“Es war einmal”
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“Es war einmal”
Marianne Simonis Es war einmal … Privatdruck München 2004 Alle Rechte liegen beim Autor Herstellung: Books on Demand GmbH Vorwort s ist gut und sinnvoll, wenn man in meinem Alter, in dem die Jahre dahinrasen wie der Abspann eines Filmes, noch einmal in die Kindheit wandert: Es war eine bayerische Kindheit in Kriegsund Nachkriegszeit mit vielen Ängsten, Nöten und Einschränkungen, die wir hinzunehmen und zu überleben hatten. Trotzdem kam die Heiterkeit nicht zu kurz. Und es war keine, die direkt vom Galgen kam. In diesem Sinne habe ich ein kleines Buch geschrieben – zum 40. Geburtstag meiner geliebten Tochter Andrea. Es ist eine Lektüre zum Schmunzeln und Nachdenken für alle, die sich die Mühe machen, darin zu blättern. Den Nobelpreis hatte ich dabei nicht im Visier, aber viele liebe, charismatische Menschen, die ein Stück des Weges mit mir gingen und diese Kindheit so ungemein bereicherten. E München, im März 2004 5 enn ich versuche, in meinen Kindheitserinnerungen den für mich entferntesten Punkt zu erreichen, komme ich fast immer bei Herrn Weinzierl an, und zwar in seiner Funktion als »Luftschutzwart« für unser Haus. Das dürfte im ersten Kriegsjahr 1939 gewesen sein. Ich war also vier Jahre alt. Herr Weinzierl erklärte uns die nach Einbruch der Dunkelheit streng vorgeschriebene Fensterverdunkelung. Und das weiß ich halt noch. Nun kann ich nicht behaupten, daß die ersten Kriegsjahre meine Kindheit verdunkelten. Die Erwachsenen sagten, wenn sie vom Krieg redeten, »der Russ«, der »Engländer«, der »Franzos«. Ich stellte mir daher jeweils einen einzelnen Soldaten vor, der mit einem großen Gewehr im Hausgang auf mich wartete, wenn ich noch einen vorabendlichen Kurzbesuch bei meinen Freundinnen im Parterre machte. Etwas sonderlich Bedrohliches hatte das trotzdem nicht. Der Vater war bei der Polizei und konnte notfalls die Seinen mit der Dienstpistole verteidigen. Schlimmer als die Furcht vorm »Wuwu«, der sein ständiges Quartier in den Kellerräumen hatte, war es in keinem Fall. Dieses Wuwu-Gespenst wurde im übrigen von den Erziehungsberechtigten mit durchschlagendem Erfolg eingesetzt, wenn man W 6 einmal nicht folgte. »Wart nur, glei kummt da Wuwu und holt Di!« Alle Kinder meiner Generation – sogar der Sigi Sommer – kannten ihn, obwohl er stets unsichtbar blieb. Aber ich wußte es genau: Er hat einen mörderischen Appetit auf kleine Kinder, vor allem auf Mädchen, die keinen Spinat mögen. Ich fürchte mich noch heute vor ihm. Spinat liebe ich inzwischen sehr … Das Mietshaus in Schwabing war damals voller Kinder. Zusammen mit meinen beiden sechs und acht Jahre älteren Brüdern waren wir eine äußerst muntere Bande, unschlagbar im Erfinden von immer wieder neuen Spielen. Gekaufte Spiele kannten wir kaum. Die Sommer unserer Kindheit waren endlos lang und glühend heiß. Die Hausbesitzer oder Hausmeister mußten – das war Vorschrift – das Trottoir mehrmals am Tag bewässern, wenn die Hitze einen bestimmten Celsiusgrad überschritten hatte. An solchen Tagen gingen wir – zwischen »Fangsterl« und »Verstecksterl« allzu gerne auf die damals noch wenig befahrene Georgenstraße. Wir kratzten uns weiche Teerbatzen aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters und formten wunderbare Bälle daraus, mit denen wir uns bewarfen. »Heislhupfa« (Häuschenhüpfen) war beson7 ders beliebt. Mit Kreide oder Ziegelsteinresten wurden etwa zwölf numerierte Quadrate in T-Form auf das Pflaster gezeichnet. Wer an der Reihe war, warf einen Stein in eines der »Heisl« und mußte dieses nun auf einem Bein erhüpfen. Wer hinfiel, war »draußen«. Wer das Quadrat erreichte, merkte sich die Zahl und hatte die Chance, beim nächsten Mal weiterzupunkten. Einmal aß ich während dieses Spiels einen Apfel. Aus einem Parterrefenster des Nachbarhauses winkte mich plötzlich eine alte Frau zu sich und schenkte mir ein kleines Obstmesser. Ich nahm es freudig an und hüpfte mit Apfel und Messer in je einer Hand meine nächste Runde ab, bis ich hinfiel und mir das noble Geschenk ins Hirn rammte. Blutüberströmt und weinend stand ich vor meiner Mutter, die so viel Dummheit – die der Nachbarin und in angemessener Quantität auch meine eigene – zunächst kaum verkraftete. Die Verursacherin des Unheils wollte sie sich schon noch kaufen. Die Leidtragende erhielt einen Schnellverband. Sie sah zu, die zornige Samariterin so schnell wie möglich wieder verlassen zu können. »Schpuist weida?« fragten mich die Freunde. Mein »freili« hatte zu Recht eine leicht heroische Einfärbung. 8 Wenn ich meinen Pony hebe, sieht man ganz deutlich noch die Narbe. Aber das mache ich äußerst selten, um mein Meiserl nicht zu inkommodieren. Mein zweiter »Kindheitsunfall« ereignete sich am letzten Schultag vor den großen Ferien. Es hatte das wichtige Abschlußzeugnis für den Übertritt ins Gymnasium gegeben. Zur Feier des Tages brauchte ich den langen Heimweg von der Simmernschule in die Georgenstraße nicht zu Fuß zu gehen. Die Eltern holten mich ab. Das war eine sehr hohe Auszeichnung! Sie waren mit den Rädern gekommen. An meines Vaters Rad hing sein selbstgefertigter Anhänger, weil er halt immer etwas zu transportieren hatte. Meistens war es Ruinenholz für den Winter und sehr oft Mist aus den polizeilichen Reitställen für unseren Garten Eden hinter dem Schwabinger Krankenhaus. Auch die Koffer von länger bei uns verweilenden Gästen gelangten vom Hauptbahnhof aus mit dieser dezent nach gewissen Äpfelchen duftenden Rikscha an ihr Ziel. Damals mußte man in der Trambahn für einen Koffer noch extra ein Zehnerl berappen. Für derlei sinnlose Ausgaben war mein Vater nicht zu haben. So eine Verschwendung machte ihn geradezu fuchtig. 9 In unserem Garten hinter dem Schwabinger Krankenhaus: in der Mitte meine Großmutter mit meinen Brüdern, eingerahmt von Tante Hedl und Tante Rosa, dahinter meine Eltern und ein befreundetes Ehepaar. Dieses Mal aber wollte er der schulisch so erfolgreichen Tochter eine triumphale Heimfahrt bereiten, bis er eine Kurve so scharf nahm, daß es mich in hohem Bogen aus dem komfortablen Gefährt schleuderte. Das war meinem Vater schon recht arg. Zudem erhielt er von meiner Mutter einen ziemlichen Landler. Es waren gottlob nur Schürfwunden, die im 10 Angesicht der bevorstehenden Ferien erstaunlich schnell heilten. Ich meine auch, daß solcherlei Vorkommnisse bei uns daheim recht unsentimental behandelt wurden. Sentimentalität, hat einmal ein kluger Mann gesagt, sei das Alibi der Herzlosen … Maikäfer flieg, Dei Vadda is im Krieg, Dei Muadda is in Pommerland, Pommerland is abgebrannt, Maikäfer flieg! Ja, wie sollte er denn bei dieser Einstimmung noch Lust zum Fliegen bekommen? Die von uns gefangenen Genossen brauchten das vorübergehend auch gar nicht anzustreben. Im Wonnemonat Mai befanden sich auf dem Küchenfensterbrettl drei Schuhkartons. Meine beiden Brüder und ich bewahrten darin »unsere« Maikäfer auf. Liebevoll auf Kastanienblätter gebettet und durch reichlich in den Kartondeckel gestanzte Löcher auch gut mit Sauerstoff versorgt, verbrachten sie darin einige Zeit zu unserer allergrößten Freude und ihrem vermutlich fragwürdigen Vergnügen. Wir ließen sie über unsere Arme und Hände krabbeln, sahen gebannt zu, wenn sie sich 11 aufpumpten und einer neuen Freiheit zuflogen, obwohl sie es bei uns doch so gut hatten. Nachschub war damals kein Problem. Wenn wir einen Kastanienbaum schüttelten, fielen sie uns in den Schoß wie unverdientes Glück. An jeder Straßenecke befand sich ein Wirtshaus. Höchstes Kinderglück, wenn das Pferdefuhrwerk mit den Eisbalken kam. Beim Umladen in den Wirtshauskeller fielen die herrlichsten Eissplitter in unsere begehrlichen Hände. Natürlich hoben wir sie auch vom Boden auf. Sie schmeckten wunderbar. Kein Kind wurde davon krank oder bekam die Ruhr, welche uns erwachsenerseits immer wieder in Aussicht gestellt wurde. In diesen Sommern kam kaum ein Schuh an meine Füße. Sogar in die Maiandacht gingen wir täglich barfuß, genossen das glattkalte Pflaster in der Josefskirche, bis diese einem verheerenden Tagesangriff zum Opfer fiel. Wir hatten kräftige Stimmen und liebten den Gesang. Mitunter sandte der Pater mahnende Blicke in unsere Richtung. War ihm das »Ave Maria zart, du edler Rosengart« zu fortissimo? 12 Die Diem Liesi und ich spielten gottlob nicht nur Sterben, sondern recht gerne auch Heiraten. 13 Daheim gab es einen schönen Hausaltar mit Betschemel, den wir von der frommen Großmutter geerbt hatten. Als er noch in ihrem Schlafzimmer stand, durften meine Kinderfreundin, die Diem Liesi, und ich ab und zu davor beten. Aber kaum war die Oma außer Reichweite, haben die Diem Liesi und ich Messen »zelebriert«. In unseren Schürzltaschln (damals trugen alle Kinder Schürzln und es gab sogar extra noch eines nur für den Sonntag) befanden sich vorgefertigte, meistens schon bräunlich angelaufene Apfelscheibchen, die wir uns dann gegenseitig feierlich als Hostien spendeten. Manchmal spielten wir Sterben. Ich legte mich auf den Fußboden. Die Liesi nahm alle Heiligenfiguren und Kandelaber vom Altar und stellte sie um mich herum auf. Wenn ich dann gestorben war und meine Leichenstarre zu echt gedieh, kullerten der Liesi echte Tränen aus ihren besonders großen blauen Augen. Kam in solchen Momenten die Oma dazu, gab es ein riesiges Donner und Doria. Dann wandten wir uns um so mehr und für lange Zeit wieder unserem prallen irdischen Kinderleben zu. Zur Maienzeit, als der Hausaltar dann in unserer Wohnung stand, schmückten wir ihn hingebungsvoll mit gestohlenen Blumen aus 14 der benachbarten Gartenanlage. Aus der gleichen Quelle stammte der jeweilige Muttertagsstrauß. Wir wurden nie erwischt und erstaunlicherweise daheim auch nicht geschimpft. Vielleicht nahm der Vater unsere kleinen Sünden mit, wenn er zur Beichte ging. Ich würde es ihm zutrauen. In der gleichen Gartenanlage gab es einen bestimmten Strauch, den wir aus anderen Gründen zu herbstlicher Zeit sehr zu schätzen wußten. Seine dürren Ästchen schnitten wir uns in Zigarettenlänge zurecht und rauchten sie sehr heimlich und sehr genußvoll. Wir haben keinen gesundheitlichen Schaden davongetragen. Mir wurde nie schlecht, schon wegen der Brüder … Damals gab es unter den Menschen noch viele wirkliche Originale. Die Originale meiner Kindheit waren u.a. der Micherl und der Gnacke. Den Micherl liebten wir. Er war zwergwüchsig und hatte einen ziemlichen Buckel, der von der Arbeit beim Schneidermeister gegenüber sicherlich noch manchen Neigungsgrad dazu gewonnen hatte. Wenn wir ihn sahen, liefen wir ihm nach und bettelten: »Micherl, sing’ uns was vor!« Er sang immer für uns – und immer das gleiche 15 Lied vom »Brüderlein fein«, das gleichermaßen ihn und uns jedes Mal aufs Neue beglückte. Seine Stimme höre ich nicht mehr. Sein Gesicht habe ich vor mir: Gescheit und durchfurcht von Leid und Güte. Natürlich war der Gnacke kein richtiges Original im Sinne vom Micherl. Er hatte ein steifes Genick, aber dafür fast keinen Hals. Er war extrem häßlich und kam sehr oft mit einem ziemlichen Wurf aus einem der umliegenden Wirtshäuser. Wir betrachteten ihn immer wieder eingehend, sozusagen von allen Seiten, auf der Suche nach einer Andeutung von Hals, nach einer Gurgel, durch die das viele Bier ja schließlich seinen Weg nehmen mußte. Wir wunderten uns sehr, daß er ein ganz passables Weib sein Eigen nannte und wir erzählten uns, daß er es in schöner Regelmäßigkeit verdrosch. Dabei fallen mir die Deinzers ein. Dieses damals schon etwas betagte Ehepaar wohnte bei uns im gleichen Stockwerk. Auch Herr Deinzer ging ebenso gerne wie oft ins Wirtshaus. Fast immer gab es anschließend Zoff mit der Frau. Oft bat sie dann meinen Vater um Hilfe. Da dies in die frühen Abendstunden fiel, lag der Herr Kommissar schon längst im Schlafanzug auf dem Küchenkanapee, wo er gerne seine Tage ausklingen ließ und manches Problem mittels dicker Zigarrenwolken zu16 mindest vorübergehend seiner Realität beraubte. Um bei Herrn Deinzer die gewünschte Einschüchterung zu erwirken, mußte er jedoch noch einmal in die Uniform. Unser Vater war ein durch und durch praktischer Mensch. Er wußte, daß es vollends genügte, wenn er bei diesem Einsatz nur die Dienstjacke anzog und die Mütze aufsetzte. Herr Deinzer hat kein einziges Mal die Schlafanzughose bemerkt und immer Reue gezeigt – bis zum nächsten Mal. Der Herr Kommissar mußte nicht nur das bierwütige Deinzerchen zur Ordnung rufen. An Fronleichnam war er als Begleitschutz für den Herrn Kardinal auserwählt. Die Jonasin war unsere Milchfrau, hatte ihren Laden direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite. Sie war eigentlich alles andere als eine propere Geschäftsfrau, ein dickliches Jungferl, eine permanente Zielscheibe für unseren Spott und manche Bosheit. Zum Aufschreiben und Zusammenzählen der kleinen Einkäufe ihrer Kunden benutzte sie einen Tintenstift, den sie vor dem jeweiligen Einsatz immer zuerst abschleckte, damit er »anging«. Spätestens nach dem Zwölf-UhrLäuten hatte sie eine blaue Zunge und »ums Mei rum« war sie ebenfalls bläulich, wie ihre 17 Auf dem Bild: Kardinal Faulhaber, das zerbombte München und mein Vater. Natürlich in kompletter Uniform. 18 Magermilch. Außerdem zierte sie ein stattlicher Damenbart. Meine Brüder besaßen im übrigen die Fähigkeit, unser blau-emailliertes Ein-LiterMilchküberl mit Inhalt und ohne Deckel vertikal im Kreis zu schwingen, ohne daß es auch nur einen einzigen Tropfen verlor. Dieses praktische Lehrbeispiel der Zentrifugalkraft hat mich immer wieder aufs Neue tief beeindruckt. Manchmal fuhr die Jonasin am Abend noch mit ihrem Radl weg. Es stand immer vor ihrem Laden. Tagsüber ging den Reifen bisweilen die Luft aus … In solchen Fällen waren meine Brüder echte Kavaliere: »Frau Jonas, derf ma Eana s Radl aufpumpn?« Sie pumpten, bis sich die Reifen gegen jede weitere Luftzufuhr sperrten. Dann warteten sie wie aufs Christkindl, bis die Jonasin übers Trambahngleis in der nahen Schleißheimer Straße fuhr. Es krachte immer, denn es waren halt Kriegsreifen … Noch ein Original. Unser damaliger Zahnarzt Dr. Josef Sepp, von den Erwachsenen »Sepp Sepp«, von uns Kindern »Depp Depp« benannt, gehörte zur Familie. War doch schon meine Großmutter bei seinem Vater in Behandlung. 19 Vom Vater Sepp wissen wir, daß er einmal einen jungen Laboranten beim Geldstehlen erwischte. Er verabreichte ihm daraufhin ein solches Trumm Watschn, daß dieser durch zwei Behandlungszimmer hindurch in die angrenzende Küche flog und dort noch so viel Wucht hatte, um einen Küchenkasten mit bleibenden Eindrücken zu versehen. Sohn Sepp war ein kleiner rundlicher Urbayer, der den unaufhörlichen Dialog mit seinen Patienten einer Spritze vorzog. Über unsere Familienangelegenheiten war er stets im Bilde. Er nahm liebevoll Anteil am Heranwachsen der Jugend, ließ uns beharrlich unregelmäßige französische Verben aufsagen, während er fröhlich seinen Folterungen nachging. Seine Lieblingsgeschichte kannten alle Patienten. Er wiederholte sie mit immer neuen Ausschmückungen, denen ein guter Erzähler bekanntlich nicht widerstehen kann: Auf der abendlichen Heimfahrt mit seiner Frau ärgerte es ihn maßlos, daß ein entgegenkommendes Fahrzeug nicht abblendete. Auf gleicher Höhe mit dem Verkehrssünder rief er ein stimmgewaltiges »Pfundhamme« aus dem Fenster, weil es ihn sonst »zrißn« hätte, wie er an dieser Stelle stets anmerkte. Kurz danach informierte ihn seine Frau, daß das Auto gewendet habe, ihnen folge und 20 eine Funkstreife sei. Dr. Sepp mußte schließlich anhalten. Natürlich gab es zunächst ein riesiges Palaver. Aber Bayern unter sich reden so etwas ganz einfach aus. Letztendlich fielen versöhnliche Halbsätze, wie »ned so gmoant« und »näxts Moi a bißerl freindlicher« und dann war der Fall erledigt. An diesem Abend spielte Dr. Sepp mit einem befreundeten Mediziner Schach. Es läutete – ein Notfall für den Arzt. Die Funkstreife wartete schon vor dem Haus. Plötzlich sah einer der Polizisten Dr. Sepp und rief zutiefst erfreut aus: »Da sitzt ja unser Pfundhamme!« Man mußte auch als langjährige Kennerin dieser Pointe immer wieder mitlachen, vor allem dann, wenn das neue Plomberl schon fertig installiert war. Dr. Sepp überstand seinen eigenen Lachkrampf, indem er sich wie ein Kreisel mehrfach um seine eigene Achse drehte. Nur mittels dieser Balletteinlage bekam er wieder Luft. Eine weitere Geschichte hat Dr. Sepp mindestens doppelt so oft erzählt: Als er meinem Bruder Hans das erste Mal ans kindliche Gebiß wollte, zog dieser eine kleine Pistole aus der Hosentasche und rief: »Halt, oder ich schieße!« Bei seinem Zahnarzt hat er sich mit dieser Einlage ins Herz gegraben. 21 Ein anderer Hans fügt sich hier noch recht harmonisch ein. Es ist der Sohn meiner Cousine Anni und war damals ein kleiner (naja) Lausbub. Aus unerfindlichen Gründen wollte er unbedingt meine Mutter zum Zahnarzt begleiten. »Aber nur, wennst ganz brav bist«, machte die Tante zur Bedingung und Hansi gelobte es feierlich. Das Wartezimmer war voll. Es dauerte und dauerte. Hansi war mucksmäuschenstill. Plötzlich zeigte die Kuckucksuhr eine volle Stunde an und der Kuckuck tat seine Pflicht. So etwas hatte der Bub noch nicht gesehen. Er war überwältigt, was sich in einem begeisterten »Ja, leck mi am Arsch« Luft machte … Als ich das letzte Mal bei Dr. Sepp war, um vor der schicksalsbedingten Überquerung des Weißwurstäquators noch schnell meine Beißerchen überprüfen zu lassen, konnte er es nicht fassen, daß ich nun definitiv »zu de Preißn auswandern« wollte. »Hots jetz da bei uns koan Mo für Di gebn?« Ich sagte bockig »naaa« und ging – um wiederzukehren. »Extra Bavaria nulla vita« hatte einmal ein feines, wohlhabendes, bayerisches Herrchen an sein barockes Jagdschloß geschrieben: Außerhalb Bayerns kein Leben! Das mußte ich mir nicht mehr auf die Fahne schreiben. Es ist so und bleibt so. 22 Als ich 1942 fassungslos weinend vor meinem geliebten Schulhaus in der Schwindstraße stand, das infolge eines Tagesangriffs lichterloh brannte, war der Krieg Bestandteil meines, unseres jungen Lebens geworden. Nur in den Anfängen waren Nachtangriffe für uns Kinder eine Attraktion, teils wegen der nächtlichen Spielstunden im Luftschutzkeller, teils wegen des späteren Schulbeginns am folgenden Tag. Diese eingekürzten Unterrichtstage genossen wir sehr. Ich höre uns noch sagen: »Hoffentlich kummt heid nacht a Angriff …«. Wir ausgebombten Schwind-Schüler kamen in die Elisabeth-Schule. Das war für uns ein weiter Weg. Die Klassenkameradin und Freundin Elli Wutzer und ich hatten beschlossen, bei Voralarm keinesfalls in einen der Luftschutzkeller rund um die Schule zu gehen, was strengstens angeordnet war. Wir rannten die lange, lange Georgenstraße hinauf. Wir rannten um unser Leben. Oft fielen die ersten Bomben und wir waren immer noch nicht am Ziel. Unser gefährliches Ausbüchsen ist übrigens nie aufgekommen. In der Elisabeth-Schule hatten wir eine Handarbeitslehrerin, die mich nicht mochte. Ich erwiderte diese Abneigung zutiefst. Dazu muß ich ausführen, daß diese Lehrkraft eine denkbar unsympathische Erscheinung war 23 und einen strengen Geruch verbreitete. Sogar schon in aller Herrgottsfrüh. Sie hatte einen »Boboscheitel« (Mittelscheitel) und einen kümmerlichen Haarknoten im schwelligen Nacken. Einmal stand ich hinter ihr auf dem Pult und hielt mir demonstrativ die Nase zu. Die Klasse lachte. Ruckartig drehte sie sich um und erwischte mich. Damals gab es noch Tatzen. Um meine angeborene Linkshändigkeit machte sie ein Riesentrara. Auch wenn mein Stramin noch so schön bestickt war, »mit links« gab es verklopfte, rot anschwellende Finger. Als wir kurze Zeit später nur noch graue Soldatensocken strickten, hatte sich dieses Problem von selbst gelöst. Eines Tages beschloß ich, dem Handarbeitsunterricht fernzubleiben. Das war noch in der Stramin-Phase. Die jeweils am Montagmorgen erforderliche Entschuldigung tippte ich auf unserer Schreibmaschine. Da diese für mich schon lange ein beliebtes Spielzeug war, beherrschte ich die Technik mühelos. Die Unterschrift meiner Mutter, »Paula Fischer«, habe ich lange und mit Erfolg geübt. Die Wutzer Elli war der stets verschwiegene Kurier. Für den Montag-Vormittag aber brauchte ich einen sicheren Unterschlupf. Wo war man besser aufgehoben als beim lieben Gott? 24 So verbrachte ich manches Stündchen vor einem der Seitenaltäre in der Josefskirche – bis ich eines Tages die liebe fromme Helene (Tante Hedl) in einer der Bänke knien sah. Ich mußte umdisponieren. Was für ein Glück ist eine große Familie! Mir fiel die Tante Babett ein. Sie hatte in der Farinellistraße ein Bügelgeschäft und mein ganzes Vertrauen. »Bleib nur da«, sagte sie liebevoll und entschieden zugleich. Meine Begründung für den »Besuch« war ausreichend gewesen. Es ging nur zweimal gut. Eines Montags schaute ich der Tante Babett wieder beim Bügeln zu, als die Tür aufging und meine Mutter hereinkam. Voller Entsetzen und mit einem tollen Hecht war ich unter dem Bügeltisch, mit einem Weitsprung im Laden und dann im Freien. Meine Mutter verfolgte mich. Ich hatte einen ziemlichen Vorsprung, war schon in der Schwere-Reiter-Allee, als uns eine Frau entgegen kam. »Halten S des Kind auf«, schrie meine Mutter. Der Frau gelang es, das zerrend Zappelnde mit Polizeigriff zu halten und der keuchenden Mutter zu überstellen. Ich hatte noch »gebeten«: »Lassen S mi aus, Sie Rindviech!« Es half nicht. Natürlich wurde mütterlicherseits der Fall 25 in der Schule vorgetragen. Wie mich meine Mutter damals aus der Urkundenfälschung herausholte, weiß ich natürlich nicht mehr. Es hieß jedenfalls, daß ich ein liebes, kluges und fleißiges Kind sei und es keinerlei Beanstandungen gebe. Am darauffolgenden Montag lieferte mich der Vater persönlich in der Schule ab. Auf dem Weg dorthin war ich ihm aber doch noch vorübergehend ausgekommen. Er holte mich erstaunlich schnell ein und es gab eine kräftige Watschn. Das erste und das letzte Mal übrigens. Eine in unserer Nähe stehende Frau hatte diese Szene gesehen und »angemerkt«: »Sie Tyrann! Eana ghört des Kind ja gnomma!« Und das ärgerte meinen lieben Vater noch lange und heftig. Später auf dem Gymnasium gab es nur nette Handarbeitslehrerinnen, wenn sich auch herausstellte, daß ich z w e i linke Hände besitze, zumindest auf diesem Gebiet. Nachtrag zu Tante Babett: Sie war eine der vielen Schwestern meines Großvaters mütterlicherseits. Wir Kinder liebten sie sehr und nicht nur, weil sie am Silvesterabend immer zu uns kam und ein herrliches Tartar zuzubereiten wußte. 26 Tante Babett Bei ihr machten wir Station, wenn wir nach dem Schlittenfahren auf dem »Schusterbergl« (heutiges Olympiagelände) abgeschlafft und hungrig heimwärts trotteten. Dann klopfte sie erst einmal die größten Schneefladen von unseren Strickanzügen (Pullover und Gama27 schenhose) und stärkte uns je nach Kriegsvorrat noch für den restlichen Heimweg. Sie war nie verheiratet. Lange Jahre hatte sie einen Freund. Als Vertreter von Singer-Nähmaschinen sicherte er seine bescheidenen Ansprüche. Auch Tante Babetts Reichsmark-Säckel war bestimmt meistens magersüchtig. Obwohl sich das Paar fast immer stritt, wurde für gemeinsame Ausflüge ein Tandem angeschafft. Als sie sich bei einer ihrer Touren wieder einmal heftig ins Gehege kamen, sprang die Tante Babett – noch dazu auf abschüssiger Bahn – einfach vom Tandem herunter. »S Knödlessn is leichter« wird sich der verlassene Freund gedacht haben, als mit so einer auf einen grünen Zweig zu kommen, geschweige denn auf die erstrebte Kugleralm. Einer ihrer Träume war es, einmal den riesengroßen Nerzmuff ihrer Mutter zu erben. Als es soweit war, hatten ihn aber schon die Motten gefressen. Das restliche Gewebe fiel in sich zusammen, als es nach langen dunklen Schubladenjahren wieder das Tageslicht »erblickte«. Das Haus in der Farinellistraße brannte ab – und damit auch Babettens Existenz. Die letzten Kriegsjahre verbrachte sie teils in Dingolfing, teils in Griesau, wo nicht nur ihr 28 Schweinsbraten sondern auch sie selbst allerhöchste Anerkennung fand. Die schlimmste Strafe in unserer Kindheit war nicht die Watschn. Die gab es – immer von der Mutter – schnell einmal: für eine läßliche Sünde, für eine freche Antwort. Größere Vergehen wurden mit Hausarrest und Verweigerung des Dialoges geahndet. Hausarrest war furchtbar. Er konnte sich auf einige Tage erstrecken. Schulzeiten natürlich ausgenommen. Dann saß man »am Fenster zum Hof« oder am Wohnzimmerfenster und schaute sehnsüchtig auf die Straße, wo sich die »Gäng« vergnügte und halfterlose Freiheit genoß. Einzige, aber stets hochwillkommene Abwechslung, wenn die Frau Weinzierl im Stockwerk unter uns sich ein bißchen aus dem Fenster lehnte und wir ihr aus unseren Geranientöpfen Erde auf den sauberen Scheitel streuen konnten. Es glückte dies auch, wenn sie nur schnell einmal ihr Staubtuch auswedelte. Wie oft hat sie sich bei unserer Mutter, ihrer einstigen Schulfreundin, bei der fast allabendlichen Visite über uns beklagen müssen: »Mei, Pauline, Deine Kinder …!« Wir mochten die Frau Weinzierl erst viel später, als eine der Wohltaten des Älterwer29 dens ihr Gehör desensibilisierte und sie insgesamt ruhiger wurde. Das Linoleum (man betonte das »e«) blokken, das Messing putzen und Treppenwischen gehörten sehr früh zu meinen häuslichen Pflichten. Geschirr abtrocknen sowieso. Meine Brüder haben sich da schon eher einmal drükken können, obwohl auch sie in die ein oder andere Pflicht genommen wurden. Kohlen, Briketts und Holz vom Keller herauftragen fiel sicher in ihre Zuständigkeit. Ganz bestimmt auch das Helfen beim Wäscheaufhängen im Speicher, welches im Winter blaurot angefrorene Bubenfinger mit sich brachte. Sogar die »Glubberl« (Wäscheklammern) fühlten sich an wie kleine Eiszapfen. Ich weiß das noch so genau, weil ich ab und zu dabei sein wollte, um zwischen den langen Bettuch- und Plumeaureihen hin und her zu hopsen. Die fertig behängten Wäschestricke wurden mit einer langen Holzstange, die oben eingekerbt war, in die Höhe gehoben, damit das so mühselig Gereinigte keinerlei Kontakt mit dem rußigen Speicherboden bekommen konnte. Einmal habe ich so eine Stange umgerannt. Das war ein großer »Sachschaden« und ich bin im Ansehen der Familie tief gesunken. Fürs Erste nahm ich Reißaus. 30 Die Waschtage der Mutter haben wir tief gehaßt. Den ganzen Tag verbrachte sie in den weißgrauen Dampfnebeln des Waschkellers. Mittags wurde uns nur eine schnelle Erbsensuppe offeriert; dann war die Wohnung wieder entseelt. Irgendwann einmal bauten meine Brüder Stelzen aus den Wäschestangen. In kürzester Zeit brachten wir es in der Hinterhof-Arena zu sportlichen Höchstleistungen. Ohne aufgeschlagene Knie traf man uns ohnehin kaum an. Natürlich gab es in unserem Haushalt keinen Eisschrank. Erst die Währungsreform bescherte uns das Wunder Kühlschrank. Bis es aber soweit war, mußten wir Kinder im Sommer das zum Aufwärmen bestimmte Essen in den Keller tragen und zu gegebener Zeit wieder heraufholen. Der Butter (»die« Butter gibt es im bayerischen Sprachgebrauch nicht) dümpelte in der warmen Jahreszeit in einer Wasserschüssel vor sich hin, die auf dem Küchenfensterbrett stand, zwischen riesigen Fuchsienstöcken gerade noch Platz fand. Aber er war immer »streichzart«! Ganz dick hatten wir es übrigens, Eier vom Keller heraufzuholen. In einem Kübel mit kaltglitschiger Kalklösung harrten sie dort ihrer Bestimmung. Ein solcher Auftrag war 31 für uns – heute würden wir sagen »echt ätzend«. Wenn meine Mutter eine gewisse, ordinär stinkende Käsesorte gekauft hatte, die sie besonders gerne mochte, hängte mein Vater diese kleine Leidenschaft, die er nicht mit ihr teilte, an einem langen Schnürl aus dem Küchenfenster. Die Länge des Schnürls war so bemessen, daß es fast bis zum Fenster der Weinzierlin reichte. Auch das führte zu Beanstandungen: »Mei, Pauline, Dei Kas …!« Gar nicht aber mochte es die Weinzierlin, wenn mein Vater Zigarrenrauch im Stiegenhaus verbreitete. Da war sie so empfindlich, daß er ihr bisweilen ein feines Wölkchen durchs Schlüsselloch blies, um sie daran zu gewöhnen. Eine Erweiterung dieser Fürsorge gab es am Dreikönigstag. Auf einer eisernen Kehrschaufel lag die fromme Düfte verbreitende Weihrauchglut, mit der er feierlich alle (!) Räume unserer Wohnung durchschritt und dann eben noch einen liebevollen Abstecher zum weinzierlschen Briefkastenschlitz machte. Die Faschingstage, vor allem der Faschingsdienstag, waren für uns Kinder einfach nur herrlich. Meine Brüder gingen als Indianer, als Clowns. Sie hatten wunderschöne Kostüme 32 mit Halskrausen, spitz zulaufende schwarze Hüte mit weißen »Bomberln«. Ich selbst besaß kein richtiges Kostüm, wollte aber unbedingt auch »maschgara« gehen. Ja, so versteckt sich das Wort »Maskera33 de« in unserem wunderschönen bayerischen Dialekt. Es wurde ganz einfach die »Tirolerin« erfunden. Ein Sommerdirndl von der Mutter, fürsorglich über zwei dicke Winterpullover gestülpt, ein Tirolerhut, rote Bäckchen, rote Lippen (herrlich!) – und ab durch die Mitte. In großen Scharen (heute überhaupt nicht mehr vorstellbar) trieben wir uns auf der Straße und in den angrenzenden Hinterhöfen herum. Wir genossen das Verkleidetsein, zu dem ja alle Kinder eine tiefe Beziehung haben. Ich verfügte über die besten »connections« zu den zahlreichen Cowboys und Indianern. Hätten mich vor allem letztere nicht freiwillig zumindest als Halbblut anerkannt, meine Brüder würden das schon für mich gerichtet haben. Einmal, es war wohl gleich in den ersten Nachkriegsjahren, veranstalteten meine Eltern einen Hausball. Meine Mutter ging als Ritterfräulein und hatte dazu nur ihr schönstes Nachthemd angezogen. Den Vater verkleideten wir als Stubenmädchen: Schwarzes Kleid (von Schwester Helene), weißes Zierschürzchen, weißes Spitzenhäubchen, rotgeschminkte Lippen, soweit sie der Schnurrbart freigab. Dem Onkel Sepp, der immer sehr spät vom Musikmachen heimkam, legten wir einen 34 Luftballon aufs Kopfkissen. Vorher hatten wir ihm ein ziemlich furchterregendes Gesicht verpaßt. Der sollte einmal richtig »dakemma«! Meine Mutter mußte bei der Vorstellung des brüderlichen Entsetzens so lachen, daß sie ihr Wässerchen nicht mehr halten konnte und das schöne Nachthemd hinten einen großen Flecken bekam. Das hat die Stimmung ungeheuer aufgeheizt. Später kamen dann noch ein paar Leute vom Haus und wir haben in der Küche getanzt. Chronik einer Kindheit: Da nimmt meine Oma – Großmutter mütterlicherseits – einen Ehrenplatz ein. Ich denke oft an sie. Sie nannte mich »Weibi« – oder vielmehr »Weiwe«. Ganz unglaublich geliebt hat sie ihre drei Enkel. Nur meine Linkshändigkeit war ihr ein großer Dorn im Auge. Manchmal band sie mir die linke Hand auf den Rücken. Es nützte nichts. Sie wohnte im Rückgebäude unseres Nebenhauses. Abwechselnd durften wir Kinder bei ihr übernachten. Da sie in das riesige Ehebett aber immer nur einen von uns aufzunehmen gewillt war, gab es vorher einen heftigen Ausscheidungskampf. Die schier endlosen Abendgebete nahmen wir gerne in Kauf. 35 In der Mitte Oma mit Weiwe, rechts meine Mutter, links zwei Freundinnen Meine Oma mütterlicherseits 36 Mit »Weiwe« wurde ich von allen Familienmitgliedern angesprochen, gerufen, verwarnt …, bis ich mich als Teenager dagegen wehrte. Heute würde ich sehr gerne wieder so heißen und es macht mich zufrieden, daß ich auf dem besten Wege bin, wenigstens noch ein altes »Weiwerl« zu werden. Als junges Mädchen ist meine Oma zu einer Wahrsagerin gegangen. Sie prophezeite ihr die Ehe, zwei Kinder und den Tod mit 68 Jahren. Alles ist so eingetroffen. Das Leben hat sie nicht auf Rosen gebettet. Schon in sehr jungen Jahren kam sie aus dem niederbayerischen Osterham (bei Mallersdorf) nach München »in Stellung«, wie so viele Mädchen vom Lande, für die es auf dem elterlichen Hof kein Auskommen gab. In München lernte sie den Großvater kennen und lieben, der aus Eslarn an der bayerisch-tschechischen Grenze stammte. Er arbeitete bei den Deutschen Werken, hatte dort sozusagen die Heizkessel unter sich. Im Jahr 1900 heirateten sie. Der Großvater kam aus einer riesigen Familie. Er hatte acht Geschwister, die nach und nach alle nach München gingen und dort auf die Füße fielen. Es war ein lebenstüchtiger Schlag. Die Ehe der Großeltern war nicht besonders 37 glücklich, aber sicher auch nicht besonders unglücklich. Der Großvater war ein schöner Mann, zumindest in den Augen seiner Frau. Wenn sie Kummer mit ihm hatte, rief sie klagend aus: »Weils hoid unbedingt a scheena Mo sei miassn hat …!« Er war ein überaus strenger Vater. Meine Mutter hat ihn mehr gefürchtet als geliebt. Wurde die Suppe etwas zögerlich gelöffelt, kam sofort noch ein weiterer Schlag in den Teller. Hatten die beiden Kinder einen noch so harmlosen Streit miteinander, stieß er ihnen kraftvoll die Köpfe zusammen. Auch »scheidlknien« mußten sie nach vorausgegangener Untat. Aufstehen durften sie erst, wenn sie mehrmals um Verzeihung gebeten hatten. Alles aber war gut, wenn die beiden musizierten. Meine Mutter mit der Zither, mein Onkel mit der Geige. Da ist ihm das Herz aufgegangen. Da hat ihm das Bier gleich noch besser geschmeckt. Denn Durst hatte er – berufsbedingt – schon viel, der Großvater Paul Schnabl, wenn er auch alles andere als ein Trinker war. Er hatte einen tiefen Baß und konnte sehr weit »hinuntersingen«. Aus Erzählungen weiß ich sein Lieblingslied: »Im tiefen Keller sitz ich hier bei ei-ei-einem Glas voll Reben«. Wer das schöne Lied kennt, kann sich viel38 leicht vorstellen, daß bei den »Reben« sein Maßkrug wackelte. Ein bißchen halt. Im Alter von 39 Jahren verstarb er an einer Lungenentzündung. Die Großmutter mußte die beiden Kinder alleine großziehen. Jetzt war Tapferkeit angesagt. »Tapferkeit ohne Gerechtigkeit ist ein Hebel des Bösen« sagte der heilige Ambrosius vor eineinhalb tausend Jahren. Der Oma widerfuhr Gerechtigkeit, als die beiden Kinder gut gerieten, der Sohn sogar ein durchgehender Einserschüler war und mit fünf Jahren schon ein recht gutes Geigerlein. Ein musischer Tapezierer aus der Hausgemeinschaft erteilte ihm kostenlos den ersten Unterricht. So kannte der Bub die Noten lange bevor er sich mit dem ABC anzufreunden hatte. Der Tapferen widerfuhr Gerechtigkeit, als sie zwei »Schwieger« bekam, die sie tief verehrten. Natürlich hatte sie Sorgen mit dem Sohn, als er in sehr jungen Jahren und sehr weit weg von daheim ein wildes Musikerleben führte. Als er ihr dann unsere Tante Elli als seine zukünftige Frau vorstellte, war alles gut. »Jetz kriagt der greisliche Kerl a so a nette Frau«, resümierte sie in ausklingendem Groll. Der ebenso fürsorgliche wie erfinderische Schwiegersohn in Gestalt meines Vaters hatte 39 sogar – über zwei Hinterhöfe führend – eine Verbindung geschaffen, mit der die Oma zu uns übers Radio sprechen konnte, wenn es denn eingeschaltet war und wenn sie wegen ihrer schweren Zuckerkrankheit rascher Hilfe bedurfte. Und dann die drei Enkelkinder: So brav …, so anhänglich, gleich im nächsten Haus und so voller Leben, das in das ihre strömte wie ein frisches Gebirgsbacherl. Die Hausmeisterei (Vordergebäude mit zwei Rückgebäuden) und das Bügeln »für d Leit«, waren hartes Brot, aber doch so einträglich, daß es keine Not gab. Für ein Paradekissen, dessen Rüschen sie mit einer Spezialbrennschere sorgsam behandelte, erhielt meine Oma gerade mal ein Zehnerl. Trotzdem hat sie bei der Arbeit immer gesungen. Mit dem Hausbesitzer hatte sie ein überaus gutes Einvernehmen. Hochachtungsvoll sprach sie vom »Herrn Ingenieur«. Ihre Wohnung bestand aus einer großen Wohnküche, einem Schlafzimmer und einem Kammerl. Letzteres wurde vermietet oder diente vorübergehend und natürlich kostenlos als Unterschlupf für »gefallene Mädchen« vom Land, wenn sie ein lediges Kind bekamen und sich nicht mehr heim trauten. Dafür wurden sie von meiner Großmutter 40 gewiß nicht gelobt, aber ganz bestimmt liebevoll getröstet: »Kummt s Haserl, kummt s Graserl …« Mit ganz besonderem Vergnügen denke ich an einen langjährigen Untermieter meiner Oma, an den Herrn Hasenöhrl, den wir Kinder »Hasebe« nannten. Er war ein Junggeselle par excellence, hat aber dann in seinen reiferen Jahren doch noch ein Weib gefunden und es nach dem Krieg als Immobilienhändler zu ziemlicher Wohlhabenheit gebracht. Nie hat er die Verbindung zu unserer Familie abgebrochen. Er ist zu den Beerdigungen noch so entfernter Verwandter gekommen. Mitunter tauchte er sogar an den Geburtstagen meines Vaters auf, als dieser die Neunzig schon überschritten hatte. Ein anderer Untermieter war »der Lehrer«. Er hat meine Großmutter wohl ein bißchen umworben. Meine Mutter sagte später, er sei unglaublich schrullig gewesen. Da fiel wohl ein kleiner Schatten auf ihre Jungmädchenzeit. Nun, das war sicher keine Affäre, kein Verhältnis. Da bereicherte halt ein Mannsbild den Haushalt, noch dazu ein gebildetes, das beratend an allen Problemen Anteil nahm, zur Seite stand. Denn die beiden Kinder wuchsen heran und wurden – wie alle – nicht einfacher. 41 In ihren Wechseljahren hatte meine Oma große Herzprobleme. Oft saß sie erschöpft auf einer Treppenstufe im Stiegenhaus, schafft es nicht mehr bis zu ihrer Wohnung im ersten Stock. Als dieser Spuk vorüber war, attestierte ihr der Arzt das Herz einer Zwanzigjährigen, was sie mit großem Stolz überall herumerzählte. Dann kam die Zuckerkrankheit. Das Insulin spritzte sie sich selbst. Manchmal durften es ihr meine Brüder verabreichen, was sie als hohe Auszeichnung empfanden. Peinlich genau wurden die Mahlzeiten abgewogen. Das von der Oma bevorzugte dunkle Grahambrot mochten auch wir Kinder sehr gerne, so daß sie nach mancher unserer Visiten kein Bröserl mehr davon besaß. Am 17.8.1943 ist sie an einer Bruchoperation verstorben, erlebte es gottlob nicht mehr, daß »ihre« Häuser in Flammen aufgingen und mein Bruder Heinz nicht mehr aus dem Krieg zurückkam. Mein Bruder Heinz mußte ganz am Ende des Krieges noch Soldat werden. Im Württembergischen kam er in amerikanische Gefangenschaft. In einem Ulmer Lazarett ist er im April 1945 an Tetanus verstorben. Eine Spritze hätte sein junges Leben gerettet. Er war 18 Jahre alt. 42 Erst im Dezember 1945 erhielten wir von der Militärregierung diese entsetzliche Nachricht. Es war tiefster Winter und ich kam gerade vom Schlittenfahren heim … Das Leid, das damals in unsere Familie einbrach, ist im wahrsten Sinne des Wortes unbeschreiblich. Unser auch in einer solchen Lage praktischer Vater sammelte immer wieder die vollgeweinten Taschentücher ein, wusch sie aus und hängte sie über den Küchenofen. In noch feuchtem Zustand brauchten wir sie aber schon wieder, denn die Tränen hörten nicht auf. Nie werde ich den ersten Besuch mit den Eltern und Bruder Hans auf dem Heldenfriedhof in Ulm vergessen. Fassungslos standen wir vor einem winzigen Grab mit einem Eisenkreuz. Wir pflanzten einen Rosenstock. Trotz allem sind wir dann noch auf den Turm des Ulmer Münsters gestiegen und haben auf den total in Schutt und Asche liegenden Münsterplatz herabgeschaut. Heinz war der Ruhigste, Besonnenste von uns Dreien. Nach Abschluß der Mittleren Reife trat er eine Banklehre an. Von seinem Lehrherrn bekam er eine hohe Auszeichnung, als er bei einem Dachstuhlbrand besondere Umsicht und Tapferkeit zeigte. Seine Bank liebte und verteidigte er. 43 Natürlich gibt es auch von ihm Kindheitsgeschichten. Folgende finde ich anrührend: Er war noch ABC-Schütze, als meine Mutter den sonst überaus Pflichtbewußten wieder einmal zur Schule weckte. Er verweigerte das Aufstehen mit folgender Begründung: »Ja moanst denn Du, i geh acht Jahr lang alle Dog?« Am liebsten lag er mit einem Buch auf dem Küchendiwan, wobei er immer wieder mit größter Zufriedenheit feststellte: »Gell, Mama, schee is dahoam!« … Chronik einer Kindheit: Das sind viele Erinnerungen an die Mitglieder der damaligen Großfamilie, in der man so geborgen aufwuchs. Der Tante Hedl, Schwester meines Vaters, unverheiratet, bei uns im Haus in Untermiete bei Frau Weinzierl geduldet, sei ein längeres Kapitel gewidmet. In der Steinheilstraße, wo sie eine kleine Wohnung hatte, war sie ausgebombt worden. Sie war eine große, schlanke, grobknochige Frau und – heute würde man sagen – bekennende alte Jungfer. Männer waren ihr nicht geheuer, ausgenommen die sehr geliebten Brüder und die Herren des geistlichen Standes. Man erzählt, daß sie als junges Mädchen einmal panische Angst vor einer Schwanger44 Tante Hedl schaft gehabt habe, weil sie ein junger Mann geküßt hatte. Beim Metzger Wimmer, ihrer Arbeitsstelle, war sie Mädchen für alles. Ein sicherlich knallharter Job! 45 Es war zu einer Zeit, als viele Menschen es schon ahnten oder gar wußten, was dieser Herr Hitler aus Braunau im Schilde führte. Tante Hedls Antennen signalisierten jedenfalls Alarmstufe 1. Nun war sie wirklich kein übermäßig politisch interessierter Mensch, aber sie hatte – jetzt nicht bildlich gesprochen – ein feines Näschen für Gefahren, ein Gespür halt. Sie kannte Hitler persönlich. Sie bediente ihn, wenn er bei ihrem Brotgeber seine Wurst einkaufte. Eines Tages war ihr plötzlich ganz klar, wie leicht es für sie wäre, dieses Scheusal ins Jenseits zu befördern, das heißt, ihn zu vergiften. Kannte sie sich da ein bißchen aus? Hatte die Oberpfälzerin eine besonders knackige »Rengschburger« mit entsprechender Anreicherung im Visier? Bruder Georg, der gütig-fromme Gärtner bei den Salesianern zu Overbach, von dem sie sich erstaunlicherweise eine Art Rückendekkung mit anschließender Generalabsolution erhoffte, erklärte sie für verrückt. Um Gottes Willen, Helene, tu das nicht! Ich darf es mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn der einschlägige geschwisterliche Briefwechsel von der Gestapo entdeckt worden wäre. Es gab jedoch keinen Menschen, dem sie höriger war, als ihrem Bruder »Bruder Georg«. 46 Schon zu seinen Lebzeiten verehrte sie ihn wie einen Heiligen. Immer, wenn er zu Besuch im heimatlichen Griesau weilte, reiste sie sofort an, damit sein irdisches Wohl in jedweder Beziehung gesichert war. Daß sie, um die damalige Griesauer Jugend in gebührende Ehrfurcht zu verweisen, bisweilen auch ihre allseits gefürchteten Fäuste einsetzte, muß nicht betont werden. Waren es nun die vom Ordensmann fachmännisch geschilderten Höllenqualen, die eine Mörderin im Jenseits zu erwarten hatte, oder genügte ganz einfach das strikte brüderliche Verbot: Hedl ließ Hitler leben, das heißt weiterleben. Sie griff nicht ein in den Lauf der Geschichte. Es war ihr sozusagen nicht vergönnt. Von dieser Geschichte habe ich erst viele Jahre nach dem Krieg erfahren. Während der Nazizeit wurde sie in der Familie mit keiner Silbe erwähnt. Heute ist mir klar: Ein unbedachtes Wort an falscher Stelle – und die ganze Familie wäre der rigoros praktizierten Sippenhaft anheimgefallen. Unserer Tante wäre jede postume Ehrung »zwider«. Sie hat ein Denkmal in unseren Herzen. Längst ist sie mit ihren Geschwistern in der Ewigkeit und sitzt bestimmt neben Bruder Georg, der ihr beschwichtigend die Hand hält. 47 Nach dem Krieg war sie der Metzgerei aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gewachsen. Sie brachte sich ganz gut mit häuslicher Flickarbeit durch und konnte sogar neue Krägen auf alte Herrenhemden montieren. Reichte der jeweilige »Stoß« nicht aus, war sie in der Auswahl des Stoffersatzes nicht zimperlich. Wir haben uns oft gewundert, daß sie sich nicht laufend mit Reklamationen herumschlagen mußte. Sie konnte (mußte) ungeheuer sparen. Im Winter ließ sie sich regelmäßig in ein Krankenhaus einweisen, um die teuren Kohlen für ihr Kanonenöferl zu sparen. Sie genoß unsere Besuche und grinste zufrieden aus dem warmen Bett. In der ersten Nachkriegszeit, als es die allabendlichen Stromsperren gab, spielten wir immer Rommé. Tante Hedl hatte eine unglaubliche Freude am »Bscheißn«. Begünstigt durch die kärgliche Beleuchtung, legte sie beispielsweise Kreuz 7, 8, 9 auf und sagte voller Unschuld: »Bube, Dame, König«. Für meine preußischüberkorrekte Tante Elli war das jedes Mal zu viel. Zum schier unermeßlichen Vergnügen der Hedl ging sie auf wie eine Dampfnudel: »Was hast Du da wieder aufgelegt?« Tante Hedl ergötzte sich allabendlich am Zorn der Mitspielerin, die sie wegen ihres 48 protestantischen Glaubensbekenntnisses ohnehin diskreditierte. Nach ihrer Überzeugung wartete auf die »Evangöllischen« Herr Satan persönlich. Den Hang zum Schwarzfahren habe ich leider von ihr geerbt. Die dazu erforderliche Kaltblütigkeit nicht im vollen Umfang. Vielfach machte sie Besorgungen für andere Leute, ein kleiner Nebenverdienst. Gerne nahm sie mich dabei mit. In den damaligen Trambahnen saß man sich auf zwei langen Bänken gegenüber. Der Trambahnschaffner ging prüfend in der Mitte auf und ab: »Hat alles?« Meistens hatten wir nicht und ich wurde zappelig. Dann spürte ich die Hand der Tante auf meinem Arm, vernahm die beruhigende Stimme: »Sei nur schdaad!« Es ging immer gut. Als der Krieg immer schlimmer wurde und mein junges Nervensystem zerrüttet war, riet der Arzt, mich aufs Land zu schicken. So kamen meine Mutter und ich nach Griesau, auf den Bauernhof meines Onkels, Bruder meines Vaters. Wir verbrachten dort das letzte Schreckensjahr, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Erst im Juli 1945 kehrten wir nach München zurück, das nicht wiedererkennbar war. 49 Die Griesauer Großfamilie Die Tante Hedl führte nunmehr den Haushalt für meinen Vater und die beiden Brüder. Die beste Schilderung dieses Interims stammt von meinem Bruder Hans. Allein das Weckzeremoniell (Hans schlief mit seiner Tante im Ehebett) – wenn ihr noch nachtschwerer Arm, den sie einfach nur hob und auf ihn niedersenkte wie ein Fallbeil, seinen Träumen ein ebenso schmerzvolles wie jähes Ende bereitete – ist uns immer wieder Anlaß für heiteres Erinnern. Als uns die Tante Hedl einmal ein Griesau besuchte, spielten wir ihr einen bösen Streich, wofür meine Cousins, Cousinen und auch ich stets zu haben waren. 50 Wir wußten, daß sie jeden Abend, ehe sie sich zur Ruhe bettete, vorsorglich unter ihr Bett schaute. Es könnte ja mal ein schlimmer Geselle ihrer harren … Wir fertigten eine Art Strohmandl in Lebensgröße an, bekleideten es mit Stallgewand, gaben ihm ein riesiges Schlachtmesser in die Pfote und legten es zu gegebener Zeit unters Bett der Tante. Wie gut, daß sich meine Mutter in der Nähe des Tatortes aufhielt, als das Ungeheuer von der Tante entdeckt worden war. Laut um Hilfe schreiend stob sie aus ihrem Zimmer im ersten Stock und wäre – ohne meine Mutter – kopfüber die Treppe hinuntergestürzt. Das hat sie uns lange nicht verziehen, zumal auch die Erwachsenen nicht ganz uneingeweiht waren. Es war eine rauhe Zeit. Tante Hedl und Tante Rosa waren gute Freundinnen. Tante Rosa, etwa gleichaltrig, Familienstand ebenfalls »nv«, Verkäuferin bei einem Bäcker, über sieben Ecken mütterlicherseits mit uns verwandt, kam jeden Samstag mit Tante Hedl samt Metzgerhund zu uns zum gemeinsamen Abendessen. Sie brachte die im Laden übrig gebliebenen Semmeln in einer großen Stranitzn (»Tüte« sagte man erst viel später) mit, die sie mit 51 freudiger Gönnermiene in die Mitte des Küchentisches legte und sofort weit aufriß. Zu unseren Füßen wartete brav der schöne Schäferhund auf ein tieffliegendes Wurstradl. Die beiden Damen hatten zumindest eine gemeinsame Leidenschaft: Das waren die Komiker (sie betonten nicht das »o« sondern das »i«) in der Gaststätte »Scharfes Eck« in der Schleißheimer Straße. Da gingen sie jeden Samstag hin und hatten ihren Spaß. Ich finde, sie waren richtige Emanzen. Im Jahr 1960 fand in München der »Eucharistische Kongreß« statt, ein großes Ereignis für die Stadt. Sogar der Papst kam. Die Bürger waren aufgerufen, das Äußerste an Gastfreundschaft aufzubieten und Privatquartiere für die Gäste aus der ganzen Welt bereitzuhalten. Onkel Georg, dem Leser schon ein Begriff, schickte uns – beinahe fraglos – drei Padres aus Overbach, unter denen sich der wirklich vornehme Pater Provinzial befand. Vor ihm hatten wir Federn, was sich gottlob bald als unnötig herausstellte. Unsere Helene war in ihrem Element. Drei echte Pfarrer als Gäste für eine ganze Woche – das kam nie wieder. Sie waren fröhliche Rheinländer und lachten jedes Mal aus tiefstem Herzen, wenn die Hedl vom »Eukalyptischen Prozeß« schwärmte. 52 Onkel Georg Die Großveranstaltungen dieses Kongresses fanden auf der Theresienwiese statt. Daß Petrus keinen Sinn für Open-air-Events hat, ist hinlänglich bekannt. So regnete es oft Schusterbuben, wenn sich die Frommen aus aller 53 Welt dort einfanden. Nur der Papst hatte ein Dachl. Bisweilen waren die schwarzen Priesteranzüge am nächsten Morgen noch nicht trocken. Dann stand meine Mutter schon sehr früh in der Küche, um diese trocken zu dämpfen. Die hohen Herren mußten ja beizeiten zur Messe. Bis gut über die Mitternacht wurde jeden Abend nach reichlich bayerischer Brotzeit und viel Bier erzählt und gelacht. Es war eine Heiterkeit, die man bis hinunter zu den Weinzierls hörte. Bei nächster Gelegenheit klagte dann die einstige Schulfreundin: »Mei, Pauline, Dei Bsuach!« Und ich höre meine Mutter antworten: »Mare, dees geht ned anders. Da miaß ma jetz alle durch!« Auch Tante Hedl hatte eine Beanstandung, und zwar das nach ihrem Empfinden viel zu kurz ausfallende Tischgebet des Provinzials. »Na ja«, meinte sie dann aber begütigend, »wenig mit Liebe.« Er nahm es schmunzelnd zur Kenntnis. Nach Abreise der Padres sanken wir alle in eine zufriedene Erschöpfung. Lange Jahre noch schrieb uns der Provinzial die herzlichsten Briefe aus Rom, wohin er versetzt worden war. Weil es hier so schön hinpaßt: Einmal schickte uns der Onkel Georg einen Missionspfarrer. Er kam aus Afrika und wir 54 stellten ebenso erstaunt wie verunsichert fest, daß er sein Bedürfnis nach menschlicher, vor allem weiblicher Nähe, nicht in die unsererseits doch sehr von ihm erwartete Form zu bringen wußte. Er war uns allen ein bißchen suspekt. Trotzdem ließen wir es nicht an Gastlichkeit fehlen. Wie schnell ist etwas ungerecht interpretiert. Auch die Tante Hedl war an sich recht glücklich, daß wir wieder einmal hohen Besuch hatten, bis der Unglückselige versuchte, ihr ein kleines Küßchen zu verabreichen. Da war aber dann der Bär los! Entsetzt stieß sie ihn von sich und rief: »Weiche, Satan!« Sicherlich war der Pater kein übler Sexgangster. Bestimmt neigte die gute Tante in puncto puncti zur Überempfindlichkeit. Aber wir waren alle froh, als wir diesen komischen Heiligen von hinten sahen. Bruder Georg wurde angewiesen, bei der Auswahl der uns künftig Zugeteilten sorgfältiger zu verfahren. »Weiche, Satan!« blieb in der Familie ein geflügeltes Wort. Man glaubt kaum, wie oft es anwendbar ist. Es war eine fromme Kindheit mit Morgenund Abendgebet sowie Tischgebet am Sonntag; letzteres nur täglich, wenn der Onkel Georg aus dem Kloster bei uns zu Besuch war. 55 Vor dem Mittagessen, das schon dampfend auf dem Tisch stand, wurde ein Vaterunser für die Verstorbenen angehängt und dazu ein bißchen geweint. Am Schluß beim Kreuzzeichen habe ich immer zu meiner Tante Elli hingeschielt. Sie machte nicht, wie wir alle, das kleine Kreuz auf Stirne, Mund und Brust, sondern schlug, weil sie eigentlich Tragödin werden wollte, mit der Hand einen riesigen Bogen von ihrer Stirn zum Bauch, um dann ebenso ausholend den zweiten Bogen von der linken zur rechten Schulter zu vollziehen. Auch in Griesau hat man regelmäßig gebetet; beim mittäglichen Zwölf-Uhr-Läuten den »Engel des Herrn«, das der dörfliche Messner nie vergaß, auch als er schon sehr betagt und tief gebeugt den Weg zur kleinen Kapelle nahm, in der er auch die Maiandachten hielt. Immer wieder bekam ich Lachkrämpfe, wenn die Cousins statt »Vater unser« »unser Vadda« und am Ende nicht »in Ewigkeit Amen«, sondern »im Möberlbräu Amen« »beteten«. Man muß halt am meisten lachen, wenn man es überhaupt nicht darf. Die Diem Liesi und ich hatten unsere größten Lachanfälle in der Josefskirche. Wir brauchten uns nur kurz anzuschauen … Stets hatten wir Weihwasser daheim. Der 56 Vater zapfte es in ein Limonadenflaschl aus einem großen Kessel in der Josefskirche. Gerne verwendete er dazu auch die leeren Gesichtswasserfläschchen der eitlen Tochter, die er dem häuslichen Abfall entnahm und in allen Größen in das Vorratsregal im Gang sortierte. Das Auffüllen der Weihwasserkessel neben der Eingangstür und im Schlafzimmer, wo man sich ausgiebig besprengte, ehe man sich der dunklen Nacht überließ, gehörte zu seinen Obliegenheiten. Ich sehe ihn vor mir bei diesem Ritual: Zigarre im Mund, sein »Arbeitslied« brummend summen. Das war immer nur ein Ton, sagen wir mal jeweils eine halbe Note lang. Wie oft hat uns die Mutter an der Wohnungstür noch schnell ein Weihwasserkreuz auf die Stirn gezeichnet, wenn wir einen schwierigen Weg antraten oder wenn sie instinktiv eine Gefahr für uns spürte, auch als wir schon erwachsen waren. Wunderschön war das Osterfest in unserer Kindheit. Freilich, den Karfreitag mochten wir gar nicht. Es durfte nicht einmal das Radio angestellt werden. Dafür gab es mittags den köstlichsten Fisch. Die Erwachsenen erhielten nur eine kleine Portion, denn der Karfreitag ist ein Fast- und Abstinenztag. 57 Am Nachmittag ging die ganze Familie sonntäglich gekleidet in mindestens fünf Kirchen, wo der Heiland aufgebahrt war unter einem großen Lichterbogen aus bunten Glaskugeln. Die Erstkommunikantinnen, die »weißen Mäderln« wie man damals sagte, durften Wache halten. Die Auferstehungsfeier war am Ostersamstag um fünf Uhr nachmittags. Das mit violettem Stoff bedeckte Kreuz wurde nach und nach enthüllt. Die Erinnerung an dieses mehrmalige »Christus ist erstanden« des Priesters geht mir heute noch sehr nahe. Da war dann einfach jeder froh, daß er seinen Herrgott wieder hatte. Am Ostersonntag nahm man ein Körbchen mit bunten, natürlich selbst gefärbten Eiern, Brot, Zopf, Salz, Geräuchertem und Meerrettich mit ins Hochamt, nach dessen Ende die Speisenweihe erfolgte. Daheim gab es dann gleich das Osterfrühstück. Es schmeckte uns allen immer so ganz besonders gut. Der Hunger war groß. Damals ging man noch nüchtern zur Kommunion. Die österliche Feier zog sich bei den Kapuzinern in St. Josef besonders lang hin. Dafür waren sie bekannt. Vielleicht ist es ein bißchen ketzerisch, wenn ich glaube, daß das »Großer Gott, wir loben Dich« am Ende des Hochamtes auch 58 deshalb so ergreifend klang, weil mindestens tausend knurrende Mägen dazu beitrugen. Nach dem Frühstück wurden die Eierschalen nicht in den Abfall geworfen, sondern verbrannt, weil sie geweiht waren. Das Geweihte hatte einen unnachahmlichen Geschmack. Ungeweihtes hätten wir sofort erkannt – zumindest meine Brüder und ich. Es folgte ein fast nahtloser Übergang zu den Vorbereitungen für das mittägliche Festessen. Der Hausherr hatte nicht einmal Zeit, den feinen Zwirn auszuziehen, obgleich dieser stets größter Schonung sicher sein durfte. So band er sich nur ganz schnell seinen grünen Schaber um und rieb sich, wie meistens am Sonntag, wenn es Kartoffelknödel gab, die Knöchel wund. Da fehlte ihm eigenartigerweise die passende Erfindung. Viel, viel später, als meine beiden Neffen aus der Schweiz mit ihren Eltern – wie jedes Jahr – das Osterfrühstück mit uns genossen, hatten sie das rote, hölzerne Stopfei ihrer Großmutter ins Eierkörbchen geschmuggelt. Wie von oben gelenkt, ausgerechnet der Onkel Sepp, der das Ei nicht mit dem Löffel, sondern mit einem kräftigen Schlag gegen sein Hirn aufzuschlagen pflegte (was die Buben natürlich wußten), erwischte das Holzei und war dann nebst rotem Binkerl auf der Denkerstirn schon recht sauer. Wie glücklich 59 sind Lausbuben in solchen Augenblicken. Sie dürfen nie aussterben! Auf dem Land erlebt man nicht nur die Jahreszeiten, sondern auch das Kirchenjahr viel intensiver. Damals, letztes Ostern vor dem Kriegsende, radelten wir trotz permanenter Tieffliegergefahr am Karfreitag-Nachmittag von Griesau nach Pfatter in die Pfarrkirche. Nach gewissenhafter Osterbeichte sind wir von der letzten Kirchenbank aus im Mittelgang auf den Knien zum Hochaltar gerutscht, wo der Gekreuzigte auf den Stufen zum Hochaltar lag. Wir küßten seine Wunden und gingen dann ganz ungewöhnlich brav aus dem Gotteshaus. Freilich haben wir uns nach so viel Frommsein richtig austoben müssen, indem wir beim Heimradeln auf der Landstraße kunstvolle Kurven fuhren – und im Graben landeten. Zu dieser Zeit gab es – zumindest in ländlichen Gegenden – noch streng getrennt die »Manna-« und die »Weibaseitn«, rechts im Kirchenschiff die »Manna«, links die »Weiba«. Bei den Sonntagsmessen in Pfatter hielt ich oft Ausschau nach den männlichen Familienmitgliedern aus Griesau. Vater und Söhne standen immer ziemlich nahe bei der Kirchentür, bei milder Witterung auch schon einmal 60 ein bißchen »außerhalb«. Wenn die Predigt anfing, waren sie schon im nahen Wirtshaus. Gibt es etwas Schöneres als einen sonntäglichen Frühschoppen? Daheim beim Mittagessen fragte dann »d Muadda« hinterhältig nach dem Thema der Predigt. Der »Vadda« ließ seine Söhne erst gar nicht zu Wort kommen bzw. ins Bratenmesser laufen. Schnell erfand er eine Kurzform der etwaigen priesterlichen Ausführungen, für die er das Prädikat »oida Esl« erhielt, was aber seinen Sonntagsfrieden in keiner Weise einschränkte – und schon gleich gar nicht seinen Appetit. Mir fällt meine erste Beichte ein. Ich hatte alle meine Sünden am Leitfaden des Beichtspiegels akribisch aufgelistet – und dann dieses Dokument meines verworfenen Lebens verloren. Das verfolgte mich noch jahrelang. Erste heilige Kommunion in St. Benno, wo wir kirchensprengelmäßig hingehörten. Ich sehe mich in einem wunderschönen weißen Kleid mit weißem Mantel, in letzter Minute erstanden, »second hand« natürlich. Nach dem langen Sitzen in der Kirche erlösendes Wettrennen mit den Brüdern die lange Lothstraße hinunter; sehr hinderlich die Kerze und die neuen Schuhe. Aber die Brüder ließen mich gewinnen an diesem Tag. 61 Das Kommunionkind (Foto und Dekoration von meinem Vater) 62 Ins Straßenbild unseres Viertels gehörten die Kapuziner der nahen Josefskirche. Immer eilten sie und trugen schwarzlederne Aktentaschen mit sich. Sie gingen mindestens so viel zu Fuß wie unser Vater, wenn er »Streife« hatte. Es kam uns kein Kapuziner aus. Immer liefen wir ihnen nach oder entgegen, gaben ihnen die »schöne Hand« (die rechte war das natürlich), machten einen Knicks, wohlerzogene Buben einen Diener, und flüsterten »Gelobt sei Jesus Christus«. Dafür erhielten wir ein feierliches »in Ewigkeit Amen« und ein Kreuzl auf die Stirn, worauf wir ungeheuer scharf waren. Segen verjährt nicht … Ein absoluter Beweis für unseren Glauben war es, während eines heftigen Gewitters auf dem Küchenfensterbrett zu sitzen, gegen die Blitzgefahr das Kreuz zu schlagen – vor allem beim Donner – und furchtlos auszuharren. Sehr oft haben die Diem Liesi und ich auf solche Weise die Himmelsmächte erprobt und für zuverlässig befunden. Wenn uns meine Mutter manchmal eine Tasse Kakao stiftete und dabei stets warnte »Kichert werd hernach«, bekam die Liesi automatisch einen ihrer großartigen Lachanfälle, wobei ihr die an sich von ihr sehr geschätzte Flüssigkeit wieder bei den Nasenlöchern herausfloß. Ich hoffe, daß ihr Leben so verlaufen 63 ist, daß ihr in heiter-glücklichen Augenblicken auch immer wieder einmal Champagner aus dem feinen Näschen perlte. Nach dem Krieg sind wir in den Ferien viel ins Dantebad gegangen und immer, wenn es blitzte und donnerte, ins Wasser. Die Bademeister waren noch in Kriegsgefangenschaft – und unsere Schutzengel schon recht verzweifelt. Diese tiefe, vertrauensselige Frömmigkeit erhielt die ersten kleinen Risse, als wir einige Jahre später zum ersten Mal der Liebe begegneten und der Herrgott kein Einsehen für unsere Träume und Nöte zu haben schien. Er hat uns den ersten Heißgeliebten, Einzigartigen, Überlebenswichtigen, mit dem wir durch ein langes, wunderbares Leben gehen wollten, schlicht und einfach verweigert. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir allerdings schon sehr viele Hollywood-Filme gesehen, schwarzweiß mit deutschen Untertiteln. Wenn der Film ein »Achtzehner« war (Zutritt ab 18 Jahre; es gab auch »Vierzehner«), standen wir vor der Kinokasse auf Zehenspitzen. Ein mütterlicher »Dietsche« (Hut) hat uns stets auf wundersame Weise vor schmachvoller Zurückweisung bewahrt. In Kindheitstagen gingen wir gerne ins »Hubertus« in der Schleißheimer Straße. Es 64 war ein richtiges Flohkino. Der Rasierplatz in der ersten Reihe kostete fünfzig Reichspfennige, a »Fuchzgerl« halt. Mein allererster Film – die großzügigen Brüder hatten mich mitgenommen – hieß: »Die Finanzen des Großherzogs«. Mein Bruder Hans tratzt mich noch heute. An den unmöglichsten Stellen hätte ich laut gefragt: »San dees de Finanzn?« Ab und zu durfte ich auch mit der Diem Liesi ins »Hubertus« gehen und einen Märchenfilm anschauen. Da kam es schon vor, daß uns ein Schlaferl überfiel, wir tief in die Sessel rutschten und bis weit in die nächste Vorstellung hinein unser Fuchzgerl noch abträumten. Grelles Taschenlampenlicht riß uns dann plötzlich in die Wirklichkeit zurück und eine der besorgten Mütter stand erlöst an der Kasse. Dankbarer Empfang. Happy End! »Gig«: Laut Lexikon ein offener, zweirädriger Wagen (Einspänner) mit einer Gabeldeichsel. Es wäre interessant zu wissen, wie meine Brüder und deren Freunde, die unentwegt Gigs herstellten, zu diesem englischen Wort gelangten im damaligen Bayern. Zu diesem selbstgebauten Gig brauchte man ein etwa 1,50 m langes Holzbrett, unter 65 das die zwei Achsen eines gerade nicht im Einsatz befindlichen oder ausrangierten Kinderwagens montiert wurden. Die vordere Achse war mit einem Seilzug lenkbar. Als Bremse wurden die Schuhabsätze des Lenkers geschunden. Im Sommer mußten es die nakkerten Fersen verkraften nach dem Motto »A Indeana kennt koan Schmerz«. Dieses Hightech-Fahrzeug wurde mit Vorliebe auf dem leicht abfallenden Trottoir der Georgenstraße eingesetzt. Unvorhersehbarer Gegenverkehr in Gestalt von ahnungslosen Fußgängern nach der scharf genommenen Linkskurve in die Schleißheimer Straße löste des öfteren ein Verhängnis aus. Die »Giganten« der Straße wurden nicht nur heftig beschimpft. Meistens gab es auch noch eine recht spürbare Abreibung. Es hat die hochbegabten Mechaniker nicht davon abgehalten, ihr geliebtes Fahrzeug weiterhin zu verbessern und zu verschnellern. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich auch nur ein einziges Mal mit dem Gig fahren durfte. Was habe ich verpaßt! Für die Spiele unserer Kindheit war Phantasie allererste Voraussetzung. Daheim in unserem langen Gang gab es eine Schaukel. Man hängte ein Brett in zwei stabile Seile ein, die von der Mitte des Pla66 fonds, befestigt in zwei großen Eisenhaken, herunterbaumelten. Teils aus eigener Kraft, teils von den jeweils anwesenden Sportsfreunden kräftig angeschubst, erhielt man sehr schnell enormen Schwung. War er groß genug, erreichten wir – natürlich »strumpfsockad« mühelos den oberen Küchentürrahmen. Nach und nach verschwand das vom Vater dort am Dreikönigstag mit Kreide angeschriebene »K + M + B 19..«. In die Seile konnte man auch Turnringe und eine Stange für Bauchaufschwünge einhängen. Zirkusreife Kunststücke gelangen uns da. Waren wir doch auch begeisterte Besucher des Circus Krone. Alle drei Wintervorstellungen durften wir anschauen und waren dann immer sehr angeregt. Es fehlte uns daheim eigentlich nur der Kapellmeister Jeffa mit seiner schmissigen Band und der Raubtiergeruch. Sonst war alles »wie echt«. Damals ist wenig gereist worden. Schon lange konnten die Menschen nicht mehr in die Sommerfrische fahren. Das häßliche Wort »Urlaub« kannten wir hauptsächlich nur in Verbindung mit dem Vorwort »Front-«. Wie schon erzählt, gingen wir im Sommer viel zum Baden, entweder ins »Dante« oder in die Georgenschwaige. Bei den Brüdern mit 67 ihren Freunden war vorher ein Abstecher in die Infanteriestraße obligatorisch. Dort in den Kasernen waren die Soldaten »daheim« und hatten zumindest reichlich Brot, den begehrten, wirklich köstlichen Kommiß. Dieses quadratische Vollkornbrot gibt es ja heutzutage auch noch, aber ich glaube, es ist eher ein Verschnitt, eine Art Vitalbrot für Körndlfresser. Bittscheen an Kommiß, weil ihn so gern iß, weil ihn so gern mog, drum kim i alle Dog. Damit lockten die Buben den Landsern so manches Stück ab, zumindest denen mit Herz für hungrige Poeten. Im Bad wurde das Brot in Scheiben geschnitten und auf dem sommerlich glühenden Asphalt getoastet. Und ist es nicht wunderbar, daß die Erinnerung der inzwischen über Siebzigjährigen einen ganz unbeschreiblichen Hochgenuß daraus macht? Sommerferien sind – gottlob zu allen Zeiten – lang. Da gibt es auch Regentage, die gefüllt sein wollen. Meine Kinderfreunde Bernhard und Mathil68 de Mayer wohnten bei uns im dritten Stock, wir im zweiten. Von unserem zum Hof gehenden Kammerlfenster (das Kammerl war teils Speise, teils bescheidenes Gästezimmer, später dann meine Jungmädchenkemenate) zum Mayerschen Abortfenster bauten wir eine Seilbahn. Stundenlang schrieben wir uns Briefe, die wir in einer »Kabine« vor dem Regen schützten und nach glücklicher Ankunft mit großer Spannung lasen. Sehr oft ging es um die Marotten der Weinzierlin, wenn sie sich beispielsweise immer mit dem Hausschlüssel an der Stirn kratzte, die sie unentwegt zu beißen schien. Ach, gäbe es diese Korrespondenz noch! Wenn der Bernhard einmal abberufen wurde und die kleine Schwester so gut es ging einsprang, mußte er meistens »nachreim«. Denn das Mayersche Geschirr wurde nicht nur tadellos gespült und abgetrocknet, es wurde zusätzlich noch auf Hochglanz poliert, eben nachgerieben. Diesen Küchendienst hatte Bernhard zu versehen. Auch Ballspielen war natürlich sehr beliebt bei uns. Dann rief Bernhard schon mal mit durchdringendem Knabentenor aus dem akustisch einwandfreien Hof nach seinem Vater Alois: »Aa-li-see! Aa-li-see!« Daraufhin tauchte die obere Hälfte seines zornigen Ernährers aus dem Schlafzimmer69 fenster und der Lausbub bat ganz lieb: »Wirf uns bittscheen an Boi runter!« Es gab aber auch gefährliche Spiele. Schwabing war weitgehend zerbombt. Wie ein Wunder – unser Haus blieb verschont. Den Ruinen, vor allem deren Keller, galt unser vehementes Interesse. Schilder, wie »Zutritt strengstens verboten! Einsturzgefahr!« konnten wir nicht lesen. Sogar den Diem Franzi, Liesis noch sehr kleinen Bruder, der immer »Urinen« sagte, nahmen wir mit. Die Lieben daheim durften es nicht einmal ahnen. Ganz unglaubliche Schätze haben wir ergattert: Einmal kistenweise Weinflaschen-Etiketten, ein anderes Mal Liebesbriefe, die wir uns bar jeglichen Feingefühls kichernd vorlasen – und einmal sogar ein Nachthaferl, ein »Potschamperl«, wie man damals noch sagte. In eines dieser Areale hatten wir uns eine kleine Hütte gebaut, richtig aus Ziegelsteinen, die ja haufenweise umherlagen, und mit einem schützenden Blechdach. Beim schönsten Sonnenschein verbrachten wir darin manche Ferienstunde, aßen einen Apfel, der den Hunger eher anfachte, lasen »Biene Maja«, »Puckis erstes Schuljahr« und die Hausherren sicher einen spannenden Karl May. 70 Pater Almar, der spätere Stadtpfarrer von St. Josef, ein sehr schlanker Diener Gottes mit einem markanten Gesicht und durchdringenden schwarzen Augen, versorgte uns liebevoll mit guter Literatur. »Schundheftl« haben wir nicht gekannt. Wir gingen gerne in die kleine Leihbücherei. Sie befand sich in einem Privathaus in der Adelheidstraße. In der wiedererbauten Josefskirche hat der gute Geist unserer Kindheit in einem schönen Gemälde über dem Hochaltar den ihm gebührenden Ehrenplatz. Einmal zu Weihnachten brachte mir das Christkind eine besonders schöne große Puppe, ein Prachtexemplar. Mein Glück war vollkommen, als ich sie unterm Baum entdeckte. Da sagte meine Mutter, als hätte es noch einer Steigerung bedurft, »schau her, die kann sogar alleine stehen« und stellte die Puppe vor mich hin. Diese jedoch fiel sofort um, ohne Grund und ohne den geringsten Windhauch. Der schöne Kopf bestand nur noch aus Scherben. Ich schrie wie am Spieß. Der Vater beschimpfte die Mutter, aber schon wie! So hatte man ihn noch kaum erlebt. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Fest wieder in die Gänge kam mit beschwichtigenden Liedern, Tartar und Punsch. 71 Kriegsweihnacht – Noch ist die Puppe unversehrt – In einer renommierten Münchner Puppenklinik wurde das Gesichterl wieder zusammengesetzt. Die spinnwebfeinen Fäden sahen nur die, welche von seinem tragischen Schicksal wußten. An den folgenden Weihnachtsfesten bekam meine Puppe immer ein ganz besonders schönes neues Kleid, einmal sogar einen Wintermantel mit pelzbesetzter Pellerine. Natürlich hatte ich eine wunderschöne sogar recht große Puppenküche – mit hellgrünen Möbeln, vom Vater gebastelt. Meistens kochte ich für die Brüder. Es gab in Butter gedünstete Apfelscheiben und Haferflockenbrei mit Rosinen. Dazwischen bot 72 Weihnachten mit »Bubbiwagi« und den Brüdern ich auch Phantasiegerichte an. Diese fanden dann weniger guten Absatz. Das hieß für mich: »Selber essen macht fett!« In meinen Küchenofen, um ihn in Betrieb zu nehmen, schob ich eine Eisenschiene, in 73 der drei kleine Kerzen brannten. Wie schnell kam der Inhalt meiner »Diegerln« zum Überkochen! An dieser Stelle muß ich jetzt unbedingt die Puppenküche meiner ältesten Kinderfreundin, meiner lieben Toni, vorstellen. Darin befand sich nämlich ein richtiger Brunnen, den man aufdrehen konnte, wenn der Küchenbetrieb Wasser erforderte. An die Außenwand war ein Tank montiert, der dieses Wunder ermöglichte. Das war für mich Faszination pur. Es gab nichts Vergleichbares. Toni war schon als Kind ein nobler Mensch. Machten wir in Harlaching Besuch (auch unsere Eltern waren ein Leben lang eng befreundet), überließ sie mir vorbehaltlos ihr kleines Zauberreich. Durch den Unterhaltungswert meiner Brüder ist sie aber an solchen Nachmittagen sicherlich nicht leer ausgegangen. In Griesau, wohin im letzten Kriegsjahr mit fast allem anderen Mobiliar auch meine Puppenküche gekommen war, brachte ich Cousin Ferdinand dazu, seine geliebten Hasen zu evakuieren. Er überließ mir tatsächlich den aus alten, rissigen Brettern und rostigem Gitter bestehenden Stall. Nach gründlichster Säuberung verwandelte ich ihn in ein zauberhaftes Puppenhaus. Die Hasen machten dumme Gesichter, kamen aber anderweitig wieder recht 74 Weihnachten 1944 in Griesau gut unter. So etwas ist eben auf einem großen Bauernhof kein Thema. Wenn mich meine Erinnerungen schon wieder einmal nach Griesau führen, muß ich von jenem letzten Kriegswinter erzählen, der ganz besonders streng und ganz besonders schön war. Er war so herrlich, als ob die Natur den Menschen sagen wollte: Schaut, so vollkommen kann die Welt sein – und was macht ihr daraus? Über Nacht hatte sich die Rennerwies vor den »Toren« des kleinen Dorfes in eine riesige Eisfläche verwandelt. Dicht war sie umstanden von rauhreifigen Bäumen. Verzaubertes Hochwasser! Wann immer sie von daheim loskamen, 75 schwärmten sie aus, die jungen Griesauer. Auf einmal hatte jeder Schlittschuhe. Genießerisch zog auch ich meine Kreise. Immer wieder lösten sich die Kufen von den dünnsohligen Stiefeln. Immer wieder mußten sie neu angeschraubt werden. Es gehörte einfach dazu. Den dringend notwendigen Schlittschuhschlüssel hatte man eh umhängen wie ein Amulett. Der Griesauer Feuerwehrweiher, die »Zirngibl-Hulling« war im Hochwinter natürlich tief zugefroren. Richtig interessant wurde sie aber für uns erst, als es schon ein bißchen nach Frühling roch. Die Eisfläche begann, herrlich zu schaukeln, war aber immer noch dick genug für uns und unsere »Gietscherl«, mit denen wir genußvoll auf ihr herumstocherten. Ein »Gietscherl« ist ein kleiner Schlitten, ein Einsitzer. Zu ihm gehörten zwei kurze Holzstecken, an deren Ende ein rostiger Nagel eingeschlagen ist zum Anschieben, Steuern und Bremsen. Wir kamen nicht gerade trocken heim nach so einem Nachmittag auf der Hulling; das war nichts für Warmduscher oder Schattenparker! Von der Aufhänge über dem großen holzgefeuerten Herd in der Küche tropften dann unsere eisklumpigen Schafwollsocken in den ohnehin schon dünnen Milchkaffee, der dort 76 allabendlich als Nachttrunk für die ganze Familie bereitstand. Auf den Strohmatratzen warteten vorgewärmte Ziegelsteine, bis die müden Krieger endlich kamen. Vorher reihten sich Vater und Söhne noch einmal vor dem Haus auf und hinterließen gelbliche Kunstwerke im flimmernden Schnee. Hofhund Bello sah staunend zu, ehe auch er sich in seiner Hütte verkroch. In meiner Kindheit waren alle Winter streng, oder wir empfanden es so, weil wir »nix Gscheits« zum Anziehen hatten. Durch das Selbstgestrickte der Mutter blies der rauhe Nordnordost halt einfach durch. Jedenfalls gab es viel Schnee. Im Hof bauten wir Schneeburgen, in denen wir »wohnten«, bis unsere Mütter aufkreuzten und wärmende Worte für uns fanden. Auf das Trambahngleis in der Schleißheimer Straße rollten wir gerne überdimensionale Schneekugeln. Dann versteckten wir uns in einer Sandkiste. Durch einen winzigen Bretterspalt schauten wir genüßlich zu, wie der »Siemer« (Linie 7) anhielt und der Schaffner ausstieg, um das Hindernis zu beseitigen. Sandkisten standen an allen Ecken herum. Seitlich sahen sie aus wie ein großes »A«. Sie waren für uns ein beliebter Treffpunkt. Dann 77 saßen wir schmerzlos auf der scharfen Oberkante, zogen uns manchen Schiefer in die Wadl – und schauten nach einem neuen Abenteuer aus. Unsere Reviere waren die Hinterhöfe und die angrenzenden Straßen. In den Höfen gab es noch Teppichstangen, unersetzlich zumindest für die reinliche Hausfrau. Die Klopfzeiten waren gesetzlich geregelt. Auch Matratzen, Sofas, Kanapees und nach Saisonende die Winterkleidung – ehe man sie wieder den Motten überließ – wurden beim Frühjahrsputz in den Hof geschleppt und kraftvoll ausgeklopft. Die Teppichstangen gehörten ansonsten ausschließlich uns. Wir hingen uns kniekehlengehaltert mit dem Kopf nach unten so lange an ihnen auf, bis er dunkelrot anlief. Es wurde gezählt, wer es am längsten aushielt. Über die Hinterhofmauern zu klettern, war strengstens untersagt. Deshalb hatte die Hausmeisterin Reisinger eine »Hundsbeitschn«, mit der sie die jeweiligen Missetäter verfolgte. Dieser Reisingerin kam einfach überhaupt nichts aus. Weil sie über die Erwachsenen so mancherlei zu kolportieren wußte, ihr wachsames Auge klebte immer am »Guckerl« (Spion), nannte man sie den »Völkischen Beobachter«. So hieß eine damals sehr verbreitete Tageszeitung. 78 Einer der Hinterhöfe hatte – eine besondere Attraktion – einen Brunnen. Einmal, als mein Bruder Hans seinen argen Durst an dieser Oase löschen wollte, ging ein Parterrefenster auf, eine Hexe schaute heraus und fauchte: »Fischerbua, siech Di scho beim Wasserstehln!« Die Fischerbuam wurden für jedes eingeworfene Fenster im ganzen Viertel zur Verantwortung gezogen. Sie waren leidenschaftliche Fußballspieler. Schon im zartesten Alter hoben sie mich aus dem Kinderwagen und setzten mich als Pfosten ein. Da hatte dann der Vater schon mal einen richtigen Grant, wenn es abends läutete und wieder ein kaputtes Fenster zur Reparatur angemeldet wurde. Aber viel wichtiger war es ihm, in dieser kargen Zeit für eine einigermaßen ausreichende Ernährung der Familie zu sorgen. Mit seinem Schnauferl fuhr er immer wieder zu seinem Bruder auf den Bauernhof nach Griesau. Er half ihm bei der Ernte und tauschte ganz nebenbei noch ein Paar schöne polizeiliche Reitstiefel in ein Trumm »Greichaz« (Geräuchertes) um. Gestohlen hat er die Stiefel bestimmt nicht, aber halt günstig gekriegt. Mit einem großen, prall gefüllten Rucksack auf dem Buckel ratterte er zur hungrig wartenden Familie zurück. 79 Oben aus dem Rucksack schaute schrägen Blicks der Kopf eines quicklebendigen Gokkerls heraus. Er wurde, damit er fangfrisch blieb, erst an seinem Bestimmungstisch geschlachtet. Für Tierschützer: Das Federvieh hat an seinem Lebensende immerhin noch eine wunderschöne Motorradfahrt gehabt! Übrigens: Hamstern war strengstens verboten. Überall wurde kontrolliert. Der Staatsdiener hätte im Ernstfall riesige Probleme bekommen. Aber nicht umsonst hieß es in der Familie, er sei der Mann ohne Nerven. Natürlich reiste unser Vater auch mit dem Zug in seine Heimat, die er bis an sein Lebensende innig liebte und wo er stets die herzlichste Aufnahme fand. Es kam immer wieder einmal vor, daß er sich vor der Abreise mit der Zeit vertan hatte. Dann sprang er in letzter Sekunde auf den schon anfahrenden Zug. Wir haben ihn nie zum Bahnhof begleitet. Die damals erforderlichen Perronkarten (ein Zehnerl pro Nase) waren nicht im Etat. Spätestens kurz nach Freising verfaßte er die Postkarte an seine Familie. Ich sehe sie noch vor mir: »Liebe Paula, liebe Kinder! Bin gut angekommen …«. Er konnte sie dann in Radldorf, seinem kleinen Zielbahnhof, gleich einwerfen. Diese Mischung aus Gottvertrauen 80 und Pragmatismus hat ihn gut durchs Leben gebracht. In Radldorf erwartete ihn sein Bruder mit Pferd und Wagen. Dann ging es im gemütlichen Trab – einer rauchte, einer schnupfte – eine gute Stunde lang über die Dörfer nach Griesau. Immer in den großen Ferien, zur Erntezeit, reiste die Familie mit. Wir liebten das Landleben. Das war die große Freiheit! Wenn wir ankamen, gab es jedes Mal Rühreier und eine Milch von der Kuh, die ich nicht mochte. Aber wir mochten die Tante, den Onkel, die Cousins und Cousinen. Streit gab es selten. Eher haben wir solidarisch von ihnen die ein oder andere Kinderkrankheit übernommen. Cousin Georg, der »Girgl« oder »Schos«, war ganz unglaublich eitel. Nie kam er in die Küche, ohne einen prüfenden Blick in den Spiegel zu werfen, der neben dem Fenster hing. Das reizte uns. Wenn der Girgl tief im Roßstall seiner Arbeit nachging, pflanzten wir uns vor der Tür auf und riefen: Da Girgl is a scheena Mo, hat hint und vorn a Sackl dro. Dann schoß er mit der Mistgabel heraus, drauf und dran, uns aufzuspießen. Das war nicht ungefährlich. 81 Er erwischte uns nie. Unter Hundegebell, aufschreckenden Hühner-, Gänse und Entenscharen, zeternd aus dem Haus laufenden Müttern haben wir uns einfach in Luft aufgelöst. Schon eine Stunde später konnte man ihm wieder gefahrlos begegnen. Der schöne Girgl war überhaupt nicht nachtragend. Eine ganz besondere Attraktion war natürlich die Kanzlei des Onkels, des damaligen Bürgermeisters von Griesau. Mein Cousin Ferdinand und ich warteten oft ungeduldig, bis er aufs Feld fuhr. Immer wußten wir, wo der Schlüssel versteckt war. Sofort übernahmen wir die Amtsgeschäfte. Der Ferdinand diktierte mir unermüdlich die Namen der Dorfbewohner und ich legte immer wieder neue Listen an, die wir nach Vollendung reichlich bestempelten. Wurden wir vom Heimkehrenden überrascht, gab es einen riesigen Krach und wir empfanden es jedes Mal als eine Vertreibung aus dem Paradies – das so wunderbar nach Schnupftabak roch. Der »Engel mit dem Flammenschwert« konnte sakrisch fluchen. Aber wir fürchteten ihn nicht. Hatte er sich ausgeschimpft und ein neues Versteck für den Schlüssel gefunden, war alles fast wieder gut. 82 Den Schnupftabak liebte der Onkel über alles. Diesen Duft hatte nicht nur die Kanzlei angenommen, er umgab den Genießer stets wie ein hartnäckiger Morgennebel. Mein Onkel Hans war ein gelassener Mensch, der so manches an ihn herangetragene Problem mit einem wegwerfenden »Papperlapap« löste. Verwundungen, ohne die ein Landmann kaum auskommt, wurden entweder mit Urin sterilisiert oder mit Wagenschmiere behandelt, und zwar erfolgreich. Er war im übrigen ein hervorragender Bürgermeister. Als gegen Kriegsende die ersten Flüchtlingsströme aus dem Osten das kleine Dorf erreichten, sorgte er rührend für deren Unterkunft in den Häusern, Ställen und Scheunen der einzelnen Höfe. Die Übriggebliebenen nahm er mit heim, auch wenn die Möglichkeiten dort schon mehr als erschöpft waren. Irgendwie ging es immer. Eine Geschichte paßt hierher, die in diesen Erinnerungen nicht fehlen darf. Meine Cousine Paula, damals 16 Jahre jung, hatte wunderschönes Haar und durfte sich eines Tages im nahe gelegenen Straubing ihre erste Dauerwelle machen lassen. Ich muß anführen, daß ich meine langen Zöpfe – unabhängig von den quälenden Ent83 lausungsprozeduren – haßte. Ständig flehte ich meine Mutter an, sie mir doch abzuschneiden. Ich biß auf Granit. Als ich nun die Paula in blonder Lockenpracht und jugendlicher Schönheit sah – ich absolvierte gerade meine »häßliche Entleinphase« – drehte ich durch, weinte herzzerreißend, verlangte heftig und sofort nach ebensolcher Ansehnlichkeit. »Wenigstens obschnein«, schluchzte ich – umsonst. Mein Onkel Hans konnte dieses Affentheater nicht mehr ertragen. »Soll i Dirs obschnein?« fragte er schelmisch und mitten in den Feierabend hinein, den er – auf solche Weise problembeladen – nicht so richtig genießen konnte. »Ja«, sagte ich mit der Überzeugung, dieses Ansinnen sei einer seiner Späße, zu denen ein echter »fisherman« zu jeder Zeit aufgelegt ist. Plötzlich fühlte ich des Onkels Schere – mit der er wohl sonst »an Kaiweschdrieg« (Kälberstrick) ins rechte Maß brachte – an einem meiner Zöpfe. Zutiefst erschrocken, begann ich dermaßen zu schreien, daß der Rest der in der Küche versammelten Familie panikartig in den ersten Stock floh. Meine Mutter schrie am meisten, obwohl es ja nicht ihre Haare waren, blieb jedoch an 84 meiner Seite, um weitere Verstümmelungen zu verhindern. Mein Onkel lachte zu all dem, dachte sich vermutlich »hysterischs Weibervolk«, nahm eine Prise aus der Schnupftabaksdose und wartete souverän ab, bis der Sturm sich legen würde. Nach und nach kam die Familie aus der Emigration zurück. Wie in eine Krankenstube, traten sie zögerlich ein. Dann aber bekam der Figaro eine gehörige Abreibung von seiner Angetrauten. Natürlich maulte ihn auch meine Mutter wortreich an. Aber – er hatte es ja nur gut gemeint, konnte das Kind nicht leiden sehen. Der Menschenfreund in ihm war zur Tat geschritten. Verstehe einer uns Frauen … (denn eine kleine Frau ist man auch schon mit zehn Jahren): Am Ziel meines sehnlichsten Wunsches verließ mich die Zivilcourage – zugunsten meiner Zöpfe, die ich noch bis zu meinem 15. Lebensjahr behalten mußte. Noch lange schaute aus einer meiner Flechten ein stattliches Pinserl heraus, der Anfang eines Bubikopfes, beinahe kreiert von einem liebevollen Onkel und verhinderten Meister des Friseurhandwerks. Dünn ist oft das Eis, auf dem der Helfer kommt … 85 Ein Erlebnis, das der vorangegangenen Geschichte an Dynamik nicht gleichkommt, sei dennoch hier angehängt: Eines Tages wurde ein Schwein geschlachtet. Das war damals strengstens kontingentiert, wenn nicht weitgehend überhaupt verboten. Mein Onkel als Bürgermeister sollte eigentlich mit gutem Beispiel vorangehen. Der Hunger einer Großfamilie schreibt jedoch eigene Gesetze. Ich sah bei dieser Exekution zu, obwohl es mir schlecht wurde. Meine Vorfreude auf ein recht bald zutage kommendes »Greichaz« (das für mich den höchsten aller kulinarischen Genüsse darstellte) aber minderte den Brechreiz, schmälerte auch die Gefahr, ohnmächtig auf die quietschende Sau zu fallen. Das Geräucherte kam natürlich nicht zum Vorschein. Meine grenzenlose Enttäuschung ertrank im Hohn meiner Cousins und Cousinen, den sie bis zum heutigen Tage bei diesem Thema zurückzudämmen nicht in der Lage sind. Das Stadtkind weiß längst, daß es ein langer Prozeß ist, bis ein gutes Geräuchertes auf den Tisch kommt. Es wird von ihm mit unverminderter Leidenschaft genossen. Nach dieser riesigen Blamage war ich um so mehr darauf erpicht, ein echtes Landkind zu werden. Ich lernte »Gäns schoppa« (mästen) und »Taubn kropfa« (das übersetze ich 86 lieber nicht), nahm ohne Stein in der Magengrube am Giggerlschlachten teil. Meine rauhbauzigen Cousins ließen die armen Geschöpfte nach dem entscheidenden Hieb noch gerne ein bißchen kopflos durch Lüfte geistern. Wenn wir sie dann genüßlich verspeisten, war jeder scharf auf ein rechtes Haxerl. Man sagte, das linke sei zäher, weil darauf die bekanntlich langen Nächte des Federviehs durchstanden werden. In den letzten drei Monaten vor Kriegsende stellten die Tiefflieger eine beinahe tägliche Bedrohung für uns dar. Die Bauern auf dem Feld und wir Schulkinder auf der Landstraße waren ihnen schutzlos ausgeliefert. Sie überflogen uns so tief, daß wir die Gesichter der Piloten erkennen konnten. Sie aber mußten unsere Angst gesehen haben, denn sie taten uns nichts. Wenn alles vorbei war, setzten wir unseren Weg fort und sangen uns den Schrecken von der Seele. »Marianka, komm laß dich küssen« und »Schwarzbraun ist die Haselnuß« waren unsere Lieblingslieder. Einmal hat meine Mutter in verständlicher Besorgnis meinen Cousin Kurt losgeschickt, damit er mich mit dem Rad vom Schulweg abfangen und schnellstens in häusliche Sicherheit bringen konnte. 87 Ich erkannte das Manöver sofort. »Schau daßd weidakimmst, i geh mit de andern hoam«, rief ich ihm schon von weitem zu. Kurt aber nahm den Auftrag seiner energischen Münchner Tante sehr ernst. Er verpaßte mir eine Riesenwatschn, setzte mich auf den Gepäckträger seines Radls und brachte mich heim. Sofort rannte ich Zicke zu seiner Mutter: »Tante Hedl, Tante Hedl, der Kurt hod mia a Watschn gebn!« Die Tante Hedl, ohne sich einer genaueren Sachlage zu vergewissern und weil es halt bei ihrem Kurt mehr oder weniger immer angebracht war, gab ihm sofort eine Doppelpakkung zurück. Es war eine Watschn-Transmission, wie sie in dieser Perfektion nur ein oberpfälzisches Temperament zustande bringt. Das hört sich schlimm an, kann es aber nicht gewesen sein. Denn der Kurt erzählt diese Geschichte heute noch mit dem allergrößten Vergnügen. Seine erzieherische Maßnahme, zu der er kriegs- und auftragsbedingt gezwungen war, zergeht ihm sozusagen immer wieder auf der Zunge. Wenn das Rundfunkprogramm unterbrochen wurde und ein mehrmaliger Kuckucksruf 88 ertönte, mußte man auf einen Spezialsender, nämlich auf den »Laibacher« umschalten. Dann wußten wir sofort, woher ein feindliches Geschwader im Anflug war. Zwischen den einzelnen Meldungen machte der Sender »tacktack-tack-tack«. Das bedeutete weitere Ansagen und man mußte dranbleiben. Der kleine schwarze Volksempfänger mit dem kreisrunden Loch, das wie zugehäkelt aussah, war schon recht oft von seinem wackeligen Holzpostamentl heruntergefallen. Im entscheidenden Moment verweigerte er immer wieder einmal seinen Dienst. Vielleicht hatte er aber auch nur all die schlimmen Nachrichten satt und wollte uns nicht aufregen. Einmal geriet der Onkel Hans deswegen so in Rage, daß er ihn mit voller Wucht auf den Boden schmetterte. Diese Reparatur hat ihn zwar nicht umgebracht, aber auch nicht gnädiger gestimmt. Meine Mutter und ich gingen dann oft zu den Nachbarn. Wollten wir doch hauptsächlich auch hören, wie es um München stand. Für unmittelbare Gefahren hatten wir aber das absolut zuverlässige Frühwarnsystem in Gestalt des Hofhundes Bello. Wenn er sich hinter den Ofen verkroch, hatte er es entweder satt, die Kleider meiner großen Puppe aufzutragen oder es kamen Tiefflieger, die er bis zu zwei Stunden vorher witterte. 89 »Oh mei, da Bello is hinterm Ofa«, hieß es dann. Hatte er keine Kleider an, wurde es ernst. Das Kriegsende erlebte ich in dem kleinen Dorf Griesau, zwischen Regensburg und Straubing gelegen. Ich war damals ein 10jähriges Mädchen mit bis zur »Poebene« reichenden dicken Zöpfen, die meistens verlaust waren. Die von meiner Mutter angeordneten Petroleumpackungen, die ich haßte, hatten nur eine vorübergehende Wirkung. Der ebenso verachtete Lauskamm gehörte wie das Zahnbürschtl zu den lästigen Dingen, wenn der Tag begann oder ging. Nach kürzester Zeit beherrschte ich den niederbayerisch-oberpfälzischen Dialekt akzentlos. Noch heute weiß ich: Es geht – auf Rengschburg ei – auf Schdraubing oi – auf Minga affe – auf Amerika hintere. War ich anfänglich noch der »Schdodfrack mim Saugnack« (Stadtfrack mit dem Schweinegenick), so legten sich diese Vorurteile eigentlich recht schnell. Immer ist die Sprache das Überbrückende. Meinen Freundinnen überließ ich ohne zeit90 liche Begrenzung alles mitgebrachte Puppenzeug und war glücklich, wenn sie mir dafür zeigten, wie wunderschön man einem »Maisdoggerl« Zöpfe flechten kann. Wir umarmen uns fest, wenn wir uns alle heiligen Zeiten wiedersehen. Und hier ist vor allem Stilla nicht wegzudenken! Dieses Griesau war »mein« Dorf geworden. Es m u ß t e das Ende des Krieges überleben – und wir auch! In den Wäldern hatten sich restliche SSEinheiten verschanzt. Einzelne junge SS-ler versteckten sich schon bei den Bauern und versuchten, das in ihre Haut eingebrannte Zeichen herauszuschneiden. Unsere gute Stube war von einem zackigen Major zum Gefechtsstand erklärt worden. Hohe Militärs gingen aus und ein. Immer noch verkündeten sie den Endsieg. Dabei hatten die Amerikaner die Ortschaft Pfatter, 3 km westlich von Griesau, längst eingenommen. Sie fingen an, über uns hinweg in die Wälder zu schießen. Die letzten deutschen Soldaten verschwanden. Vorher hatten sie noch heimlich eine wunderbare Torte verzehrt. Sie war anläßlich der elterlichen Silberhochzeit von Tochter Anni buchstäblich aus dem Nichts gezaubert worden. Einzelne Soldaten hatten uns noch geraten, 91 das Dorf zu verlassen und in die Wälder zu fliehen. Es wäre falsch gewesen. Wo aber sollten wir Schutz finden? Panische Angst und Ratlosigkeit nahmen von Stunde zu Stunde zu. Schließlich flüchteten wir in den Kartoffelkeller. Das war ein kleiner Schuppen mit relativ dicken Mauern und einem winzigen Fenster. Wir kauerten uns auf die harten Kartoffelberge, froren und warteten. Ich weiß noch genau, daß mich meine Mutter fragte, »warum woanst denn gar so« und ich antwortete, »weil i zum Babba mecht!« Der Babba aber hatte schon eine Abordnung losgeschickt in Gestalt meines jüngeren, damals 16jährigen Bruders, den er nicht nur als männlichen Schutz für Frau und Tochter bestimmte, dem er auch das möglicherweise doch recht gefahrvolle Kriegsende in München ersparen wollte. Es war 7 Uhr früh, als der Hans sein Fahrrad inspizierte (der Bahnverkehr war längst eingestellt) und dann kräftig in die Pedale trat. Er hatte gute 120 km vor sich und einen gesunden Lebensmut. Auftrag und Vertrauen des Vaters beflügelten ihn. Nach relativ kurzer Zeit wurde er von einer Lastwagenkolonne der deutschen Armee überholt. Weil er der »Hans im Glück« war, warf ihm ein Soldat ein Seil zu, das er auffing 92 und so als Schlußlicht des Konvois seine Reise fortsetzen konnte, bis er das Brummen von Tieffliegern hörte und das Rattern von Maschinengewehren. Da mußte er sich schnell entschließen, seine Fahrt zwischen den Fronten auf Feldwegen fortzusetzen. Er erreichte uns gottlob unverletzt, ja eigentlich recht unverdrossen – im Kartoffelkeller. Unsere Freude kann man nicht beschreiben. Man begrüßte ihn allseits und zurecht wie einen Helden. Er genoß es, wenn er auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte, wie wirklich heldenhaft er noch sein mußte. Die Amerikaner begannen, immer heftiger zu schießen. Zwischendurch schlug es auch ganz nah ein. Es schienen leichtere Geschosse zu sein. Nichts brannte. Nichts ging in die Luft. Aber wir waren auf alles gefaßt. Verzweiflung breitete sich aus. Man trug den Briefträger Zirngiebl herein, der aus unerfindlichen Gründen die Dorfstraße überquert hatte und angeschossen worden war. Ein Bein, das ihm später amputiert wurde, blutete schrecklich. Er schrie. Das war nun nicht mehr mit den von mir erlebten Luftangriffen in München zu vergleichen. Das war viel, viel schlimmer. Mein Onkel schien der einzige zu sein, der furchtlos war. Für ihn gab es nur eine einzige 93 Überlegung: Im richtigen Augenblick die weiße Fahne zu zeigen. Dafür brauchte er die absolute Sicherheit, daß auch der allerletzte SS-Mann außer Reichweite war. Endlich schien der richtige Moment gekommen zu sein. Onkelchen und Bruder brachen auf. Hans mußte mit – da gab es keinen Pardon – weil er Englisch konnte. Wie war ihnen zumute, den beiden Hansen, die sich sonst eher in den Haaren lagen? Der Onkel liebte es nämlich überaus, den zum Jähzorn neigenden Neffen ständig herauszufordern. Schon als kleiner Bub hatte dieser einmal in kochender Wut gedroht: »Onkel Hans, i reiß Dir Dei Haus ei!« Nun zogen sie gemeinsam mit der hoch erhobenen weißen Fahne vors Dorf, den anrollenden Panzern entgegen. Der erste schwenkte sein Geschütz zuerst spielerisch hin und her, um es dann eindeutig auf die beiden Gestalten zu richten. Alles ging gut. Tapferkeit, Demutsgebärde und Schulenglisch führten zu einer ersten Verständigung. Das Dorf und wir alle waren gerettet! Diese erste amerikanische Kampftruppe, mit der wir es zu tun bekamen, bestand fast nur aus dunkelhäutigen Soldaten. Mit Herzklopfen und großem Staunen betrachteten wir diese Riesen, die unsere letzten Lebensmittel94 vorräte vertilgten. Unentwegt mußte meine Tante »ham and eggs« für sie zubereiten. In ihrem Verhalten waren diese Amis dennoch eher freundlich als bedrohlich Manchmal legten sie sich in voller Montur in unsere Betten. Da es sehr kalt war, stellten sie überall Kerzen auf und wir hatten Angst, daß sie das Haus in Flammen setzen könnten. Einmal fragte einer nach Schmuck und sonstigen Wertgegenständen. Meine ängstliche Mutter übergab ihm ihre kleinen Juwelen und als Zugabe noch einen Fotoapparat. Bruder Hans hielt mich an, stets freundlich zu sein und im richtigen Augenblick »my name is Mary« zu sagen. Das brachte mir manches Gelächter ein, aber auch den ersten Cadburry. Alles in allem bekamen wir immer mehr das Gefühl, daß uns jetzt nicht mehr viel passieren konnte. Wir Kinder kamen in den lang entbehrten Genuß von Orangen und Bananen, lernten den Kaugummi kennen. Jeden Abend fielen wir in einen wunderbaren Tiefschlaf, ohne Angst vor Bomben und Tieffliegern. Um den Rest kümmerte sich der schöne Jagdhund Bello, welcher seit dem Einmarsch der Befreier seinem Revier verschärfte Aufmerksamkeit schenkte. Nur einmal übertrieb er es; ließ Cousine 95 Paula und mich – von einem Abend-Ratsch bei den Nachbarn kommend – nicht mehr in den Hof. Natürlich hatten wir die bei Eintritt der Dämmerung verhängte Ausgangssperre mißachtet. »Curfew« sagten die Amerikaner dazu. Aber der Bello verstand doch nur das Oberpfälzische …? Paula legte los, gab ihm Schimpfwörter, die sie sonst nur ihren Brüdern angedeihen ließ, wenn sie mit dreckigen Stallschuhen die frisch geputzte Küche zu betreten versuchten. Da flogen ihnen schon auch einmal Schrubber und Besen entgegen und mancher Putzlumpen (Hadern) legte sich malerisch um ihre jungen Schultern. »De Weiß«, so wurde sie wegen ihrer schönen hellblonden Haare genannt, entzog sich – einmal in Rage gebracht – jeglicher Bändigung. Natürlich wurde sie auch mit Bello fertig. Nach einer angemessenen Einwirkzeit der paulinischen Kosewörter winselte er um Vergebung, die ihm auch sofort zuteil wurde. Seine Augen signalisierten uns: Schauts, i bin hoid aa nur a Mensch! Paulas »damischer Deife, damischer« klang dann ja auch schon fast wieder zärtlich. Paula konnte im übrigen kraxeln wie eine Katze. Waren die Kirschen reif, thronte sie im obersten Geäst. Den nachrückenden Brüdern 96 spuckte sie so viele bereits zurechtgelegte Kerne entgegen, daß diese gerne auf jegliche Vitaminzufuhr verzichteten. Es muß angefügt werden, daß ich meiner Cousine Paula mit diesen Überlieferungen kein unfreundliches Denkmal setzen will. Ganz im Gegenteil! Und Denkmal schon gleich gar nicht. Sie ist gottlob putzmunter – und herzensgut. Noch eine kleine Geschichte, die von der Sehnsucht des Polen Roman nach seiner Heimat handelt. Er war als Knecht in einem Griesauer Bauernhof untergekommen. Eines Tages versuchte er, mit einem heimlich selbstgebauten »Flugzeug« der Ungewißheit des Kriegsendes in der Fremde zu entkommen. Heim wollte er. Als es soweit war, stellte er seine sonderbare Konstruktion auf ein Stadldach und landete Sekunden später unversehrt auf einer Wiese. Gänse und Enten stoben auseinander, als hätten sie den Leibhaftigen gesehen. Nun mußte er abwarten, ausharren, kehrte erst zu den Seinen zurück, als die Amerikaner gekommen waren, aber nicht, ohne im Dorf einen niedlichen »Maly Polak« zu hinterlassen. Vielleicht hat er es von seinem Vater ererbt, daß Mut und Zuversicht Stimulantien sind, 97 ohne die unser Leben nicht gelingen kann – Bruchlandungen eingeschlossen. An einem Julitag im Jahr 1945 nahmen wir Abschied von Griesau. Er war schwer und leicht zugleich. Niemals in meinem Leben werde ich die Herzlichkeit und die Großzügigkeit der Verwandten vergessen, mit der sie uns aufgenommen hatten und ein schweres Jahr hindurch zur Seite standen. Mein Vater organisierte einen Lastwagen, der meine Mutter, mich und das Allernötigste zunächst bis Landshut mitnahm. Von dort aus ging es dann mit einem anderen Laster, der Mehl transportierte, weiter bis München. Sehr ängstlich saßen wir hoch oben auf den Säcken. Das heißt: Eigentlich saßen wir auf den Speichen unserer Fahrräder, die man kurzerhand auf die Säcke warf, ehe wir »einchecken« durften. Wir gelobten eine Wallfahrt, sofern wir diese Reise überstehen würden. Wir beide haben diese Wallfahrt auch gemacht: zu Fuß von der Georgenstraße nach Maria Eich und wieder zurück. Am nächsten Tag litten wir an einem schrecklichen Durchfall. Es war zu viel gewesen. Der Herrgott hat sicher seine Stirn gerunzelt. München sah furchtbar aus. München war ein Trümmerhaufen, aber München war die geliebte Heimat. 98 Vielleicht ist es ein Relikt aus dieser Zeit, daß ich diese Stadt so ungern verlasse – und wenn es nur für einen Tag ist. Dieses aus Schutt und Asche wiedererstandene München ist so schön, daß ich mich nie daran satt sehen werde. Gleich ums Eck bei uns, in den noblen Giebelhäusern der Winzererstraße, wo in den großen Wohnungen ehemals nur Betuchte lebten, hatten sich die Amerikaner einquartiert. Von unserem Küchenfenster aus konnte ich in die Hinterhöfe schauen. Ich beobachtete, daß zu bestimmten Zeiten der amerikanische Koch in großen Mengen Küchenreste in den Gulli schüttete. Natürlich hatten das auch andere mitbekommen. Immer wieder versammelte sich eine hungrige Meute um diesen herzlosen Menschen, der vor unseren Augen Kakao, Suppen und andere Kostbarkeiten vernichtete. Aber – es gab einen Schichtwechsel bei den Köchen. Auch das hatten wir herausgefunden. Mit Haferln und Schöpflöffeln ausgerüstet, bildeten wir einen Kreis um die »Stellvertreter«, bis uns ein freundliches Lächeln zum Zugreifen aufforderte und wir mit reicher Beute heimkehren konnten. Einmal wurde ich von ein paar Buben aus der Warteschleife geboxt. Ich nahm meinen Schöpflöffel und drosch mit ungekannter 99 Kraft so lange auf sie ein, bis ich freie Bahn hatte. Wollte ich doch um jeden Preis etwas von dem Kaffee- und Teesatz ergattern, der an diesem Tag im Angebot war. Daheim wurde er noch einmal aufgebrüht und herzhaft genossen. Es gab in der Familie zwei starke, zwei leidenschaftliche Raucher: Meine bei uns wohnende Tante und meinen Vater. Die amerikanische Besatzung hinterließ auf den Straßen viele, relativ lange Kippen. Von den meisten deutschen Rauchern wurden sie eingesammelt. Zuhause entstand eine neue Marke, made in Bavaria. Profis hatten einen Spies, damit sie sich das ständige Bücken ersparten und auch das Demütigende ihrer Handlung besser zu verbergen war. Auch ich war gehalten, Kippen zu sammeln. Obwohl von Natur aus keine Unternehmerin (aber mit einem bewährten Hang zur Bequemlichkeit ausgestattet), versuchte ich ein Geschäft. Das noch gut erhaltene Radlrutsch meiner Brüder verlieh ich an die Spielkameraden: Einmal um den Block fahren – drei Kippen. Es rechnete sich. Am Abend war mein Kisterl voll und ich erhielt Lob. Liebend gerne hätte ich mein Geschäft erweitert und auch das Dreirad von Freund 100 Bernhard eingesetzt. Aber er durfte es »von daheim aus« nicht herleihen; allenfalls überließ er es seiner jüngeren Schwester, die immer nur damit umfiel. Natürlich hatten wir auch in unserem Heimgarten Tabak angebaut. Eine bescheidene Plantage! War es endlich soweit, wurde die Ernte getrocknet, fein geschnitten, mit Apfelschalen aromatisiert und auf dem Ofengrandl in Blechdosen so lange der Vollendung zugeführt, bis Herr Davidoff vor Neid grün geworden wäre. Die beiden Genießer sind im übrigen sehr alt geworden, mein Vater sogar 94 Jahre. Sein letzter Wunsch, zwei Tage vor seinem Tod, war eine Zigarre … Meine Philosophie, daß wahre Leidenschaft im Grunde etwas Lebenserhaltendes sein kann, sieht sich an dieser Stelle bestätigt. Schon recht bald nach Kriegsende kehrten die Ausgebombten und Evakuierten in ihre Heimatstadt zurück und staunten erst einmal, was ihnen Herr Hitler hinterlassen hatte. Nach und nach füllte sich auch unser Haus wieder mit Leben. In den Höfen der zerstörten Nachbaranwesen entstanden Heimgärten – auf Schutt und Asche. Wir hatten zudem 101 Hühner und einen bitterbösen Gockel, der manchen Dieb verscheuchte. Das ihm eigentlich zugedachte Ende schoben wir deshalb immer wieder hinaus. Auch die Freunde Mathilde und Bernhard kamen zurück. Sie brachten Bildungshunger mit, wollten bei mir das Klavierspiel erlernen. Mein Lehrer war ein guter Freund und Kollege meines Onkels. Er erhielt für den mir erteilten Unterricht ein Mittagessen, das er ungeheuer zu schätzen wußte. Meine beiden Klavierschüler kamen meistens am Freitag-Nachmittag in die Stunde. Vorher waren sie gebadet und frisch angezogen worden. Mit noch verschrumpelten Wasserfingern versuchten sie redlich, dem Instrument perlende Tonleitern, Kadenzen und – zu meinem bis heute ungebrochenen Stolz – auch die ersten Mozart-Sonatinen zu entlokken. Bernhard war begabt, Thildchen – auch einige Jahre jünger als ihr Bruder – weniger. Dafür war sie ein fleißiges Lieserl und kam wirklich sehr oft zum Üben. Im Mayerschen Haushalt gab es kein Piano. Und jetzt sehe ich die kleine Thilde vor unserer Wohnungstür stehen, höre sie fragen: »Schlaft da Herr Schnawe no?« Der Herr Schnawe hieß Schnabl. Er war mein nach fünf Jahren russischer Gefangen102 schaft inzwischen heimgekehrter Onkel, der mit Tante Elli bei uns wohnte. Als nächtens wirkender Paganini schnarchte er weit und laut in den Tag hinein. Der Familienbetrieb war auf pianissimo getrimmt. So wurde Thilde des öfteren auf »ein Stünderl später« vertröstet. Sie kam pünktlich wieder wie der Elf-Uhr-Zug. Nicht, daß wir meinen Onkel respektiert oder gar gefürchtet hätten. Auf eine sehr zarte Weise haben wir ihn sogar geliebt, weil er unseren Sinn für Humor schärfte und an guten Tagen auch wertvolle Ratschläge an uns weiterleitete. Wenn er aber mit abstehendem Resthaar im wallenden braungelb gestreiften Bademantel bisweilen ganz unverhofft das »Musikzimmer« erstürmte, »Gis! Gis! Gis!« bellte und dieser Halbton auch noch mindestens zwanzigmal hintereinander in cholerischer Lautstärke instrumental von ihm erzeugt wurde, erschien er uns doch ein wenig uncool. War die Luft rein, sagte Bernhard meistens völlig unbeeindruckt: »Heit hat er wieda sein Narrischn!« Ach, wäre er doch ein tauber Beethoven gewesen. Unser Spiel hätte seine Unschuld behalten. 103 Im Herbst 1945 kam ich in die Simmernschule. Nachdem das kriegsbedingt vielfach unterbrochene Landschuljahr in Pfatter nicht unbedingt eine gute Voraussetzung für den Übertritt ins Gymnasium war, entschied man sich für ein fünftes Volksschuljahr. Der Weg war sehr weit von der obersten Georgenstraße in die Simmernschule im tiefsten Schwabing. Wir waren ein ganzes Rudel. An warmen Tagen durchquerten wir gerne den Luitpoldpark. Dort gab es ein Standerl, das der von uns hochgeschätzten »Eismutti« bescheidensten Lebensunterhalt zu sichern schien. An manchen Tagen schenkte sie uns eine Kugel von ihrem Wassereis oder sagte »zoit ses a andas moi«, ohne daran die geringste Hoffnung zu knüpfen. Sie war halt eine richtige Mutti, aber nicht aus Eis … Die Tilgung unserer kleinen Schulden wäre sicherlich ein Problem geworden. Taschengeld kannten wir nicht. Heutzutage wird es von manchen Kindern gerichtlich bei den Eltern eingefordert. Es war eine andere Zeit. Im übrigen bin ich in Pfatter sehr gerne in die Schule gegangen, habe mich dort außerordentlich wohlgefühlt. Der Schulleiter war ein Nazi. Erstaunlicherweise wurde trotzdem vorm Unterricht gebetet. An das »Gelobt sei Jesus Christus« mußte natürlich ein zackiges 104 »Heil Hitler« angehängt werden. Wir haben dazwischen nicht einmal geatmet. Unsere Lehrerin, Herrin über vier Schuljahrgänge in einem Klassenzimmer, war dick und gemütlich. Im Winter durften wir Griesauer unsere nassen Schuhe ausziehen und an den bullernden Ofen stellen. Sie hat auch nie geschimpft, wenn wir zu spät kamen. In der Bank vor mir saß eine meiner Freundinnen. In ihren blonden Locken sah ich viele Läuse herumkrabbeln. Es hat mich nicht gestört. Die Spielgefährtin war mir schon viel zu sehr ans Herz gewachsen. Meine dicken langen Zöpfe blieben nicht lange verschont. Um in die Schule radeln zu können, hat mein Vater ein Rad für mich gebastelt. Leider fand er kein passendes Damengestell. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich vom Herrensitz gefahrlos herunterkam. Solange fuhren meine Freunde voraus, um mich in großer Parade vor der Schule in Empfang zu nehmen. Es war immer ein bißchen spektakulär, aber auch lustig, jedenfalls das einzig Richtige, bis ich eines wunderschönen Tages den hohen Auf- und Absteige-Beinschwung über meinen Drahtesel beherrschte. Mein Vater konnte aber nicht nur ein tadellos funktionierendes Rad bauen. Im Grunde genommen war er ein Allroundgenie: Schreiner, Maler, Tapezierer, Elektriker, Installateur, 105 Gärtner, Hühnerzüchter, Koch, Schuster, Schneider, Krankenpfleger, Hausmann. Und ganz »nebenbei« auch noch Polizei-Kommissar. So betreute der Schuster in ihm das Schuhwerk der ganzen Familie. Aus einem Stück Holz und gefundenen Lederriemen fertigte er kunstvoll meine ersten Sandalen an, mit denen ich genüßlich die Treppen hinunterklapperte. Meine Mutter hatte zeitlebens nur e i n Bügeleisen, das immer wieder seinen Geist aufgab, aber auch immer wieder seiner Bestimmung zugeführt wurde. Bei elektrotechnischen Problemen wurde allerdings stets Herr Weinzierl vom 1. Stock zugezogen, von dem wir alle glaubten, er habe dieses Handwerk einmal erlernt. Erst jetzt, Jahre nach seinem Tod, erfuhren wir, daß er auf diesem Felde Autodidakt war und das Fehlen seines rechten Armes in irgend einem unglückseligen Zusammenhang damit stand. Herr Weinzierl und mein Vater waren in all den Jahren ein starkes Team geworden. Etwas makaber formuliert, hieß die Devise: »Nicht verkohlen, Weinzierl holen!« Auch die anfällige Waschmaschine überstand ihre Krankheiten unter der Obhut der beiden Meister. Als sie schon altersschwach war und immer wieder das Bad unter Wasser 106 setzte, waren ihre Dompteure über neunzig und wurden ihrer nicht mehr Herr. So setzte sich mein Vater, wenn er Waschtag hatte, mit dicker Zigarre und Kirchenzeitung geduldig neben sie, um bei den ersten Anzeichen von Blasenschwäche gleich eingreifen zu können, das heißt, sie abzuschalten und zu warten, bis der Anfall vorüber war. Auch das »Weißeln« war seine Domäne. Als die Tapeten wieder aufkamen, erhielt er stets tatkräftige Unterstützung von der entsprechend ausgebildeten bzw. hochtalentierten Verwandtschaft im Haus. An nicht einsehbarer Stelle vermerkte er immer das Renovierungsdatum, damit er die Damen des Hauses im Griff hatte, wenn ihnen allzu schnell wieder der Sinn nach einem neuen Muster stand. Als er im hohen Alter wieder zu jugendlicher Schlankheit gelangt war, änderte er seine Garderobe selbst ab. Auch die vom wohlbeleibten Schwager ererbten Anzüge paßte er sich mühelos an. Heutzutage gibt es das Wort »Multitalent«. Ich glaube, mein Vater hätte dieses Prädikat nie für sich beansprucht. Auf ihn passen die alten Erfahrungen, daß alles, was man gerne tut, gut wird, daß Not erfinderisch macht und daß eine wohlgetane Arbeit sichtbar gewordene Liebe ist. 107 Es muß hier noch angefügt werden, daß mein Vater auch ein hervorragender Sportlehrer war. Die beiden Söhne warf er, als sie noch recht klein waren, vom Sprungbrett aus ganz einfach ins Wasserbecken. So lernten sie das Schwimmen in Sekunden – zumindest bis zum rettenden Gummireifen. Meine völlig unsportliche Mutter stellte er eines Winters auf einem sonnigen Hangerl im Spitzinggebiet sorglos auf ein Paar Skier. Es gibt keine Disziplin – außer vielleicht Polo –, für die sie ungeeigneter gewesen wäre. Er versah sie mit einem zärtlichen Schubser, damit ein bißchen Fahrtwind aufkam und stand relativ kurz darauf vor einem frisch angemachten Spitzlsalat. Meine Mutter hat nie wieder einen Ski berührt – und ich im übrigen nur, wenn ein verehrungswürdiges Mannsbild dies erforderte … Obwohl ich in meinem letzten Volksschulzeugnis fast nur Einser hatte, mußte ich – das war damals üblich – für das Gymnasium eine Aufnahmeprüfung machen. Ich bestand sie. Eigenartigerweise bedurfte es nur in dem Fach Religion einer mündlichen Nachprüfung. Dann war ich Gymnasiastin. Die Wilhelmschule in Schwabing hatte der Krieg arg mitgenommen. Die Fenster waren 108 weitgehend nur durch Bretter oder Kartons ersetzt. Es war eine neue Welt, eine Welt, die mich auffing und begeisterte. Für jedes Fach kam eine neue Lehrerin – und die dritte Vergangenheit hieß auf einmal »Plusquamperfekt«. Herrlich! Im Musikzimmer stand ein Flügel – und im Turnsaal ein Barren, von dem ich oft herunterfiel. In den Turnsaal wurde der Flügel geschoben als die greise Elly Ney für uns spielte. Schon bald ermöglichte uns der musische Schuldirektor Opernbesuche im Prinzregententheater und im Amerika-Haus gab der Schulchor regelmäßig öffentliche Konzerte. Natürlich habe ich mitgezwitschert und von einer großen Karriere als Sängerin geträumt. Für den ungeliebten Turnunterricht allerdings brachte ich in den höheren Klassen so oft die übliche Unpäßlichkeitsentschuldigung mit, so daß mich die Lehrerin einmal fragte: »Griagst das Du alle vierzehn Tag?« Die Schulspeisung, von den Amerikanern gestiftet, verbreitete schon am frühen Vormittag ihren »Duft«. Kesselweise gab es Kakao, Milchreis und eine gar übel riechende Bohnensuppe. Wir brauchten diese Nahrung dringend. Es gab sie sogar während der Ferien. Wir holten sie täglich. Rückblickend muß ich erkennen, daß ich 109 eine sehr ambivalente Schülerin war. Das, was mich interessierte, also die Sprachen, Deutsch, Geschichte und Musik, nahm ich gierig auf. Das, was mich nicht sonderlich fesselte, ließ ich recht sorglos außen vor. Dazu gehörte vor allem die Mathematik. Sie blieb meine Stolperschwelle bis zum letzten Schultag. Meine Beziehung zu Zahlen darf ich auch heute noch als zumindest ungeklärt definieren. Pater Willibald von der schulnahen St. Ursulakirche war unser Religionslehrer. Wir liebten ihn. Groß, stattlich saß er vor dem Katheder und hatte gut dreißig junge Mädchen auf ein gottesfürchtiges Leben vorzubereiten. Heute weiß ich, daß er seine Sache gut, sehr gut sogar, gemacht hat. Wir mochten ihn aber auch, weil er es scheinbar übersah, daß wir in seiner Stunde schon die Hausaufgaben für andere Fächer machten. Er war ein souveräner Mann Gottes. Er wußte einfach, daß die Worte des Herrn auch dann auf fruchtbaren Boden fallen, wenn sie von französischen oder englischen Verben sabotiert werden. Ihm zuliebe gingen wir am Ende des Schuljahres geschlossen zur Beichte. Natürlich mieden wir seinen Beichtstuhl. Aber ach, wie milde würde sich sein »ego te absolvo« angehört haben! 110 Wir gingen – natürlich nüchtern – zur Kommunion, die er mit einem feinen Lächeln an uns austeilte. Und dann hatte auch jede von uns ihren Einser in diesem schwierigen Fach. Obwohl wir eine Generation waren, die vor den Lehrern noch den allergrößten Respekt bezeigten (und weil sie fast alle wirklich auch respektierliche Persönlichkeiten darstellten), gab es manchen Streich. Einmal erhielt ich sogar einen schriftlichen Verweis vom Physikprofessor, der den Genitiv über alles zu lieben schien, und zwar »wegen Lachens und Kicherns und fortgesetzten Störens des Unterrichts …«. Als der Verweis postalisch zugestellt war, tobte der sonst so milde Vater: »No so a Wisch und Du gehst wieda in d Voiksschui!« Nun, das wollte ich um keinen Preis. Ab sofort verfuhr ich konsequent nach dem elften Gebot. Von der von mir immer bevorzugten ersten Schulbank aus ging vieles – vor allem auch das Abschreiben erstaunlich gut. Wie oft erhielt ich einen Zettel zugespielt mit der Bitte: »Mach Liebespaar!« Dann kreuzte ich willig meine Arme über der Brust, hob die Hände über die Schultern ins lockige Haar und ließ sie leidenschaftlich darin wühlen. Für die Klasse war es jedes Mal wieder ein Grund für 111 schallendes Gelächter. Die Sünderin wurde nie gefunden. Die damals so populären Pucki-Bände, angefangen von Puckis erstem Lebensjahr bis etwa Band 15, der Pucki als Großmutter abhandelt, wurden nicht etwa in der großen Pause, in der wir im Schulhof bis zur letzten Sekunde verbissen Völkerball spielten, sondern während des Unterrichts ausgetauscht. Verschlungen habe ich diese Literatur bis weit in die Nacht hinein. Wenn meine Mutter zum xten Mal das Leselamperl ausgemacht hatte mit dem Hinweis »morgn fria kummst wieda ned raus«, holte ich mir heimlich die Taschenlampe des Vaters und las unter der Bettdecke weiter. Als wir dann richtige Teenager waren, gab es ein anderes, noch viel begehrteres Tauschobjekt: Die Filmprogramme. Sie wurden mit der Eintrittskarte an der Kinokasse für 10 Pfennige erworben, gesammelt, getauscht und hundertmal am Tag innig betrachtet. So eine Minibroschüre mit Inhaltsangabe und Szenenfotos vermittelte uns die ersten Eindrücke »vom wirklichen Leben«, also von der Liebe. Stewart Granger, der »Herr der sieben Meere« und unserer Herzen, wurde durch folgende Hymne mittels einer Rasierklinge tief in die Schulbank eingeritzt – verewigt: 112 »Schön wie die Blume am Anger – Stewart Granger …« (»Granger« bitte nicht englisch aussprechen. Ja, reim di, oder i friß di!) Hier nun kommt die Erzählerin zu Ende. Noch lange Zeit waren meine jungen Jahre geprägt von den Spuren des Krieges, die man täglich vor Augen hatte. Noch lange gab es Lebensmittelkarten ohne nennenswerten Gegenwert. Der Schwarzmarkt blühte. Durch die Georgenstraße ratterte der »Rollwagl-Express«, der den Ruinenschutt aus der Stadt aufs Oberwiesenfeld transportierte. Gerne fuhren wir Kinder ein bißchen mit, sprangen auf die hochbeladenen Wagerl, bis uns ein schriller Pfiff vom Lokführer eine Reiseunterbrechung empfahl … Die amerikanische Besatzung prägte das Straßenbild. In feschen Uniformen führten GIs ihre deutschen Liebchen in die Clubs – und in manch falsche Hoffnung. Das Wichtigste aber war: Wenn ein Flugzeug am Himmel erschien, hatte man keine Angst mehr. Der Frieden, von dem die Erwachsenen immer wieder so sehnsuchtsvoll gesprochen hatten, schien zurückgekehrt zu sein. 113