichsten Stellen hätte ich laut gefragt:
»San dees de Finanzn?«
Ab und zu durfte ich auch mit der Diem
Liesi ins »Hubertus« gehen und einen Märchenfilm anschauen.
Da kam es schon vor, daß uns ein Schlaferl
überfiel, wir tief in die Sessel rutschten und
bis weit in die nächste Vorstellung hinein unser Fuchzgerl noch abträumten.
Grelles Taschenlampenlicht riß uns dann
plötzlich in die Wirklichkeit zurück und eine
der besorgten Mütter stand erlöst an der Kasse. Dankbarer Empfang.
Happy End!
»Gig«: Laut Lexikon ein offener, zweirädriger
Wagen (Einspänner) mit einer Gabeldeichsel.
Es wäre interessant zu wissen, wie meine
Brüder und deren Freunde, die unentwegt
Gigs herstellten, zu diesem englischen Wort
gelangten im damaligen Bayern.
Zu diesem selbstgebauten Gig brauchte
man ein etwa 1,50 m langes Holzbrett, unter
65
das die zwei Achsen eines gerade nicht im
Einsatz befindlichen oder ausrangierten Kinderwagens montiert wurden. Die vordere
Achse war mit einem Seilzug lenkbar. Als
Bremse wurden die Schuhabsätze des Lenkers
geschunden. Im Sommer mußten es die nakkerten Fersen verkraften nach dem Motto »A
Indeana kennt koan Schmerz«.
Dieses Hightech-Fahrzeug wurde mit Vorliebe auf dem leicht abfallenden Trottoir der
Georgenstraße eingesetzt. Unvorhersehbarer
Gegenverkehr in Gestalt von ahnungslosen
Fußgängern nach der scharf genommenen
Linkskurve in die Schleißheimer Straße löste
des öfteren ein Verhängnis aus. Die »Giganten« der Straße wurden nicht nur heftig beschimpft. Meistens gab es auch noch eine
recht spürbare Abreibung. Es hat die hochbegabten Mechaniker nicht davon abgehalten,
ihr geliebtes Fahrzeug weiterhin zu verbessern und zu verschnellern.
Ich kann mich nicht erinnern, daß ich auch
nur ein einziges Mal mit dem Gig fahren durfte. Was habe ich verpaßt!
Für die Spiele unserer Kindheit war Phantasie
allererste Voraussetzung.
Daheim in unserem langen Gang gab es eine Schaukel. Man hängte ein Brett in zwei
stabile Seile ein, die von der Mitte des Pla66
fonds, befestigt in zwei großen Eisenhaken,
herunterbaumelten.
Teils aus eigener Kraft, teils von den jeweils
anwesenden Sportsfreunden kräftig angeschubst, erhielt man sehr schnell enormen
Schwung.
War er groß genug, erreichten wir – natürlich »strumpfsockad« mühelos den oberen Küchentürrahmen. Nach und nach verschwand
das vom Vater dort am Dreikönigstag mit
Kreide angeschriebene »K + M + B 19..«.
In die Seile konnte man auch Turnringe und
eine Stange für Bauchaufschwünge einhängen. Zirkusreife Kunststücke gelangen uns da.
Waren wir doch auch begeisterte Besucher
des Circus Krone. Alle drei Wintervorstellungen durften wir anschauen und waren dann
immer sehr angeregt.
Es fehlte uns daheim eigentlich nur der Kapellmeister Jeffa mit seiner schmissigen Band
und der Raubtiergeruch. Sonst war alles »wie
echt«.
Damals ist wenig gereist worden. Schon
lange konnten die Menschen nicht mehr in die
Sommerfrische fahren. Das häßliche Wort »Urlaub« kannten wir hauptsächlich nur in Verbindung mit dem Vorwort »Front-«.
Wie schon erzählt, gingen wir im Sommer
viel zum Baden, entweder ins »Dante« oder in
die Georgenschwaige. Bei den Brüdern mit
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ihren Freunden war vorher ein Abstecher in
die Infanteriestraße obligatorisch.
Dort in den Kasernen waren die Soldaten
»daheim« und hatten zumindest reichlich
Brot, den begehrten, wirklich köstlichen Kommiß.
Dieses quadratische Vollkornbrot gibt es ja
heutzutage auch noch, aber ich glaube, es ist
eher ein Verschnitt, eine Art Vitalbrot für
Körndlfresser.
Bittscheen an Kommiß,
weil ihn so gern iß,
weil ihn so gern mog,
drum kim i alle Dog.
Damit lockten die Buben den Landsern so
manches Stück ab, zumindest denen mit Herz
für hungrige Poeten.
Im Bad wurde das Brot in Scheiben geschnitten und auf dem sommerlich glühenden
Asphalt getoastet.
Und ist es nicht wunderbar, daß die Erinnerung der inzwischen über Siebzigjährigen
einen ganz unbeschreiblichen Hochgenuß
daraus macht?
Sommerferien sind – gottlob zu allen Zeiten –
lang. Da gibt es auch Regentage, die gefüllt
sein wollen.
Meine Kinderfreunde Bernhard und Mathil68
de Mayer wohnten bei uns im dritten Stock,
wir im zweiten.
Von unserem zum Hof gehenden Kammerlfenster (das Kammerl war teils Speise, teils
bescheidenes Gästezimmer, später dann meine Jungmädchenkemenate) zum Mayerschen
Abortfenster bauten wir eine Seilbahn. Stundenlang schrieben wir uns Briefe, die wir in
einer »Kabine« vor dem Regen schützten und
nach glücklicher Ankunft mit großer Spannung lasen. Sehr oft ging es um die Marotten
der Weinzierlin, wenn sie sich beispielsweise
immer mit dem Hausschlüssel an der Stirn
kratzte, die sie unentwegt zu beißen schien.
Ach, gäbe es diese Korrespondenz noch!
Wenn der Bernhard einmal abberufen wurde und die kleine Schwester so gut es ging
einsprang, mußte er meistens »nachreim«.
Denn das Mayersche Geschirr wurde nicht
nur tadellos gespült und abgetrocknet, es
wurde zusätzlich noch auf Hochglanz poliert,
eben nachgerieben. Diesen Küchendienst hatte Bernhard zu versehen.
Auch Ballspielen war natürlich sehr beliebt
bei uns. Dann rief Bernhard schon mal mit
durchdringendem Knabentenor aus dem akustisch einwandfreien Hof nach seinem Vater
Alois: »Aa-li-see! Aa-li-see!«
Daraufhin tauchte die obere Hälfte seines
zornigen Ernährers aus dem Schlafzimmer69
fenster und der Lausbub bat ganz lieb: »Wirf
uns bittscheen an Boi runter!«
Es gab aber auch gefährliche Spiele. Schwabing war weitgehend zerbombt. Wie ein Wunder – unser Haus blieb verschont.
Den Ruinen, vor allem deren Keller, galt
unser vehementes Interesse. Schilder, wie
»Zutritt strengstens verboten! Einsturzgefahr!« konnten wir nicht lesen.
Sogar den Diem Franzi, Liesis noch sehr
kleinen Bruder, der immer »Urinen« sagte,
nahmen wir mit.
Die Lieben daheim durften es nicht einmal
ahnen.
Ganz unglaubliche Schätze haben wir ergattert: Einmal kistenweise Weinflaschen-Etiketten, ein anderes Mal Liebesbriefe, die wir uns
bar jeglichen Feingefühls kichernd vorlasen –
und einmal sogar ein Nachthaferl, ein »Potschamperl«, wie man damals noch sagte.
In eines dieser Areale hatten wir uns eine
kleine Hütte gebaut, richtig aus Ziegelsteinen,
die ja haufenweise umherlagen, und mit einem schützenden Blechdach.
Beim schönsten Sonnenschein verbrachten
wir darin manche Ferienstunde, aßen einen
Apfel, der den Hunger eher anfachte, lasen
»Biene Maja«, »Puckis erstes Schuljahr« und
die Hausherren sicher einen spannenden Karl
May.
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Pater Almar, der spätere Stadtpfarrer von
St. Josef, ein sehr schlanker Diener Gottes mit
einem markanten Gesicht und durchdringenden schwarzen Augen, versorgte uns liebevoll
mit guter Literatur. »Schundheftl« haben wir
nicht gekannt.
Wir gingen gerne in die kleine Leihbücherei. Sie befand sich in einem Privathaus in der
Adelheidstraße.
In der wiedererbauten Josefskirche hat der
gute Geist unserer Kindheit in einem schönen
Gemälde über dem Hochaltar den ihm gebührenden Ehrenplatz.
Einmal zu Weihnachten brachte mir das
Christkind eine besonders schöne große Puppe, ein Prachtexemplar. Mein Glück war vollkommen, als ich sie unterm Baum entdeckte.
Da sagte meine Mutter, als hätte es noch einer Steigerung bedurft, »schau her, die kann
sogar alleine stehen« und stellte die Puppe
vor mich hin. Diese jedoch fiel sofort um, ohne Grund und ohne den geringsten Windhauch.
Der schöne Kopf bestand nur noch aus
Scherben. Ich schrie wie am Spieß. Der Vater
beschimpfte die Mutter, aber schon wie! So
hatte man ihn noch kaum erlebt. Es dauerte
eine ganze Weile, bis das Fest wieder in die
Gänge kam mit beschwichtigenden Liedern,
Tartar und Punsch.
71
Kriegsweihnacht
– Noch ist die Puppe unversehrt –
In einer renommierten Münchner Puppenklinik wurde das Gesichterl wieder zusammengesetzt. Die spinnwebfeinen Fäden sahen nur
die, welche von seinem tragischen Schicksal
wußten.
An den folgenden Weihnachtsfesten bekam
meine Puppe immer ein ganz besonders schönes neues Kleid, einmal sogar einen Wintermantel mit pelzbesetzter Pellerine.
Natürlich hatte ich eine wunderschöne sogar recht große Puppenküche – mit hellgrünen Möbeln, vom Vater gebastelt.
Meistens kochte ich für die Brüder. Es gab
in Butter gedünstete Apfelscheiben und Haferflockenbrei mit Rosinen. Dazwischen bot
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Weihnachten mit »Bubbiwagi« und den Brüdern
ich auch Phantasiegerichte an. Diese fanden
dann weniger guten Absatz. Das hieß für
mich: »Selber essen macht fett!«
In meinen Küchenofen, um ihn in Betrieb
zu nehmen, schob ich eine Eisenschiene, in
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der drei kleine Kerzen brannten. Wie schnell
kam der Inhalt meiner »Diegerln« zum Überkochen!
An dieser Stelle muß ich jetzt unbedingt die
Puppenküche meiner ältesten Kinderfreundin,
meiner lieben Toni, vorstellen. Darin befand
sich nämlich ein richtiger Brunnen, den man
aufdrehen konnte, wenn der Küchenbetrieb
Wasser erforderte. An die Außenwand war
ein Tank montiert, der dieses Wunder ermöglichte.
Das war für mich Faszination pur. Es gab
nichts Vergleichbares.
Toni war schon als Kind ein nobler Mensch.
Machten wir in Harlaching Besuch (auch unsere Eltern waren ein Leben lang eng befreundet), überließ sie mir vorbehaltlos ihr kleines
Zauberreich. Durch den Unterhaltungswert
meiner Brüder ist sie aber an solchen Nachmittagen sicherlich nicht leer ausgegangen.
In Griesau, wohin im letzten Kriegsjahr mit
fast allem anderen Mobiliar auch meine Puppenküche gekommen war, brachte ich Cousin
Ferdinand dazu, seine geliebten Hasen zu evakuieren. Er überließ mir tatsächlich den aus
alten, rissigen Brettern und rostigem Gitter
bestehenden Stall. Nach gründlichster Säuberung verwandelte ich ihn in ein zauberhaftes
Puppenhaus. Die Hasen machten dumme Gesichter, kamen aber anderweitig wieder recht
74
Weihnachten 1944 in Griesau
gut unter. So etwas ist eben auf einem großen
Bauernhof kein Thema.
Wenn mich meine Erinnerungen schon
wieder einmal nach Griesau führen, muß ich
von jenem letzten Kriegswinter erzählen, der
ganz besonders streng und ganz besonders
schön war.
Er war so herrlich, als ob die Natur den
Menschen sagen wollte: Schaut, so vollkommen kann die Welt sein – und was macht ihr
daraus?
Über Nacht hatte sich die Rennerwies vor
den »Toren« des kleinen Dorfes in eine riesige
Eisfläche verwandelt. Dicht war sie umstanden von rauhreifigen Bäumen. Verzaubertes
Hochwasser!
Wann immer sie von daheim loskamen,
75
schwärmten sie aus, die jungen Griesauer. Auf
einmal hatte jeder Schlittschuhe. Genießerisch
zog auch ich meine Kreise. Immer wieder lösten sich die Kufen von den dünnsohligen
Stiefeln. Immer wieder mußten sie neu angeschraubt werden. Es gehörte einfach dazu.
Den dringend notwendigen Schlittschuhschlüssel hatte man eh umhängen wie ein
Amulett.
Der Griesauer Feuerwehrweiher, die »Zirngibl-Hulling« war im Hochwinter natürlich
tief zugefroren.
Richtig interessant wurde sie aber für uns
erst, als es schon ein bißchen nach Frühling
roch. Die Eisfläche begann, herrlich zu schaukeln, war aber immer noch dick genug für uns
und unsere »Gietscherl«, mit denen wir genußvoll auf ihr herumstocherten.
Ein »Gietscherl« ist ein kleiner Schlitten, ein
Einsitzer. Zu ihm gehörten zwei kurze Holzstecken, an deren Ende ein rostiger Nagel eingeschlagen ist zum Anschieben, Steuern und
Bremsen.
Wir kamen nicht gerade trocken heim nach
so einem Nachmittag auf der Hulling; das war
nichts für Warmduscher oder Schattenparker!
Von der Aufhänge über dem großen holzgefeuerten Herd in der Küche tropften dann
unsere eisklumpigen Schafwollsocken in den
ohnehin schon dünnen Milchkaffee, der dort
76
allabendlich als Nachttrunk für die ganze Familie bereitstand.
Auf den Strohmatratzen warteten vorgewärmte Ziegelsteine, bis die müden Krieger
endlich kamen.
Vorher reihten sich Vater und Söhne noch
einmal vor dem Haus auf und hinterließen
gelbliche Kunstwerke im flimmernden
Schnee. Hofhund Bello sah staunend zu, ehe
auch er sich in seiner Hütte verkroch.
In meiner Kindheit waren alle Winter streng,
oder wir empfanden es so, weil wir »nix
Gscheits« zum Anziehen hatten. Durch das
Selbstgestrickte der Mutter blies der rauhe
Nordnordost halt einfach durch.
Jedenfalls gab es viel Schnee. Im Hof bauten
wir Schneeburgen, in denen wir »wohnten«,
bis unsere Mütter aufkreuzten und wärmende
Worte für uns fanden.
Auf das Trambahngleis in der Schleißheimer Straße rollten wir gerne überdimensionale Schneekugeln. Dann versteckten wir uns in
einer Sandkiste. Durch einen winzigen Bretterspalt schauten wir genüßlich zu, wie der
»Siemer« (Linie 7) anhielt und der Schaffner
ausstieg, um das Hindernis zu beseitigen.
Sandkisten standen an allen Ecken herum.
Seitlich sahen sie aus wie ein großes »A«. Sie
waren für uns ein beliebter Treffpunkt. Dann
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saßen wir schmerzlos auf der scharfen Oberkante, zogen uns manchen Schiefer in die
Wadl – und schauten nach einem neuen Abenteuer aus.
Unsere Reviere waren die Hinterhöfe und
die angrenzenden Straßen. In den Höfen gab
es noch Teppichstangen, unersetzlich zumindest für die reinliche Hausfrau. Die Klopfzeiten waren gesetzlich geregelt.
Auch Matratzen, Sofas, Kanapees und nach
Saisonende die Winterkleidung – ehe man sie
wieder den Motten überließ – wurden beim
Frühjahrsputz in den Hof geschleppt und
kraftvoll ausgeklopft.
Die Teppichstangen gehörten ansonsten
ausschließlich uns. Wir hingen uns kniekehlengehaltert mit dem Kopf nach unten so lange an ihnen auf, bis er dunkelrot anlief. Es
wurde gezählt, wer es am längsten aushielt.
Über die Hinterhofmauern zu klettern, war
strengstens untersagt. Deshalb hatte die Hausmeisterin Reisinger eine »Hundsbeitschn«,
mit der sie die jeweiligen Missetäter verfolgte.
Dieser Reisingerin kam einfach überhaupt
nichts aus. Weil sie über die Erwachsenen so
mancherlei zu kolportieren wußte, ihr wachsames Auge klebte immer am »Guckerl« (Spion), nannte man sie den »Völkischen Beobachter«. So hieß eine damals sehr verbreitete Tageszeitung.
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Einer der Hinterhöfe hatte – eine besondere
Attraktion – einen Brunnen.
Einmal, als mein Bruder Hans seinen argen
Durst an dieser Oase löschen wollte, ging ein
Parterrefenster auf, eine Hexe schaute heraus
und fauchte: »Fischerbua, siech Di scho beim
Wasserstehln!«
Die Fischerbuam wurden für jedes eingeworfene Fenster im ganzen Viertel zur Verantwortung gezogen. Sie waren leidenschaftliche Fußballspieler. Schon im zartesten Alter
hoben sie mich aus dem Kinderwagen und
setzten mich als Pfosten ein.
Da hatte dann der Vater schon mal einen
richtigen Grant, wenn es abends läutete und
wieder ein kaputtes Fenster zur Reparatur
angemeldet wurde.
Aber viel wichtiger war es ihm, in dieser
kargen Zeit für eine einigermaßen ausreichende Ernährung der Familie zu sorgen.
Mit seinem Schnauferl fuhr er immer wieder zu seinem Bruder auf den Bauernhof nach
Griesau. Er half ihm bei der Ernte und tauschte ganz nebenbei noch ein Paar schöne polizeiliche Reitstiefel in ein Trumm »Greichaz« (Geräuchertes) um. Gestohlen hat er die Stiefel
bestimmt nicht, aber halt günstig gekriegt.
Mit einem großen, prall gefüllten Rucksack
auf dem Buckel ratterte er zur hungrig wartenden Familie zurück.
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Oben aus dem Rucksack schaute schrägen
Blicks der Kopf eines quicklebendigen Gokkerls heraus. Er wurde, damit er fangfrisch
blieb, erst an seinem Bestimmungstisch geschlachtet.
Für Tierschützer: Das Federvieh hat an seinem Lebensende immerhin noch eine wunderschöne Motorradfahrt gehabt!
Übrigens: Hamstern war strengstens verboten. Überall wurde kontrolliert. Der Staatsdiener hätte im Ernstfall riesige Probleme bekommen. Aber nicht umsonst hieß es in der
Familie, er sei der Mann ohne Nerven.
Natürlich reiste unser Vater auch mit dem
Zug in seine Heimat, die er bis an sein Lebensende innig liebte und wo er stets die herzlichste Aufnahme fand.
Es kam immer wieder einmal vor, daß er
sich vor der Abreise mit der Zeit vertan hatte.
Dann sprang er in letzter Sekunde auf den
schon anfahrenden Zug.
Wir haben ihn nie zum Bahnhof begleitet.
Die damals erforderlichen Perronkarten (ein
Zehnerl pro Nase) waren nicht im Etat.
Spätestens kurz nach Freising verfaßte er
die Postkarte an seine Familie. Ich sehe sie
noch vor mir: »Liebe Paula, liebe Kinder! Bin
gut angekommen …«. Er konnte sie dann in
Radldorf, seinem kleinen Zielbahnhof, gleich
einwerfen. Diese Mischung aus Gottvertrauen
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und Pragmatismus hat ihn gut durchs Leben
gebracht.
In Radldorf erwartete ihn sein Bruder mit
Pferd und Wagen. Dann ging es im gemütlichen Trab – einer rauchte, einer schnupfte –
eine gute Stunde lang über die Dörfer nach
Griesau.
Immer in den großen Ferien, zur Erntezeit,
reiste die Familie mit. Wir liebten das
Landleben. Das war die große Freiheit! Wenn
wir ankamen, gab es jedes Mal Rühreier und
eine Milch von der Kuh, die ich nicht mochte.
Aber wir mochten die Tante, den Onkel, die
Cousins und Cousinen. Streit gab es selten.
Eher haben wir solidarisch von ihnen die ein
oder andere Kinderkrankheit übernommen.
Cousin Georg, der »Girgl« oder »Schos«,
war ganz unglaublich eitel. Nie kam er in die
Küche, ohne einen prüfenden Blick in den
Spiegel zu werfen, der neben dem Fenster
hing. Das reizte uns.
Wenn der Girgl tief im Roßstall seiner Arbeit nachging, pflanzten wir uns vor der Tür
auf und riefen:
Da Girgl is a scheena Mo,
hat hint und vorn a Sackl dro.
Dann schoß er mit der Mistgabel heraus,
drauf und dran, uns aufzuspießen. Das war
nicht ungefährlich.
81
Er erwischte uns nie. Unter Hundegebell,
aufschreckenden Hühner-, Gänse und Entenscharen, zeternd aus dem Haus laufenden
Müttern haben wir uns einfach in Luft aufgelöst.
Schon eine Stunde später konnte man ihm
wieder gefahrlos begegnen. Der schöne Girgl
war überhaupt nicht nachtragend.
Eine ganz besondere Attraktion war natürlich
die Kanzlei des Onkels, des damaligen Bürgermeisters von Griesau.
Mein Cousin Ferdinand und ich warteten
oft ungeduldig, bis er aufs Feld fuhr. Immer
wußten wir, wo der Schlüssel versteckt war.
Sofort übernahmen wir die Amtsgeschäfte.
Der Ferdinand diktierte mir unermüdlich
die Namen der Dorfbewohner und ich legte
immer wieder neue Listen an, die wir nach
Vollendung reichlich bestempelten.
Wurden wir vom Heimkehrenden überrascht, gab es einen riesigen Krach und wir
empfanden es jedes Mal als eine Vertreibung
aus dem Paradies – das so wunderbar nach
Schnupftabak roch.
Der »Engel mit dem Flammenschwert«
konnte sakrisch fluchen. Aber wir fürchteten
ihn nicht. Hatte er sich ausgeschimpft und ein
neues Versteck für den Schlüssel gefunden,
war alles fast wieder gut.
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Den Schnupftabak liebte der Onkel über alles. Diesen Duft hatte nicht nur die Kanzlei
angenommen, er umgab den Genießer stets
wie ein hartnäckiger Morgennebel.
Mein Onkel Hans war ein gelassener
Mensch, der so manches an ihn herangetragene Problem mit einem wegwerfenden »Papperlapap« löste. Verwundungen, ohne die ein
Landmann kaum auskommt, wurden entweder mit Urin sterilisiert oder mit Wagenschmiere behandelt, und zwar erfolgreich.
Er war im übrigen ein hervorragender Bürgermeister. Als gegen Kriegsende die ersten
Flüchtlingsströme aus dem Osten das kleine
Dorf erreichten, sorgte er rührend für deren
Unterkunft in den Häusern, Ställen und
Scheunen der einzelnen Höfe.
Die Übriggebliebenen nahm er mit heim,
auch wenn die Möglichkeiten dort schon
mehr als erschöpft waren.
Irgendwie ging es immer.
Eine Geschichte paßt hierher, die in diesen
Erinnerungen nicht fehlen darf.
Meine Cousine Paula, damals 16 Jahre jung,
hatte wunderschönes Haar und durfte sich
eines Tages im nahe gelegenen Straubing ihre
erste Dauerwelle machen lassen.
Ich muß anführen, daß ich meine langen
Zöpfe – unabhängig von den quälenden Ent83
lausungsprozeduren – haßte. Ständig flehte
ich meine Mutter an, sie mir doch abzuschneiden. Ich biß auf Granit.
Als ich nun die Paula in blonder Lockenpracht und jugendlicher Schönheit sah – ich
absolvierte gerade meine »häßliche Entleinphase« – drehte ich durch, weinte herzzerreißend, verlangte heftig und sofort nach ebensolcher Ansehnlichkeit.
»Wenigstens obschnein«, schluchzte ich –
umsonst.
Mein Onkel Hans konnte dieses Affentheater nicht mehr ertragen. »Soll i Dirs obschnein?« fragte er schelmisch und mitten in
den Feierabend hinein, den er – auf solche
Weise problembeladen – nicht so richtig genießen konnte.
»Ja«, sagte ich mit der Überzeugung, dieses Ansinnen sei einer seiner Späße, zu denen
ein echter »fisherman« zu jeder Zeit aufgelegt ist.
Plötzlich fühlte ich des Onkels Schere – mit
der er wohl sonst »an Kaiweschdrieg« (Kälberstrick) ins rechte Maß brachte – an einem
meiner Zöpfe. Zutiefst erschrocken, begann
ich dermaßen zu schreien, daß der Rest der in
der Küche versammelten Familie panikartig in
den ersten Stock floh.
Meine Mutter schrie am meisten, obwohl es
ja nicht ihre Haare waren, blieb jedoch an
84
meiner Seite, um weitere Verstümmelungen
zu verhindern.
Mein Onkel lachte zu all dem, dachte sich
vermutlich »hysterischs Weibervolk«, nahm
eine Prise aus der Schnupftabaksdose und
wartete souverän ab, bis der Sturm sich legen
würde.
Nach und nach kam die Familie aus der
Emigration zurück. Wie in eine Krankenstube,
traten sie zögerlich ein.
Dann aber bekam der Figaro eine gehörige
Abreibung von seiner Angetrauten. Natürlich
maulte ihn auch meine Mutter wortreich an.
Aber – er hatte es ja nur gut gemeint, konnte das Kind nicht leiden sehen.
Der Menschenfreund in ihm war zur Tat geschritten. Verstehe einer uns Frauen … (denn
eine kleine Frau ist man auch schon mit zehn
Jahren): Am Ziel meines sehnlichsten Wunsches verließ mich die Zivilcourage – zugunsten meiner Zöpfe, die ich noch bis zu meinem
15. Lebensjahr behalten mußte.
Noch lange schaute aus einer meiner Flechten ein stattliches Pinserl heraus, der Anfang
eines Bubikopfes, beinahe kreiert von einem
liebevollen Onkel und verhinderten Meister
des Friseurhandwerks.
Dünn ist oft das Eis, auf dem der Helfer
kommt …
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Ein Erlebnis, das der vorangegangenen Geschichte an Dynamik nicht gleichkommt, sei
dennoch hier angehängt:
Eines Tages wurde ein Schwein geschlachtet. Das war damals strengstens kontingentiert,
wenn nicht weitgehend überhaupt verboten.
Mein Onkel als Bürgermeister sollte eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen. Der
Hunger einer Großfamilie schreibt jedoch eigene Gesetze.
Ich sah bei dieser Exekution zu, obwohl es
mir schlecht wurde. Meine Vorfreude auf ein
recht bald zutage kommendes »Greichaz«
(das für mich den höchsten aller kulinarischen
Genüsse darstellte) aber minderte den Brechreiz, schmälerte auch die Gefahr, ohnmächtig
auf die quietschende Sau zu fallen.
Das Geräucherte kam natürlich nicht zum
Vorschein. Meine grenzenlose Enttäuschung
ertrank im Hohn meiner Cousins und Cousinen, den sie bis zum heutigen Tage bei diesem
Thema zurückzudämmen nicht in der Lage
sind. Das Stadtkind weiß längst, daß es ein
langer Prozeß ist, bis ein gutes Geräuchertes
auf den Tisch kommt. Es wird von ihm mit
unverminderter Leidenschaft genossen.
Nach dieser riesigen Blamage war ich um
so mehr darauf erpicht, ein echtes Landkind
zu werden. Ich lernte »Gäns schoppa« (mästen) und »Taubn kropfa« (das übersetze ich
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lieber nicht), nahm ohne Stein in der Magengrube am Giggerlschlachten teil.
Meine rauhbauzigen Cousins ließen die
armen Geschöpfte nach dem entscheidenden
Hieb noch gerne ein bißchen kopflos durch
Lüfte geistern. Wenn wir sie dann genüßlich
verspeisten, war jeder scharf auf ein rechtes
Haxerl. Man sagte, das linke sei zäher, weil
darauf die bekanntlich langen Nächte des Federviehs durchstanden werden.
In den letzten drei Monaten vor Kriegsende
stellten die Tiefflieger eine beinahe tägliche
Bedrohung für uns dar. Die Bauern auf dem
Feld und wir Schulkinder auf der Landstraße
waren ihnen schutzlos ausgeliefert.
Sie überflogen uns so tief, daß wir die Gesichter der Piloten erkennen konnten. Sie aber
mußten unsere Angst gesehen haben, denn sie
taten uns nichts.
Wenn alles vorbei war, setzten wir unseren
Weg fort und sangen uns den Schrecken von
der Seele. »Marianka, komm laß dich küssen«
und »Schwarzbraun ist die Haselnuß« waren
unsere Lieblingslieder.
Einmal hat meine Mutter in verständlicher
Besorgnis meinen Cousin Kurt losgeschickt,
damit er mich mit dem Rad vom Schulweg
abfangen und schnellstens in häusliche Sicherheit bringen konnte.
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Ich erkannte das Manöver sofort. »Schau
daßd weidakimmst, i geh mit de andern
hoam«, rief ich ihm schon von weitem zu.
Kurt aber nahm den Auftrag seiner energischen Münchner Tante sehr ernst. Er verpaßte
mir eine Riesenwatschn, setzte mich auf den
Gepäckträger seines Radls und brachte mich
heim.
Sofort rannte ich Zicke zu seiner Mutter:
»Tante Hedl, Tante Hedl, der Kurt hod mia a
Watschn gebn!«
Die Tante Hedl, ohne sich einer genaueren
Sachlage zu vergewissern und weil es halt bei
ihrem Kurt mehr oder weniger immer angebracht war, gab ihm sofort eine Doppelpakkung zurück.
Es war eine Watschn-Transmission, wie sie
in dieser Perfektion nur ein oberpfälzisches
Temperament zustande bringt.
Das hört sich schlimm an, kann es aber
nicht gewesen sein. Denn der Kurt erzählt
diese Geschichte heute noch mit dem allergrößten Vergnügen.
Seine erzieherische Maßnahme, zu der er
kriegs- und auftragsbedingt gezwungen war,
zergeht ihm sozusagen immer wieder auf der
Zunge.
Wenn das Rundfunkprogramm unterbrochen
wurde und ein mehrmaliger Kuckucksruf
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ertönte, mußte man auf einen Spezialsender,
nämlich auf den »Laibacher« umschalten.
Dann wußten wir sofort, woher ein feindliches Geschwader im Anflug war. Zwischen
den einzelnen Meldungen machte der Sender
»tacktack-tack-tack«. Das bedeutete weitere
Ansagen und man mußte dranbleiben.
Der kleine schwarze Volksempfänger mit
dem kreisrunden Loch, das wie zugehäkelt
aussah, war schon recht oft von seinem wackeligen Holzpostamentl heruntergefallen. Im
entscheidenden Moment verweigerte er immer
wieder einmal seinen Dienst. Vielleicht hatte er
aber auch nur all die schlimmen Nachrichten
satt und wollte uns nicht aufregen.
Einmal geriet der Onkel Hans deswegen so
in Rage, daß er ihn mit voller Wucht auf den
Boden schmetterte. Diese Reparatur hat ihn
zwar nicht umgebracht, aber auch nicht gnädiger gestimmt.
Meine Mutter und ich gingen dann oft zu
den Nachbarn. Wollten wir doch hauptsächlich auch hören, wie es um München stand.
Für unmittelbare Gefahren hatten wir aber
das absolut zuverlässige Frühwarnsystem in
Gestalt des Hofhundes Bello. Wenn er sich
hinter den Ofen verkroch, hatte er es entweder satt, die Kleider meiner großen Puppe
aufzutragen oder es kamen Tiefflieger, die er
bis zu zwei Stunden vorher witterte.
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»Oh mei, da Bello is hinterm Ofa«, hieß es
dann. Hatte er keine Kleider an, wurde es
ernst.
Das Kriegsende erlebte ich in dem kleinen
Dorf Griesau, zwischen Regensburg und
Straubing gelegen. Ich war damals ein 10jähriges Mädchen mit bis zur »Poebene« reichenden dicken Zöpfen, die meistens verlaust
waren.
Die von meiner Mutter angeordneten Petroleumpackungen, die ich haßte, hatten nur eine
vorübergehende Wirkung. Der ebenso verachtete Lauskamm gehörte wie das Zahnbürschtl
zu den lästigen Dingen, wenn der Tag begann
oder ging.
Nach kürzester Zeit beherrschte ich den
niederbayerisch-oberpfälzischen Dialekt akzentlos. Noch heute weiß ich: Es geht
– auf Rengschburg ei
– auf Schdraubing oi
– auf Minga affe
– auf Amerika hintere.
War ich anfänglich noch der »Schdodfrack
mim Saugnack« (Stadtfrack mit dem Schweinegenick), so legten sich diese Vorurteile eigentlich recht schnell. Immer ist die Sprache
das Überbrückende.
Meinen Freundinnen überließ ich ohne zeit90
liche Begrenzung alles mitgebrachte Puppenzeug und war glücklich, wenn sie mir dafür
zeigten, wie wunderschön man einem »Maisdoggerl« Zöpfe flechten kann.
Wir umarmen uns fest, wenn wir uns alle
heiligen Zeiten wiedersehen. Und hier ist vor
allem Stilla nicht wegzudenken!
Dieses Griesau war »mein« Dorf geworden.
Es m u ß t e das Ende des Krieges überleben
– und wir auch!
In den Wäldern hatten sich restliche SSEinheiten verschanzt. Einzelne junge SS-ler
versteckten sich schon bei den Bauern und
versuchten, das in ihre Haut eingebrannte
Zeichen herauszuschneiden.
Unsere gute Stube war von einem zackigen
Major zum Gefechtsstand erklärt worden.
Hohe Militärs gingen aus und ein. Immer
noch verkündeten sie den Endsieg.
Dabei hatten die Amerikaner die Ortschaft
Pfatter, 3 km westlich von Griesau, längst eingenommen. Sie fingen an, über uns hinweg in
die Wälder zu schießen. Die letzten deutschen
Soldaten verschwanden.
Vorher hatten sie noch heimlich eine wunderbare Torte verzehrt. Sie war anläßlich der
elterlichen Silberhochzeit von Tochter Anni
buchstäblich aus dem Nichts gezaubert worden.
Einzelne Soldaten hatten uns noch geraten,
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das Dorf zu verlassen und in die Wälder zu
fliehen. Es wäre falsch gewesen.
Wo aber sollten wir Schutz finden? Panische
Angst und Ratlosigkeit nahmen von Stunde
zu Stunde zu. Schließlich flüchteten wir in den
Kartoffelkeller. Das war ein kleiner Schuppen
mit relativ dicken Mauern und einem winzigen Fenster.
Wir kauerten uns auf die harten Kartoffelberge, froren und warteten.
Ich weiß noch genau, daß mich meine Mutter fragte, »warum woanst denn gar so« und
ich antwortete, »weil i zum Babba mecht!«
Der Babba aber hatte schon eine Abordnung
losgeschickt in Gestalt meines jüngeren, damals 16jährigen Bruders, den er nicht nur als
männlichen Schutz für Frau und Tochter bestimmte, dem er auch das möglicherweise
doch recht gefahrvolle Kriegsende in München ersparen wollte.
Es war 7 Uhr früh, als der Hans sein Fahrrad inspizierte (der Bahnverkehr war längst
eingestellt) und dann kräftig in die Pedale
trat. Er hatte gute 120 km vor sich und einen
gesunden Lebensmut. Auftrag und Vertrauen
des Vaters beflügelten ihn.
Nach relativ kurzer Zeit wurde er von einer
Lastwagenkolonne der deutschen Armee
überholt. Weil er der »Hans im Glück« war,
warf ihm ein Soldat ein Seil zu, das er auffing
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und so als Schlußlicht des Konvois seine Reise
fortsetzen konnte, bis er das Brummen von
Tieffliegern hörte und das Rattern von Maschinengewehren.
Da mußte er sich schnell entschließen, seine
Fahrt zwischen den Fronten auf Feldwegen
fortzusetzen. Er erreichte uns gottlob unverletzt, ja eigentlich recht unverdrossen – im
Kartoffelkeller. Unsere Freude kann man nicht
beschreiben.
Man begrüßte ihn allseits und zurecht wie
einen Helden. Er genoß es, wenn er auch zu
diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte,
wie wirklich heldenhaft er noch sein mußte.
Die Amerikaner begannen, immer heftiger
zu schießen. Zwischendurch schlug es auch
ganz nah ein. Es schienen leichtere Geschosse
zu sein. Nichts brannte. Nichts ging in die
Luft. Aber wir waren auf alles gefaßt.
Verzweiflung breitete sich aus. Man trug
den Briefträger Zirngiebl herein, der aus unerfindlichen Gründen die Dorfstraße überquert
hatte und angeschossen worden war. Ein Bein,
das ihm später amputiert wurde, blutete
schrecklich. Er schrie.
Das war nun nicht mehr mit den von mir
erlebten Luftangriffen in München zu vergleichen. Das war viel, viel schlimmer.
Mein Onkel schien der einzige zu sein, der
furchtlos war. Für ihn gab es nur eine einzige
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Überlegung: Im richtigen Augenblick die weiße Fahne zu zeigen. Dafür brauchte er die
absolute Sicherheit, daß auch der allerletzte
SS-Mann außer Reichweite war.
Endlich schien der richtige Moment gekommen zu sein. Onkelchen und Bruder brachen auf. Hans mußte mit – da gab es keinen
Pardon – weil er Englisch konnte.
Wie war ihnen zumute, den beiden Hansen,
die sich sonst eher in den Haaren lagen? Der
Onkel liebte es nämlich überaus, den zum
Jähzorn neigenden Neffen ständig herauszufordern. Schon als kleiner Bub hatte dieser
einmal in kochender Wut gedroht: »Onkel
Hans, i reiß Dir Dei Haus ei!«
Nun zogen sie gemeinsam mit der hoch erhobenen weißen Fahne vors Dorf, den anrollenden Panzern entgegen. Der erste schwenkte sein Geschütz zuerst spielerisch hin und
her, um es dann eindeutig auf die beiden Gestalten zu richten.
Alles ging gut. Tapferkeit, Demutsgebärde
und Schulenglisch führten zu einer ersten
Verständigung.
Das Dorf und wir alle waren gerettet!
Diese erste amerikanische Kampftruppe,
mit der wir es zu tun bekamen, bestand fast
nur aus dunkelhäutigen Soldaten. Mit Herzklopfen und großem Staunen betrachteten wir
diese Riesen, die unsere letzten Lebensmittel94
vorräte vertilgten. Unentwegt mußte meine
Tante »ham and eggs« für sie zubereiten.
In ihrem Verhalten waren diese Amis dennoch eher freundlich als bedrohlich Manchmal legten sie sich in voller Montur in unsere
Betten. Da es sehr kalt war, stellten sie überall
Kerzen auf und wir hatten Angst, daß sie das
Haus in Flammen setzen könnten.
Einmal fragte einer nach Schmuck und sonstigen Wertgegenständen. Meine ängstliche
Mutter übergab ihm ihre kleinen Juwelen und
als Zugabe noch einen Fotoapparat.
Bruder Hans hielt mich an, stets freundlich
zu sein und im richtigen Augenblick »my
name is Mary« zu sagen. Das brachte mir
manches Gelächter ein, aber auch den ersten
Cadburry.
Alles in allem bekamen wir immer mehr
das Gefühl, daß uns jetzt nicht mehr viel
passieren konnte.
Wir Kinder kamen in den lang entbehrten
Genuß von Orangen und Bananen, lernten
den Kaugummi kennen. Jeden Abend fielen
wir in einen wunderbaren Tiefschlaf, ohne
Angst vor Bomben und Tieffliegern.
Um den Rest kümmerte sich der schöne
Jagdhund Bello, welcher seit dem Einmarsch
der Befreier seinem Revier verschärfte Aufmerksamkeit schenkte.
Nur einmal übertrieb er es; ließ Cousine
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Paula und mich – von einem Abend-Ratsch
bei den Nachbarn kommend – nicht mehr in
den Hof. Natürlich hatten wir die bei Eintritt
der Dämmerung verhängte Ausgangssperre
mißachtet. »Curfew« sagten die Amerikaner
dazu. Aber der Bello verstand doch nur das
Oberpfälzische …?
Paula legte los, gab ihm Schimpfwörter, die
sie sonst nur ihren Brüdern angedeihen ließ,
wenn sie mit dreckigen Stallschuhen die frisch
geputzte Küche zu betreten versuchten. Da
flogen ihnen schon auch einmal Schrubber
und Besen entgegen und mancher Putzlumpen (Hadern) legte sich malerisch um ihre
jungen Schultern.
»De Weiß«, so wurde sie wegen ihrer schönen hellblonden Haare genannt, entzog sich –
einmal in Rage gebracht – jeglicher Bändigung.
Natürlich wurde sie auch mit Bello fertig.
Nach einer angemessenen Einwirkzeit der
paulinischen Kosewörter winselte er um Vergebung, die ihm auch sofort zuteil wurde.
Seine Augen signalisierten uns: Schauts, i bin
hoid aa nur a Mensch! Paulas »damischer Deife, damischer« klang dann ja auch schon fast
wieder zärtlich.
Paula konnte im übrigen kraxeln wie eine
Katze. Waren die Kirschen reif, thronte sie im
obersten Geäst. Den nachrückenden Brüdern
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spuckte sie so viele bereits zurechtgelegte
Kerne entgegen, daß diese gerne auf jegliche
Vitaminzufuhr verzichteten.
Es muß angefügt werden, daß ich meiner
Cousine Paula mit diesen Überlieferungen
kein unfreundliches Denkmal setzen will.
Ganz im Gegenteil! Und Denkmal schon
gleich gar nicht. Sie ist gottlob putzmunter –
und herzensgut.
Noch eine kleine Geschichte, die von der
Sehnsucht des Polen Roman nach seiner Heimat handelt. Er war als Knecht in einem Griesauer Bauernhof untergekommen.
Eines Tages versuchte er, mit einem heimlich selbstgebauten »Flugzeug« der Ungewißheit des Kriegsendes in der Fremde zu entkommen. Heim wollte er.
Als es soweit war, stellte er seine sonderbare Konstruktion auf ein Stadldach und landete
Sekunden später unversehrt auf einer Wiese.
Gänse und Enten stoben auseinander, als hätten sie den Leibhaftigen gesehen.
Nun mußte er abwarten, ausharren, kehrte
erst zu den Seinen zurück, als die Amerikaner
gekommen waren, aber nicht, ohne im Dorf
einen niedlichen »Maly Polak« zu hinterlassen.
Vielleicht hat er es von seinem Vater ererbt,
daß Mut und Zuversicht Stimulantien sind,
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ohne die unser Leben nicht gelingen kann –
Bruchlandungen eingeschlossen.
An einem Julitag im Jahr 1945 nahmen wir
Abschied von Griesau. Er war schwer und
leicht zugleich. Niemals in meinem Leben
werde ich die Herzlichkeit und die Großzügigkeit der Verwandten vergessen, mit der sie
uns aufgenommen hatten und ein schweres
Jahr hindurch zur Seite standen.
Mein Vater organisierte einen Lastwagen,
der meine Mutter, mich und das Allernötigste
zunächst bis Landshut mitnahm. Von dort aus
ging es dann mit einem anderen Laster, der
Mehl transportierte, weiter bis München.
Sehr ängstlich saßen wir hoch oben auf
den Säcken. Das heißt: Eigentlich saßen wir
auf den Speichen unserer Fahrräder, die man
kurzerhand auf die Säcke warf, ehe wir »einchecken« durften. Wir gelobten eine Wallfahrt,
sofern wir diese Reise überstehen würden.
Wir beide haben diese Wallfahrt auch gemacht: zu Fuß von der Georgenstraße nach
Maria Eich und wieder zurück. Am nächsten
Tag litten wir an einem schrecklichen Durchfall. Es war zu viel gewesen. Der Herrgott hat
sicher seine Stirn gerunzelt.
München sah furchtbar aus. München war
ein Trümmerhaufen, aber München war die
geliebte Heimat.
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Vielleicht ist es ein Relikt aus dieser Zeit,
daß ich diese Stadt so ungern verlasse – und
wenn es nur für einen Tag ist. Dieses aus
Schutt und Asche wiedererstandene München
ist so schön, daß ich mich nie daran satt sehen
werde.
Gleich ums Eck bei uns, in den noblen Giebelhäusern der Winzererstraße, wo in den
großen Wohnungen ehemals nur Betuchte
lebten, hatten sich die Amerikaner einquartiert. Von unserem Küchenfenster aus konnte
ich in die Hinterhöfe schauen. Ich beobachtete, daß zu bestimmten Zeiten der amerikanische Koch in großen Mengen Küchenreste in
den Gulli schüttete. Natürlich hatten das auch
andere mitbekommen. Immer wieder versammelte sich eine hungrige Meute um diesen
herzlosen Menschen, der vor unseren Augen
Kakao, Suppen und andere Kostbarkeiten
vernichtete.
Aber – es gab einen Schichtwechsel bei den
Köchen. Auch das hatten wir herausgefunden.
Mit Haferln und Schöpflöffeln ausgerüstet,
bildeten wir einen Kreis um die »Stellvertreter«, bis uns ein freundliches Lächeln zum
Zugreifen aufforderte und wir mit reicher
Beute heimkehren konnten.
Einmal wurde ich von ein paar Buben aus
der Warteschleife geboxt. Ich nahm meinen
Schöpflöffel und drosch mit ungekannter
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Kraft so lange auf sie ein, bis ich freie Bahn
hatte. Wollte ich doch um jeden Preis etwas
von dem Kaffee- und Teesatz ergattern, der an
diesem Tag im Angebot war. Daheim wurde
er noch einmal aufgebrüht und herzhaft genossen.
Es gab in der Familie zwei starke, zwei leidenschaftliche Raucher: Meine bei uns wohnende Tante und meinen Vater.
Die amerikanische Besatzung hinterließ auf
den Straßen viele, relativ lange Kippen. Von
den meisten deutschen Rauchern wurden sie
eingesammelt. Zuhause entstand eine neue
Marke, made in Bavaria.
Profis hatten einen Spies, damit sie sich das
ständige Bücken ersparten und auch das Demütigende ihrer Handlung besser zu verbergen war.
Auch ich war gehalten, Kippen zu sammeln. Obwohl von Natur aus keine Unternehmerin (aber mit einem bewährten Hang
zur Bequemlichkeit ausgestattet), versuchte
ich ein Geschäft.
Das noch gut erhaltene Radlrutsch meiner
Brüder verlieh ich an die Spielkameraden:
Einmal um den Block fahren – drei Kippen. Es
rechnete sich. Am Abend war mein Kisterl
voll und ich erhielt Lob.
Liebend gerne hätte ich mein Geschäft erweitert und auch das Dreirad von Freund
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Bernhard eingesetzt. Aber er durfte es »von
daheim aus« nicht herleihen; allenfalls überließ er es seiner jüngeren Schwester, die immer nur damit umfiel.
Natürlich hatten wir auch in unserem
Heimgarten Tabak angebaut. Eine bescheidene Plantage!
War es endlich soweit, wurde die Ernte getrocknet, fein geschnitten, mit Apfelschalen
aromatisiert und auf dem Ofengrandl in
Blechdosen so lange der Vollendung zugeführt, bis Herr Davidoff vor Neid grün geworden wäre.
Die beiden Genießer sind im übrigen sehr
alt geworden, mein Vater sogar 94 Jahre. Sein
letzter Wunsch, zwei Tage vor seinem Tod,
war eine Zigarre …
Meine Philosophie, daß wahre Leidenschaft
im Grunde etwas Lebenserhaltendes sein
kann, sieht sich an dieser Stelle bestätigt.
Schon recht bald nach Kriegsende kehrten
die Ausgebombten und Evakuierten in ihre
Heimatstadt zurück und staunten erst einmal, was ihnen Herr Hitler hinterlassen
hatte.
Nach und nach füllte sich auch unser Haus
wieder mit Leben. In den Höfen der zerstörten
Nachbaranwesen entstanden Heimgärten –
auf Schutt und Asche. Wir hatten zudem
101
Hühner und einen bitterbösen Gockel, der
manchen Dieb verscheuchte. Das ihm eigentlich zugedachte Ende schoben wir deshalb
immer wieder hinaus.
Auch die Freunde Mathilde und Bernhard
kamen zurück. Sie brachten Bildungshunger
mit, wollten bei mir das Klavierspiel erlernen.
Mein Lehrer war ein guter Freund und Kollege meines Onkels. Er erhielt für den mir
erteilten Unterricht ein Mittagessen, das er
ungeheuer zu schätzen wußte.
Meine beiden Klavierschüler kamen meistens am Freitag-Nachmittag in die Stunde.
Vorher waren sie gebadet und frisch angezogen worden. Mit noch verschrumpelten Wasserfingern versuchten sie redlich, dem Instrument perlende Tonleitern, Kadenzen und
– zu meinem bis heute ungebrochenen Stolz –
auch die ersten Mozart-Sonatinen zu entlokken.
Bernhard war begabt, Thildchen – auch einige Jahre jünger als ihr Bruder – weniger.
Dafür war sie ein fleißiges Lieserl und kam
wirklich sehr oft zum Üben. Im Mayerschen
Haushalt gab es kein Piano.
Und jetzt sehe ich die kleine Thilde vor unserer Wohnungstür stehen, höre sie fragen:
»Schlaft da Herr Schnawe no?«
Der Herr Schnawe hieß Schnabl. Er war
mein nach fünf Jahren russischer Gefangen102
schaft inzwischen heimgekehrter Onkel, der
mit Tante Elli bei uns wohnte. Als nächtens
wirkender Paganini schnarchte er weit und
laut in den Tag hinein. Der Familienbetrieb
war auf pianissimo getrimmt.
So wurde Thilde des öfteren auf »ein Stünderl später« vertröstet. Sie kam pünktlich
wieder wie der Elf-Uhr-Zug.
Nicht, daß wir meinen Onkel respektiert
oder gar gefürchtet hätten. Auf eine sehr zarte
Weise haben wir ihn sogar geliebt, weil er unseren Sinn für Humor schärfte und an guten
Tagen auch wertvolle Ratschläge an uns weiterleitete.
Wenn er aber mit abstehendem Resthaar im
wallenden braungelb gestreiften Bademantel
bisweilen ganz unverhofft das »Musikzimmer« erstürmte, »Gis! Gis! Gis!« bellte und
dieser Halbton auch noch mindestens zwanzigmal hintereinander in cholerischer Lautstärke instrumental von ihm erzeugt wurde,
erschien er uns doch ein wenig uncool.
War die Luft rein, sagte Bernhard meistens
völlig unbeeindruckt: »Heit hat er wieda sein
Narrischn!«
Ach, wäre er doch ein tauber Beethoven
gewesen. Unser Spiel hätte seine Unschuld
behalten.
103
Im Herbst 1945 kam ich in die Simmernschule. Nachdem das kriegsbedingt vielfach
unterbrochene Landschuljahr in Pfatter nicht
unbedingt eine gute Voraussetzung für den
Übertritt ins Gymnasium war, entschied man
sich für ein fünftes Volksschuljahr.
Der Weg war sehr weit von der obersten
Georgenstraße in die Simmernschule im tiefsten Schwabing. Wir waren ein ganzes Rudel.
An warmen Tagen durchquerten wir gerne den
Luitpoldpark. Dort gab es ein Standerl, das der
von uns hochgeschätzten »Eismutti« bescheidensten Lebensunterhalt zu sichern schien.
An manchen Tagen schenkte sie uns eine
Kugel von ihrem Wassereis oder sagte »zoit
ses a andas moi«, ohne daran die geringste
Hoffnung zu knüpfen. Sie war halt eine richtige Mutti, aber nicht aus Eis …
Die Tilgung unserer kleinen Schulden wäre
sicherlich ein Problem geworden. Taschengeld
kannten wir nicht. Heutzutage wird es von
manchen Kindern gerichtlich bei den Eltern
eingefordert.
Es war eine andere Zeit.
Im übrigen bin ich in Pfatter sehr gerne in
die Schule gegangen, habe mich dort außerordentlich wohlgefühlt. Der Schulleiter war ein
Nazi. Erstaunlicherweise wurde trotzdem
vorm Unterricht gebetet. An das »Gelobt sei
Jesus Christus« mußte natürlich ein zackiges
104
»Heil Hitler« angehängt werden. Wir haben
dazwischen nicht einmal geatmet.
Unsere Lehrerin, Herrin über vier Schuljahrgänge in einem Klassenzimmer, war dick
und gemütlich. Im Winter durften wir Griesauer unsere nassen Schuhe ausziehen und an
den bullernden Ofen stellen. Sie hat auch nie
geschimpft, wenn wir zu spät kamen.
In der Bank vor mir saß eine meiner Freundinnen. In ihren blonden Locken sah ich viele
Läuse herumkrabbeln. Es hat mich nicht gestört. Die Spielgefährtin war mir schon viel zu
sehr ans Herz gewachsen. Meine dicken langen Zöpfe blieben nicht lange verschont.
Um in die Schule radeln zu können, hat
mein Vater ein Rad für mich gebastelt. Leider
fand er kein passendes Damengestell. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich vom Herrensitz
gefahrlos herunterkam.
Solange fuhren meine Freunde voraus, um
mich in großer Parade vor der Schule in Empfang zu nehmen. Es war immer ein bißchen
spektakulär, aber auch lustig, jedenfalls das
einzig Richtige, bis ich eines wunderschönen
Tages den hohen Auf- und Absteige-Beinschwung über meinen Drahtesel beherrschte.
Mein Vater konnte aber nicht nur ein tadellos funktionierendes Rad bauen. Im Grunde
genommen war er ein Allroundgenie: Schreiner, Maler, Tapezierer, Elektriker, Installateur,
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Gärtner, Hühnerzüchter, Koch, Schuster,
Schneider, Krankenpfleger, Hausmann. Und
ganz »nebenbei« auch noch Polizei-Kommissar.
So betreute der Schuster in ihm das Schuhwerk der ganzen Familie. Aus einem Stück
Holz und gefundenen Lederriemen fertigte er
kunstvoll meine ersten Sandalen an, mit denen ich genüßlich die Treppen hinunterklapperte.
Meine Mutter hatte zeitlebens nur e i n
Bügeleisen, das immer wieder seinen Geist
aufgab, aber auch immer wieder seiner Bestimmung zugeführt wurde.
Bei elektrotechnischen Problemen wurde allerdings stets Herr Weinzierl vom 1. Stock
zugezogen, von dem wir alle glaubten, er habe dieses Handwerk einmal erlernt.
Erst jetzt, Jahre nach seinem Tod, erfuhren
wir, daß er auf diesem Felde Autodidakt war
und das Fehlen seines rechten Armes in irgend einem unglückseligen Zusammenhang
damit stand.
Herr Weinzierl und mein Vater waren in all
den Jahren ein starkes Team geworden. Etwas
makaber formuliert, hieß die Devise: »Nicht
verkohlen, Weinzierl holen!«
Auch die anfällige Waschmaschine überstand ihre Krankheiten unter der Obhut der
beiden Meister. Als sie schon altersschwach
war und immer wieder das Bad unter Wasser
106
setzte, waren ihre Dompteure über neunzig
und wurden ihrer nicht mehr Herr. So setzte
sich mein Vater, wenn er Waschtag hatte, mit
dicker Zigarre und Kirchenzeitung geduldig
neben sie, um bei den ersten Anzeichen von
Blasenschwäche gleich eingreifen zu können,
das heißt, sie abzuschalten und zu warten, bis
der Anfall vorüber war.
Auch das »Weißeln« war seine Domäne. Als
die Tapeten wieder aufkamen, erhielt er stets
tatkräftige Unterstützung von der entsprechend ausgebildeten bzw. hochtalentierten
Verwandtschaft im Haus.
An nicht einsehbarer Stelle vermerkte er
immer das Renovierungsdatum, damit er die
Damen des Hauses im Griff hatte, wenn ihnen
allzu schnell wieder der Sinn nach einem neuen Muster stand.
Als er im hohen Alter wieder zu jugendlicher Schlankheit gelangt war, änderte er seine
Garderobe selbst ab. Auch die vom wohlbeleibten Schwager ererbten Anzüge paßte er
sich mühelos an.
Heutzutage gibt es das Wort »Multitalent«.
Ich glaube, mein Vater hätte dieses Prädikat
nie für sich beansprucht.
Auf ihn passen die alten Erfahrungen, daß
alles, was man gerne tut, gut wird, daß Not
erfinderisch macht und daß eine wohlgetane
Arbeit sichtbar gewordene Liebe ist.
107
Es muß hier noch angefügt werden, daß
mein Vater auch ein hervorragender Sportlehrer war.
Die beiden Söhne warf er, als sie noch recht
klein waren, vom Sprungbrett aus ganz einfach ins Wasserbecken. So lernten sie das
Schwimmen in Sekunden – zumindest bis
zum rettenden Gummireifen.
Meine völlig unsportliche Mutter stellte er
eines Winters auf einem sonnigen Hangerl im
Spitzinggebiet sorglos auf ein Paar Skier. Es
gibt keine Disziplin – außer vielleicht Polo –,
für die sie ungeeigneter gewesen wäre. Er
versah sie mit einem zärtlichen Schubser, damit ein bißchen Fahrtwind aufkam und stand
relativ kurz darauf vor einem frisch angemachten Spitzlsalat.
Meine Mutter hat nie wieder einen Ski berührt – und ich im übrigen nur, wenn ein verehrungswürdiges Mannsbild dies erforderte …
Obwohl ich in meinem letzten Volksschulzeugnis fast nur Einser hatte, mußte ich – das
war damals üblich – für das Gymnasium eine
Aufnahmeprüfung machen. Ich bestand sie.
Eigenartigerweise bedurfte es nur in dem Fach
Religion einer mündlichen Nachprüfung.
Dann war ich Gymnasiastin.
Die Wilhelmschule in Schwabing hatte der
Krieg arg mitgenommen. Die Fenster waren
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weitgehend nur durch Bretter oder Kartons
ersetzt.
Es war eine neue Welt, eine Welt, die mich
auffing und begeisterte. Für jedes Fach kam
eine neue Lehrerin – und die dritte Vergangenheit hieß auf einmal »Plusquamperfekt«.
Herrlich! Im Musikzimmer stand ein Flügel –
und im Turnsaal ein Barren, von dem ich oft
herunterfiel.
In den Turnsaal wurde der Flügel geschoben als die greise Elly Ney für uns spielte.
Schon bald ermöglichte uns der musische
Schuldirektor Opernbesuche im Prinzregententheater und im Amerika-Haus gab der
Schulchor regelmäßig öffentliche Konzerte.
Natürlich habe ich mitgezwitschert und von
einer großen Karriere als Sängerin geträumt.
Für den ungeliebten Turnunterricht allerdings brachte ich in den höheren Klassen so
oft die übliche Unpäßlichkeitsentschuldigung
mit, so daß mich die Lehrerin einmal fragte:
»Griagst das Du alle vierzehn Tag?«
Die Schulspeisung, von den Amerikanern
gestiftet, verbreitete schon am frühen Vormittag ihren »Duft«. Kesselweise gab es Kakao,
Milchreis und eine gar übel riechende Bohnensuppe. Wir brauchten diese Nahrung
dringend. Es gab sie sogar während der Ferien. Wir holten sie täglich.
Rückblickend muß ich erkennen, daß ich
109
eine sehr ambivalente Schülerin war. Das, was
mich interessierte, also die Sprachen, Deutsch,
Geschichte und Musik, nahm ich gierig auf.
Das, was mich nicht sonderlich fesselte, ließ
ich recht sorglos außen vor. Dazu gehörte vor
allem die Mathematik. Sie blieb meine Stolperschwelle bis zum letzten Schultag. Meine
Beziehung zu Zahlen darf ich auch heute noch
als zumindest ungeklärt definieren.
Pater Willibald von der schulnahen St. Ursulakirche war unser Religionslehrer. Wir liebten ihn. Groß, stattlich saß er vor dem Katheder und hatte gut dreißig junge Mädchen auf
ein gottesfürchtiges Leben vorzubereiten. Heute weiß ich, daß er seine Sache gut, sehr gut
sogar, gemacht hat.
Wir mochten ihn aber auch, weil er es
scheinbar übersah, daß wir in seiner Stunde
schon die Hausaufgaben für andere Fächer
machten.
Er war ein souveräner Mann Gottes. Er
wußte einfach, daß die Worte des Herrn auch
dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn sie
von französischen oder englischen Verben
sabotiert werden.
Ihm zuliebe gingen wir am Ende des Schuljahres geschlossen zur Beichte. Natürlich mieden wir seinen Beichtstuhl. Aber ach, wie milde würde sich sein »ego te absolvo« angehört
haben!
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Wir gingen – natürlich nüchtern – zur
Kommunion, die er mit einem feinen Lächeln
an uns austeilte.
Und dann hatte auch jede von uns ihren
Einser in diesem schwierigen Fach.
Obwohl wir eine Generation waren, die vor
den Lehrern noch den allergrößten Respekt
bezeigten (und weil sie fast alle wirklich auch
respektierliche Persönlichkeiten darstellten),
gab es manchen Streich.
Einmal erhielt ich sogar einen schriftlichen
Verweis vom Physikprofessor, der den Genitiv
über alles zu lieben schien, und zwar »wegen
Lachens und Kicherns und fortgesetzten Störens des Unterrichts …«.
Als der Verweis postalisch zugestellt war,
tobte der sonst so milde Vater: »No so a Wisch
und Du gehst wieda in d Voiksschui!«
Nun, das wollte ich um keinen Preis. Ab sofort verfuhr ich konsequent nach dem elften
Gebot.
Von der von mir immer bevorzugten ersten
Schulbank aus ging vieles – vor allem auch
das Abschreiben erstaunlich gut. Wie oft erhielt ich einen Zettel zugespielt mit der Bitte:
»Mach Liebespaar!« Dann kreuzte ich willig
meine Arme über der Brust, hob die Hände
über die Schultern ins lockige Haar und ließ
sie leidenschaftlich darin wühlen. Für die
Klasse war es jedes Mal wieder ein Grund für
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schallendes Gelächter. Die Sünderin wurde
nie gefunden.
Die damals so populären Pucki-Bände, angefangen von Puckis erstem Lebensjahr bis
etwa Band 15, der Pucki als Großmutter abhandelt, wurden nicht etwa in der großen
Pause, in der wir im Schulhof bis zur letzten
Sekunde verbissen Völkerball spielten, sondern während des Unterrichts ausgetauscht.
Verschlungen habe ich diese Literatur bis
weit in die Nacht hinein. Wenn meine Mutter
zum xten Mal das Leselamperl ausgemacht
hatte mit dem Hinweis »morgn fria kummst
wieda ned raus«, holte ich mir heimlich die
Taschenlampe des Vaters und las unter der
Bettdecke weiter.
Als wir dann richtige Teenager waren, gab
es ein anderes, noch viel begehrteres Tauschobjekt: Die Filmprogramme.
Sie wurden mit der Eintrittskarte an der Kinokasse für 10 Pfennige erworben, gesammelt,
getauscht und hundertmal am Tag innig betrachtet. So eine Minibroschüre mit Inhaltsangabe und Szenenfotos vermittelte uns die ersten Eindrücke »vom wirklichen Leben«, also
von der Liebe.
Stewart Granger, der »Herr der sieben Meere« und unserer Herzen, wurde durch folgende Hymne mittels einer Rasierklinge tief in die
Schulbank eingeritzt – verewigt:
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»Schön wie die Blume am Anger
– Stewart Granger …«
(»Granger« bitte nicht englisch aussprechen.
Ja, reim di, oder i friß di!)
Hier nun kommt die Erzählerin zu Ende.
Noch lange Zeit waren meine jungen Jahre
geprägt von den Spuren des Krieges, die man
täglich vor Augen hatte. Noch lange gab es
Lebensmittelkarten ohne nennenswerten Gegenwert. Der Schwarzmarkt blühte.
Durch die Georgenstraße ratterte der »Rollwagl-Express«, der den Ruinenschutt aus der
Stadt aufs Oberwiesenfeld transportierte.
Gerne fuhren wir Kinder ein bißchen mit,
sprangen auf die hochbeladenen Wagerl, bis
uns ein schriller Pfiff vom Lokführer eine Reiseunterbrechung empfahl …
Die amerikanische Besatzung prägte das
Straßenbild. In feschen Uniformen führten GIs
ihre deutschen Liebchen in die Clubs – und in
manch falsche Hoffnung.
Das Wichtigste aber war: Wenn ein Flugzeug am Himmel erschien, hatte man keine
Angst mehr. Der Frieden, von dem die Erwachsenen immer wieder so sehnsuchtsvoll
gesprochen hatten, schien zurückgekehrt zu
sein.
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