Sichtweisen - Landkreis Esslingen
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Sichtweisen - Landkreis Esslingen
Sichtweisen Heft 16 | Die inklusive Kommune Berichte, Meinungen, Informationen, Themen aus der Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen Editorial Der inklusive Kreis Liebe Leserinnen und Leser, die Sichtweisen befassen sich in ihrem Heft 16 dieses Mal mit dem Thema „die inklusive Stadt, der inklusive Kreis“. Beabsichtigt ist damit die Vielzahl und Vielfalt der Aktivitäten in unserem Kreis, den Kommunen, den Behindertenhilfeeinrichtungen und auch aus Sicht vieler Menschen mit Behinderung darzustellen. Ich danke vor allem den ehrenamtlich tätigen Redakteurinnen und Redakteuren, die zum Gelingen dieses Heftes beitragen. Die interessanten Artikel zeigen eine große Bandbreite dessen auf, was zum Thema Inklusion in unserem Landkreis geleistet wird. Und sie geben damit wichtige Impulse für eine inklusive Gesellschaft. Denn die Frage, ob Menschen mit Behinderung teilhaben können am gesellschaftlichen Leben, ist in erster Linie eine Frage der Einstellung, der Einstellung eines jeden Einzelnen von uns. Inklusion als soziologischer Begriff beschreibt nichts anderes, als das Konzept einer Gesellschaft, in der jeder Mensch akzeptiert ist, gleichberechtigt und selbstbestimmt an ihr teilhaben kann, und zwar unabhängig von der jeweiligen Behinderung. Deswegen ist es Aufgabe des Kreises, seiner Kommunen, der Kirchen und Vereine, solche Strukturen zu schaffen, die es behinderten Menschen ermöglichen, Normalität und Teilhabe zu erfahren. Die inklusive Kommune 2 Sichtweisen 16/2015 Es geht also darum, behinderte Menschen in unsere Mitte zu nehmen, nicht auszugrenzen, sondern zu akzeptieren. Dort, wo niemand außerhalb dieser Gesellschaft steht, ist Inklusion Realität, so könnte man es stark vereinfacht ausdrücken. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist mit der Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag im März 2009 in Kraft getreten. Darin kommt ein neues gesellschaftliches Verständnis zum Ausdruck: Respekt, Würde, Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit, Partizipation, Akzeptanz der Verschiedenheit, Chancengleichheit und Barrierefreiheit sind die wesentlichsten Aspekte für eine inklusive Gesellschaft. Konsequent weiter gedacht sind wir also alle gefordert, diese Prinzipien in die Tat umzusetzen. Bund, Land und Kommunen tragen gleichermaßen dafür Verantwortung. Ein Bundesteilhabegesetz ist eine langjährige Forderung, die wir auch als Landkreis wieder erhoben haben. Das Gesetzgebungsverfahren dazu soll im nächsten Jahr begonnen werden. Allerdings ist es nicht damit getan, eine Reihe von Maßnahmen zu benennen. Wir erwarten viel mehr, dass auch der Bund seinen Finanzierungsbeitrag für ein modernes Teilhaberecht leistet. Denn die Eingliederungs- und Behindertenhilfe kann nicht allein Sache des Landkreises und seiner Kommunen sein. Mit dem Landesbehindertengleichstellungsgesetz ist der Landkreis verpflichtet, einen Beauftragten für Menschen mit Behinderung zu bestellen. Wir werden diese Anstellung im kommenden Jahr auf Kreisebene umsetzen. Inhalt Vorwort...........................................................2–5 Es gibt viel zu tun ...............................22–23 Die Redaktion stellt sich vor ............................6–7 Konzert .....................................................23 Die inklusive Kommune...................................... Inklusion aus Sicht der Kirche.............24–25 Inklusion in Ostfildern ............................8–9 Wachsende Akzeptanz an Schulen...........26 Die inklusive Stadt ..............................10–11 Inklusion in der Gemeindepsychiatrie.26–27 Modellprojekt Inklusionskonferenz...........12 Warum Inklusion ......................................28 Ein Jubiläum der Begegnung ...................13 EX-IN Bericht ......................................29–30 Umfrage zu Inklusion ...............................14 Inklusion – was heißt das? .......................30 Tandem Projekt ........................................15 Jeder kann was...................................15–16 Infoteil .................................................................. Esslingen – auf dem Weg zu einer inklusiven Stadt .....................17–19 Freizeitgruppe Kirchheim..........................31 Inklusion erleben......................................20 Filmtipp ..............................................32–35 Kunstprojekt .......................................20–21 Impressum .............................................4–5 Sichtweisen 16/2015 3 Sichtweisen Editorial Mit Beginn des Schuljahres 2015 / 2016 ist die Sonderschulpflicht weggefallen. Die Eltern sollen nach einer qualifizierten Beratung entscheiden können, ob ihr Kind eine Sonderschule oder eine Regelschule besucht. Gleichzeitig werden die Sonderschulen zu sonderpädagogischen Bildungs und Beratungszentren weiterentwickelt. Wir im Landkreis Esslingen haben mit der Rohräckerschule, der Verbundschule Dettingen und der Bodelschwinghschule Nürtingen drei Sonderschulzentren von hoher Qualität, in denen die Kinder bestmögliche Förderung und Erziehung sowie die Eltern eine gute Begleitung erfahren. Ich meine, dass die Sonderschulen auch in der Zukunft für die Gewährung der inklusiven Schulbildung an allgemeinen Schulen pädagogisch unverzichtbar sind. Im Augenblick gehen wir davon aus, dass ca. 30 % der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung, die Anspruch auf ein sonderpädagogisches Bildungsangebot haben, künftig inklusiv beschult werden. Als Landkreis sind wir in einen Prozess eingestiegen, der im Rahmen von Regionalkonferenzen unter Federführung des Staatlichen Schulamts eine schulische Kreisinklusionsplanung vornimmt. Dabei stehen die sonderpädagogischen Bildungsangebote an unterschiedlichen Lernorten genauso im Fokus, wie die vorhandenen Ressourcen in unseren Regelschulen. Wir wollen nämlich für unseren Landkreis eine zukunftsfähige Gesamtkonzeption haben, weil wir wissen, dass Inklusion nur Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldungen zu den „Sichtweisen“ Nr.16. Leserbriefe mit Ihren Meinungen und Rückmeldungen, mit Lob und Kritik sind uns immer willkommen. Wir freuen uns weiterhin über Beiträge „externer“ Schreiberinnen und Schreiber, die auch in dieser Ausgabe die „Sichtweisen“ mit interessanten Artikeln bereichert haben. Und sollten Sie sich vorstellen können, regelmäßig bei den „Sichtweisen“ mitzuwirken, möchten wir Sie gerne als neues Redaktionsmitglied begrüßen. Das Redaktionsteam 4 dann gelingt, wenn wir den behinderten Kindern ein passgenaues schulisches Angebot machen können. Die Eingliederungshilfe wird im nächsten Jahr im Kreishaushalt mit rund 60 Mio. Euro zu Buche schlagen und damit die größte Position umfassen. Mit dem Teilhabeplan für Menschen mit geistiger und / oder mehrfacher Behinderung und dem Psychiatrieplan hat der Landkreis eine solide Planungsgrundlage. Uns ist es dabei ein besonderes Anliegen, Menschen mit Behinderung und deren Angehörige zu beteiligen. Deswegen gibt es im Landkreis zwei engagierte Angehörigenbeiräte und einen Teilhabebeirat. Sowohl auf Kreisebene als auch in den Städten und Gemeinden laufen aktuell zahlreiche Inklusionsprojekte, die von den Plänen angestoßen worden sind. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang Projekte des Wohnens, der Freizeit, des Sports, der Bildung oder der Stadtentwicklung. Aufgabe des Landkreises ist es, diese vielen Puzzleteile zusammenzusetzen. Mit finanzieller Unterstützung des Sozialministeriums haben wir begonnen an diesem Prozess intensiv zu arbeiten. Im Sommer ist das Modellprojekt der „Inklusionskonferenz für den Landkreis“ gestartet worden. Wir sind damit landesweit einer von vier Kreisen, der modellhaft und strukturiert Erfahrungen auf dem Weg zur Inklusion machen wird. Ein separater Beitrag dazu findet sich in diesem Heft. Wenn Sie uns schreiben wollen oder wenn Sie Fragen zu unserem Projekt haben, wenden Sie sich bitte an die Redaktion »Sichtweisen«, Michael Köber c/o Alisa Nikolic Landratsamt Esslingen 73726 Esslingen am Neckar Telefon (0711) 3902-2634 Sekretariat (0711) 3902-2503 E-Mail: [email protected] [email protected] Sichtweisen 16/2015 Die demographische Entwicklung, wie z. B. die erstmalige Verrentung einer vollständigen Generation von Menschen mit Behinderung fordert neue inklusive Angebote. Immer mehr Menschen in stationären Einrichtungen werden aufgrund ihres Alters pflegebedürftig und stellen die Träger der Behinderteneinrichtungen vor neue Herausforderungen. Des Weiteren führen Veränderungen in den Familienstrukturen dazu, dass sich Kinder früher vom Elternhaus lösen und Unterstützung benötigen. Diesen Herausforderungen stellen wir uns. Nicht nur durch finanzielle Hilfen im Einzelfall, sondern auch durch Beratung, Förderung und Unterstützung durch das Fallmanagement, die familienentlastenden Dienste, die sozialpsychiatrischen Dienste und vieler institutioneller Hilfen. Uns ist im Landkreis wichtig, dass Weiterentwicklung und Planung stetig unter der Berücksichtigung der geänderten Lebensverhältnisse und Bedarfslagen erfolgt. Unsere finanziellen Ressourcen allerdings dürfen wir dabei auch nicht aus dem Auge verlieren. An diesen ausgewählten Beispielen können Sie sehen, dass der inklusive Kreis kein abstrakter Begriff ist. In unseren Städten und Gemeinden wird er mit Leben gefüllt. Viele Beispiele in diesem Heft belegen dies. Ich habe eingangs formuliert, dass Inklusion eine Frage der Einstellung ist. Daraus erwächst das Anliegen, eine weitere Öffnung der Wohn-, Arbeits- und Betreuungsformen in das Gemeinwesen zu erreichen. Dazu sind wir auf die Menschen mit und ohne Behinderungen, die Institutionen, die Betriebe, die Kirchen, die Vereine und viele mehr angewiesen. Ich bin davon überzeugt, dass wir die richtige Richtung eingeschlagen haben und ein Stück des Weges bereits vorangekommen sind. Viel Vergnügen beim Lesen des neuen Heftes „Sichtweisen“! Sehr intensiv arbeiten wir derzeit an der Realisierung einer stationären Einrichtung mit Kurzzeitunterbringung für Kinder und Jugendliche mit wesentlicher geistiger oder mehrfacher Behinderung. Hier sind wir auf einem guten Weg hinsichtlich der Konzeption, der Leistungsbeschreibung und der Standortfrage. Heinz Eininger Landrat Sichtweisen 16/2015 (November 2015) ein Projekt der Behindertenhilfeund Psychiatrieplanung des Landkreises Esslingen Herausgeber: Landratsamt Esslingen Redaktion: Gesamtverantwortlich: Michael Köber MitarbeiterInnen: Petra Besemer, Daniela Goth, Annerose Klingmann, Karsten Lindner, Willi-Gerhard List, Manfred Tretter Satz und Gestaltung: www.logowerbung.de © Landratsamt Esslingen: Nachdruck oder Vervielfältigung, auch auszugsweise, sind nicht gestattet. Abbildungsnachweis: Erich Knoll (8,9) Heike Deigendesch (10,11) Michael Köber und Sportkreis (13), Behinderten-Förderung-Linsenhofen (16), Manfred Tretter (14,17), Verein für Sozialpsychiatrie (1, 21) Sichtweisen 16/2015 Ihr 5 Sichtweisen Die Redaktion stellt sich vor Michael Köber Annerose Klingmann Daniela Goth Die „Sichtweisen“ sind ein Forum für einen Gedanken- und Erfahrungsaustausch zum Leben mit Behinderungen, wesentlich getragen von ehrenamtlich engagierten Bürgerinnen und Bürgern im Landkreis Esslingen. Über die Sichtweisen freue ich mich besonders, weil ich von Anfang an dabei bin. Ich arbeite gerne in der Redaktion mit und gehe seit 2004 in eine Werkstatt in Zell. Grundsätzlich möchte ich auf die Lebenssituationen behinderter Menschen hinweisen. Es beschäftigt mich besonders, dass behinderte Menschen so große Probleme haben, Arbeit zu finden. Über Integration darf nicht nur gesprochen werden. Handeln ist angesagt! Kreativität, Ideenvielfalt, persönliche Verbundenheit und Begeisterung zeichnen das kleine Redaktionsteam aus. Die gemeinsame Arbeit in der Redaktion bereitet mir Freude, sie stellt eine besondere Ebene in den Aufgaben der Behindertenhilfe- und Psychiatrieplanung dar. Die „Sichtweisen“ regen für Veränderungen an, sie bilden Erfahrungen aus dem Alltag und der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderungen ab. Sie sind auch ein Medium für einen fachlichen Austausch. Ich bin auf die nächsten Ausgaben gespannt. 6 Ich bin selbst durch Behinderung betroffen und engagiere mich bei den Sichtweisen, weil mir der Austausch mit anderen Menschen wichtig ist und ich etwas Positives für behinderte Menschen beitragen möchte. Ich war früher sehr aktiv bei der „Amsel“ tätig, über die ich dann zu den Sichtweisen gekommen bin. Die Arbeit bei den Sichtweisen ist mir sehr wichtig und ich wünsche mir, dass noch viele Ausgaben dazu kommen, an denen ich mitarbeiten kann. Sichtweisen 16/2015 Manfred Tretter Willi-Gerhard List Karsten Lindner Mit der Literatur bin ich in fremden Ländern und anderen Zeiten schon ganz schön weit herumgekommen. Von Jugend an begleiten mich Bücher. Im Beruf gab es viele Gelegenheiten für mich zum fachbezogenen Schreiben. Jetzt entdecke ich die vielfältigen Anregungen aus dem Bereich des kreativen Schreibens, um zur eigenen literarischen Produktion zu gelangen. Für die „Sichtweisen“ fühle ich mich doppelt vorgeprägt: Ich bin blind und kann mich als behinderter Mensch äußern und ich kann meine beruflichen Erfahrungen aus der Sozialarbeit damit verbinden. Ich freue ich mich, meine Erfahrungen und Eindrücke von meiner Arbeit als „Behinderter mit Behinderten“ einbringen zu dürfen. In der Tagesstätte für psychisch kranke Menschen gehören auch Freizeit- und Wochenendangebote sowie Büroarbeit zu meinen Aufgaben. Ich bin dankbar, dass es dieses Forum gibt. Gerne möchte ich zu der Sichtweise beitragen, dass Menschen mit Behinderung ganz normale Bürger sind, wenn auch mit speziellen Bedürfnissen. Ich schreibe gerne Tagebücher, Aufsätze, Gedichte, Referate, Geschichten und halte mich für lebendig genug, um meine Erfahrungen weitergeben zu können. Mir macht das Schreiben Spaß. Und ich weiß, dass man sich dann – besonders als Mitglied einer Redaktion – gut mitteilen kann. Ich bin auch ein Mensch, der sehr auf Selbsterfahrung aus ist und darauf achtet, sich weiter zu entwickeln. Denn, „der Mensch lernt nie aus“, diesen Satz höre ich immer wieder. Außerdem weiß ich: „Das Leben hält viele Überraschungen für mich bereit.“ Petra Besemer Im Bereich der psychischen Erkrankungen ist es mir ein persönliches Anliegen, durch Aufklärungsarbeit der Stigmatisierung und Ausgrenzung entgegenzuwirken. Seit 2008 existiert die Freizeitund Selbsthilfegruppe für psychisch kranke Menschen. Unsere Trialoge tragen zu dieser Aufklärungsarbeit einen Teil bei. Ich arbeite sehr gerne bei Sichtweisen mit. Sichtweisen 16/2015 7 Sichtweisen Zukunftsmodell Inklusion Die sorgende Gemeinschaft, ein Zukunftsmodell für Inklusion in Ostfildern? In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Mit dieser Frage startete die Aktion Mensch 2006 das Projekt - die Gesellschafter -. Menschen mit und ohne Behinderungen wurden angeregt, darüber nachzudenken, wie sie gern zusammenleben wollen. „…fast eine Million Menschen haben die Internet-Seite -die Gesellschafter.de- besucht. Ihre Antworten und Diskussionsbeiträge würden ausgedruckt mehr als 10.000 Buchseiten füllen….”* Dieses Beispiel zeigt, dass es für viele Menschen wichtig ist, sich Gedanken darüber zu machen, wie sie zusammenleben wollen. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention aber auch durch Fragen um die Themen alte Menschen, Migranten und Flüchtlinge usw. wird die Frage neu angeregt. Wie kann bzw. wie muss eine Stadt/Gesellschaft aussehen, in der alle gut miteinander leben können? Die UN- Behindertenrechtskonvention hat den Begriff Inklusion in die öffentliche Diskussion eingeführt und meint damit eine Idee für ein gesellschaftliches Zusammenleben aller Menschen. Für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen (Menschen mit Behinderungen, alte Menschen etc.) soll nach der Idee Inklusion nicht mehr die „separierende Institution“ der Maßstab für eine Hilfeerbringung sein, sondern die Hilfen sollen im normalen Zusammenleben in der Stadt, im Dorf erbracht werden. men, dahin wo sie leben. Diese Idee ist eine große Herausforderung, da sich 60 Jahre ein anderes Hilfeverständnis und Hilfesystem in der Bundesrepublik entwickelt hat. Die neue Form des Zusammenlebens, die sich aus der Idee ergibt, muss gelernt werden. Wichtigster Lernschritt hierbei ist die Akzeptanz der Unterschiedlichkeiten. Das ist die Grundvoraussetzung für ein gelingendes Zusammenleben. Dies geht nur mit der aktiven Mitgestaltung der beteiligten Menschen. Politiker und Verantwortliche in Städten und Gemeinden können (und müssen) für solche Entwicklungen zwar die Rahmenbedingungen schaffen und Prozesse anregen, aber an der Suche nach praktischen Lösungen müssen sich die Menschen beteiligen, um die es geht. Das bedeutet aber auch, dass wir wieder lernen müssen, uns mehr füreinander zu interessieren, uns mehr umeinander zu kümmern und verstärkt (füreinander) Verantwortung zu übernehmen. In den meisten Städten und Gemeinden wird die Wichtigkeit der Mitgestaltung der Bürger erkannt, und viele Bürger erkennen die Chancen die im bürgerschaftlichen Engagement stecken. So entsteht die vom Ministerpräsidenten Kretschmann angestrebte Bürgergesellschaft, für die sich ein Begriff entwickelt hat: - Caring Community (Sorgende Gemeinschaft) -. Sorgende Gemeinschaft beschreibt zum einen die engagierten Bürgerinnen und Bürger, die verbindlich und verantwortlich das Zusammenleben Die Menschen sollen nicht mehr zu den Orten gebracht werden, wo Hilfen angeboten werden, sondern die Hilfen sollen zu den Menschen kom- 8 Sichtweisen 16/2015 mitgestalten (und mittun) wollen, und zum anderen die Unterstützungsstrukturen und Rahmenbedingungen, die von der kommunalen Politik und Verwaltung für ein Gelingen des Prozesses beigetragen werden können. Inklusion im Sinne einer sorgenden Gemeinschaft kann deshalb kein (von oben) verordneter formaler Prozess sein, sondern er muss von allen Akteuren als ein lernender Gestaltungsprozess verstanden und gewollt werden. Drei Notwendigkeiten können in Ostfildern für einen gelingenden Inklusionsprozess bzw. für eine sorgende Gemeinschaft beschrieben werden: 1. Ohne die aktive Beteiligung und Mitgestaltung von BürgerInnen (Betroffene, Angehörige und Interessierte) gelingt kein gesellschaftlicher Umgestaltungsprozess (auch nicht der Inklusionsprozess). Ohne engagierte BürgerInnen sind schon heute bestimmte soziale Aufgaben nicht mehr denkbar, weil nicht finanzierbar. Im Bereich der Altenhilfe sind in Ostfildern bereits mehr als 100 engagierte BürgerInnen tätig z.B. bei: • Rat und Tat (praktische Hilfen für ältere Menschen zu Hause) • SOFiA** (Besuchsdienste für ältere Menschen zu Hause) • Offenes Atelier (Kunstangebote für „Alle“) • Wohnberatung für barrierefreien Umbau der Wohnung usw. 2. Die unterschiedlichen sozialen Themen und die Angebotsstrukturen müssen da zusammengedacht werden, wo dies sinnvoll ist (z.B. mit Blick auf Teilhabe, Assistenz, Barrierefreiheit, Mobilität etc.). So kann vermieden werden, dass unterschiedliche Gruppen an gleichen Themen arbeiten und dadurch Parallelstrukturen entstehen. Aber dadurch kann zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen auch ein Verständnis füreinander entstehen. 3. Die öffentliche Verwaltung muss aus diesen Erkenntnissen sich als eine lernende Organisation verstehen und durchlässige, kooperative und kreative Unterstützungsstrukturen entwickeln. Zukünftig werden Stadtentwickler und Planer die sozialen Themen der Kommune bereits im Vorplanungsprozess mit denken und die verschiedenen Akteure mit einbeziehen müssen, will man nicht mit mehr Aufwand „hinterher nachjustieren“. Gemeinwesen in diesem Sinne wird zu einer kreativen Gestaltungsplattform, deren Grundprinzip eine sorgende Gemeinschaft werden könnte. Ostfildern ist in Bezug auf die beschriebenen Themen auf einem guten Weg. Es macht Hoffnung wahrzunehmen, dass bei den Verantwortlichen der Verwaltung, bis hin zur Verwaltungsführung eine große Offenheit und Bereitschaft zur Kooperation und für neue Ideen und Wege besteht. So wird viel möglich. Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist es schwer. (Lucius Annaeus Seneca, römischer Philosoph) Beitrag: Erich Knoll (Stadt Ostfildern) Sichtweisen 16/2015 9 Sichtweisen Die inklusive Stadt, der inklusive Kreis Das „Inklusionsforum Olé“ – Aktivitäten im Lenninger Tal Initiiert vom Kreisjugendring Esslingen e.V. (KJR), trifft sich in Lenningen seit nunmehr zwei Jahren eine engagierte Gruppe aus Familien von Menschen mit Behinderung, betroffenen Experten, Fachkräften aus dem Bereich der Behindertenhilfe, Vertreter/innen verschiedener Vereine, der Kommunen und externer Berater, um ein gemeinsames Ziel zu verwirklichen: Orte der Begegnung zu schaffen. Freizeit- und Bildungsangebote sollen für alle Menschen – auch für solche mit erschwerten Teilhabevoraussetzungen - gleichermaßen zugänglich sein. Im Lenninger Tal konnte hierzu inzwischen ein tragfähiges Netzwerk geknüpft und manches Projekt umgesetzt werden. So fand in der KJRAktionswoche um den 05.05.15 in Kooperation mit der Lebenshilfe Kirchheim, dem Aktionskreis für Menschen mit und ohne Behinderung (AKB) und dem Verein „Unser Netz“ eine inklusive Sportveranstaltung statt: Sp.Olé. Sp. steht hier für Sport, Spaß und Spiel, Olé für die Verbandgemeinden Owen, Lenningen und Erkenbrechtsweiler. In und um die Lenninger Sporthalle waren die Besucher/innen eingeladen, etwas andere Sportarten auszuprobieren und zu erleben, wieviel Spaß Inklusion machen kann; zum Beispiel beim Federball über die Schnur, beim Würfelfußball oder Pezziballtrommeln. Wer es etwas sportlicher mochte, konnte sich von Nationalspieler Thomas Schuwje im Rollstuhlrugby anleiten lassen. Nach einem kurzen Fahrtraining in einem Spezialrollstuhl ging es darum, der anderen Mannschaft den Ball abzujagen und über die gegnerische Linie zu bringen. Auf dem Platz vor der Halle war ein Parcours aufgebaut, der mit einem vor den Rolli gespannten Handbike bewältigt werden sollte. Mutigen bot sich dort auch die Gelegenheit für eine Tandemfahrt: als Sozius mit verbundenen Augen. Wohl dem, der sich schon im Vorfeld unter Anleitung von Jürgen Wagner, der selbst sehbehindert ist, im Blindenstocklauf ausprobiert hatte. Für's Mitmachen bekamen Kinder und Jugendliche an den Stationen einen Stempel. Für drei Stempel konnte eine Urkunde in Empfang genommen werden – außer mit Schwarzschrift auch in Brailleschrift bedruckt und unterschrieben von Lenningens Bürgermeister Michael Schlecht, der die Veranstaltung dankenswerterweise auch in diesem Jahr wieder unterstütze. Ein besonderer Genuss war es auch, den beiden - eigens für diesen Tag zusammengestellten - Mannschaften beim Rollstuhlbasketball 10 Sichtweisen 16/2015 zuzuschauen. Die Kirchheim Knights um Profi Radivoj Tomasevic stellten sich einer besonderen Herausforderung und spielten mit Spielern des Rollstuhlsport- und Kulturvereins Tübingen (RSKV). Eine Herausforderung wohl vor allem für die Knights, die sonst ja eher flink auf den Beinen sind. In der Spielpause hatten Sportler/innen mit und ohne Behinderung das Wort: Moderator Jürgen Hahn vom AKB befragte beim Sport-Talk Aktive aus Lenningen und Umgebung zu ihrer Motivation und ihren Erfahrungen im (Vereins-) Sport. Jüngste Teilnehmerin der Runde war die achtjährige, stark sehbehinderte Linn Kazmaier aus Lenningen. „Ohne Sport wäre es langweilig!“, meinte sie und ließ einen immer wieder staunen darüber, welche sportlichen Erfolge sie schon für sich verbuchen konnte. Beim anschließenden Konzert der Soulhossas, einer inklusiven Band aus der Reutlinger Kulturwerkstatt, konnte wild getanzt und gerockt werden. Hungrige und Durstige ließen sich derweil von Schüler/innen und Lehrkräften der Lenninger Förder- und Realschule verköstigen. Schön, dass auch Jugendliche sich im Netzwerk engagieren. Dass der Sport auch für Menschen mit Einschränkung oder Behinderung einen hohen Stellenwert hat, wurde bereits aus einer Befragungsaktion deutlich, die das InklusionsTeam im Frühjahr durchführte. Über Schulen, Vereine und persönliche Kontakte wurden Betroffene und ihre Familien nach ihren Wünschen und Bedarfen für ihren Wohnort befragt. Heraus kam, dass Mobilität und fehlende Assistenz häufig ein Problem darstellen, ebenso wie die Scheu, als Mensch mit Behinderung auf einen „normalen“ Verein zuzugehen. Hier kann das Inklusionsforum ansetzen. Erste Kontakte zu Vereinen wurden bereits geknüpft und Assistenzkräfte vermittelt. spezieller Stadtführer entstehen, in dem nicht ausschließlich barrierefreie, sondern besonders flexible, aufgeschlossene und unkomplizierte Dienstleister und Institutionen aufgeführt werden. Auch für die Umsetzung dieser Idee braucht es engagierte Netzwerker/innen und Mitstreiter/innen. Wer Lust hat, sich im Lenninger Tal einzubringen oder einfach neugierig auf laufende Projekte geworden ist, ist bei den Aktionen und Inklusionsforen herzlich willkommen. Termine und nähere Informationen entnehmen Sie bitte der Homepage InklusionLenningen.de. An dieser Stelle ein sehr herzliches Dankeschön all denen, die die Arbeit des Inklusionsteams bisher ermöglicht und begleitet haben, allen Netzwerkpartnern, Kollegen/innen, der Gemeinde Lenningen und dem Kommunalverband für Jugend und Soziales für die Unterstützung und – last but not least – allen Besucher/ innen der Veranstaltungen, ohne die das Leben nicht halb so bunt wäre. Die Arbeit des Aktionsteams Inklusion wird gefördert im Rahmen des Programms Impulse Inklusion des Landes Baden-Württemberg und des Kommunalverband für Jugend und Soziales Baden-Württemberg. Beitrag: Heike Deigendesch Die Idee für ein nächstes größeres Projekt in Lenningen ist bereits geboren. Der Arbeitstitel: „Inklusiv unterwegs in Lenningen.“ Es soll ein Sichtweisen 16/2015 11 Sichtweisen Projekt Inklusionskonferenz Projekt „Inklusionskonferenz im Landkreis Esslingen“ Im November 2013 wurde im Landkreis Reutlingen das Pilotprojekt „Inklusionskonferenz“ ins Leben gerufen, um das Thema Inklusion auf Landkreisebene voranzubringen. Dieses Projekt wurde vom Institut für angewandte Sozialwissenschaft (IfaS) in Stuttgart wissenschaftlich begleitet. Erste Erfahrungen zeigen, dass es dort gelingt, das Thema Inklusion zu verankern und konkrete Projekte umzusetzen, z.B. Inklusion im Sport oder Qualifizierung in der Kindertagesbetreuung. Nun wurde das Projekt in Reutlingen verlängert und um weitere vier Landkreise ergänzt: einer davon ist der Landkreis Esslingen. Finanziert wird das Projekt über Mittel des Sozialministeriums Baden-Württembergs. Am 1. September 2015 hat Petra Mittmann als Projektkoordinatorin ihre Arbeit aufgenommen. Es geht darum, die Erfahrungen der Inklusionskonferenz Reutlingen zu nutzen, aber gleichzeitig herauszufinden, was zu den Menschen und Strukturen im Landkreis Esslingen passt. Der Landkreis möchte mit seinen Städten und Gemeinden sowie allen anderen Akteuren Wege beschreiten, um die UN-Behindertenrechtskonvention vor Ort umzusetzen. In diesem Heft beschreiben einige Beträge, welche Initiativen zum Thema Inklusion im Landkreis bereits bestehen. In einigen Städte und Gemeinden im Landkreis wurden Aufgaben neu geordnet oder Stellenanteile für Inklusions-Beauftragte geschaffen, die an verschiedenen Themen arbeiten, beispielsweise Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, Wohnen, Zugang zur Gesundheitsversorgung u.a. Auch Träger der Behinderten- und Jugendhilfe beschäftigen sich intensiv mit dem Thema und haben verschiedene Initiativen ins Leben gerufen, beispielsweise Freizeit- und Sportangebote für Menschen mit und ohne Behinderungen. Eine Aufgabe der Inklusionskonferenz auf Kreisebene wird es sein, die verschiedenen Projekte und Initiativen, die bisher schon bestehen, zu vernetzen. Über den Erfahrungsaustausch sollen Faktoren herausgearbeitet werden, die zum Gelingen von Inklusion in den unterschiedlichen Bereichen beitragen. Die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen ist ein zentraler Punkt. Eine weitere Aufgabe ist daher, bestehende Beteiligungsstrukturen weiterzuentwickeln und auszubauen. Im Rahmen des Projekts soll ein Stadtteil im Landkreis auf dem Weg zu mehr Inklusion begleitet werden. Mit den Beteiligten vor Ort, die ihren Sozialraum genau kennen, werden Ideen entwickelt, wie Inklusion dort umgesetzt werden kann und welche Schwerpunkte sich für diesen Sozialraum ergeben. Dabei sollen vorhandene Potentiale und Ressourcen genutzt werden. Mit Hilfe der wissenschaftlichen Begleitung und im Austausch mit den anderen beteiligten Kreisen lassen sich möglicherweise allgemeine Handlungsrichtlinien für die Entwicklung inklusiver Strukturen im Sozialraum ableiten. Diese könnten zukünftig anderen Kommunen und Kreisen bei der Umsetzung inklusiver Projekte im Sozialraum helfen. Inklusion ist eine Querschnittsaufgabe. Verwaltungen und Sozialsysteme sind ebenso angesprochen wie bestehende Regelsysteme und Bürgerschaft. Deshalb ist es wichtig, das Thema immer wieder in die Öffentlichkeit zu bringen und offen zu sein, für das, was daraus entsteht. Petra Mittmann ist Heilerziehungspflegerin und Diplom-Pädagogin. Sie hat viele Jahre in verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe gearbeitet. In den letzten Jahren war sie im Kindergarten- und Grundschulbereich tätig. 12 Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen Ein besonderes Jubiläum der Begegnung Am 26. September 2015 war es wieder soweit. Rund 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer tummelten sich auf dem Sportgelände des TSV Ötlingen. den Veranstaltern und Gastgebern – besonders den Verantwortlichen des TSV Ötlingen – für das unermüdliche Engagement. Meines Erachtens gelingt Inklusion am leichtesten, wenn Begegnungen stattfinden. Die Verbesserung der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen an Freizeit und Sport ist ein Auftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention. Dieser bezieht sich so umfassend wie möglich auch auf breitensportliche Aktivitäten. Leider sind bislang nur wenige Menschen mit Behinderungen Mitglied in den (Sport-)vereinen – vielleicht liegt es an den nicht immer vorhandenen Angeboten, vielleicht an den Zugangswegen. Es ist ein Gewinn für die Vereine, mehr Menschen mit Behinderungen zu beteiligen. Die Sportkreisjugend Esslingen im württembergischen Landessportbund veranstaltete das 25. Sportfest der Begegnung „im Rübholz“ in Kirchheim-Ötlingen. Sport, Spiel, Spaß und Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung stand und steht seit vielen Jahren im Mittelpunkt der Veranstaltung. Unter Leitung des Vorsitzenden Rüdiger Wollenberg und des Jugendreferenten Roland Mäußnest sowie mit tatkräftiger Unterstützung durch das Kirchheimer Pädagogische Fachseminar sowie zahlreicher ehrenamtlicher Helfer gelang es wieder, ein tolles Programm auf die Beine zu stellen. Den Körper in Bewegung zu bringen und sich in Geschicklichkeit zu erproben, war auch diesmal das Motto. Ein großes Kompliment gebührt Sichtweisen 16/2015 Das Sportfest ist ein herausragendes Beispiel der Begegnung. Die Bilder sprechen ihre eigene Sprache. Die Begeisterung ist spürbar, fast greifbar, mehr davon ist durchaus wünschenswert. Zum 25. Jubiläum herzlichen Glückwunsch und ein großes Dankeschön allen Mitwirkenden. Beitrag: Michael Köber 13 Sichtweisen Auf der Straße eingesammelt Eine Befragung zum Thema Inklusion Zunächst schien das eine gute Idee zu sein, für die „Sichtweisen“ eine Straßenumfrage zu machen. Es zeigte sich aber schon bald, dass dies gar nicht so einfach zu bewerkstelligen ist. Wir hatten uns im Esslinger Kaffeehaus „Sonne“, das von den Werkstätten Esslingen/Kirchheim betrieben wird, getroffen und den Schlachtplan besprochen. Und dann also raus vor die Tür. Da zeigten sich dann auch schon die Schwierigkeiten. Viele Passanten hatten es offensichtlich sehr eilig und würdigten uns keines Blickes, wenn wir uns anschickten, sie mit dem Aufnahmegerät in der Hand anzusprechen. Dann gab es die direkten Verweigerer, die eine Aussage ablehnten. Wir hatten uns vorsorglich den Satz bereitgelegt, keine Werbung zu machen und nichts verkaufen zu wollen. Aber auch dieser Hinweis half nicht immer. Den ursprünglichen Gedanken, die Interviewten nach Namen und Wohnort zu fragen, um gegenüber den Lesern unsere Aktion zu beglaubigen, ließen wir bald fallen, denn das hätte unser Vorhaben vollends scheitern lassen. Ganz erfolglos blieben wir schließlich nicht, wie einige Aussagen zeigen, die wir einsammeln konnten. Ein älteres Ehepaar, auf dem Weg zum Arzt „Verkehrsmittel sind so ein Problem, da kommt man schlecht hinein. Dass Kinder gemeinsam aufwachsen, finden wir auch wichtig. Dafür sollte man in der Schule mehr machen. Aber für manche ist vielleicht auch die Spezialschule das Richtige.“ Eine junge Passantin äußert sich: „Ja, von Inklusion habe ich gehört im Zusammenhang mit Schulen. Kontakt zu behinderten Menschen habe 14 ich nicht, nein.“ Eine weitere Dame „Mit Behinderten selbst habe ich keinen Umgang, aber ich habe in der Familie mit schweren Krankheiten zu tun. Ich glaube, da ist die Situation oft ähnlich. Man sollte auch den Angehörigen helfen, denn wenn man mit Behinderten oder Schwerkranken lebt, muss man auf vieles verzichten.“ Jetzt treffen wir auf eine Frau vom Fach, sie hat in Esslingen soziale Arbeit studiert und ist mit drei kleinen Kindern unterwegs: „Wenn meine Kinder es so ganz nebenbei lernen, dass Menschen verschieden sind und wenn sie gemeinsam zurechtkommen, das finde ich gut. Wenn Behinderte erst einmal getrennt werden, ist es schwieriger, wieder einen normalen Umgang zu erreichen.“ Einem längeren Gespräch macht der Nachwuchs ein Ende, denn die Kleinen wollen weiter. Eine Arzthelferin äußert sich positiv zu den Zielen der Inklusion. Sie hat viel mit alten Menschen zu tun und da liegen die Einschränkungen oft ähnlich wie bei behinderten Menschen. Man ist oft unsicher und ängstlich, Menschen mit Behinderungen zu begegnen. Da würde es viel helfen, wenn Menschen mit Behinderung mehr in der Öffentlichkeit wären. Ein Lehrer berichtet über Erfahrungen vom gemeinsamen Unterricht: „Als Lehrer braucht man Unterstützung, damit man den unterschiedlichen Schülern gerecht werden kann. Man braucht die Erfahrungen der Behindertenpädagogik. Dieses Wissen über die einzelnen Formen der Behinderung sollte nicht verloren gehen.“ Noch eine Dame mittleren Alters: „Man sollte auch auf die älteren Behinderten schauen, meist denkt man beim Thema Inklusion nur an Kinder. Ältere Behinderte sollten auch noch eine Chance bekommen, z.B. auf dem Arbeitsmarkt. Dabei habe ich so meine eigenen Erfahrungen, wie schwer es ist, wenn man mal herausgefallen ist.“ Den Fotoapparat hatten wir gleich am Anfang stecken gelassen. Der Wunsch, mit dem eigenen Bild in den „Sichtweisen“ zu erscheinen, schien uns nicht allzu groß. Immerhin aber hatten wir einen kleinen Ausschnitt von Meinungen hören können. Die Fragen stellten Willi-Gerhard List und Manfred Tretter. Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen Kreisjugendring Esslingen – Tandem Projekt „ Nicht diskriminieren, sondern handeln “ – ein Gespräch mit der Inklusionsbeauftragten des Kreisjugendrings Esslingen. Am 9. August 2015 bot sich mir die Gelegenheit, zu einem ausführlichen Gespräch mit Frau Danielle Gehr vom Kreisjugendring Esslingen e.V. Schnell wurde mir klar, dass mir eine engagierte Expertin für Inklusion gegenüber saß. Mein Interesse galt vor allem den sogenannten „ TandemProjekten“ des Kreisjugendringes. Das bedeutet, dass derzeit auf ehrenamtlicher Basis ein Behinderter und ein Nichtbehinderter Aufgaben und Arbeiten im Tandem-Team gemeinsam übernehmen. Finanziert werden diese Projekte vom Land und Bund jeweils über Kubus e.V. Frau Gehr schilderte mir ein Beispiel aus dem Jugendhaus in Esslingen. Dort übernehmen in den Ferien 2 Frauen, Leonore und Lisa (eine davon mit Down-Syndrom) gemeinsam hauswirtschaftliche Arbeiten, wie zum Beispiel Einkaufen und Kochen. Vergleichbare Projekte laufen bereits, auch in Kirchheim, Ostfildern, Deizisau oder Lenningen. Frau Gehr betonte, wie wichtig es ist, solche Tandemangebote ortsnah zu ermöglichen. Ihre Erfahrung mit diesen Menschen und Projekten sei durchweg positiv, betonte Frau Gehr. Ein langfristiges Ziel sei es, FSJ´ler (Freiwilliges Soziales Jahr) fürs „ Tandem “ zu gewinnen. Wichtig bei der Inklusion ist Frau Gehr „Nicht diskutieren, sondern handeln und machen“. Ein weiterer, wie ich finde, bemerkenswerter Satz blieb mir in Erinnerung: Inklusion ist nicht, dass die Leute einfach mitlaufen. Ein weiteres wichtiges Ziel ist für Frau Gehr, den Menschen mit Behinderung mehr geeignete Fortbildungsmaßnahmen zu verschaffen. Mich stimmte sehr positiv, mit welcher Kompetenz und welch praktischem Engagement diese Herausforderung im Kreisjugendring Esslingen e.V. angegangen wird. Beitrag: Willi-Gerhard List Sichtweisen Jeder kann was – gemeinsam für was Großes Im September bot sich mir die Gelegenheit zu einem Gespräch über Inklusion bei der Behindertenförderung Linsenhofen e.V. in Oberboihingen. In äußerst angenehmer Atmosphäre saßen mir gleich drei ExpertenInnen sowie acht KlientenInnen und Teilnehmer der Inklusionsprojekte gegenüber. Förderung wird von der “Aktion Mensch“ mit 250.00,00 € unterstützt (der Betrag dient vor allem zur Deckung der zusätzlichen Personalkosten). Frau Ramona Koch, die Projektleiterin, sowie Frau Christin Finkenstein und Herr Adrian Becker von der Projektstelle erläuterten mir zuerst ausführlich Entstehung und Hintergrund ihres Inklusionsprojektes. Im Vorfeld wurden die Strukturen und Ziele gemeinsam mit “Aktion Mensch“ erarbeitet. Es fanden sich sechs Kooperationspartner, für das bis 2017 geplante Angebot. Die Kooperationspartner, die sich gemeinsam mit der Behindertenförderung e.V. für Inklusion im Landkreis einsetzen sind: die Städte bzw. Gemeinden von Nürtingen, Wendlingen, Frickenhausen, Oberboihingen, die duale Hochschule in Stuttgart sowie der Landkreis Esslingen. In Zusammenarbeit mit “Aktion Mensch“ wurde das Inklusionsprojekt, für die Bereiche Bildung und Freizeit vor einem Jahr auf den Weg gebracht. Die auf drei Jahre angelegte inklusive Sichtweisen 16/2015 15 Sichtweisen Jeder kann was – gemeinsam für was Großes Frickenhausen. Hier gab es auch einen Rollstuhlparcour sowie die Gestaltung von Inklusionsbuttons. Außerdem organisierte die Werkstätte ein integratives Fußballturnier in der Sporthalle in Oberboihingen. Hier spielten Menschen mit und ohne Behinderung mit und gegeneinander. Matthias zeigte mir einen bunt gestalteten Hocker, den seine Gruppe zusammen mit Auszubildenden der Firma Heinrich Schmid erstellt hat. Matthias sagte: ,,Das ist echt gut und macht mir viel Spaß“. Frau Koch betonte, wie wichtig es sei “ Experten in eigener Sache“, sprich die behinderten Menschen in Planung und Gestaltung mit einzubeziehen. So werden Veranstaltungen durchgeführt und Projekte zusammen erarbeitet. Auch gibt es, ungefähr jedes halbe Jahr ein Treffen mit den genannten Kooperationspartnern. Dieses Projekt wird vom Institut für angewandte Sozialwissenschaften (Ifas) in Person von Studiengangsleiter Professor Meyer begleitet. Gemeinsam wurde auch ein Fragekatalog erstellt (etwa, was wollen die Betroffenen, was kann angeboten werden? etc.) Schnell brachten sich auch die Klienten mit ihren Erfahrungen mit ein. Johanna erzählt mit sichtbarer Freude, dass sie zusammen mit StudentenInnen der Kunsttherapie, Hände aus Gips bemalt hätte. Ich konnte das bunte Objekt bestaunen, das alle Kooperationspartner als Geschenk erhielten. Auch ein überaus schön und originell gestaltetes Fotobuch machte die Runde. Darin sind bunt bemalte Hände vor wechselnden Schwarz-WeißHintergrund abgebildet. Michael erwähnte eine von ihm mitgestaltete Spielstraße bei Stadtfesten in Wendlingen und 16 Überhaupt hatte ich den Eindruck, dass alle mit viel Freude dabei sind und gerne und begeistert von ihren Arbeiten erzählen. Schön finde ich auch, wie von den MitarbeiterInnen beschrieben wurde, dass bei allen Ausführungen Menschen mit Handicap aktiv dabei sind. Außerdem wurde von den vielen Urlaubsfreizeiten im In- und Ausland erzählt. Die inklusiven Angebote in den Bereichen Bildung und Freizeit stehen allen offen, die in der Einrichtung arbeiten oder leben. Gemeinsam werden auch Altennachmittage oder Treffen in Jugendhäusern in Frickenhausen und Oberboihingen organisiert. Ich finde, auch dies ist ein gutes Beispiel für gelebte Inklusion. „Jeder kann was“ das ist unser Motto, betonen die MitarbeiterInnen Gerne hätte die Behindertenförderung Linsenhofen e.V. noch mehr ehrenamtliche Mitarbeiter oder auch zusätzliche Kooperationspartner. Sehr beeindruckt von der Inklusion der Behindertenförderung verlies ich mit einem guten Gefühl die sympathische Runde. Beitrag: Willi-Gerhard List Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen Esslingen – auf dem Weg zu einer inklusiven Stadt Diana Rüdt im Gespräch mit „Sichtweisen“Redakteur Manfred Tretter. Im Amt für Soziales und Sport der Stadt Esslingen hat Diana Rüdt die Koordinationsstelle für den umfangreichen Themenbereich Inklusion inne. Was das im Einzelnen bedeutet, kann man im folgenden Text erfahren. „Sichtweisen“: Erzählen Sie am Anfang unseren Leserinnen und Lesern doch etwas Persönliches. Rüdt: Ich lebe mit meinem Mann und unserer Tochter Hanna, die zwei Jahre alt ist, im Kreis Ludwigsburg. Hier hat auch mein Lebenslauf begonnen. Zum Studium war ich in Trier und Tübingen. Einen Abstecher gab es auch nach Schweden. Dem Studienabschluss nach bin ich Politikwissenschaftlerin und Empirische Kulturwissenschaftlerin. Nach dem Studium habe ich in einem Forschungsprojekt an der Universität Kassel gearbeitet. Es ging dabei um den demografischen Wandel und wie sich für die Senioren neue Verbände und Organisationsformen bilden. Mir wurde klar, dass ich gerne in die Praxis wechseln und nicht in der Forschung bleiben wollte. Es hat sich die Möglichkeit geboten, nach Kiel zu gehen und in einem Sozialverband in der inklusiven Jugendarbeit tätig zu werden. Das war mein erster beruflicher Kontakt mit Menschen mit Handicap. Die Initiative, dass wir uns wieder nach Süddeutschland orientiert haben, ging von meinem Mann aus, der beruflich wechseln wollte. Nach einem Jahr Elternzeit habe ich begonnen, mich hier um einen beruflichen Einstieg zu kümmern. Mit der Stelle in Esslingen ging es dann ziemlich schnell. „Sichtweisen“: Wie war dann Ihr Start hier bei der Arbeit? Rüdt: Im April 2014 kam ich in Esslingen an. Die Stadtverwaltung hat sich das Ziel Sichtweisen 16/2015 gesetzt, in gut einem Jahr einen Aktionsplan zu erarbeiten, der die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in Esslingen verbessern soll. Meine Aufgabe besteht in der Koordination des Entstehungsprozesses. Das Projekt „Auf dem Weg zu einem Inklusiven Esslingen“ wird vom Sozialministerium des Landes Baden-Württemberg gefördert. Der Aktionsplan sollte nicht vom Schreibtisch aus geschrieben werden, sondern auf der Grundlage einer fundierten Analyse und unter breiter Beteiligung von Menschen mit Behinderung. Es geht in dieser Analyse um Fragen der Lebenssituation von Menschen mit Handicap in Esslingen: Welche Angebote gibt es schon, welche Teilhabewünsche bestehen noch? Die Stadtverwaltung hat das Stuttgarter Institut für angewandte Sozialwissenschaften damit beauftragt, die Daten zu erheben und auszuwerten. Neben dieser wissenschaftlichen Analyse wollten wir den Prozess dafür nutzen, nachhaltige Beteiligungsstrukturen aufzubauen. Es wurde ein Projektbeirat eingerichtet. Alle Gremien sind mit der Absicht gebildet worden, dass sie weiterhin laufen können, um die zukünftige Umsetzung zu begleiten. 17 Sichtweisen Esslingen – auf dem Weg zu einer inklusiven Stadt „Sichtweisen“: Wie ist man dann zu Ergebnissen gelangt? Rüdt: Zunächst haben wir Organisationen zu den bereits bestehenden Teilhabemöglichkeiten von Menschen mit Behinderung befragt. Das waren beispielsweise Ärzte, Apotheken, Schulen, Beratungsstellen, Wohnungsbaugesellschaften, Freizeiteinrichtungen und Vereine. Dieser Personenkreis erhielt einen Fragebogen. Es wurden auch Experteninterviews mit Einrichtungen der Behindertenhilfe und Interessenverbänden von Menschen mit Behinderung geführt. Damit kommen wir auch zu meinen Aufgaben: Bestandsanalyse, Beteiligungsstrukturen und Aktionsplan zusammen zu bringen. „Sichtweisen“: Ich konnte selbst an zwei Besprechungsrunden teilnehmen, bei denen man sich themenbezogene Gedanken machte. Rüdt: 18 tagten die sogenannten Fokusgruppen zu den fünf Handlungsfeldern. Es gab dabei eine sehr breite Teilnahme z. B. Menschen mit Behinderung, Mitglieder der Bürgerausschüsse, Vertreter unterschiedlicher städtischer Fachämter, Wohnungsbaugesellschaften, Volkshochschule, Sportvereine, Schulen und Busunternehmen. In den Fokusgruppen wurden die Ergebnisse der Bestandsanalyse im Hinblick auf Teilhabemöglichkeiten, Teilhabewünsche und Teilhabehindernisse präsentiert und diskutiert. Die Fokusgruppen setzten Prioritäten hinsichtlich der Handlungsbedarfe und erarbeiteten konkrete Handlungsempfehlungen, die in den Aktionsplan einfließen werden. Ja, der Austausch mit Menschen mit Behinderung und mit Fachleuten ist uns sehr wichtig. Wir hatten entschieden, nicht alle Handlungsfelder zu bearbeiten, die in der UN-Behindertenrechtskonvention behandelt werden. Im Mittelpunkt sollten Bereiche stehen, in denen kommunaler Handlungsspielraum besteht. Ausgewählt wurden demnach die Lebensbereiche „Bildung und Erziehung“, „Barrierefreiheit im öffentlichen Raum“, „Freizeit, Kultur, Sport“, „Gesundheit und Versorgung“ sowie „Wohnen“. Die Bestandsanalyse konzentriert sich auf diese Handlungsfelder und darauf baut der Aktionsplan auf. Es gab die schriftliche Befragung von relevanten Organisationen zu den bestehenden Teilhabemöglichkeiten, und die Befragung von Menschen mit Behinderung. Die im November 2014 durchgeführte Zukunftswerkstatt brachte schon Zwischenergebnisse. Im März 2015 „Sichtweisen“: Wenn man auf die Stadt schaut, sind doch die Stadtteile sehr verschieden. Rüdt: Wir haben Sozialraumerkundungen in allen zwölf Bürgerausschussbezirken durchgeführt. In den Bezirken wurden Treffen abgehalten, zu denen öffentlich eingeladen wurde. Die Frage war: Wo gibt es im Bürgerausschussbezirk bereits gute Beispiele für gelebtes Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung, wo fehlt es noch? Wo gibt es Potentiale, die man einbeziehen kann? „Sichtweisen“: Wie beurteilen sie die Beteiligung an diesem doch sehr komplexen Vorgehen? Rüdt: Ich bin insgesamt sehr zufrieden. Es herrschte eine gute Atmosphäre mit konstruktiven Ideen. Besonders gefreut hat mich, dass sich beispielsweise in den Fokusgruppen neue Kontakte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung ergeben haben und erste Ideen der Zusammenarbeit geschmiedet wurden. In der Innenstadt konnte man erwartungsgemäß mehr Menschen erreichen Sichtweisen 16/2015 als am Stadtrand. angeordnet. Wichtig ist uns, dass themenbezogen weiter gearbeitet wird, wie es während der Bestandsaufnahme eingeführt wurde. Eine Möglichkeit dafür wäre, dass die Fokusgruppen in regelmäßige Arbeitsgruppen entlang der fünf Handlungsfelder überführt werden. „Sichtweisen“: Wie ist nun der Stand? Rüdt: Ende April war der Abgabetermin für den Bericht des Forschungsinstitutes. Aufgrund dieses Berichtes und meiner eigenen Erfahrungen der letzten Monate erstelle ich den Aktionsplan. Der Aktionsplan wird dann dem Gemeinderat vorgelegt. Von selbst wird die Umsetzung des Planes nicht laufen. Das ist ein fortlaufender Prozess unter Beteiligung von Menschen mit Behinderung und anderen wichtigen Akteure der Stadtgesellschaft. Die Stadt Esslingen kann den Weg hin zu einem inklusiven Esslingen nicht alleine gehen. Deshalb bitten wir insbesondere Menschen mit Behinderung und ihre Interessenvertreter wie auch die Einrichtungen der Behindertenhilfe darum, sich mit ihren Ressourcen und Kompetenzen in diesen Prozess einzubringen. Ganz wichtig ist es uns, dass Strukturen verankert werden, die helfen diese Maßnahmen gut umzusetzen und den Prozess unterstützend zu begleiten. Auf der anderen Seite gibt es auch Begrenzungen, wenn z. B. verschiedene Baumaßnahmen zum Abbau von räumlichen Barrieren notwendig sind, die sehr viel Geld kosten. Hier wird es sorgfältiger Abwägungen bedürfen. „Sichtweisen“: Wie könnte diese Organisationsform aussehen? Rüdt: Genau kann ich das noch nicht sagen, wie es kommen wird. Im Zentrum der Überlegungen steht als Fortführung des Projektbeirates ein Inklusionsbeirat, in dem Vertreter der Verwaltung, Fachleute der Behindertenhilfe und Betroffene zusammenarbeiten. Wir brauchen die Menschen mit Behinderung, die sich mit ihrem Erfahrungswissen einbringen. Es wird nicht von oben herab etwas Sichtweisen 16/2015 „Sichtweisen“: Wie könnte denn unser Thema noch mehr in die Öffentlichkeit kommen? Rüdt: Am 29. September 2015 wird es im Alten Rathaus eine Auftaktveranstaltung zur Vorstellung und Umsetzung des Aktionsplanes geben, etwa nach dem Motto „Blick zurück nach vorn“. Dort sollen schon einige Projekte benannt werden, die man sich für das nächste Jahr vornehmen will. Dies könnte eine Schulung für Busfahrer in Bezug auf Umgang mit Menschen mit Behinderungen sein, eine Checkliste für Veranstaltungen, die Menschen mit Behinderung ansprechen soll oder eine Assistenzbörse für Begleitung und Unterstützung. Der Inklusionsprozess ist eine große Chance für alle, wird doch eine Stadt lebenswerter für alle. Offenheit und Bereitschaft zur Begegnung sind Haltungen, die bei unserem Thema wichtig sind. Bei der erwähnten Veranstaltung soll es auch kulturelle Beiträge geben und wir wollen ein bisschen feiern. Das gibt dann auch Schwung für die kommende Arbeit im Sinne der UNBehindertenrechtskonvention. Schließlich geht es bei unserem Thema nicht um eine kleine Randgruppe, sind doch mehr als 10 % der Bevölkerung von Behinderung betroffen. Und wie ich schon sagte, eine inklusive Stadt ist eine lebenswerte Stadt für alle. Die „Sichtweisen“ bedanken sich für das Gespräch und wir hoffen, bald über konkrete Vorhaben aus Esslingen berichten zu können. Der Artikel entstand im Mai 2015. 19 Sichtweisen Inklusionsprojekt e. V. „ Inklusionsprojekt e.V. – Inklusion erleben “ Inklusion ist vielmehr als „nur“ Kindern mit und ohne Behinderung das gemeinsame Lernen zu ermöglichen. Inklusion ist die Forderung und Formulierung einer Idee nach einem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel. Inklusion funktioniert nur, wenn das absolute Leistungsprinzip überdacht wird, wenn menschliche Werte vor machtpolitischen Interessen wieder mehr in den Vordergrund rücken, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse vor wirtschaftlichen und kirchlichen Dogmatismen stehen, 20 wenn mehr miteinander, nicht übereinander geredet wird, Machtstrukturen aufgebrochen werden und eine Öffnung in Richtung neuer gesellschaftlicher Utopien stattfindet, sprich: wenn die Gesellschaft sich radikal verändert. Deshalb ist Inklusion ein langer, schwieriger und dynamischer Prozess. Wir befinden uns am Anfang dieses Weges, aber wir haben ihn endlich beschritten. Gegenseitiges Verständnis im Sinne des Verstehens, nicht des Wegschauens, ist die Grundlage, um den Weg gemeinsam zu gehen. Redaktion Sichtweisen, Willi-Gerhard List Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen Kunstprojekt Kunstprojekt im Zentrum für Arbeit und Kommunikation Esslingen Auf die Idee kommt es an Klar, das ist doch schon ein Gemeinplatz für soziale Einrichtungen, offene Tür, niedrige Schwelle usw. Aber wie macht man das, wenn man damit eine wichtige Botschaft verbinden will. Zum Beispiel verlief die letzte Weihnachtsfeier etwas anders. Es gab ein Buffet an dem einige Nachbarn zur Beteiligung eingeladen waren. Und jetzt im Sommer sollte daran angeknüpft werden, man zog die Ergotherapeutin Christine Glotzmann hinzu, die schon mehrere Projekte im Zentrum für Arbeit und Kommunikation (ZAK) geleitet hatte. Geboren wurde schließlich die Idee, Gesichter/ Masken auf Kacheln zu gestalten. Wer ist wer Soll das Vorhaben gelingen, braucht man dafür günstige Voraussetzungen. Der Arbeitsprozess soll nicht zu lange dauern, wer nicht oft teilnehmen kann, soll auch das Ziel erreichen. Eine besondere Vorbildung soll nicht erforderlich sein. Sodass sich jeder im ZAK angesprochen fühlen könnte. Anleitung und Hilfe war immer in der Nähe, dass sich niemand allein gelassen fühlen musste. Mit dem Thema Gesichter beschäftigen wir uns das ganze Leben, mit dem eigenen Gesicht im Spiegel, den Gesichtern der Menschen um uns, mit den Gesichtern und Masken in den Medien und der Kunst. Es gibt für den Ausdruck von Gesichtern unendlich viele Möglichkeiten auf der Skala der Emotionen und in unendlichem Formenreichtum begegnen sie uns ganzkörperlich. Man wird durch das Projekt angeregt, die eigene Wahrnehmung gegenüber der so persönlichen Sichtweisen 16/2015 Welt des Antlitzes zu verfeinern. Die Arbeitsphase lief einmal wöchentlich über zwei Monate im Sommer. Man traf sich im Innenhof des ZAK. Kolleginnen und Kollegen der Gemeindepsychiatrie waren ebenso von der Partie wie Besucherinnen und Besucher des ZAK und weitere Interessierte. In kreativer Atmosphäre entstanden hunderte Kacheln. Bei künstlerischem Tun können wir unsere gewohnten Rollen verlassen und neue Seiten der Begegnung kennenlernen, die sonst oft zu kurz kommen. Was daraus geworden ist Jeder Beteiligte hat ein Ergebnis erreicht. Jede Kachel hat einen individuellen Ausdruck, der sich während des Entstehungsprozesses in das Material eingeschrieben hat. Man kann die Einzigartigkeit des eigenen Werkes wiedererkennen, und man fühlt zugleich die eindrucksvolle Vielfalt des Ensembles aller Arbeiten. Auf der Metallplatte befestigt, tritt uns ein Panorama von Gesichtern entgegen, sie zeigen die aufgefächerten Möglichkeiten der menschlichen Existenz, die, so vielfältig anzuschauen, doch nur die Momentaufnahme eines glücklichen Sommers ist. In den Räumen des ZAK, Franziskanergasse 7, Esslingen kann man den Gesichtern gegenüber treten und sich selbst ein Bild machen. Beitrag: Manfred Tretter 21 Sichtweisen Erfahrungen und Meinungen von Betroffenen Es gibt viel zu tun – Interview zum Thema Inklusion unter Werkstatt-Teilnehmern/-innen der Tagesstätte für psychisch kranke Menschen der Firma ARBEG g GmbH. Die Fragen stellte Willi-Gerhard List. Die anderen Gesprächsteilnehmer/-innen: Karsten Lindner (Redaktionsmitglied der Sichtweisen), Karin, Ulrike, Sven Zuerst erklärte ich den Begriff „Inklusion“ und stellte fest, dass dieser eher unbekannt war oder es nur vage Vorstellungen von Inklusion gab. Danach stellte ich die erste Frage: „ Wie finden Sie es, wenn Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichen Handicaps an Schulen zusammen mit gesunden Kindern unterrichtet werden?“ Karin und Sven äußerten sich ähnlich und meinen zuerst, dass hierfür die Lehrer speziell und gut ausgebildet sein müssen. Ulrike sagte deutlich, sie fühle sich in einer Gemeinschaft mit Menschen mit ähnlichen Handicaps (wie hier in der Tagesstätte) wohler und steuert beispielhaft eine kleine, fast makabre Geschichte bei: Als sie beim Zahnarzt war und nach ihren Medikamenten gefragt wurde, die sie regelmäßig einnehmen müsse, war natürlich das Krankheitsbild der Patientin offengelegt und die Arzthelferin fragte den Arzt, ob sie jetzt Angst haben müsse? Karsten hingegen hätte gern mehr Kontakt zu „ normalen “ Leuten, um ein besseres Selbstvertrauen zu entwickeln und auch, um von anderen lernen zu können. Sven sagte, er sei gerne hier und komme mit den meisten hier gut klar. Karin erzählte: „ In meiner Familie hat es lange gedauert, bis gegenseitiges Vertrauen entstanden war.“ Karsten findet, viele Menschen gingen zu sehr auf Distanz gegenüber Menschen mit psychischem Handicap. Ulrike meint: „ Es ist wichtig, dass keine Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen stattfindet.“ Viele hätten jedoch Ängste vor psychisch Kranken, da die meisten diese Krankheiten nicht so gut kennen. Karin fügte ein: Wenn Menschen sagen, die „spinnt “, das tue schon weh. Karsten fügt hinzu, dass in unserer Gesellschaft eine Sensibilisierung für solche Menschen stattfinden sollte. Ulrike hat den Eindruck, oft nicht so ernst genommen zu werden und teilweise auch von Ärzten schlechter behandelt zu werden. Die zweite Frage lautete: „Sind Sie im privaten Umfeld (bspw. im Freundeskreis) auch mit gesunden Menschen zusammen und fühlen Sie sich dabei angenommen und verstanden?“ Die dritte und letzte Frage war: „ Angenommen es gäbe für Sie in einem normalen Betrieb (unter Gesunden) angemessene Arbeit, würden Sie dies einer Einrichtung wie hier (einer Werkstatt für behinderte Menschen) vorziehen?“ Karin meint dazu: „Gesunde Menschen können oft mit psychisch Kranken wenig anfangen – viele tun sich im Umgang mit uns schwer.“ Karsten ist der Meinung, besser nicht gleich zu sagen, dass man psychisch krank ist. 22 Sven stimmt bei und fügt hinzu: „ Die Menschen akzeptieren das nicht immer.“ Sven sagte klar: „ Er arbeite gern hier. Früher, als er „normal“ gearbeitet hat, hätte er viele schlechte Erfahrungen machen müssen. Karsten meint: „Ich habe hohe Ansprüche an mich und würde deshalb normale Arbeit vorzie- Sichtweisen 16/2015 hen. Das würde mir ein Gefühl der Zugehörigkeit geben. Die Realität sieht wohl aber anders aus. Außerdem bin ich auch schon 54 Jahre alt.“ Ulrike sagte: „Ich brauche momentan den geschützten Rahmen hier. Sie sei lange auf dem freien Arbeitsmarkt gewesen und hätte da auch schwierige Erfahrungen hinter sich. Generell müsste mehr Rücksicht auf uns genommen werden. Wenn man so offen über seine Erkrankung spricht, wird man schnell stigmatisiert und diskriminiert.“ Auch Karin hat es schon oft auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt versucht und meinte: „Da müsste sich vieles erstmal positiv entwickeln.“ Allgemein besteht in der Gruppe die Auffassung, dass die Anforderungen in der Arbeitswelt enorm gestiegen seien und es immer mehr Druck und mehr Stress gäbe. stehen, weniger Profit und Wachstum. Eine solche Entwicklung kann ich jedoch nicht erkennen, wenn wohl auch in Teilen der Bevölkerung ein Umdenken stattfindet “ Ulrike fügt hinzu, es müsste sich sehr viel ändern, wenn der Mensch mehr zählen würde, d.h., wenn eine höhere Wertschätzung gegenüber den Teilnehmern/-innen vorhanden wäre. Wir hätten bessere Chancen, unsere Fähigkeiten einzubringen, vielleicht sind wir ja doch in einem Umbruch des sozialen Umdenkens hier in Deutschland.“ Karsten: „Dass Flüchtlinge bei uns von weiten Teilen der Bevölkerung angenommen und integriert werden, macht mir Hoffnung, dass sich dies vielleicht auch positiv auf uns psychisch kranke Menschen auswirken könnte.“ „Ich würde es begrüßen, wenn auch in den Medien mehr über psychische Erkrankungen und Inklusion berichtet wird.“ Unsere Tagesstättenleiterin, die unsere Gespräche aufmerksam verfolgte, stimmte dem zu und meinte, dass die Anforderungen im Arbeitsleben gestiegen sind und merkte an, dass auch gesunde Menschen ihre Grenzen und ihre „wunden Punkte “ hätten. Ich war geradezu begeistert, wie offen und angeregt unsere Gesprächsrunde war und wie viele interessante Aspekte und Meinungen geäußert wurden. Ich warf ein: „Es wäre ein Wertewandel in unserer Gesellschaft und in der Wirtschaft notwendig. Der (arbeitende) Mensch sollte im Mittelpunkt Herzlichen Dank an meine Kolleginnen und Kollegen für dieses Interview. Willi-Gerhard List Es war ein gigantisches Konzert. Seine Stimme gefällt mir und ich finde, er sieht noch immer sehr gut aus. Die Halle war brechend voll mit begeisterten Fans. richtig krachen lassen. Der Jubel war groß und die Begeisterung wurde lautstark kundgetan. Im Gegensatz zu früher ist die Bestuhlung für Behinderte in der Schleierhalle besser gelöst. Die Behinderten sitzen am Rand der Bestuhlung und eine Rampe wurde gebaut. Mit der Musikfolge hatte ich meine Schwierigkeiten. Er hatte mir zu wenig alte Hits gespielt (nur vier). Hauptsächlich hat er aus seinem neuen Album gespielt. Das Konzert war sehr lang (3 Stunden) – aber bestimmt nicht langweilig. Es war für mich und sicher auch für andere ein „High Light“. Ich denke heute noch gerne zurück. Natürlich auch gut und unverkennbar. Er hat es Beitrag: Annerose Klingmann Rock-Konzert mit Peter Maffay Sichtweisen 16/2015 23 Sichtweisen Inklusion aus Sicht der Kirche Ich habe Herrn Haußmann, den Geschäftsführer der Diakonie im Landkreis Esslingen, befragt. Er gab mir Informationsmaterial zum Thema, in dem auch Jesus genannt wird, der Schwache und Ausgegrenzte an einen Tisch brachte. In den 10 Thesen des Fachverbandes Behindertenhilfe wird eine volle Teilhabe für Menschen mit Behinderung gefordert. In den Unterlagen der Diakonie zur Inklusion wird festgestellt, dass Inklusion in der Arbeitswelt nur zusammen mit den Werkstätten für behinderte Menschen gelingen kann. Es wird die Meinung vertreten, dass sich darin Alternativen zur WfbM eröffnen, wenn Menschen mit Behinderung ein durchlässiger und flexibler Zugang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt ermöglicht. Es muss möglich sein, eine dauerhafte Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt zu nutzen, auch wenn dazu persönliche Assistenz nötig ist. Ein uneingeschränktes Rückkehrrecht in eine WfbM muss gewährleistet sein. Sozialversicherungsrechtliche Regelungen, die bisher an einen Arbeitsplatz in der WfbM gebunden sind, müssen unabhängig vom Beschäftigungs- und Rehabilitationsort gelten. Ein dauerhafter Mindestleistungsausgleich muss als Anreiz für Arbeitgeber geschaffen werden, Menschen mit einer Behinderung anzustellen. Die Diakonie Württemberg versteht unter Inklusion: Alle haben das Recht, ihr Leben gut zu gestalten. Alle Menschen sind von Gott gewollt, jeder besitzt Menschenwürde und Menschenrechte. Diakonie ist die soziale Arbeit der Kirche, sie ist auf dem Weg: Sie verwirklicht Inklusion Stück für Stück. Sie setzt sich ein: Alle Menschen sollen am Leben und in der Gesellschaft teilhaben können. 24 Alle sollen: • gemeinsam aufwachsen • gemeinsam lernen können • gemeinsam leben und arbeiten können • alle müssen überall willkommen sein und die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Alle sollen sich beteiligen können und Verantwortung übernehmen. Alle sollen mitmachen können. Menschenrechte gelten für alle, es müssen alle die gleichen Möglichkeiten haben. Deshalb müssen Hindernisse überwunden werden. Die Diakonie will eine Welt, in der alle so sein können, wie sie sind. Jeder Mensch ist gleich viel Wert. Das ist unabhängig davon, wer er ist und was er kann. Jeder Mensch hat Fähigkeiten. Aber jeder Mensch hat Einschränkungen. Das gehört zu seinem Leben. Jeder Mensch muss und darf so angenommen werden, wie er ist. Wir sollten so miteinander umgehen, dass jede und jeder für sich selbst entscheiden und handeln kann. Körperliche und seelische Einschränkungen gehören zu jedem Leben dazu. Manchmal empfinden wir diese besonders belastend. Diese Einschränkungen gehören zum Leben, wie Gott es geschaffen hat. Die Bibel hilft, mit den eigenen Einschränkungen umzugehen. Menschen brauchen einander, wir können nicht ohne Beziehungen und Gemeinschaft leben. Die Diakonie will eine Gesellschaft in der die Menschen füreinander da sind, sie ist offen für Fremdes und Neues. Um Inklusion zu verwirklichen, müssen alle Beteiligten bereit sein, sich zu verändern. Es müssen Bildungsangebote, Wohnungsgebiete, Arbeitsplätze und Hilfsangebote verändert werden. Gleichzeitig soll jede und jeder die passende Hilfe bekommen. Die Diakonie setzt sich dafür ein, dass immer die persönlichen Rechte und Bedürfnisse angeschaut werden. Nach diesem Recht und den Bedürfnissen soll gehandelt werden. Sichtweisen 16/2015 Wo Menschen wohnen, ist die Wohnung wichtig und das, was sich um die Wohnung herum befindet. Und jetzt die Antworten meiner Befragung an Herrn Haußmann: Es geht um Möglichkeiten: 1. Die evangelische Kirche gestaltet und veranstaltet die Vesperkirche. Dort treffen sich Menschen auf gleicher Augenhöhe, damit die Menschen, die von der Kirche betreut werden, eine Stimme bekommen. • Cafés zu besuchen • günstig einkaufen zu können • Geld am Bankautomaten holen • Freizeitmöglichkeiten nutzen können und Schulen besuchen können. Es braucht Orte wo jede und jeder dazugehören und Freunde finden kann. Unterstützung muss bezahlt werden können. 1) Planungen müssen zusammen mit den Verantwortlichen der Stadt, Verantwortlichen der Einrichtungen und Bürgerinnen und Bürgern mit und ohne Behinderung gemacht werden. 2) Es muss alles getan werden, damit das Miteinander am Wohnort gelingt. Das müssen genügend Menschen wollen und dabei mithelfen. Für das Zusammenleben sind Respekt und Vertrauen sehr wichtig. Es braucht Orte, an den sich Menschen treffen können. Diese müssen bekannt sein. Inklusion gelingt dann, wenn Menschen erleben, dass sie etwas bewirken, verändern und gestalten können. Alle Menschen können Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen. 2. Das Weihnachtsfest, plus – Feier im Eckpunkt (Diakonie Kirchheim/Teck) Herr Haußmann versteht sich als Anwalt der Schwachen und der Menschen mit psychischer Behinderung. Er trägt das Thema Inklusion in die Öffentlichkeit, denn diese Menschen sind genauso Teil der Gesellschaft wie andere. 3. Die Ex-In- Fachkräfte bei der Inklusion: Das sind Leute, die sich in ihrer eigenen psychischen Erkrankung zum Spezialisten haben ausbilden lassen und können so bei der Beratung und Hilfeleistung ihre eigenen persönlichen Erfahrungen einbringen. Der Ex-In Spezialist kann so auch für sich selbst herausfinden, wo er steht. Herr Haußmann beschreibt seine Diakonie auch als lernende Einrichtung. 4. Kirchentage gestalten auf deren psychisch krank sein immer wieder Thema ist. 5. Diakonie als Ort für die Angehörigen. Alle Menschen haben eine Meinung. Sie können überlegen, was für sie selber und andere wichtig ist. Sie können selbst Entscheidungen treffen und sind für andere wichtig. Sie können die Gesellschaft gestalten. Beteiligung geht nur miteinander. Kirchengemeinden und Diakonische Einrichtungen beteiligen und stärken Menschen. Dabeisein und Mitmachen bedeutet nicht, dass es keine Ungerechtigkeiten mehr gibt. Beteiligt werden ist aber der Anfang eines inklusiven Miteinanders. Deshalb ist Beteiligung für die Diakonie so wichtig. Sichtweisen 16/2015 Sich als Psychisch krank outen? Ist mutig, aber nicht immer hilfreich. Als Psychisch Kranker kann man um Verständnis bitten und sich für die Sache einsetzen. Gemeindenahe Inklusion im Landkreis: Politik und Verwaltung sind gefordert. Was Inklusion für Herrn Haußmann bedeutet: Dass wir aufeinander zuwachsen, dann ist Inklusion eine gute Perspektive für unsere Gesellschaft! Beitrag: Karsten Lindner 25 Sichtweisen Wachsende Akzeptanz für Inklusion an Schulen Eine Umfrage von Infratest im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung* Vom gemeinsamen Unterricht sollen alle profitieren, Kinder mit und ohne Handicap. Ob das gelingen kann, wird in Politik, Lehrerzimmern, aber auch bei Eltern kontrovers diskutiert. Dazu hat die Bertelsmannstiftung in diesem Sommer eine Umfrage veröffentlicht. Aus der Befragung von 4.300 Eltern ergab sich eine gute Bewertung inklusiver Schulen. In den Bereichen der Förderung nach individuellen Stärken sowie der Kompetenz und dem Engagement der Lehrer schneiden in der Beurteilung der Eltern inklusive Schulen besser ab – und zwar unabhängig davon, ob das eigene Kind Förderbedarf hat oder nicht. Eltern, die Erfahrung mit inklusivem Lernen haben, sind deutlich weniger skeptisch, als Eltern ohne diese Erfahrung. So glauben 58 % der Befragten ohne Inklusionserfahrung, Inklusion gehe auf Kosten des fachlichen Lernens, bei Eltern mit Inklusionserfahrung glauben dies nur zu 44 %. Es zeigt sich deutlich, je mehr Berührungspunkte Eltern mit inklusiven Schulen haben, umso höher ist die Offenheit für verschiedene Gruppen von Förderschülern (etwa Kindern mit Lern- und Verhaltensstörungen, mit geistigem oder körperlichem Handicap). Fragt man dagegen die Eltern ganz allgemein zu ihrer Einstellung gegenüber inklusivem Lernen, stufen zwar 70 % Inklusion als gesellschaftlich wichtig ein, doch sind etwa die Hälfte der Befragten der Meinung, dass Kinder ohne Förderbedarf auf inklusiven Schulen fachlich gebremst werden. Interessant scheint mir auch folgender Vergleich: Von den Eltern, deren Kind an einer inklusiven Schule lernt, sind 68 % mit der individuellen Förderung ihrer Kinder zufrieden – dagegen sind es nur 58 % der Eltern, deren Kinder auf nichtinklusive Schulen gehen. Wichtig erscheint mir auch, dass der soziale Zusammenhalt an Schulen mit Inklusion höher eingeschätzt wird als an Schulen ohne. Hoffnungsvoll stimmt auch, dass das Zeugnis für Pädagogen an inklusiven Schulen deutlich besser ausfällt als für Lehrer an nichtinklusiven Schulen. Sie können aus Sicht der Eltern besser erklären, sind engagierter und fördern die Stärken der Schüler gezielter. Jörg Berger, Mitglied des Vorstandes der Bertelsmannstiftung meint: „Lehrer an inklusiven Schulen werden von Eltern besonders geschätzt. Dies ist ein wichtiges Zeichen für eine gelingende Inklusion in Deutschland. “ Beitrag: Willi-Gerhard List *https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/pid/eltern-geben-inklusiven-schulen-gute-noten/ Sichtweisen Inklusion und Recovery in der Gemeindepsychiatrie Laut Peter Lehmann stammen die Ursprünge des Recovery-Begriffs aus dem Jahr 1937, als Abraham Low vom Psychiatrischen Institut der University of Illinois in Chicago den gemeinnützigen Verein „Recovery, Inc“ für Menschen mit diversen psychiatrischen Problemen gründete. Ziel dieses Vereins waren Selbsthilfemethoden und Techniken parallel zu den kognitiven Therapien zu praktizieren, wobei das Thema Medikamente keine Rolle spielte. In den späten 1980er und den frühen 1990er Jahren wurde der Begriff in der Verbraucher- 26 schutzbewegung der USA und in der Literatur zur Rehabilitation psychisch kranker Menschen in Italien, den Niederlanden und Großbritannien benutzt. Vorschub für diese Entwicklung der Recovery-Bewegung leisteten die Ergebnisse von WHO-Länderstudien aus den 1970er und 1990er Jahren, sie zeigten unerwartet häufig vollständige und soziale Gesundung. Heute wird Recovery unterschiedlich benutzt, so zielt das klinische Recovery-Modell auf die Besserung von Symptomen und Funktionen und das betroffenenorientierte Modell tendiert Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen Inklusion und Recovery in der Gemeindepsychiatrie auf die Hilfen in den Netzwerken, auf Empowerment und lebensweltlichen persönlichen Erfahrungen. In der Drogenbehandlung wird z.B. das Zwölf-Schritte-Programm der Anonymen Alkoholiker angewandt und in einer Veröffentlichung der US Gesundheitsbehörde bezüglich Wiedererlangung der geistigen Gesundheit werden 10 fundamentale Bestandteile von Recovery genannt. Andere Modelle basieren auf 6 Phasen (Angst, Bewusstwerden, Erkenntnis, Aktionsplan, Entschlossenheit und Wohlbefinden) oder differenzieren innere und äußere Beeinflussungsfaktoren. In den angelsächsischen Ländern zielt diese Recovery-Bewegung auf politische und persönliche Implikationen mit dem Fokus auf Heilung. Im deutschsprachigen Raum wird der Recovery-Begriff in Zusammenhang mit guter Pflege durch die psychiatrisch Tätigen benutzt. Soziale Inklusion hat mit der UN-Behindertenrechtskonvention eine zentrale Bedeutung bekommen und geht über den Begriff der Integration hinaus. Inklusion leitet sich vom lateinischen includere ab und bedeutet: einschließen – im Sinne von umfassen; das Ganze umfasst einen Teil – somit bezeichnet Exklusion (Ausschluss) das Gegenteil. (Die Logik der Inklusion beschäftigte schon Aristoteles und bezeichnete den Zusammenhang von Dingen oder Begriffen, die zwar getrennt bekannt oder gebraucht werden, aber die gleichen Merkmale aufweisen). So beschreibt Inklusion die Gleichheit der Menschen. Das hat zur Folge: Inkludieren von psychisch kranken Menschen bedeutet, dass sie vorher nicht exkludiert werden. Soziale Inklusion ist verwirklicht, wenn der nicht exkludierte Mensch in seiner Individualität von der heterogenen Gesellschaft akzeptiert ist. Der psychisch kranke Mensch ist nicht mehr gezwungen, für ihn nicht erreichbare Normen erfüllen zu müssen, vielmehr schafft die Gesellschaft Strukturen, in denen sich der Psychiatrie Sichtweisen 16/2015 Erfahrene einbringen und auf seine Art wertvolle gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Leistungen erbringen kann. Für psychisch kranke Menschen ist die Durchlässigkeit der Angebote dann von Bedeutung, wenn aus der sozialen Exklusion eine soziale Inklusion wird. Gemäß § 53 SGB XII sollte das auch mit der finanzielle Unterstützung aus der Eingliederungshilfe möglich sein. Bei der Umsetzung der Inklusion spielen Mentoren und Peers eine wesentliche Rolle. Training von sozialer und emotionaler Kompetenz durch Tagesund Mehrtageswandern, gemeinschaftliches Reisen, Theaterbesuche, Gottesdienste, Kinobesuche, Besuch von Kursen und Fortbildungen in der Volkshochschule und anderer Aktivitäten in der Kommune oder dem Stadtteil fördern nicht nur den Abbau der Stigmatisierung in der Bevölkerung, sondern steigern auch die Resilienz der Teilnehmer. Der Einsatz von Psychiatrie Erfahrenen fördert hier nicht nur die Kommunikation in der Gruppe, sondern der ehemals pathologisch diagnostizierte Mensch kann auch als Vorbild für psychisch kranke Menschen dienen. Recovery ist kein kontinuierlicher, linearer Weg, es werden Entscheidungen gefällt und verworfen, die gleichen Entscheidungen können unterschiedliche Auswirkungen auf die Psyche, sozialen Beziehungen und den biologischen Körper haben. Eine Gemeinsamkeit haben all diese Versuche, es ist eine steigende Resilienz, gesteigertes Wohlbefinden, geringere Vulnerabilität, mehr Selbständigkeit und gesteigerte Sicherheit zu verzeichnen. Durch eine entgeltliche Beschäftigung von Peers entstehen hier auch Einnahmen in den Sozialversicherungen. Mit einer sozialen Inklusion geht auch gleichzeitig die Verbesserung sozialer, psychischer und physischer Gesundheit von Psychiatrie Erfahrenen einher, das führt zu geringeren somatischen und psychischen Beschwerden, also weniger Medikamente und Arztbesuche, auch geringere Zwangsbehandlungen, also weniger Verwaltung und Kosten der Judikative und Exekutive. 27 Sichtweisen Inklusion und Recovery in der Gemeindepsychiatrie Psychoseerlebnisse als bereichernd für die persönliche Entwicklung, autonome Lebensziele entwickeln, die eigene Verletzlichkeit anerkennen, sich im Kontakt zu Menschen und sein Wirken auf Menschen zu spüren, die innere Wahl zur Annahme professioneller Hilfe haben, der Psychose einen Sinn geben, die in zirkulärer Weise genutzt werden und wirken. Hierbei spielen Peers in der Gemeindepsychiatrie eine entscheidende Rolle, mit einer emotional stabilen Beziehung zwischen den psychisch kranken Menschen und den bezahlt arbeitenden Peers erfahren die Beteiligten eine psychische, soziale und biologische Besserstellung. Bezahlte Arbeit von Psychiatrie-Erfahrenen hat in Großbritannien und den Niederlanden einen höheren Stellenwert als in Deutschland. Auch werden hier die Psychiatrie-Erfahrenen weniger pathologisch definiert, so dass es auch jüngere Menschen stärker in die ehrenamtliche Arbeit zieht. Beitrag: Petra Besemer Sichtweisen Warum Inklusion? Alle Menschen in unserer Gesellschaft haben dieselben Rechte, weil wir alle Menschen sind. Darüber haben die Vereinten Nationen (Abkürzung: UN) auch einen Vertrag geschrieben: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Der Staat Deutschland hat diesen Vertrag auch unterschrieben und muss sich an die Vereinbarung halten. Die Vereinbarung und Inklusion lohnen sich, weil jeder Mensch seine besonderen Fähigkeiten hat: Wir können voneinander lernen und Neues entdecken. Wir können Freundschaften schließen und jede Menge Spaß haben. Uns bieten sich viele neue Möglichkeiten und tolle Erfahrungen. Inklusion rückt unsere bunte Gesellschaft in den Vordergrund. Jeder Mensch ist individuell und das haben wir alle gemeinsam. Menschen sind so verschieden wie die Kontinente auf denen sie leben mit ihren eigenen Kulturen Eigenarten, Wünschen, Hoffnungen und Zielen Doch können alle zusammenfinden voneinander lernen, reicher werden wenn sie sich annähern, das Anderssein akzeptieren, und als Bereicherung erleben. Neue, gemeinsame, andere Ziele können verwirklicht werden, die man alleine nicht erreichen würde. Die Gemeinsamkeit macht stark – widerstandsfähig, mutig, ausdauernd und spornt an – hilft manchmal offenbar unmögliches zu realisieren. Inklusion... • schreibt allen Menschen dieselben Rechte zu • unterscheidet nicht • diskriminiert nicht • ermöglicht Teilhabe • ermöglicht Chancengleichheit • bietet Chancen • bietet Herausforderungen • bietet Vielfalt • erhöht die erlebte Lebensqualität benachteiligter Menschen 28 Sichtweisen 16/2015 Sichtweisen EX-IN Genesungsbegleitung Inklusion in unserer Stadt Kirchheim unter Teck am Beispiel meines Minijob-Arbeitsverhältnisses beim Kreisdiakonieverband Esslingen im Sozialpsychiatrischen Dienst Kirchheim unter Teck von 01.10.2013 – 31.12.2014: Die EX-IN Genesungsbegleitung basiert nach der Grundlage von Empowerment und Recovery. Mit Empowerment (engl. empowerment = Ermächtigung, Übertragung von Verantwortung) bezeichnet man Strategien und Maßnahmen, die den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen oder Gemeinschaften erhöhen sollen und es ihnen ermöglichen, ihre Interessen (wieder) eigenmächtig, selbstverantwortlich und selbstbestimmt zu vertreten. Empowerment bezeichnet dabei sowohl den Prozess der Selbstbemächtigung als auch die professionelle Unterstützung der Menschen, ihr Gefühl der Macht- und Einflusslosigkeit (powerlessness) zu überwinden und ihre Gestaltungsspielräume und Ressourcen wahrzunehmen und zu nutzen. Ich bin Mensch - und du? [ ein Gedicht von Joseph Beuys ] Lass dich fallen Lerne Schlangen zu beobachten Pflanze unmögliche Gärten Lade jemanden Gefährlichen zum Tee ein Mache kleine Gesten Werde ein Freund von Freiheit und Unsicherheit Freue dich auf Träume Weine bei Kinofilmen Schaukel so hoch, du kannst Tu Dinge aus Liebe Mach eine Menge Nickerchen Gib Geld weiter Sichtweisen 16/2015 Das Wort Recovery bedeutet Wiedergenesung. Die Ergebnisse der Verlaufsforschung widerlegen inzwischen das seit über 100 Jahren gültige Gerücht der Unheilbarkeit von psychischen Erkrankungen. Diese Erkenntnis stellt dann auch die momentan praktizierte vorwiegend fürsorgliche Behandlung in Frage. Recovery steht für einen zutiefst persönlichen und einmaligen Prozess der Veränderung der eigenen Haltung, Werte, Gefühle, Ziele, Fähigkeiten und Rollen. Die Wiedergenesung führt zu einem befriedigenden, hoffnungsvollen und beitragenden Leben innerhalb des Rahmens, den die Erkrankung vorgibt. Es geht auch darum, einen neuen Lebenssinn zu entwickeln im Prozess der Überwindung der fatalen Folgen einer psychischen Erkrankung. Die Patienten sind in Bezug auf Recovery nicht nur Experten ihrer Krankheit, sondern auch ihrer Gesundheit. Ihre persönlichen Erfahrungen sind entscheidend geworden für die Entwicklung neuer Behandlungskonzepte. Bei Recovery geht es weniger um die Behandlung der Symptome als um die Schaffung neuer Lebensqualität. Die Genesenden haben die sinnstiftende Hoffnung auf eine Besserung ihrer Situation nie aufgegeben. Mach es jetzt Glaube an Zauberei Lache eine Menge Nimm Kinder ernst Bade im Mondlicht Lies jeden Tag Stelle dir vor, du wärst verzaubert Höre alten Leuten zu Freue dich Lass die Angst fallen Unterhalte das Kind in dir Umarme Bäume Schreibe Briefe Beitrag: Petra Besemer 29 Sichtweisen EX-IN Genesungsbegleitung Im Mittelpunkt des Konzepts steht die Botschaft an die EX-IN Genesungsbegleiter, bei Betroffenen diese Hoffnung auf Besserung und Genesung aufrecht zu erhalten und die psychischen Widerstandskräfte der Betroffenen zu stärken. Das Konzept der Recovery gewinnt inzwischen auch politisch immer mehr an Bedeutung. Für viele Betroffene hat Recovery nämlich neben einer persönlichen auch eine politische Bedeutung – dort wo man ist, einen Lebenssinn zu finden, Stigmatisierungen zu überwinden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und seinen Platz in der Gesellschaft zurückzufordern und das Selbst zu beweisen. Recovery kann also eine Manifestation von Empowerment darstellen. Um andere gut begleiten zu können, ist es nicht nur wichtig, die eigene Erfahrung der Bewältigung psychischer Krisen und hilfreicher Beziehungen zu reflektieren, sondern auch neue Sichtweisen und Haltungen aufzuzeigen. Dabei wird durch die eigene Genesungserfahrung dem Betroffenen eine Unterstützung vermittelt, die ihn „Inklusion was heißt das überhaupt?“ • wenn jeder offene Türen findet • keine Angst haben muss wegen seiner Behinderung • das man sagen kann wo der „Schuh“ drückt • das man angenommen wird • das man sich auf Augenhöhe begegnet Nur ein Wunschtraum? Es hat sich schon vieles getan das muss man sagen! • Doch -% fehlen trotzdem noch: z. B. Barrierefreiheit, ein Dauerbrenner! • Muss man zum Arzt gehen, findet man Stufen vor dem Aufzug oder es gibt gar keinen. • Will man mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren ist das eine Herausforderung, man muss sehr flexibel sein, um überhaupt mitgenommen zu werden! 30 befähigt, aus einem anderen Blickwinkel heraus einen individuellen Weg aus der eigenen psychischen Krise zu finden. EX-IN Genesungsbegleitung ergänzt das psychiatrische Gesundheitssystem. in dem gemeinsam mit den Betroffenen auf Augenhöhe und aus eigener Erfahrung durch die eigene Krankheitsbewältigung begleitet wird. Wir ersetzen jedoch nicht einen Psychiater oder eine psychotherapeutische Behandlung, was oftmals von Betroffenen verwechselt wird. Wir unterstützen zudem die Fachkräfte im Arbeitsteam beratend unter anderem auch in fachlichen Fragen, die Entscheidungen werden jedoch in diesen fachlich spezifischen Angelegenheiten nicht von uns vorgenommen. EX-IN bedeutet grundsätzlich eine Entwicklung „vom ICH-WISSEN ZUM WIR-WISSEN“ Beitrag: Petra Besemer • Ist man glücklich hineingekommen, ein neues Problem tut sich auf, wo kann ich mich setzen? Oder wo kann ich mich parken? • als Rollstuhlfahrerin muss man ziemlich sportlich sein, um den Haltedrücker zu erreichen. • und dann das Abenteuer des Hinausgehens! • Ich hab’ immer meine Wechselkleidung im Rucksack damit ich mich nicht erkälte vor Schweißlachen! • Will man jemand besuchen, dann hat man sowieso die „Ar...karte“ gezogen! Aussichtslos steht (sitzt) man da und ärgert sich. Meine Zukunftvision ist deshalb: Dass die Bauherren an uns Betroffene denken und die Häuser so bauen, dass wir Spaß haben dort zu verweilen! Beitrag: Daniela Goth Sichtweisen 16/2015 Freizeitgruppe / Selbsthilfegruppe für psychisch kranke Menschen und deren Angehörige / Kirchheim Wir laden alle Interessierten und Betroffenen ein, jeden Donnerstag von 19–21 Uhr im Mehrgenerationenhauses Linde, Zentrum für Begegnung, Jugend & Kultur, Alleenstr. 90, Kirchheim unter Teck teilzunehmen. TRIALOG- Veranstaltungen 2016 16. März 2016 – Thema Persönlichkeitsstörungen 1. Juni 2016 – Thema Bipolare Störung 21. September 2016 – Thema Inklusion und das Bild psychisch Kranker in der Öffentlichkeit 16. November 2016 – Thema Ängste Jahres-Programm 2016 Januar 7. Januar – Malen nach Entspannungsmusik 14. Januar – Blitzlicht + Gespräche 21. Januar – Stadt-Land-Fluß + Humorspiel 28. Januar – Blitzlicht + Gespräche Juli 7. Juli – Minigolf und Biergarten 14. Juli – Blitzlicht + Gespräche 21. Juli – Hohenneuffen 28. Juli – Blitzlicht + Gespräche Februar 4. Februar – Brot gemeinsam backen 11. Februar – Blitzlicht + Gespräche 18. Februar – Gemeinsam Kochen 25. Februar – Blitzlicht + Gespräche August 4. August – Themenabend mit Frau Stysch 11. August – Blitzlicht + Gespräche 18. August – Körpergymnastik 25. August – Blitzlicht + Gespräche März 3. März – Abgrenzungsgruppenmalcollage 10. März – Blitzlicht + Gespräche 16. März – TRIALOG 24: März – Blitzlicht + Gespräche 31. März – Gehirnjogging September 1. September – Themenabend Positives Denken 8. September – Blitzlicht + Gespräche 15. September – Tanztherapie 21. September – TRIALOG 29. September – Blitzlicht + Gespräche April 7. April – AOK Fr. Birkmaier Stressbewältigung 14 April – Blitzlicht + Gespräche 21. April – DVD Dokumentarfilm 28. April – Blitzlicht + Gespräche Oktober 6. Oktober – Themenabend Achtsamkeit 13. Oktober – Blitzlicht + Gespräche 20. Oktober – Entspannung nach Jacobsen 27. Oktober – Blitzlicht + Gespräche Mai 5. Mai – Christi Himmelfahrt 12. Mai – Ausflug Tachenhäuser Hof 19. Mai – Blitzlicht + Gespräche 27. Mai – Fronleichnam November 3. November – Stadtführung Kirchheim unter Teck 10. November – Blitzlicht + Gespräche 16. November – TRIALOG 24. November – Blitzlicht + Gespräche Juni 1. Juni – TRIALOG 9. Juni – Blitzlicht + Gespräche 16. Juni – Themenabend Trauerbewältigung 23. Juni – Blitzlicht + Gespräche 31. Juni – AOK Nordic Walking Bürgerseen Dezember 1. Dezember – Billiard-Kegeln-Bowling-Pitpat 8. Dezember – Blitzlicht + Gespräche 15. Dezember – Weihnachtsfeier 22. Dezember – Blitzlicht + Gespräche 30. Dezember – Jahresausklang Gespräch Sichtweisen 16/2015 31 Inklusion – Gemeinsam anders Fernsehfilm ARD In Herrn Schwarz' Klasse sitzen Steffi (Paula Kroh) und Paul (Max von der Groeben). Während der vom Bildungsministerium versprochene Schulhelfer nie auftaucht und Steffi mit ihrem Rollstuhl an jeder Feuerschutztür hängenbleibt, müht sich Schwarz gegen Vorurteile von Eltern und Kollegen, die Inklusion zu verwirklichen. Leicht machen es ihm auch Steffi und Paul nicht. Sie versteckt sich hinter einem Panzer aus Zynismus und vergrault alle gut gemeinten Annäherungsversuche, er ist zwar ein netter Kerl, neigt aber zu gelegentlichen Wutausbrüchen. Es ist eine langsame Annäherung von allen Seiten, die der Film beschreibt. Am Ende wird das Versuchsprojekt nicht gänzlich gelingen. Integration auf die belehrende Tour: Die ARD will mit dem Drama „Inklusion” zeigen, wie Behinderte voll in der Gesellschaft aufgehen können. Ein halbherziger Versuch – denn den Elan, Behinderte sich selbst spielen zu lassen, hatte das Erste nicht. Da war man schon mal weiter. Sie meinen es alle nur gut mit Steffi. Ihre Eltern, ihr Lehrer, ihre Mitschüler. Aber Steffi hat keinen Bock darauf, dass es irgendwer gut mit ihr meint. Mit ihr, dem Krüppel. Steffi sitzt im Rollstuhl, sie hat eine spastische Lähmung und richtig schlechte Laune. Steffi und der lernbehinderte Paul sind Teil eines Pilotprojekts an einer Gesamtschule, in der behinderte Schüler „inkludiert” werden sollen. „Inklusion – gemeinsam anders” lautet entsprechend auch der Titel des ARD-Dramas, das von Steffi und Paul erzählt. „Inklusion” ist die verfilmte Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention. Sie soll die Teilhabe behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben verbessern und trat im Mai 2008 in Kraft. Auch Deutschland hat sie ratifiziert, die Verantwortung liegt bei den Ländern, die nach und nach eigene Gesetze zur Inklusion verabschieden. „Inklusion an Schulen ist schon lange ein großes Thema, allerdings nur in Fachkreisen. Das wollten wir ändern”, sagt Werner Reuß, Chef von BRalpha, dem Sender, der für den Film verantwortlich ist. BRalpha ist der Bildungskanal des Bayerischen Rundfunks, ein Nischensender, der sich, wie Reuß sagt, die „Menschenbildung” zur Aufgabe gemacht hat. „Dazu gehört auch die Frage, wie wir als Gesellschaft mit behinderten Menschen umgehen.” Ein Fernsehfilm, der ein sozialwissenschaftliches Konzept als Titel hat, lässt den ganz großen Bildungsauftrag vermuten. Und so ist es auch. „Integration bedeutet, die Behinderten in die bestehende Gesellschaft einzugliedern. Inklusion will die Veränderung der Gesellschaft, so dass man nicht mehr unterscheidet zwischen Behindertsein und nicht Behindertsein”, belehrt der junge engagierte Lehrer Albert Schwarz (Florian Stetter) seine Vermählte. So, jetzt weiß auch der Zuschauer Bescheid, der ein bisschen langsamer im Kopf ist. 32 Sichtweisen 16/2015 Neben Informationssendungen und dem „Telekolleg” will BRalpha verstärkt auf eine Vermischung von Bildung und Unterhaltung setzen. Infotainment würde das andernorts heißen. „Dort, wo wir durch Emotionalisierung und Verdichtung das Thema näherbringen können, versuchen wir das”, sagt Reuß. Die Idee scheint aufzugehen, zumindest auf den ersten Blick. Mit dem Projekt hat es der kleine Sender immerhin in die große ARD auf einen prominenten Sendeplatz geschafft. Ein Dokumentarfilm zu diesem Thema würde, wenn überhaupt, niemals zur besten Sendezeit ab 20.15 Uhr ausgestrahlt. Dass es aus Sicht der Quote mutig ist, „Inklusion” am Spielfilmmittwoch zu zeigen, weiß man sicherlich auch in der ARD. Zumindest den sperrigen Titel wollte man dort ändern – BRalpha-Chef Reuß aber hielt daran fest. Es wäre ihm sonst vorgekommen, als würde er seinen Bildungsauftrag verleugnen, meint er. Regisseur Marc-Andreas Bochert und sein Team haben an einer Berliner Schule recherchiert und mit Lehrern gesprochen. Warum behinderte Menschen immer mehr aus der Öffentlichkeit verschwinden, wie wenig unsere leistungsorientierte Gesellschaft auf Inklusion vorbereitet ist, Sichtweisen 16/2015 wie gern Politiker zwar von Integration reden, dafür aber bloß kein Geld ausgeben wollen – das alles zeigt „Inklusion”. Und trotzdem bleibt ein bitterer Beigeschmack bei der ambitionierten Produktion zurück: Die beiden Darsteller von Steffi und Paul, Paula Kroh und Max von der Groeben, sind nicht behindert. Sie hätten ernsthaft überlegt, mit behinderten Darstellern zu arbeiten, sagen Senderchef Werner Reuß und Regisseur Marc-Andreas Bochert. Aber das sei weder zeitlich noch finanziell machbar gewesen, das Casting und auch die Dreharbeiten hätten sich zu sehr in die Länge gezogen, und die Mittel des kleinen Spartensenders seien schließlich begrenzt. Kroh und von der Groeben haben sich mit ihren Figuren auseinandergesetzt, beide sind in ihren Rollen glaubwürdig. Aber eben nicht behindert. Denn seien wir ehrlich: Erst wenn die Hemmschwellen, Schauspieler mit Behinderung zu engagieren, abgebaut sind, dann kann man wirklich anfangen, von Inklusion in einer Gesellschaft zu sprechen.„Inklusion – gemeinsam anders” , Mittwochsfilm der ARD Beitrag: Petra Besemer 33 Infoteil Filmtipps Rico, Oskar und die Tieferschatten Zum Thema gemacht: Vielfalt, Andersartigkeit und Freundschaft Der Film Rico, Oskar und die Tieferschatten füllte im Sommer dieses Jahres (2014) die Kinos und begeisterte kleine und große Zuschauer und Zuschauerinnen. Er erhielt von der Deutschen Filmbewertung und Medienbewertung FBW das Prädikat “besonders wertvoll”. Rico, Oskar und die Tieferschatten ist ein Film, der sich ohne moralischen Zeigfinger und humorvoll mit Themen wie Andersartigkeit, Vielfalt 34 und Inklusion beschäftigt. Ein Film, der sich gut eignet, sich mit Schülern der Thematik Inklusion zu nähern. Es gibt eine Vielzahl von guten Unterrichtsmaterialien zum Film und seinen Themen. Andreas Steinhöfel, der Autor des verfilmten Kinderbuches, sagt zur Idee seines Buchs: „Ich wollte ursprünglich ein Buch über ein hochbegabtes Kind machen. Und beim Kinderbuch tendiere ich, auch weil ich weiß, dass Kinder das mögen, zu Gegensatzpaaren. Also musste es Rico geben. Anfangs war er der kleine Doofe, über den alle gelacht haben. Der Stichwortgeber für die Gags. Bis ich merkte, dass ich die Figur fies runterputzte. Plötzlich tat mir Rico richtig leid. Autoren/Autorinnen hinterfragen ständig ihre Figuren. Also fragte ich mich, wie sich eigentlich ein Kind fühlt, das nicht so tickt wie die anderen. Ich schlüpfte in die Rolle von Rico und dieser Perspektivenwechsel hat super funktioniert. Ich habe die Figur viel besser verstanden.“ Die Lern-Wirkstatt Inklusion Olpe+ hat den Film Ende des Jahres 2014 in Kooperation mit der Ansprechpartnerin für Menschen mit Behinderungen der Stadt Olpe, Tanja Antekeuer-Maiworm und dem Theaterleiter des Olper Cineplex Kino, Stefan Brögeler, im Olper Kino gezeigt. Über 1100 Schüler und Schülerinnen aus 15 Klassen von Grundschulen und weiterführenden Schulen schauten sich den Film an und gaben sehr positive Rückmeldungen. Sichtweisen 16/2015 Imagine Vielen Dank Seit dem 2014 läuft der Film „Imagine” des polnischen Regisseurs Andrzej Jakimowski in unseren Kinos, der Echoortung als Orientierungsmöglichkeit für blinde Menschen zum Thema hat. für Nichts Dieser Tage ist in unseren Kinos der Film „Vielen Dank für Nichts” angelaufen. Worum gehts? Darum geht's: Ian (Edward Hogg) ist blind und verfügt über eine besondere Fähigkeit: Über viele Jahre lernte er, seine Umwelt quasi mit den Ohren zu sehen. Durch genaues Zuhören orientiert er sich mit Hilfe von Schallwellen. Er wird nach Lissabon an eine weltbekannte, doch konservative Augenklinik gerufen, wo er verbesserte Techniken im Alltag von Blinden vermitteln soll. Valentins Leben gerät aus den Fugen. Nach einem Snowboardunfall wird er zum Rollstuhlfahrer, befindet sich über Nacht im Heim und wird von seiner Mutter gezwungen, an einem Theaterprojekt für Behinderte teilzunehmen. Das einzig Schöne am Heimleben ist die Pflegerin Mira, die aber in festen Händen ist. Doch was Ian seinen jungen Patienten eröffnet, ist weniger ein Orientierungskurs als eine völlig neue Art, in der Welt zu sein und das unlösbare Rätsel unserer Gegenwart durch Imagination und Neugier mit Sinn zu füllen. Ian verblüfft die Schüler mit seinen aufregenden und riskanten Methoden. Sie sollen helfen, die so verbindliche Grenze zwischen Sehen und Nichtsehen zu überwinden. Doch das ist mitunter lebensgefährlich. Im Film spielen blinde Kinder und Jugendliche mit. Zum Film gibt es eine Audiodeskription. Diese kann bei Kinos angefragt werden, aber soll auch über eine App unabhängig nutzbar sein. Valentin entscheidet sich, den Kampf mit dem „gesunden”, erfolgreichen und gut aussehenden Nebenbuhler Marc aufzunehmen und dessen Tankstelle zu überfallen. Voller Begeisterung bieten sich Lukas und Titus als Komplizen an, und Valentin entdeckt, dass seine Mitstreiter zwar behindert, aber keineswegs bescheuert sind. Und echte Freunde ziehen so ein Ding gemeinsam durch. Fotos und den Trailer finden Sie unter http://www.vielendankfuernichts-film.de Beitrag: Petra Besemer Fotos und Inhaltsbeschreibung: http://www.imagine-der-film.de. Sichtweisen 16/2015 35 Gestaltung und Realisation: www.logowerbung.de Sichtweisen Michael Köber Landratsamt Esslingen 73726 Esslingen am Neckar Telefon (0711) 3902-2634 E-Mail: [email protected]